11

2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

  • Upload
    ngotruc

  • View
    213

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

16 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

Der 14.5.2006 im ZeitplanPolizei-Großeinsatz gegen Innenminister-KritikerInnen

Fast alle Angaben zu Zeiten und Abläufen stammen aus denbisher ausgewerteten Akten bei Gerichten und Polizei (ver-merkt sind Aktenzeichen und Blattnummer) und aus der Presse(mit Quellenangabe). Nur wenige weitere Informationen, die inder Zeittafel enthalten sind, sind AugenzeugInnenangaben derBetroffenen. Sie sind eingefügt, wo es zum Verständnis des Ge-samtablaufes unerlässlich war, weil andere Informationsquellen(noch) nicht vorliegen.Die unterschiedliche Schreibweise des Altenfeldswegs, in der In-nenminister Bouffier wohnt, ist auf Fehler in den Polizeiaktenzurückzuführen, die bei wörtlichen Zitierungen beibehaltenwurden.

Die Tage bis zum 14.5.:3.5.2006, 19.00 Uhr bis 4.5.2006, 2.15 UhrAttacke auf die Anwaltskanzlei der Innenminister Bouffier undDr. Gasser in der Nordanlage 37, Gießen: Fassaden werden be-sprüht, Löcher gebohrt und Stinkflüssigkeit in der Kanzlei verteilt.„Der geschätzte Schaden beträgt 25.000 î“ (1, Bl. 143 = An-trag auf Gewahrsam der Polizei Mittelhessen; 1, Bl. 146 = Be-schluss Gotthardt vom 15.5.2006).

4.5.2006, tagsüber4 BeamtInnen des Landeskriminalamtes besuchen die Projekt-werkstatt. Nach ihrer Aussage sind sie direkt vom InnenministerVolker Bouffier gesandt. Einen Grund dafür können sie nichtnennen, sondern formulieren selbst eindeutig, dass es keinerleiTäterInnenhinweise gibt, sondern der Innenminister nach politi-schen Erwägungen handelte.

8.5.2006, 0.45 UhrWeitere Attacke auf dieselbe Anwaltskanzlei: Farbbeutelwürfegegen Fassade, Steinwürfe gegen Fenster (1, Bl. 143 = Antrag

auf Gewahrsam der Polizei Mittelhessen; 1, Bl. 146 = BeschlussGotthardt vom 15.5.2006)

10.5.2006Die Staatsanwaltschaft organisiert in Panik den Haftantritt deszu 8 Monaten Haft (www.projektwerkstatt.de/prozess) verur-teilten Jörg B. Bereits um 9.18 Uhr wirft ein Kurier der Staatsan-waltschaft die Ladung zum Haftantritt an der Meldeadressedes Betroffenen ein. Offenbar will die Staatsanwaltschaft keineZeit verlieren, den unbequemen Polizei- und Justizkritiker ausdem Verkehr zu ziehen. Dafür ist selbst der Postweg zu lang(Quelle: Ladung vom 10.5.2006 mit Zustellungsurkunde vom10.5.2006)Ab diesem Tag werden in der Nähe der Projektwerkstatt dieFahrzeuge bewusst wahrgenommen, die sich später als Über-wachungswagen des Mobilen Einsatzkommandos heraus-stellen (Quelle: AugenzeugInnen). Verbunden damit ist die Vor-bereitung einer umfangreichen Polizeioperation, die dann am14.5.2006 ausgelöst wird, deren Hintergrund aber erst am31.8.2006 aufgelöst wird. Bis dahin werden die Abläufe von Po-lizei und Gerichten systematisch vertuscht. Der Einsatz des MEKwird am 17.5.2006 nach Recherchen der Frankfurter Rund-schau öffentlich (FR, 17.5.2006, S. 23). Einen Tag später ent-tarnen Aktivisten die High-Tech-Polizei.

11.5.2006, 12.30 UhrDie Führung des Staatsschutzes Gießen, sein Leiter Mann undMitarbeiter Broers, besuchen die Projektwerkstatt, um die dortaktiven Menschen und insbesondere den zum Haftantrittgeladenen Jörg B. davor zu warnen, Straftaten zu begehen.Der Gesuchte wird allerdings nicht angetroffen (1, Bl. 141 = Proto-kollierung durch KHK Mann).

Die Nacht auf den 14.5.2006Eine riesige Polizeifalle wird aufgebaut und schnappt zu. Siefängt: Vier Menschen, die Federball spielen ...

Ab 19 UhrObjektschutzstreife „Bouffier“ steht vor der Wohnung des Innen-ministers (1, Bl. 20 = Vermerk PK Rosnau). Zwei Streifen wechselnsich dabei halbstündlich ab: Eine Streife in zivil der Bereitschafts-polizei Mühlheim und eine Streife der Polizei Gießen-Süd.Objektschutzstreife „Gericht“ observiert ab dem gleichen Zeit-punkt die Justizgebäude und Kanzlei von Bouffier/Dr. Gasser (1,Bl. 23 = Vermerk PK z.A. Launhardt).

1.00 Uhr5 Personen fahren mit Fahrrädern in Richtung Gießen, darunterauch Jörg B. Die Fahrradtour sei ohne Grund erfolgt, weil zudiesem Zeitpunkt schon alle Kneipen und Geschäfte ge-schlossen hätten (1, Bl. 144 = Antrag auf Gewahrsam der PolizeiMittelhessen).

AnschließendTeilung der Gruppe in Gießen (1, Bl. 144 = Antrag auf Ge-wahrsam der Polizei Mittelhessen)

1:10 UhrJörg B. und weitere Personen werden in Gießen beobachtet (1,Bl. 23 = Vermerk PK z.A. Launhardt).

Ähnliche Zeit„Im Rahmen der Streife wurden mehrere Personen entdeckt, beidenen es sich um die betreffende Personengruppe handelnkönnte. Eine Meldung an die EZ erfolgt umgehend, woraufhindie EZ anordnete, dass hiesige Streife sich unverzüglich ausdiesem Bereich zu entfernen habe“ (1, Bl. 34 = Vermerk PK Kai-ser)

1.26 Uhr„Um 01.26 Uhr wurde der Station durch die EZ mitgeteilt, dasssich Mitglieder der Projektwerkstatt Saasen in Gießen aufhaltenwürden, diese aber durch Observationskräfte verloren wurden.Daraufhin wurde eine stille Fahndung nach den Personen ver-anlaßt“ (1, Bl. 59 = Bericht POK Ambrosius, Dienstgruppenleiter inder Polizeistation Nord)

2

die Kanzlei ein eilig aufgesetztes Schreiben zu, eine vom Landgerichtverhängte Haftstrafe anzutreten („Beginn“: 18. Mai 2006). All das bil-dete den Rahmen für die Ereignisse des 14. Mai 2006.

Hinter Gitter − egal wie:

Freiheitsberaubung in Amt und Uniform

ZusammenfassungDie Polizei nahm vier Personen aus dem Umfeld der Projektwerkstatt ohne Begründung fest. Gegen einen Betroffenen verhängte einAmtsrichter auf Antrag der Polizei sechstägigen Unterbindungsgewahrsam ohne Ansätze einer juristisch haltbaren Begründung undbei gleichzeitiger, gezielter Vertuschung der realen Umstände. Der Betroffene legte Beschwerde gegen die Maßnahme ein. Auch dieweiteren gerichtlichen Überprüfungsinstanzen stützten die Freiheitsberaubung. Nur aufgrund einer Intervention des Bundesverfas-sungsgerichts kam es überhaupt zur Freilassung der Personen. Gegen die verantwortlichen RichterInnen stellte der Betroffene An-zeigen u.a. wegen Freiheitsberaubung.

Hintergrund zum 14.5.2006Der konkrete Fall ist kaum verständlich ohnesich dessen Vorfeld vor Augen zu führen: An-fang Mai 2006 wurde die gemeinsame Kanzleider CDU-Innenminister Bouffier (Hessen) undDr. Gasser (Thüringen), gelegen an der Nord-anlage 37 in Gießen, mehrfach Ziel politischerSachbeschädigungen. Die durch Farbbeutel,Steine und Graffiti-Parolen übermittelte Kritikrichtete sich vor allem gegen die Sicherheitspo-litik der beiden Minister, die Vertuschung von Polizeigewalt unter Betei-ligung ihrer Kanzlei und weiterer mit dieser verbundener Skandale. In-folge der Aktionen konnte Bouffier offenbar keinen kühlen Kopf be-halten und setzte die ihm gewogenen Repressionsorgane gegen Ak-tive aus der Projektwerkstatt ein, die nicht zuletzt aufgrund ihrer deutli-chen, öffentlichen Kritik an seiner Politik schon länger im Visier des In-nenministers stand. Die konkreten Schritte: Zum einen orderte der In-nenminister ein Mobiles Einsatzkommando (MEK)

1 nach Reiskirchen

− eine hochtechnisierte Spezialeinheit, bestehend aus mehrerenFahrzeugen und modernster Überwachungstechnologie, die knappzwei Wochen zur Observation der Projektwerkstatt und ihrer Nutze-rInnen eingesetzt wurde. Zum anderen stellt die StaatsanwaltschaftGießen einem Projektwerkstättler unmittelbar nach den Attacken auf

Page 2: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

Polizeidokumentation Gießen 2006 · 17www.polizeidoku-giessen.de.vu

Der AblaufIn der Nacht zum 14. Mai 2006 fuhren Personen aus dem Umfeld derProjektwerkstatt von Saasen nach Gießen, um Badminton rund umden Gerichtskomplex zu spielen. Die Polizei rechnete allerdings mitganz anderen „Aktionen“. Aber erst später wurde offiziell bekannt,dass ein Mobiles Einsatzkommando die Gruppe während der ge-samten Zeit überwachte: Die staatlichen SchnüfflerInnen hatten dieNacht-SportlerInnen seit ihrer Abfahrt aus der Projektwerkstatt ver-folgt. Noch viel später konnte aus Akten zu den Vorgängen heraus ge-lesen werden, dass es ein umfassendes Einsatzkonzept gab, an demreguläre Polizeieinheiten aus Gießen, der Bereitschaftspolizei Frank-furt sowie dem MEK beteiligt waren. Das Ziel des ungewöhnlich um-fangreichen Einsatzes formulieren einzelne BeamtInnen offen: Aktivi-stInnen aus der Projektwerkstatt sollten auf frischer Tat ertappt werden− mit Hilfe einer riesigen Falle. Streifenwagen, die vermeintlich odertatsächlich verdächtige Personen beobachteten, wurden mehrfachdurch die alles koordinierende Einsatzzentrale aufgefordert, sich so-fort zurück zu ziehen, um Raum zu schaffen für die verdeckte Obser-vation durch das MEK − und um die AktivistInnen in Sicherheit zu wie-gen. Dahinter stand die Hoffnung, dass es so zu Straftaten kommenwürde. Das machten die eingesetzten BeamtInnen sogar aktenkun-dig. Das belegt eindrucksvoll, dass die Polizei ein Interesse hatte, dassStraftaten begangen werden und diese aktiv ermöglichen wollte.Die beobachteten Personen beschränkten sich jedoch auf ein ausge-dehntes Badminton-Spiel auf dem Justizkomplex und fuhren dannzurück. Auf der Rückfahrt wurden die vier Personen, die sich auf Fahr-rädern bewegten, von mindestens vier (aber wahrscheinlich mehr) Po-lizeieinheiten attackiert. Ohne Nennung konkreter Gründe und mitdem allgemeinen Verweis auf Sachbeschädigungen nahm die Polizeidie Personen sofort fest. Auf vorherige Überprüfung der Personalienoder Suche nach verdächtigen Gegenständen verzichteten die Beam-tInnen gleich ganz. Auf die Frage einer der betroffenen Personen, wases mit der Festnahme auf sich habe, antwortete ein Polizist ernsthaft:„Sie wurden gesehen, wie Sie aus Gießen herausgefahren sind.“ Be-reits diese Festnahme ist als rechtswidrig einzustufen, weil es keinenAnfangsverdacht gab, da die konkreten Personen durchgehend vonder Polizei beim nicht strafbaren Badminton-Spielen beobachtet wur-den.Während der Festnahme spielten sich groteske Szenen ab: Nachdemein Polizeibeamter aus einem fahrenden Streifenwagen gesprungen

Verschiedene Zeiten„Im Laufe der Abend- und Nachtzeit wurde mehrfach überFunk bekannt, dass sich mehrere Mitglieder der „Projektwerk-statt Saasen“ mit Fahrrädern im Gießener Innenstadt-Bereichbewegen. Die Personen konnten an verschiedenen Örtlich-keiten in der Stadt beobachtet werden. (U.a. wurde bekannt ,dass die Personen im Bereich des Landgerichtes Gießen durchFederball spielen und Springseil hüpfen auffällig wurden)“. (1, Bl.50 = Vermerk PK Heuel).

Die „heiße Phase“ an den JustizgebäudenAb ca. 1.30 UhrBadminton-Spiel zwischen Amtsgericht/Gebäude B undStaatsanwaltschft Gießen. Ziviles Observationsfahrzeug (silber-metallic, Münchener Kennzeichen, vermutlich Mobiles Einsatz-kommando) wird auf dem Gelände abgestellt. Zweimalkommen Streifenwagen, aber halten sich im Hintergrund (Au-genzeugInnenbericht der FederballspielerInnen)

1:42 UhrObjektschutzstreife „Justizkomplex“ beobachtet zwei Personenauf dem Gerichtsgelände und wird daraufhin von der Einsatz-zentrale weggeschickt. Fünf Minuten später hat sich das MEKauf dem Gerichtsgelände aufgebaut.

Ca. 1.50 UhrDas Mobile Einsatzkommando hat sich auf dem Justizgeländeaufgebaut. Ab diesem Zeitpunkt ist die Federballgruppe unddamit auch Jörg B. vollständig observiert. „Nachdem der Nah-bereich durch zivile Kräfte abgedeckt war, verließen wir un-seren Standort, um weitere Objekte nach eventuellen Personenabzusuchen. Die Dauer unserer Aufstellung am ParkplatzRingallee betrug ca. 5 Minuten“ (1, Bl. 80 = Vermerk VA Hent-schel)

AnschließendWeiter Federballspielen an verschiedenen Orten des offenzugänglichen Justizgeländes. Der zweite ist am Hinterausgangdes Amtsgerichts, Gebäude A. Ein Federball landet auf demVordach des Amtsgerichts und muss dort zurückgelassen wer-den. Anschließend geht es weiter zum Eingang der JVA. EinWachtmeister sitzt in der Pförtnerloge und holt dann zwei wei-tere WachtmeisterInnen dazu. Unterhaltung mit den Federball-spielerInnen z.T. über Sprechanlage. Am Schluss gehen die Spie-lerInnen vor das Landgericht.

2.28 Uhr„Im Rahmen unserer Streifentätigkeit im Bereich des Justizkom-plexes bemerkten wir gegen 02:28 Uhr im Vorbeifahren, dasssich vor dem Eingang zum Landgericht drei Personen auf-hielten und dort Federball über ein rot-weißes Absperrbandspielten (1, Bl. 23 = Vermerk PK z.A. Launhardt). Zeitangabe beianderem Vermerk der gleichen Streife: 2.30 Uhr (1, Bl. 25 = Ver-merk POK Röder, auch POK Hahn dabei).

2:45 UhrObjektschutzstreife „Justizkomplex“ trifft wieder auf die Feder-ballspielerInnen. „Als wir in Höhe der Personen waren, be-merkten wir, dass sich unter den Dreien augenscheinlich auchder BERGSTEDT befand. Ich meldete umgehend über Funk andie Einsatzzentrale, dass sich offensichtlich der BERGSTEDT zu-sammen mit zwei weiteren Personen an der Gutfleischstraßebefinde und in Richtung Ringallee unterwegs sei. Dies wargegen 02:47 Uhr“ (1, Bl. 23 = Vermerk PK z.A. Launhardt).Anmerkung: 2.45 Uhr ist die Zeit, in der die Farbschmierereien imAltenfeldsweg stattfanden. Die Polizei wusste also, dass die Fe-derballspielerInnen, darunter auch Jörg B., dafür nicht in Fragekamen, denn die Objektschutzstreife gab, wie sie vermerkt, ihreBeobachtungen an die Einsatzzentrale durch. Auch die Anboh-rung der Tür an der CDU-Zentrale ist nicht möglich, denn offen-sichtlich befanden sich die FederballspielerInnen um 2.28 Uhrund um 2.45 Uhr auf dem Justizgelände. Schon zeitlich ist garnicht möglich, in den von der einen Objektschutzstreife unbe-obachteten 17 Minuten zum Spenerweg zu gelangen, dort eineAktion auszuführen und wieder zurückzukehren. Außerdemfehlen in der Akte weiter die Observationsergebnisse des MEK,

die zusätzlich bestätigen würden, dass die Federballspiele-rInnen den Ort nicht verlassen haben.

Die SpielerInnen haben vier Schläger dabei (1, Bl. 100 = Sicher-stellungsliste).

Polizeilügen: Gleichzeitig vorder CDU-Geschäftsstelle ...1.46 UhrObjektschutzstreife „CDU“ sichtet Einzelperson in der Nähe derCDU-Geschäftsstelle. Eine Polizeibeamtin glaubt, Jörg B. erkanntzu haben, ist sich aber nicht sicher (1, Bl. 16 = Vermerk von POKKelbch). Genauere Angaben: „Auf der Anfahrt aus der Jef-ferson Street in Richtung der CDU-Geschäftsstelle wurde an derEcke Trieb/Spennerweg durch Uz. und PK Franz eine männlichePerson festgestellt. Diese war in Richtung Philosophenwald bzw.Richtung Trieb in normaler Gangart unterwegs“. Zudem wird diePerson beschrieben als „ca. 180cm groß“. Daraus schlussfolgertdie Verfasserin dieses Vermerks: „Aufgrund von bereits vorhan-denen Bildern von Tatverdächtigen, ist Uz. der Meinung, dass essich bei dieser Person um Herrn Bergstedt selbst gehandelthaben könnte.“ (1, Bl. 18, Vermerk PK'in Lerner). Anzumerken ist:Die Person bewegte sich offenbar weg von der CDU-Ge-schäftsstelle, war allein. Jörg B. ist 192 cm groß – ein deutlicherUnterschied. Außerdem wird er zu diesem Zeitpunkt an einerganz anderen Stelle observiert.Operative Einheiten oder das MEK schicken die Objektschutz-streife weg und observieren fortan selbst die CDU-Geschäfts-stelle (Bl. 18 = Vermerk PKin Lerner).

2.13 UhrObjektschutzstreife beobachtet Jörg B. im Bereich Spener Weg.Das steht in einem Text der Polizeizentrale – die Vermutung derStreife ist hier bereits zu einer Tatsachenbehauptung umge-schrieben. Der Bericht entsteht Stunden später. Die Polizei weißlängst, dass alles nicht stimmt (1, Bl. 144 = Antrag auf Ge-wahrsam der Polizei Mittelhessen).

Page 3: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

18 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

Während der Polizeiantrag noch bemüht war, einen Verdacht zu be-schreiben, blieben in Richter Gotthardts' Beschluss nur noch unbe-

war, um eine Person festzunehmen, fuhr das Fahrzeug − führerlos −auf eine weitere Person zu, die glücklicherweise ausweichen konnte.Diesen Vorgang machten mehrere PolizistInnen auch aktenkundig,wobei sich der verantwortliche Fahrer mit einem angeblichen techni-schen Fehler herauszureden versuchte. Alle Personen wurden auf diePolizeistation Gießen-Süd in Gewahrsam ,verschleppt'.Gegen 14 Uhr des nächsten Tages entließ die Polizei drei Personen.Und ganz „zufällig“ wurde die vierte Person, die weit oben auf der Ab-schussliste der Obrigkeit stand und steht, dem Amtsrichter Gotthardtvorgeführt. Der übernahm den Antrag des Staatsschutzes im Polizei-präsidium Mittelhessen und verhängte Unterbindungsgewahrsam biszum Haftantritt am 18. Mai 2006 − zur vermeintlichen Verhinderungweiterer Straftaten. Als Gründe für diese führte Gotthardt Sachbeschä-digungen an der CDU-Geschäftsstelle im Spenerweg sowie im Alten-feldsweg in der Nacht zum 14. Mai an; zudem gab es Bezüge zu denAnschlägen auf die Bouffier'sche Kanzlei. Ohne einen einzigen Be-weis stellte der Richter Tatsachenbehauptung auf, die dem Betrof-fenen die geschilderten Straftaten anlasteten bzw. den bloßen Ver-dacht zur Rechtsgrundlage erklärten. Aus beiden Dokumentensprach der Wille, eine Person „aus dem Verkehr zu ziehen„. Insbeson-dere Richter Gotthardt übernahm ohne eigene Prüfung die Polizei-Be-hauptungen, um den Betroffenen wegsperren zu können. Damit warhier eindeutig der Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt, derzugleich einen Bruch der Verfassung darstellt (Art. 2, 2 GG). In einerspäter eingereichten Anzeige gegen den Amtsrichter und involviertePolizisten zeigte der Angeschuldigte auf, mit welchen falschen, auf-fällig erfundenen Verdächtigungen diese Freiheitsberaubung umge-setzt wurde − den Antrag der Polizei kommentierte der Betroffene(Auszüge):

2.27 UhrEine Anwohnerin im Bereich der CDU-Geschäftsstelle meldetder Polizei zwei dunkel gekleidete Personen in der Nähe derCDU-Geschäftsstelle verdächtige Geräusche (1, Bl. 144 = An-trag auf Gewahrsam der Polizei Mittelhessen).

2.35 UhrDie gleiche Zeugin wie 2.27 Uhr meldet sich wieder bei der Po-lizei und erwähnt Bohrgeräusche. Zwei männliche Personenhätten sich entfernt (1, Bl. 10 = Vermerk KOK Haas). An-schließende Feststellung: 5 mm großes Loch in Tür der CDU-Ge-schäftstelle gebohrt (1, Bl. 144 = Antrag auf Gewahrsam der Po-lizei Mittelhessen).

2.37 UhrAnbohrung einer Tür der CDU-Geschäftsstelle im Spener Weg 8durch Jörg B. (1, Bl. 146 = Beschluss des Amtsrichters Gotthardt).Es stellt sich aber die Frage, wie die Anbohrung ohne eine Fest-nahme erfolgt sein soll, wenn doch ab 1.46 Uhr das Objekt ver-deckt observiert wird.

2.50 UhrObjektschutzstreife „CDU“ trifft an der CDU-Geschäftsstelle einund stellt fest, dass in die Eingangstür ein Loch gebohrt werdensollte. Sie sucht die Umgebung ab. Kriminalpolizei trifft vor Ortein (1, Bl. 17). Von der Beschädigung der Tür der CDU-Geschäfts-stelle sind bislang keine Fotos oder Spurensicherungen in denAkten. Angesichts der Überwachung des Gebäudes mit demZiel einer Festnahme auf frischer Tat ist auch deshalb fraglich,ob diese vermeintliche Tat nicht komplett erfunden ist.Gespräch mit der Zeugin/Anwohnerin: Will drei Personen ge-sehen haben, darunter eine schlanke Person 1,80m groß, eineweitere kräftigere und eine Frau (1, Bl. 17+18, Vermerke POKKlebch und PK'in Lerner). Das passt überhaupt nicht zu den son-stigen Vermerken über die Angaben der Zeugin, und auchweder zur Person Jörg B. .oder anderen Verhafteten der Nacht.

3.05 UhrTelefonische Rücksprache der Polizei mit der Zeugin/Anwoh-nerin nahe der CDU-Geschäftsstelle: Sie will drei Personen wahr-

genommen haben, darunter zwei Männer und eine Frau (1, Bl. 9= Vermerk POK Schust). Dazu ist anzumerken, dass das auffälliggenau mit den später Verhafteten übereinstimmt. Allerdingskönnen sie es nicht gewesen sein, wie auch die Polizei weiß, weilsie selbst diese beim Federballspiel observiert. Es stellt sich dieFrage, ob hier absichtlich falsche Angaben enthalten sind, umdie Festnahme nachträglich zu rechtfertigen.

3.34 UhrObjektschutzstreife an CDU-Geschäftsstelle beendet Untersu-chung der Umgebung und fährt wieder Streife (1, Bl. 17+19).

Polizeilügen II: Gleichzeitigauch im Altenfeldsweg ...1:30 UhrObjektschutzstreife „Bouffier“ wechselt. Eine Streife der PolizeiGießen-Süd nimmt den Platz vor der Wohnung des Innenmini-sters Bouffier im Altenfeldsweg 42 ein. Keine Farbschmierereienbis zu diesem Zeitpunkt (1, Bl. 20 = Vermerk PK Rosnau).

Bis 2.38 UhrObjektschutzstreife „Bouffier“ vor dem Haus des InnenministersBouffier kontrolliert die Straße kontinuierlich. Somit können „dieSprühereien bis zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen“ werden (1,Bl. 15 = Vermerk POK Schust).

2.38 UhrObjektschutz wird von einer Streife der BereitschaftspolizeiMühlheim übernommen und beginnt mit einer Fußstreife durchdie nähere Umgebung (1, Bl. 15 = Vermerk POK Schust).

2.43 UhrObjektschutzstreife „Bouffier“ wieder am alten Standort, be-merkt blaue Farbschmierereien, u.a. an der Mauer zum Grund-stück Altenfeldsweg 36. Einsatzzentrale löst später Fahndungaus (1, Bl. 15 = Vermerk POK Schust).

2.43 UhrPolizei findet bei Untersuchung der Umgebung Latexhand-schuhe, Sprühdose und Schablone. Keine Personen bemerkt (1,Bl. 21 = Vermerk Pkin Kakuschka; ungenauer in 1, Bl. 20 = Ver-merk PK Rosnau; 1, Bl. 144 = Antrag auf Gewahrsam der PolizeiMittelhessen).

2.40 UhrGleicher Vorgang (Fußstreife) in anderem Vermerk, aber auf2.40 Uhr angegeben und hinzugefügt, dass die Farbschmie-rerei bei der Fußstreife auffiel (1, Bl. 20 = Vermerk PK Rosnau).

2.45 UhrBesprühen eines Kanaldeckels im Bereich Altenfelsweg (1, Bl. 146= Beschluss des Amtsrichters Gotthardt).

Die Zeiten bei CDU und Altensfeldsweg überschneiden ssch.Laut Antrag des Staatsschutzes und Beschluss des Richters sollJörg B. beide Taten gleichzeitig begangen haben. Das gingeschon nicht. Tatsächlich wurde er von der Poliziei an einemdritten Ort ständig beobachtet.

ZwischenspieleEtwa 2.30 UhrFunkdurchsage der EZ „diverse Sachbeschädigungen an Ob-jekten gemeldet“ (1, Bl. 34 = Vermerk PK Kaiser).

Etwa 3.00 UhrBeginn der Fahndung nach der RadlerInnengruppe (1, Bl. 34 =Vermerk PK Kaiser).

4.01 UhrJörg B. mit vier anderen Personen mit Fahrrädern und Boller-wagen auf Radweg von Trohe in Richtung Großen-Buseck. ZweiPersonen seien geflüchtet (1, Bl. 144 = Antrag auf Gewahrsamder Polizei Mittelhessen).

Page 4: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

Polizeidokumentation Gießen 2006 · 19www.polizeidoku-giessen.de.vu

Die Festnahme in Reiskirchen4.20 UhrFunkdurchsage an beteiligte Polizeifahrzeuge, dass RadlerIn-nengruppe bei Großen-Buseck fährt. Der Objektschutz wirddaraufhin abgebrochen (!) und alle beteiligten Kräfte zur Fest-nahme angefordert (1, Bl. 17+19).

4.25 UhrFestnahme einer Person in Reiskirchen. „Vor dem Haus Grün-berger Str. 8 wurde vom Unterzeichner der Funkwagen querauf den Gehweg gefahren, beim Ausweichversuch stieß der N.mit seinem Fahrrad gegen die Beifahrertür des Fzg. ohne dabeizu Fall zu kommen“ (1, Bl. 71 = Vermerk POK Peusch)

4.30 UhrVorläufige Festnahme von Personen in ReiskirchenZusammenkrachende Polizeiwagen: „Hierbei verselbständigtesich beim Verlassen des Fzg. der Pst. Gießen Süd deren Funk-streifenwagen und rollte an dem Bergstedt vorbei. Dieserhüpfte mit seinem Fahrrad ein minimales Stück zur Seite, ob-wohl zu keiner Zeit die Gefahr bestand, dass er von dem führer-losen Streifenwagen hätte überrollt werden können. Das Fzg.der Pst. Gießen Süd prallte dann gegen unseren Funkstreifen-wagen und wurde so gestoppt“ (1, Bl. 26+27 = Vermerk der PkinJakobeit). „Als wir den Streifenwagen verlassen hatten, rolltedieser plötzlich weiter. Er stieß frontal wenige Meter entfernt mitdem o.g. Streifenwagen der Polizeistation Gießen Nord zusam-men, der die Personengruppe verfolgt hatte. An beiden Strei-fenwagen entstand Sachschaden, verletzt wurde niemand“ (1,Bl. 54 = Vermerk von POK Goltsche, Beifahrer). „Als wir der Grup-pierung näher kamen und selbige uns bemerkte, beschleu-nigte der erste Radfahrer sein Tempo in erheblicher Weise. Ichhielt mit dem Streifenwagen rechts seitlich vor dieser Person an.Ich schaltete den Automatikhebel auf N und zog die Hand-bremse an. Anschließend sprang ich aus dem stehenden Funk-wagen und sprach den ersten Radfahrer an, dass er anhaltensoll. Dieser Aufforderung kam er widerwillig nach. ... (es folgen:Schilderungen von Festnahmen und Durchsuchungen) ... Nunbemerkte ich, dass „unser“ Funkwagen nicht mehr an selbigerStelle stand. Pkin Jakobeit teilte mir mit, das sich „unser“ Funk-

wagen verselbständigt hatte und auf den gegenüberste-henden Streifenwagen der Pst. Gießen Nord gerollt sei. So ist erdann zum Stehen gekommen. Wahrscheinlich ist der Automa-tikhebel nichtrichtig in N eingerastet oder die Handbremse warnicht fest genug angezogen. (Dienstunfallanzeige wurde gefer-tigt)“ (1, Bl. 56 = Vermerk von PK Freitag, Fahrer). Anmerkung:Der Bericht des unfallverursachenden Fahrers ist schon einKunststück an Absurdität – kein Normalsterblicher hätte nacheinem Unfall mit so einem offensichtlichen Geschwindel eineChance. Er will vor der Person angehalten haben – aber dannwäre der Wagen gegen diese gefahren. Dass der Fahrer denUnfall nicht mitbekommen hat, passt wohl eher zu der Beschrei-bung, dass er sich aus dem fahrenden Auto auf einen Radlergestürzt hatte. Wäre er so ruhig vorgegangen, wie er selbst her-beiphantasiert, hätte er das Bewegen des Autos und den Auf-prall wohl mitbekommen. Außerdem behauptet er, die Radle-rInnen hätten die Autos erst bemerkt, als sie diese passierten.Da es dunkel war und insgesamt ca. 7 Fahrzeuge mit teilweiseaufgeblendetem Licht auf einem schmalen, aber geradenFeldweg den RadlerInnen entgegenkamen, zudem noch einPolizeiwagen voraus fuhr und hinter den RadlerInnen wendete,ist die Annahme absurd.Die Dimension des Polizeieinsatzes irritierte offenbar auch diebeteiligten Beamten. Sie wurden „trotz hoher Auftragslage“ zurFestnahme zitiert (1, Bl. 55). Als Frage stellt sich noch, ob die Ob-jektschutzstreife, die das Federballspiel beobachtet hat, vonder späteren Festnahme und dem vorgeschobenen Tatver-dacht erfahren hat, denn sie würde sofort erkannt haben, dassalles erlogen war. Wenn es sie erfahren hat, was hat sie danngetan? Geschwiegen zu den offensichtlich politisch motiviertenAktionen ihrer Führung?

5.20 UhrAlkoholtest bei den Festgenommenen im Polizeigewahrsam inGießen. Ergebnis: 0,0. Die MitarbeiterInnen in den zuständigenKommissariaten werden informiert (Staatsschutz, Erkennungs-dienst) und erscheinen nacheinander auf ihren Dienststellen,um die weiteren Aktivitäten zu leiten und durchzuführen (1, Bl.13).

Der 14.5. tagsüber7.48 UhrBereitschaftsstaatsanwältin Fleischer ordnet eine Hausdurchsu-chung an. Als alleiniges Ziel gibt sie an, „die Ausschnitte der beiden Tatorten im Altenfelsweg verwandten Sprühschabloneaufzufinden“ (1, Bl. 120 = Verfügung der Staatsanwältin; aberauch 1, Bl. 117 = Gesprächsnotiz der Staatsschutzbeamtin Cofs-ky). Diese Beschränkung der Hausdurchsuchung war der Polizeialso bekannt. Die Staatsanwältin notiert, dass die sonst üblicheBeantragung einer richterlichen Anordnung nicht vorge-nommen wird, weil sonst der Durchsuchungszweck gefährdetwürde. Eine Begründung dafür gibt sie allerdings nicht an. IhremVermerk ist zudem zu entnehmen, dass sie von der Polizei be-logen wurde. Die Polizei behauptet wider besseren Wissens,dass Jörg B. verdächtigt sei, die Sachbeschädigungen an CDU-Zentrale und im Altenfeldsweg begangen zu haben – obwohldiese erstens zeitgleich geschahen und zweitens die Polizeigenau wusste, wo sich Jörg B. zu der Zeit aufhielt. Die Verfügungzur Durchsuchung enthält keine präzisen Angaben bezüglichder zu durchsuchenden Räume (1, Bl. 118 = Verfügung derStaatsanwältin).

10.15 UhrHausdurchsuchung der Projektwerkstatt. Die Polizei trifft dortauf weitere Personen, die auf Fragen, wo sie letzte Nacht ge-wesen sind, keine Antwort gaben (1, Bl. 123 = Durchsuchungsbe-richt KOK Broers). Die Personen werden weder durchsucht nochihre Kleidung sichergestellt. Das ist insofern von Bedeutung, dassdie Polizei ja behauptet, dass bei der Festnahme eine Persongeflüchtet sein soll. Zwar deuten schon einige andere Rahmen-daten darauf hin, dass das nicht stimmt (z.B. 4 Federball-schläger für 4 Personen, zusammen in einer Tasche). Wenn je-doch die Polizei den Eindruck gehabt hätte, dass eine Persongeflüchtet sei, so wäre aus Polizeisicht zu erwarten gewesen,dass gegen Personen, die kurz danach in der Projektwerkstattaufgefunden werden, ein besonderer Tatverdacht ange-nommen wird. Das Verhalten der Polizei legt so aber eher nahe,dass sie die fünfte Person erfunden hat, um die Fluchtgefahr zukonstruieren, die als Grund der Festnahme benannt wird. DiePolizei hält sich zudem nicht an die Durchsuchungsanordnungder Staatsanwältin: „Im Wohnhaus in der dortigen Küche aufdem Tisch werden durch KHK Mann diverse Schriftlichkeiten

legte Behauptungen übrig, worin auch der eigene Anteil des Richtersunverkennbar hervor trat, Tatsachen zu erfinden. Der Straftatbestandder Rechtsbeugung war ohne jeden Zweifel erfüllt: „Am 14.05.2006gegen 2:37 Uhr hat der Betroffene eine Tür der CDU-GeschäftsstelleSpenerweg 8 angebohrt. Er wurde offensichtlich durch Anwohner ge-stört, die die Polizei informiert haben. Am Tatort wurden Latexhand-schuhe und eine ähnliche Schablone mit einem Kürzel wie in der Inter-netseite dargestellt, gefunden. Anschliessend hat der Betroffenegegen 2:45 Uhr im Bereich Altenfelsweg Kanaldeckel mit Farbe be-sprüht.“Der Charakter einer gezielten falschen Verdächtigung ist inzwischennoch deutlicher zu belegen, weil insbesondere die Aktenvermerke dereingesetzten BeamtInnen klar aussagen, dass der Betroffene sichwährend der benannten Tatzeitpunkte konti-nuierlich auf Gerichtsgelände befand und Fe-derball spielte: „Als wir in Höhe der Personenwaren, bemerkten wir, dass sich unter denDreien augenscheinlich auch der BERG-STEDT befand. Ich meldete umgehend überFunk an die Einsatzzentrale, dass sich offen-sichtlich der BERGSTEDT zusammen mit zweiweiteren Personen an der Gutfleischstraße be-finde und in Richtung Ringallee unterwegssei. Dies war gegen 02:47 Uhr“ (1, Bl. 23 =Vermerk PK z.A. Launhardt).Abgesehen davon, dass der Betroffene be-reits aufgrund dieser Umstände definitiv alsTäter ausschied, waren auch die Versuchevon Gotthard, dem Politaktivisten gewöhn-liche Sprayertags unterzuschieben, in derSache hochgradig absurd. So behaupteteGotthardt in seinem Beschluss:In der Internetseite „Projektwerkstatt Saasen“,an deren Arbeit der Betroffene massgeblichbeteiligt ist, sind für das Wochenende12./14.0506 „Kreative Antirepressionstage“ an-gekündigt. Es befinden sich dort Kürzel wieAV bzw. AR. Am 14.05.2006 gegen 2:37 Uhrhat der Betroffene eine Tür der CDU-Ge-

schäftsstelle Spenerweg 8 angebohrt. Er wurde offensichtlich durchAnwohner gestört, die die Polizei informiert haben. Am Tatort wurdenLatexhandschuhe und eine ähnliche Schablone mit einem Kürzel wiein der Internetseite dargestellt, gefunden.Auffällig ist, dass diese Spekulationen im polizeilichen Antrag nichtenthalten waren. Noch mehr − an keiner Stelle der umfänglichenAkten sind Vermutungen darüber sichtbar, was die Graffiti mit den fest-genommen Personen zu tun haben. Und in der Anhörung zum Unter-bindungsgewahrsam wurden diese dem Betroffenen gegenüber nichteinmal erwähnt − ein Beispiel dafür, dass rechtliches Gehör nicht ge-geben war. Daher stellt sich die Frage, woher Gotthardt seine „Infor-mationen“ bezogen hat; die Staatsschützer Mann, Lutz und Broers(die beiden letztgenannten waren am Anhörungsverfahren beteiligt)

kommen dafür in Frage. Unabhängige Recher-chen führten zu dem Ergebnis, dass es sich of-fenbar um eine Schablone mit den Buchstaben„AV“ und darunter „GCE“ handelte. Das istauch den Lichtbildern zu entnehmen, die derAkte beigefügt wurden. Bei den Graffiti-Symbo-len, die in der Nacht zum 14. Mai 2006 ge-sprüht wurden, handelte es sich augenschein-lich und ausnahmslos um sogenannte „Tags“mit unpolitischem Hintergrund, die von der Po-lizei eindeutig nicht mit dem Betroffenen asso-ziiert wurden. Vielmehr erschienen sie als typi-sche Form des in der Graffiti-Szene verbreitenSetzens von Marken, sogenannten „Tags“, diehäufig aus einem kurzen Wort, Künstlernamenoder Buchstabenkombinationen bestehen.Auch die Aussage, die gefunden Kürzel seienauf der Internetseite „Projektwerkstatt Saasen“zu finden, erwies sich als Lüge: Solche Kürzelstehen meist für einen Namen, z.B. am Endevon Zeitungsberichten o.Ä. Auf dem gesamtenInternetauftritt www.projektwerkstatt.de gab es

Page 5: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

20 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

durch die Polizei. Tatsächlich stellte sich durch Recherchen der Frank-furter Rundschau (FR, 17.5.2006) heraus, dass seit dem 9 Mai 2006eine Spezialeinheit der hessischen Polizei die Projektwerkstatt mithohem technischen Aufwand überwachte. Daher war der Polizei auchbekannt, dass der Betroffene die ihm vorgeworfenen Straftaten am14.5.2006 nicht begangen hatte, denn er wurde durchgehend beob-achtet. Diese Observation hatte der Aktivist in der Anhörung benannt;zudem wurden sie ja auch in den Akten dokumentiert. Daraufhin ent-gegnete der Richter: „Nehmen Sie sich nicht so wichtig!“. Den Antragder Polizei gab er dem Inhaftierten nicht zur Kenntnis. Diese Bemer-kung gewinnt dadurch eine neue Bedeutung, dass Gotthardt nichtnur wusste, dass sein Opfer observiert wurde, sondern sogar bewusstdieses zu vertuschen versuchte. Unklar ist lediglich, wie stark er aus ei-genem Antrieb oder (nur) auf Anweisung der Polizei handelte, die hierihre Finger spürbar im Spiel hatte. Denn von selbst hätte Richter Gott-hardt nicht wissen können, dass die Passage so brisant war

Sofortige Beschwerden gegen den Gewahrsam und Verschleppung durch LandgerichtGegen den Beschluss von Gotthardt legte der Betroffene noch am 14.Mai 2006 die Sofortige Beschwerde ein und versuchte, einen Befan-genheitsantrag zu stellen − was der Richter ihm jedoch verwehrte. DerBetroffene wurde dann zuerst in die Gießener JVA verfrachtet, obwohldiese überhaupt nicht für Unterbindungsgewahrsam zuständig ist.Einen Tag später verfrachtete ein Polizeitransporter die Person in denzentralen Polizeigewahrsam nach Frankfurt. Obwohl es zu keinen Ver-zögerungen seitens des Amtsgerichts kam, entschied das Landge-richt erst am 18. Mai über die Beschwerde. Die gezielte Verschlep-pungstaktik wurde in einer später gestellten Strafanzeige gegen dieverantwortlichen RichterInnen präzise geschildert:

aufgefunden und sichergestellt. Hierbei handelt es sich um Auf-rufe gegen das Genversuchsfeld der Gießener Uni mit einementsprechenden Aufruf und einer Ortsbeschreibung zu einer„Feldbefreiung“. Weiterhin wurde ein sogenannter „Direct ActionKalender 2006“ gefunden. Bei einer Sichtung wurden div.schriftliche Eintragungen festgestellt. Daneben wurden hand-geschriebene Zettel aufgefunden, die sich mit der bevorste-henden Inhaftierung des Jörg Bergstedt in die JVA beschäfti-gen.“ (1, Bl. 123). Mit dem Kalender, der offensichtlich persönlicheEintragungen enthielt, wurden auch Adressenlisten von der Po-lizei mitgenommen – diese wurden auch nie wieder herausge-geben. Vom Durchsuchungsauftrag ist das Schnüffeln in pri-vaten Unterlagen und deren Sicherstellung nicht erfasst gewe-sen.

11.30 UhrLKA-Beamte werten die Aufzeichnungen der Überwachungs-kameras an der Kanzlei Bouffiers aus (1, Bl. 126)

MittagszeitErkennungsdienstliche Behandlung aller Verhafteten im Polizei-präsidium Mittelhessen. Drei der vier werden danach freigelas-sen.

15.25 UhrBeginn der Anhörung mit der vierten, noch inhaftierten Personbeim Amtsrichter Gotthardt. Die Polizei legt einen Antrag aufmehrtägigen Unterbindungsgewahrsam vor und behauptet,der Betroffene Jörg B. werde verdächtigt, die Sachbeschädi-gungen am 3./4.5., 8.5. und alle vom 14.5. begangen zu haben(1, Bl. 142 = Antrag auf Gewahrsam der Polizei Mittelhessen, un-terzeichnet vom Staatsschutzchef Mann, überbracht von denStaatsschutzbeamten Lutz und Broers). Der Richter wird ange-wiesen, dem Betroffenen nichts von der Observierung zu sa-gen. Der Betroffene äußert gegenüber dem Richter, dass erobserviert wurde und wird vom Richter belehrt, dass das nichtsein könne („Nehmen Sie sich nicht so wichtig“). Das sagt derRichter, obwohl er schon weiß, dass die Observation stattge-funden hat. Richter Gotthardt notiert die Verhaltensanweisungder Polizei in den Gerichtsakten (2, Bl. 3 = Handschriftliche Notiz

von Richter Gotthardt „Nicht sagen!“ auf dem Antrag der Polizeimit dem Hinweis auf die Observation).

18 UhrEnde der Anhörung, nachdem Richter Gotthardt über eineStunde brauchte, um seinen Beschluss mit einem der Staats-schutzbeamten zusammen abzufassen (der Betroffene mussteauf dem Flur warten). Nach der Verkündung des Beschlusseslegt der Betroffene sofortige Beschwerde ein. Eine Begründunglässt der Richter nicht zu. Auf Anfrage reicht er ihm Stift und Pa-pier, damit die Begründung im Knast verfasst und nachgereichtwerden kann.Übersicht über die Behauptungen, warum Jörg B. tatverdächtigist (1, Bl. 142 ff. = Antrag auf Unterbindungsgewahrsam und 1, Bl.146 f. = Beschluss von Amtsrichter Gotthardt): ê Diktion der aufgesprühten Farbschmierereien (keinenäheren Ausführungen, was gemeint ist)

ê Tatausführung insgesamt (keine näheren Ausführungen,was gemeint ist)

ê Motiv: Verärgerung über Haftantritt am 18.05.2006 Unsachliche Kritik an Innenminister Bouffier (keine näherenAusführungen, was unsachlich gewesen sei und warumdas einen Tatverdacht für den 14.5.2006 erzeugt)

ê Einstellung von Kritik an Sicherheitspolitik und Bouffier aufHomepage „Projektwerkstatt Saasen" (eine Anfrage, werDomaininhaberIn ist, wurde allerdings nie gestellt)

ê Thematisierung der Sachbeschädigungen vom4.05.2006 an der Kanzlei von Bouffier im Internet

Kritischer Artikel über den Innenminister von Thüringen, Dr.Gasser (keine näheren Ausführungen, warum das Tatver-dacht erzeugt)

ê Frühere Sachbeschädigungen im Vorfeld von Gerichtsver-handlungen: 19.6.2003, 2.7.2003, 23.8.2003, 3.12.2003und 15.12.2003 (keine näheren Ausführungen, worin derBezug liegt, denn es stand diesmal keine Gerichtsverhand-lung an)

ê Geständnis, am 14.05.2006 in Gießen gewesen zu sein(was ja bewiesen ist und der Polizei auch bekannt durchdie Observation – allerdings enthielt das Geständnis auchAngaben, wo der Betroffene war, nämlich woanders inGießen)

18.10 UhrDer Betroffene wird in die JVA Gießen eingeliefert und zunächstin einer Eingangszelle untergebracht. Stift und Papier werdenihm dort beim „Einchecken“ abgenommen. Die Beschwerde-begründung kann damit nicht mehr erfolgen. Richter Gotthardtfertigt ein Protokoll. In diesem verschweigt er das Hauptthemader Anhörung: Die Observation. Stattdessen erfindet er einenBefangenheitsantrag und eine Beleidigung gegenüber demRichter.

Den ganzen Tag überViele der eingesetzten PolizeibeamtInnen fertigen Protokolleihres Einsatzes. Daraus ist erkennbar, wie der Einsatzplan lief.Mehrere Vermerke zeigen, dass der Plan nicht allen beteiligtenEinsatzkräften bekannt war. Etliche wunderten sich über dieAnweisungen.

Die Konstruktion eines TatverdachtesAV GCEKlar erkennbarer Schriftzug z.B. auf Foto der Folie (1, Bl. 42). Den-noch wird er als „politisch motivierte Sachbeschädigung“ um-gedeutet.

Lüge über Aufenthaltsort„Der o.g. Bergstedt steht in dringendem Tatverdacht am 14.5.06Sachbeschädigungen bei der CDU-Zentrale 35394 Gießen,Spenerweg 8 begangen zu haben. (1, Bl. 51 = Festnahme/Ge-wahrsams-Formular)KOK Haas: Behauptet, dass die in der Nacht Festgenommenenverdächtigt seinen, an der CDU-Geschäftsstelle gewesen zusein (1, Bl. 8).KOK Haas: Spricht nur von Sprühereien im Bereich Altenfelds-weg, sonst keine weiteren benannt. (1, Bl. 12)

keine einzige Seite, auf der AV oder AR als (Namens-)Kürzel ver-wendet wurden. Als Buchstabenkombination tauchte „AV“ auf denSeiten der Domain www.projektwerkstatt.de zwei mal auf; in beidenFällen als Teil des Namens eines Buchverlags. Die Buchstabenkombi-nation AR tauchte auf Seiten der Domain www.projektwerkstatt.de viermal auf, davon je zwei mal als Teil von Adressen sowie je zwei Mal alsTeil von Aktenzeichen juristischer Entscheidungen − AR meint dabei„Arbeitsregister“. Insgesamt war festzustellen: Die Angaben überKürzel auf Seiten der „Projektwerkstatt Saasen“, erwähnt im Beschlussvon Gotthardt (40 AR 52/2006), sind nachweislich falsch. Es ist abwe-gig, von Verwechslungen oder zufälligen Fehlern auszugehen. DieBehauptungen erscheinen vielmehr als bewusste falsche Verdächti-gungen, um den betroffenen Personenkreis zu kriminalisieren. Weralles an diesen Lügen mitgewirkt hatte bleibt unklar, weil in den Aktennichts darüber ausgesagt wurde; dort gab es nur Feststellungen dar-über, dass entsprechende Symbole gesprüht wurden. Alles deuteteallerdings klar auf eine Einflussnahme durch den Staatsschutz Gießenhin.

Perfekt dokumentierte VertuschungNeben diesen offensichtlichen, falschen Verdächtigungen entfalteteeine handschriftliche Notiz im Gotthardt vorliegenden Antrag der Po-lizei besondere Brisanz: Neben eine eingerahmte Passage, welchedie MEK-Observation beschrieb, hatte sich der Richter „Nicht sagen“notiert.

Der handschriftliche Vermerk bezog sich auf die Angabe einergenauen Uhrzeit und Menge an Personen, die von der Projektwerk-statt losradelten. Diese Angabe bewies die umfangreiche Observation

Page 6: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

Polizeidokumentation Gießen 2006 · 21www.polizeidoku-giessen.de.vu

Haftantritt zu benennen. Die Verschleppung der sofortigen Be-schwerde stellte eine Rechtsbeugung im Amt und Freiheitsberaubungdar, die den Betroffenen in seinen Grundrechten verletzen.Verschleppungstaktiken verwendete das Landgericht auch im wei-teren Verlauf der rechtlichen Auseinandersetzung, indem es z.B. dieErmittlungsakten zum 14. Mai 2006 gezielt hielt und die Aufdeckungder gesammelten Lügen dadurch erschwerte.

Unterbindungsgewahrsam im GefängnisWährend der Verschleppungsphase ereigneten sich weitere Seltsam-keiten: Am 18. August 2006 wurde der Betroffene vom Frankfurter Poli-zeigewahrsam wieder in eine JVA verlegt − diesmal in Preungesheim.Die Rechtsgrundlage wie auch die Verantwortlichen dieser Aktionblieben unklar (bis heute). Denn der Unterbindungsgewahrsam stellteformal keine Haftstrafe dar und konnte somit nicht in einer JVAvollzogen werden. Im konkreten Fall war die verhängte Strafhaft gegenden Betroffene schon am Vortag vom Bundesverfassungsgericht auf-gehoben worden.

Oberlandesgericht und neues PolizeischreibenAufgrund der weiteren Beschwerde gegen den Beschluss des Land-gericht musste sich auch das Oberlandesgericht in Frankfurt mit derFrage der Rechtmäßigkeit des angeordneten Unterbindungsgewahr-sams beschäftigen. Im Zuge dieses Verfahrensganges wendete sichdas Polizeipräsidium Mittelhessen mit einem Brief an das OLG, der dieumfangreichen Observationen durch das MEK erstmals offiziell bestä-tigte. In diesem Text wurde auch eingeräumt, dass die Ladung zumHaftantritt nicht das Motiv für die Taten sein könne, ohne jedoch eineneue Begründung zu zaubern: Der Betroffene hätte durch die verwor-fene Revision schon länger Gründe zu Aktionen gehabt.

Fehlender Grund für RadfahrtDie Polizei stellt die Behauptung auf, es gäbe keinen Grund fürdie Radtour (Antrag auf Gewahrsam). Tatsächlich wurde Fe-derballspiel beobachtet, außerdem stellte die Polizei Lebens-mittel in den Fahrradtaschen fest, die offensichtlich aus Abfall-containern von Lebensmittelmärkten stammten. Der PolizeiGießen ist bekannt, dass etliche Aktivistinnen aus dem Umfeldder Projektwerkstatt von solchen Lebensmitteln leben. Deshalbsuchten Polizeifahrzeuge im Fahndungsverlauf gezielt Super-märkte mindestens in Alten Buseck und Gewerbegebiet Reiskir-chen ab. (1, Bl. 57+86, Punkt 4 = Listen von Lebensmitteln in Fahr-radtaschen).

FluchtgefahrAls Grund für die Festnahmen wird schließlich Fluchtgefahr be-hauptet, obwohl schon von der Fahrtrichtung auch der Polizeiklar gewesen war, dass die observierten Personen schlicht Rich-tung Projektwerkstatt und damit für einige zu ihrem angemel-deten Wohnsitz unterwegs waren. Warum das als Fluchtgefahrgewertet wurde, ergibt sich aus keiner Unterlage (1, Bl. 68+99 =Festnahmeprotokolle)

15.5.20069.20 UhrVerlegung des Inhaftierten in die Einzelzelle Nr. 220 (Block II). Ererhält Stift und Papier zurück, jedoch keine Möglichkeit, diedann geschriebene Beschwerdebegründung zum nebenanliegenden Amtsgericht zu leiten.

10.45 UhrEin Rechtsanwalt besucht den Inhaftierten. So kann eine Be-schwerdebegründung doch zum Gericht gelangen. Das aberwar reines Glück. Der Alltag des Justizvollzuges hätte denRechtsweg versperrt.

12.30 UhrEs wird bemerkt, dass die Unterbringung in einer JVA ein Rechts-fehler ist. Jörg B. wird nun in den zentralen Polizeigewahrsamnach Frankfurt transportiert. Auf dem Einlieferungsschein stehtplötzlich mit roter Schrift quer über das Titelblatt „Gewalttätig“.

Wer das darauf notiert hat, ist unklar. In dieser Phase hatte nurdie Gießener Polizei Zugang zu dem Zettel, der ursprünglichvom Richter Gotthardt ausgefüllt wurde. Der zusätzliche Auf-trag, der in den Akten noch nicht enthalten ist (2, Bl. 10), kanndaher nur von der Gießener Polizei stammen. Als Ziel kann ver-mutet werden, die Polizei in Frankfurt gegen den Betroffenenvoreingenommen zu machen.

15.05 UhrDer Rechtsanwalt legt währenddessen sofortige Beschwerdeein (2, Bl. 12). Als Anlage reicht er auch die Begründung des Be-troffenen mit ein (2, Bl. 15).

18.18 UhrDie Polizei gibt eine Pressemitteilung zu den Vorgängen heraus,in der sie öffentlich behauptet, die Festgenommenen seien derSachbeschädigung verdächtig. Da die Polizei weiß, dass dasnicht stimmt, handelt es sich um eine Straftat der falschen Ver-dächtigung und der Beihilfe zur Freiheitsberaubung (1, Bl. 302).

Inhaltlich bezog sich das Landgericht auf den Beschluss des Bundes-verfassungsgerichts, die Haftstrafe des Betroffenen bis zur Entschei-dung über seine Verfassungsbeschwerde gegen die dem zugrundeliegenden Gerichtsurteile auszusetzen. Ausdrücklich bestärkte dasLandgericht, dass ein Unterbindungsgewahrsam möglich gewesensei und trug damit auch aktiv die Freiheitsberaubung durch das Vor-gängergericht mit. Es wiederholte dabei peinlicherweise auch den„Fehler“ von Gotthardt, als Motiv für die Taten den bevorstehenden

Kurzübersicht: Was die Polizei alles weiß und lügtBeobachtungen am Gericht Lügen für die CDU-Geschäftsstelle Lügen für den Altenfeldsweg1.42 Uhr Polizei sichtet Personen 1.46 Uhr Streife will Jörg B. am am Gericht Spenerweg sehen1.50 Uhr MEK beginnt ständige Observation am Gericht. Ab jetzt werden FederballspielerInnen durchgängig am Gericht von 2.13 Uhr Polizei will Jörg B. der Polizei (MEK) beobachtet am Spenerweg gesehen haben

2.28 Uhr Streife beobachtet 2.27 Uhr Zeugin sieht Personen FederballspielerInnen (darunter Jörg B.) 2.35 Uhr Bohrgeräusche an der der CDU-Geschäftsstelle 2.38 Uhr Noch keine Graffiti 2.45 Streife beobachtet FederballspielerInnen 2.45 Uhr Graffiti gefunden (darunter Jörg B.)

2.47 Uhr Streife beobachtet, wie SpielerInnen das Gelände 2.50 Uhr Polizeistreife trifft ein zu Fuß verlassen

Page 7: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

22 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

Die Gießener Allgemeine enthüllt wiederum, dass diese Presse-mitteilung über den Schreibtisch des Innenministers Bouffierging – dieser hat damit diese Straftaten auch begangen(Gießener Allgemeine, 19.5.2006, S. 26, und Kommentar am30.5.)

Der inzwischen wieder entlassene Patrick N. erhebt Klagegegen seine Inhaftierung vor dem Verwaltungsgericht (Az. 10 E1421/06).

16.5.2006Das Landgericht weist an, dass über die Beschwerde zur Inhaf-tierung nicht zu verhandeln sei, sondern dass zuerst der vomRichter Gotthardt ausgedachte Befangenheitsantrag zu be-handeln sei. In der Beschwerdebegründung hatte der Betrof-fene allerdings bereits formuliert, nie einen Befangenheitsan-trag gestellt zu haben. Das Landgericht beachtet das nicht undordnet an, erstmal sei der erfundene Antrag zu behandeln (1, Bl.164). Das dauert zwei Tage. Es entsteht der Verdacht, dass dieseVerzögerung auch der Grund für das Manöver des Landge-richts ist. Währenddessen sitzt der Betroffene in Haft, ohne dassseine Beschwerde überprüft wird. Wahrscheinlich hofft das Ge-richt auf eine Verzögerung bis zum 18.5., weil dann die offizielleHaftphase des Betroffenen begonnen hätte und das Ziel derRepression ja war, ihn vorher nicht mehr freilassen zu müssen.

Die Polizei Mittelhessen lässt die Verbindungsdaten der zwei imUmfeld der Projektwerkstatt eingesetzten Handys überprüfen –ergebnislos. (1, Bl. 165 ff.)

Staatsschutzbeamtin Cofsky erhält das Ergebnis der DNA-Un-tersuchungen zu den Handschuhen im Altenfeldsweg. Die DNAdes deswegen in Gewahrsam befindlichen Bergstedt ist nichtgefunden worden. Es geschieht ... nichts. Cofsky gibt das Er-gebnis nicht an die Gerichte weiter und beantragt auch nichtdie Freilassung. Ermittlungsergebnisse werden nur verwendet,wenn sie dem gewünschten Ergebnis entsprechend. Im Zweifelwerden sie gefälscht oder vertuscht (1, Bl. 136 = GesprächsnotizKOKin Cofsky mit dem HLKA; 1, Bl. 138 = Bericht des HLKA).

Die Polizei entdeckt eine Sachbeschädigung am Gebäude desRCDS nahe der CDU-Zentrale. Der Zeitpunkt der Sachbeschädi-gung kann nicht mehr geklärt werden (1, Bl. 193).

15.09 UhrDer Rechtsanwalt des Betroffenen fragt beim Gericht an,warum in der Freiheitsentziehungssache keine Entscheidunggefällt wird (2, Bl. 30).

17.5.2006Die Frankfurter Rundschau enthüllt die MEK-Überwachung derProjektwerkstatts-AktivistInnen (1, Bl. 301 = FR, 17.5.2006, S. 23).

9.53 UhrDer Rechtsanwalt des Betroffenen teilt dem Landgericht mit,dass er die gewählte Vorgehensweise, zunächst langwierigeinen vermeintlichen Befangenheitsantrag zu behandeln, fürrechts- und verfassungswidrig hält.

Das Amtsgericht bearbeitet im Schneckentempo den Befan-genheitsantrag.

12.18 UhrDas Amtsgericht schickt an den Rechtsanwalt des Betroffenenein Fax zwecks Stellungnahme zum Befangenheitsantrag undder dienstlichen Äußerung von Richter Gotthardt, der sich nichtfür befangen hält (2, Bl. 24).

12.20 UhrDas Amtsgericht schickt die gleiche Anfrage an den Betrof-fenen Jörg B. in die JVA Gießen. Nur: Der sitzt da seit zwei Tagennicht mehr (2, Bl. 25).

13.08 UhrDer Rechtsanwalt des Betroffenen verzichtet auf eine Stellung-nahme und erneuert die Kritik an dem Verfahren.

14.15 UhrDas Bundesverfassungsgericht setzt die Strafhaft von Jörg B.aufgrund von dessen Verfassungsbeschwerde bis zur Entschei-dung in der Hauptsache aus (2, Bl. 37). Damit ist der Unterbin-dungsgewahrsam, der mit dem bevorstehenden Haftantrittbegründet wurde, aus einem weiteren Grund hinfällig. Doch dieGießener Gerichte beschäftigen sich weiter ausführlich miteinem nie gestellten Befangenheitsantrag.

15.44 UhrDie Staatsanwaltschaft Gießen teilt dem Rechtsanwalt des Be-troffenen mit, dass sie aufgrund des BVerfG-Urteils davon aus-gehe, dass alle Beschwerden gegen den Haftantritt damit ge-genstandslos sind. Um eine Freilassung des Verhafteten bemühtsie sich nicht. Den Antrag auf Haftaufschub bis zur Entschei-dung des BverfG, der auch an die Staatsanwaltschaft ging,hatte diese gar nicht bearbeitet.

18.5.20068.00 UhrObwohl bereits klar ist, dass Unterbindungsgewahrsam nicht ineiner JVA abgesessen werden kann, wird Jörg B. vom Frank-furter Polizeipräsidium in die JVA Preungesheim gebracht. Nachca. einer Stunde in der Zelle wird er dort entlassen.

9.22 UhrDas Landgericht Gießen ordnet die Freilassung von Jörg B. an,bestätigt aber die Richtigkeit des Unterbindungsgewahrsamsbis zu diesem Zeitpunkt. Dabei stellt das Landgericht durch dieRichterInnen Geilfus, Dr. Berledt und Schnabel die Logik auf,dass die Anschläge am 3./4.5. und 8.5. eine Reaktion auf dieam 10.5. zugestellte Ladung zum Haftantritt gewesen seien.Dass das gar nicht möglich ist, kommt den RichterInnen of-fenbar nicht in den Sinn. Auszug aus dem Beschluss 7 T 215/06:„Die Umstände sprechen dafür, dass die Straftaten, die dem Be-troffenen vorgeworfen werden, wenn dieser Vorwurf zutreffensollte, von ihm im Zusammenhang mit dem für den 18.5.2006vorgesehen Antritt der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Land-

Rechtliche Schritte und FolgenIn Folge der Ereignisse stellte der Hauptbetroffene mehrere Anzeigengegen PolizeibeamtInnen und RichterInnen. Gegen den aus einemfahrendem Auto springenden Polizeibeamten erhob er den Vorwurfdes schweren Eingriffs in den Straßenverkehr. Gegen Richter Gott-hardt und die RichterInnen am Landgericht, welche die sofortige Be-schwerde gegen den Unterbindungsgewahrsam verschleppten,stellte er Anzeige wegen Rechtsbeugung im Amt und Freiheitsberau-bung. Zudem wandten sich mehrere Betroffene mit Widersprüchenbzw. Beschwerden gegen ihre Festnahme, die zum Teil schon abge-wickelt wurden und mit Ablehnungen durch die einschlägig bekannteAmtsrichterin Kaufmann endeten. Ein anderer Betroffener legte zuerstWiderspruch gegenüber der Polizei ein, welche diesen zurück wiesmit der Rechtmittelbelehrung, dass eine Fortsetzungsfeststellungs-klage beim zuständigen Verwaltungsgericht möglich sei. Verantwort-lich für diesen Text war Assessorin Brecht (PP Mittelhessen). Nachdemdie Fortsetzungsfeststellungsklage erfolgte, wandte sich die ein-schlägig bekannte Brecht an das Verwaltungsgericht − mit der umge-kehrten Argumentation, dass der verwaltungsrechtliche Weg nichteröffnet sei.

Rechtliche BewertungDas Vorgehen ist Freiheitsberaubung mit System: Aus Mangel an „er-folgreichen“ Strafverfahren griffen Repressionsorgane gezielt zum Un-terbindungsgewahrsam, um unliebsame Personen aus dem Verkehrzu ziehen. Ausgangspunkt dafür war insbesondere der StaatsschutzGießen. Dessen Strategie ging auf, weil RichterInnen an Amts- undLandgericht offensichtlich beleglose Anträge der Polizei annahmenund über ein ähnlich ausgeprägtes Interesse verfügten, kritische Akti-vistInnen der Freiheit zu berauben. Im vorliegenden Fall kann diesesich etablierende Methode als systematisch angelegte Freiheitsberau-bung angesehen werden − ein eklatanter Bruch mit der Freiheitsga-rantie, die in der Verfassung (Art. 2, 2 GG) verankert ist. Dieser wurdevon allen Instanzen betrieben, wobei Amts- und Landgericht beson-ders deutlich hervortraten. Gesondert als Freiheitsberaubung anzu-sehen waren die beiden JVA Zwischenstationen der betroffenen Per-son.Die schon beschriebene Verschleppungstaktik des Landgerichts warzudem nicht nur eine Freiheitsberaubung, sondern auch Rechtsbeu-gung im Amt; dazu sind die Urteile gegen den damaligen HamburgerRichter Schill von Bedeutung: Das Landgericht Hamburg hatteRechtsbeugung durch Unterlassen (Verschleppung der Beschwerde)bejaht. Dieses Urteil war zwar in der Revision durch das BGH (5 StR92/01) aufgehoben worden, aber nur wegen Verfahrensmängeln beider Prüfung, wieweit die zweitätige Verzögerung tatsächlich auf Ab-sicht zurückzuführen sei. Im vorliegenden Verfahren hatte das Land-gericht bereits zwei Tage lang die Beschwerde verschleppt und hättediese gar nicht behandelt, solange das Amtsgericht auf Anweisungdes Landgerichts mit der erfundenen Befangenheitsfrage beschäftigtwar. Das ist deutlich weitergehend als im verurteilten Fall von RichterSchill. In der Revision des BGH hatte dieses im gleichen Urteil zudemdie Revision der Staatsanwaltschaft anerkannt mit der Festlegung,dass bei Bejahung einer Rechtsbeugung auch die Freiheitsberau-bung zu verurteilen sei. Auszug aus dem Urteil des BGH (5 StR 92/01):

Page 8: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

Polizeidokumentation Gießen 2006 · 23www.polizeidoku-giessen.de.vu

die insbesondere im Tatzeitraum lückenlos nachwies, dass er sich fe-derballspielend auf Gerichtsgelände aufgehalten hatte. D.h. es gabsogar eindeutige Beweise für die Unschuld der weggehafteten Per-son, weil es nicht möglich ist, zur gleichen Zeit an zwei verschiedenenOrten zu sein. Von daher ist eindeutig belegt, dass Polizei und Justizganz bewusst logen und vertuschten, um missliebige Personen hinterGitter wandern zu lassen. Diese Strategie der falschen Verdächtigungwar im vorliegenden Beispiel so systematisch angelegt und um-schließt einen derart weiten Kreis (Polizeiführung und -Einsatzkräfte,RichterInnen am Amts- und Landgericht), dass zudem von einer krimi-nellen Vereinigung ausgegangen werden muss.Die vorgenannten Punkte waren im konkreten Fall verbunden mit demähnlich systematischen Versuch, Informationen für die Verteidigungzurückzuhalten und zu vertuschen. Besonders gut dokumentiert sinddie Lügen von Amtsrichter Gotthardt im Verhör mit dem Betroffenen,der nichts über seine Totalüberwachung erfahren sollte. Aber auchdas Landgericht wirkte, z.B. mit der Zurückhaltung der Akten, an derVertuschung mit.

Aktueller Stand am 24.10.2006Inzwischen ermöglichte umfangreiche Akteneinsicht, das absurdeund vergleichsweise aufwendige Einsatzkonzept der Polizei sowie dievon dieser begangenen und von RichterInnen gedeckten Straftatenzu erhellen. Bis heute fehlen aber vollständig Aussagen und Aktenver-merke der eingesetzten Spezialeinheit (MEK), die unbedingt für dierechtliche Gesamtbewertung herangezogen werden müssen.Die Anzeigen wurden formal von der Staatsanwaltschaft aufgenom-men. Und bisher ist in der Sache nichts weiter passiert; angesichts derfrüheren Erfahrungen ist davon auszugehen, dass es auch in diesemFall nur eine Frage der Zeit ist, bis alle Verfahren ohne Ermittlungeneingestellt werden. Die Fortsetzungsfeststellungsklage gegen dieFestnahme ist noch nicht entschieden. Die vom Betroffenen geson-dert eingelegte Beschwerde gegen die JVA-Aufenthalte während desUnterbindungsgewahrsam wurde bis heute nicht bearbeitet. Nur ineiner Nebensache hob das Landgericht eine Beschlagnahme auf −log aber erneut einen früheren Tatverdacht herbei. ê Mehr Informationen: www.knast-aktionen.de.vu.

Zudem liegt falsche Verdächtigung vor: Die bei Gießener Ermittlungs-und Justizbehörden verbreitete Methodik, Protestgruppen perfalscher Verdächtigung zu kriminalisieren, bildete auch in diesem Fallerst die Grundlage für die beschriebene Freiheitsberaubung, diedamit allerdings nur notdürftig kaschiert wurde. Dabei sind zum einenTaten gemeint, welche dem Betroffenen ohne einen einzigen Beweisuntergeschoben und mit nachweislich falschen Argumentationen (z.B.als Motivation könne der bevorstehende Haftantritt angesehen wer-den) verknüpft wurden. Denn für die herangezogenen Angriffe auf dieBouffiersche Kanzlei gibt es keine Beweismomente, die auf den Be-troffenen verweisen. Noch deutlicher fallen die in Bezug auf den 14.Mai 2006 formulierten Verdächtigungen als bewusste Lügen auf undstellen damit eine neue Qualität dar: Sowohl Polizei als auch den ver-antwortlichen RichterInnen war − so in den Akten nachvollziehbar −bekannt, dass der Betroffene nicht als Täter für Graffiti oder ähnlicheStraftaten in Frage kam, weil er unter aufwendiger Observation stand,

gerichts Gießen vom 3.5.2005 begangen worden sind.“ Die La-dung und damit der Termin 18.5.2006 waren aber erst am 10.5.,also nach den Attacken auf die Kanzlei Bouffier, verfasst undzugestellt worden.

SpätIn Saasen werden die Fahrzeuge des MEK nacheinander ent-tarnt und verlassen nach einigem Hin- und Hergefahre schließ-lich den Ort.

19.5.2006Der Rechtsanwalt des Betroffenen reicht Beschwerden gegendie Inhaftierung und den Unterbindungsgewahrsam ein.

Die Gießener Allgemeine berichtet, dass die Presseinforma-tionen der Polizei mit der Behauptung des Tatverdachtes am14.5.2006 über den Schreibtisch des Innenministers gingen(Gießener Allgemeine, 19.5.2006, S. 26, und Kommentar am30.5.).

22.5.2006Ein neues Ziel der Ermittlungen wird in den Polizeiunterlagen be-nannt: Die Aufklärung der Attacken auf die AnwaltskanzleiBouffier/Dr. Gasser (1, Bl. 174). Die Ermittlungen zum 14.5.2006dienen dem Ziehen von Vergleichsproben. Vorrangig ginge esdie Sicherheit der Innenminister Bouffier und Dr. Gasser.

24.5.2006Die Beschwerde geht an das Oberlandesgericht, dortiger Ein-gang am 26.5.2006 (2, Bl. 80).

26.5.2006Der Rechtsanwalt des Betroffenen reicht weitere Beschwerdengegen die Inhaftierung und den Unterbindungsgewahrsam ein.

31.5.2006Das Amtsgericht Gießen beschließt, dass die Entnahme vonDNA bei den vermeintlich Tatverdächtigen rechtmäßig warund ist (Az. 5610 Gs – 501 Js 12450/06)

6.6.2006Das Amtsgericht Gießen weist die Beschwerde des Wohnungs-inhabers der durchsuchten Wohnung, Patrick N., als unbe-gründet ab (Az. 501 Js 12450/06). Das ist kein Wunder, da derBetroffene Akteneinsicht beantragt hatte, um eine Begründungnachzureichen. Das wartet das Gericht aber nicht ab und be-schließt vor Herausgabe der Akten!

Noch am gleichen Tag (wenn es so herum ist, geht alles immerganz schnell ...) erhalten die Betroffenen Vorladungen zur DNA-Entnahme durch das Polizeipräsidium Mittelhessen.

8.6.2006Die Betroffenen Patrick N. und Jochen K. legen Widerspruchgegen den Beschluss des Amtsgerichtes zur DNA-Entnahmeein.

9.6.2006Das Amtsgericht (Richterin Kaufmann) beschließt, dass die Be-schlagnahmen bei den am 14.5.2006 Festgenommenenrechtmäßig waren (5610 Gs – 501 Js 12450/06). Als Grundführt sie den weiter bestehenden Tatverdacht an, erweitertden aber plötzlich um Farbschmierereien in der Weserstraße.Dort liegt die Kanzlei von Innenminister Bouffier. Alle bisher vor-liegenden Polizei- und Gerichtsakten, alle Anträge und schriftli-chen Vorgänge geben keinerlei Hinweis auf solche Graffitiauch an diesem Ort. Es scheint, dass der Amtsrichterin hier ihrePhantasie im bei ihr üblichen Verfolgungswahn durchge-gangen ist und das Graffiti in Nähe der Bouffierschen Kanzleizum Zwecke der Kriminalisierung erfunden wurde.

10.6.2006Der Förderverein, dem das von der Hausdurchsuchung betrof-fene Haus gehört, fragt bei der Polizei die Hintergründe derHausdurchsuchung an, weil er nie eine Information erhaltenhabe, was aber gesetzlich vorgeschrieben ist. Er erhält nie eineAntwort.

16.6.2006Der Förderverein legt Beschwerde/Klage beim Verwaltungsge-richt Gießen ein, weil keine Formvorschrift von der Polizei einge-halten und er bis heute nicht offiziell von der Durchsuchung in-formiert worden sei.

21.6.2006Das Amtsgericht Gießen beschließt, dass seine Beschlüsse zurDNA-Entnahme rechtmäßig waren (Az. 5610 Gs – 501 Js12450/06).

Nächste Seite geht die Chronologie zum 14.5.2006 weiter ...

Page 9: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

24 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

22.6.2006Die Polizei Mittelhessen erklärt in einem Widerspruchsbescheiddie Festnahme des 14.5.2006 für rechtmäßig. Da sich der Be-scheid nur auf die Festnahme bezieht (nicht auf den an-schließenden Gewahrsam) und diese noch nicht richterlich be-stätigt wurde, eröffnet sich an dieser Stelle der Weg vor dasVerwaltungsgericht. Die Verfahren dort werden öffentlich ge-führt (anders als Beschwerden vorm Amts-, Land- und Oberlan-desgericht).

1.7.2006Der Betroffene Jörg B. reicht beim Amtsgericht Gießen Be-schwerde gegen die Inhaftierung in der JVA Preungesheim ein.Zudem stellt er wegen dieser Inhaftierung Anzeige wegen Frei-heitsberaubung bei der Staatsanwaltschaft Gießen (Az. dort:501 UJs 49013/06).

Ebenso stellt der Betroffene Strafanzeige gegen die Beschwer-deverfahren verschleppenden RichterInnen des LandgerichtesGießen (Az. bei der StA Gießen: 501 Js 16177/06). In gleicherWeise stellt er Strafanzeige gegen den Fahrer des Polizeiwa-gens, der aus dem fahrenden Auto sprang und dadurch Men-schen gefährdete (Az. bei StA Gießen: 501 UJs 49162/06).

Schließlich reicht Jörg B. Fortsetzungsfeststellungsklage gegendie Festnahme am 14.5.2006 ein, weil am 22.6. der Wider-spruch bei der Polizei abgewiesen wurde (Az. 10 E 1698/06).

10.7.2006Der Beschwerdeführer bei der Fortsetzungsfeststellungsklagebeantragt Prozesskostenhilfe.

17.7.2006Das Landgericht Gießen beschließt, dass die Entnahme vonDNA wegen des bestehenden Tatverdachtes gerechtfertigtwar. Damit vertritt das Landgericht also nach über zwei Mo-naten immer noch die These des bestehenden Tatverdachtes.Es kann davon ausgegangen werden, dass nach wie vor keinGericht sich jemals in der Sache aktenkundig gemacht hat.

20.7.2006Die Polizei Mittelhessen nimmt Stellung zur Fortsetzungsfeststel-lungsklage gegen die Festnahme am 14.5. Die Polizei be-hauptet erneut: „Der Kläger wurde am 14.05.2006 in Reiskir-chen gem. § 127 StPO vorläufig festgenommen, da er der Sach-beschädigung in mehreren Fällen verdächtig war“. (Az. bei derPolizei: V1 – 12 a 10 03 W 21/06).

1.8.2006Das Landgericht weist die Beschwerde des Wohnungsinhabersder durchsuchten Wohnung, Patrick N., als unbegründet ab (Az.501 Js 12450/06).Erst im Zuge dieser Beschlussfassung erhält der Betroffene Ak-teneinsicht. Diese Akten enthalten erstmals genauere An-gaben über die Abläufe des 14.5. (siehe Quelle Nr. 1).

16.8.2006Das Polizeipräsidium Mittelhessen räumt in einer Stellungnahmezur Beschwerde gegen den Unterbindungsgewahrsam vonJörg B. vor dem Oberlandesgericht erstmals ein, dass eine Ob-servation durch das MEK stattgefunden hat. Allerdings ersetztes die eine (nicht mehr aufrechtzuerhaltende) Lüge durch eineneue, indem die Polizei nun das Ergebnis der Observation falschwiedergibt – nämlich dass diese im Stadtgebiet Gießen nichtweitergegangen wäre.

Unter anderem behauptet die Polizei: „Gegen 02.13 Uhr mel-dete eine Objektschutzstreife, man habe im Bereich desSpener Wegs, wo sich die Geschäftsstelle des CDU-Kreisver-bandes befindet, den Antragsteller gesehen“. Erstens ist dasschon deshalb falsch, weil die Objektschutzstreife nur die Ver-mutung ausgesprochen hat aufgrund des ihr vorliegenden Fo-tos. Gleichzeitig wurde die Person als 1,80m groß beschrieben,d.h. von der Größe her war die Abweichung derart stark, dass inder Polizeizentrale mit Sicherheit die Information sofort alsFalschmeldung erkannt wurde. Zweitens wurde zu dieser Zeitdie betroffene Person ja auch schon über 20min dauerhaft aneinem ganz anderen Ort geortet und lückenlos überwacht.Das war der Einsatzzentrale (siehe Zeitplan am 14.5.2006)auch ständig bekannt. Am 16.8., also über zwei Monate später,war das der Polizei auch bekannt – die Stellungnahme an dasOLG ist also weiterhin vorsätzlich falsch.

24.8.2006Fortsetzungsfeststellungsklage des Fördervereins (Hausbesitzer)zur Hausdurchsuchung: Das Verwaltungsgericht Gießen be-schließt, nicht zuständig zu sein und gibt das Verfahren an dasAmtsgericht ab (Az. 10 E 1663/06). Dort wird jetzt entschieden,allerdings nicht-öffentlich − wohl das Ziel des Manövers.

26.8.2006Der Betroffene Jörg B. reicht bei der Staatsanwaltschaft GießenStrafanzeige gegen Amtsrichter Gotthardt wegen Freiheits-beraubung und Rechtsbeugung im Amt ein, zudem gegen diebeteiligten Staatsschutzbeamten wegen falscher Verdächti-gung und Beihilfe zur Freiheitsberaubung.

31.8.2006Der Beschwerdeführer bei der Fortsetzungsfeststellungsklageerhält Akteneinsicht in die Akte zu seiner Festnahme. Dieseenthält kein einziges Papier, dass vor der Festnahme ent-standen ist oder Vorgänge der Zeit davor beschreibt oder be-

Weitere Fallbeispiele für FreiheitsberaubungGedichte-Lesung mutiert zu BrandanschlagAm Abend des 9.12.2003 fand vor der StaatsanwaltschaftGiessen eine öffentlich angekündigte Gedichtelesung statt.Diese war mit Bezug zu dem am 15.12.2003 anstehenden Pro-zesses gegen zwei Aktivisten aus dem Umfeld der Projektwerk-statt angesetzt worden, um die absurden Sicherheits- und Be-wachungsmaßnahmen im Vorfeld zu karikieren. Die Polizei rea-gierte wenig humorvoll: 12 TeilnehmerInnen der Lesung wurden18 Stunden in Gewahrsam genommen. Bekannt wurde zudem,dass EKHK Puff, damaliger Chef des Staatsschutz Giessen,beim Amtsgericht Giessen eine Verlängerung des Gewahrsams bean-tragte mit dem klaren Ziel, die betroffenen Personen länger weg-sperren zu können − jedoch ohne Erfolg. Aktuelle Fälle wie der 14.Mai 2006 zeigen aber, dass Gerichte in Giessen solche Kurzzeit-Weg-sperr-Szenarios inzwischen bereitwillig unterstützen.Während die Betroffenen im Zellentrakt des Polzeipräsidiums Mittel-hessen saßen, gab die Polizei eine Pressemitteilung heraus, die auchins Internet eingestellt wurde: „Am Dienstag, dem 09.12.03, gegen22.15 Uhr, wurden 12 Aktivisten am Eingang des Gebäudes derStaatsanwaltschaft Gießen in der Marburger Straße angetroffen. DieseGruppe hatte offensichtlich die Absicht, Farbschmierereien zu bege-hen, da entsprechende Utensilien mitgeführt wurden.„ Die Story derPolizei war frei erfunden: Bei den Durchsuchungen wurde tatsächlichaußer Zetteln mit Gedichten keine Gegenstände (Spraydosen, Farbeusw.) aufgefunden, die für solche Aktionen geeignet wären. Den Gies-sener Zeitungen war das noch nicht genug − dort wusste menschmehr als die Polizei: „Die Gruppe hatte offenbar die Absicht, Farb-schmiereien zu begehen, Geräte dazu hatte sie dabei.“ (Giessener An-zeiger, 11. Dezember 2004, S.9). Noch genauere Informationenmüssen Bernd Altmeppen vorgelegen haben: „Bei unterschiedlichenPersonen fanden sich Farben und andere Utensilien.“ (Giessener All-gemeine, 11. Dezember 2004, S. 23, Autor: Bernd Altmeppen).

Lügen-„Update“ nach BeschwerdeWenige Tage nach dem unerwartet kurzen Gedichte-Lesung legte einBetroffener bei der Polizei Beschwerde gegen die Maßnahme ein.. Ineinem Brief vom 27.05.2004 erklärte die Assessorin Brecht (PP Mittel-hessen) die Polizei-Aktion für rechtmäßig. Dabei wurde zur allseitigenÜberraschung eine ganz neue Geschichte erzählt: War einen Tagnach der Lesung noch davon die Rede, dass die TeilnehmerInnen derLesung Farbattacken vorbereitet hätten, hieß es nun, mensch habeUtensilien für Brandanschläge mit sich geführt, die sogar noch Farb-spuren von anderen Aktionen aufgewiesen haben sollen. Erwähntwurde ein Gefäß mit Farbanhaftungen, das nach Analysen des LKAmit Lösungsmittel gefüllt gewesen sein soll. Zudem wurden etlicheVorverurteilungen und politische Verdächtigungen eingeführt (u.a. derVerweis auf einen Brandanschlag auf das für Gentechnik werbendeScience Live Mobil, bei dem dieses völlig zerstört wurde). Warum dasGefäß erst ein halbes Jahr später benannt wurde, blieb völlig unklar.

Page 10: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

Polizeidokumentation Gießen 2006 · 25www.polizeidoku-giessen.de.vu

dete Staatsanwalt Vaupel die Einstellung des Verfahrens. Auch er wie-derholte die Geschichte, mit der bereits die Polizei ihre Maßnahme fürrechtmäßig erklärt hatte: „Die Zusammensetzung der Personen-gruppe, ihr Gesamteindruck, die Flugblätter, die Farbanhaftungen anden Hosen und der Behälter ließen darauf schließen, dass die Perso-nengruppe geplant hatte, in dieser Nacht erneut Farbe auf den Justiz-gebäuden anzubringen oder sogar einen Brandanschlag durchzufüh-ren.“ Gegen die Einstellung wurde umgehend Beschwerde eingelegt.Auch der Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht in Frankfurt, diesich mit der Beschwerde beschäftigen musste, fiel nichts Neues ein.Daher erreichte den Anzeigensteller auch in diesem Fall ein knapp ge-haltenes, auf den 5.11.2004 datiertes Einstellungsschreiben. Darinfand sich die schon von Staatsanwalt Vaupel vorgetragene Ansicht,dass Farbanhaftungen an Hosen und Gefäßen Utensilien darstellen,um Gerichtsgebäude zu bemalen. Den Staatsanwaltschaften war zuGute zu halten, dass sie höchstwahrscheinlich wenig praktische Erfah-rung mit der Durchführung von Farbanschlägen haben dürften.Am 10.12. wurde beim Oberlandesgericht (OLG) in Frankfurt ein An-trag auf gerichtliche Entscheidung gestellt − gibt ein Gericht diesemMittel statt, ist die Staatsanwaltschaft gezwungen, Anklage zu erhe-ben. Allerdings besteht dabei Rechtsanwaltszwang, d.h. Normalsterb-liche können dieses Mittel nicht selber einlegen, wodurch bereits ei-nige (auch finanzielle) Hürden gesetzt sind. In einem Beschluss desOLG vom 28.12.2004 wurde der von einem Rechtsanwalt eingereichteAntrag aufgrund formaler Mängel als unzulässig verworfen. Damitmachte es sich das Gericht sehr einfach − gleichzeitig markierte dieseEntscheidung auch den Endpunkt dieses konkreten Verfahrensgangs.Den mit dem Fall konfrontierten Staatsanwaltschaften und dem OLGwar es also gelungen, Polizei und Presse davor zu schützen, öffentlichals LügnerInnen dargestellt zu werden.Auch in diesem Fall waren falsche Verdächtigungen gepaart mit Frei-heitsberaubung offensichtlichster Art, gerade angesichts der wech-selnden Begründungen für die Straftat. Eine Rechtsgrundlage für dieInhaftierung war zu keiner Zeit gegeben und selbst der ausgebliebeneVersuch, niedrigschwelligere Mittel (Platzverweise) hätte über keinerechtliche Basis verfügt, weshalb im Gesamten ein Verstoß gegenGrundrechte festzustellen war. Zudem ist auf Seiten der eingeschal-teten Staatsanwaltschaften (und des OLG) der erfolgreiche Versuch zukritisieren, Ermittlungen gegen die TäterInnen im Keim zu ersticken

Die Schilderungen der Polizei legten nahe, dass es sich bei demGefäß tatsächliche um ein Utensil der Reinigungsfirma handelte, diemit der Säuberung der beschmierten Gebäude beauftragt wurde.Diese Einschätzung wurde später von POK Broers bestätigt, der einenentsprechenden Vermerk anfertigte: „Eine Untersuchung des Gefäßesbeim HLKA kam zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Eimer han-delte, in dem eine Kunststoffflasche lag. Die angesprochenenFarbreste konnten beim HLKA nicht mehr festgestellt werden.“ Auchdie zweite Story der Polizei war also frei erfunden, um die Inhaftierungunerwünschter Personen zu rechtfertigen.

Anzeige, Einstellungen, Antrag auf gerichtliche EntscheidungAm 10.6.2004 stellte einer der “Gedichte-Gewahrsamler„ mit Bezugzum 9.12.2003 Strafanzeige gegen die verantwortlichen Beamten:Werner Tuchbreiter (Pressestelle im Polizeipräsidium Giessen), Polizei-präsident Manfred Meise und der leitende Polizeidirektor GüntherVoss. Angezeigt wurden Politische Verdächtigung (§ 241a Strafgesetz-buch), Falsche Verdächtigung (§ 164), Beweismittelfälschung (§ 269)sowie Freiheitsberaubung (§ 239). Mit Schrieb vom 1.9.2004 verkün-

legt. Daher ist in der vorliegenden Gerichtsakte kein Grund fürdie Festnahme zu erkennen. In einem Schreiben an das Verwal-tungsgericht weist der Beschwerdeführer am 1.9.2006 aufdiese Lücken hin und beantragt daher die Feststellung derRechtswidrigkeit der Festnahme. Gleichzeitig weist er auf vor-handene Akten mit mehr Informationen hin, die ebenfalls zuseinen Gunsten beweisen, dass keinesfalls ein Tatverdachtgegen ihn bestand oder besteht.Zudem erhalten Betroffene Akteneinsicht in Akten, die die Vor-gänge des 14.5. klären (siehe Quellen Nr. 1).

1.9.2006Der Betroffene reicht als Ergänzungen zu seinen Strafanzeigendie Ergebnisse der Auswertung der Akteneinsicht nach. Da-nach ist bewiesen, dass die Polizei wusste, der er nicht tatver-dächtigt war.

6.9.2006Der Anwalt des Betroffenen reicht ebenso die Ergebnisse derintensiven Aktenauswertung als Ergänzung zur Beschwerdegegen den Gewahrsam an das Oberlandesgericht und fordertdie Hinzuziehung der Akten.

12.10.2006Das Landgericht hebt die Beschlagnahmen auf (Az. Os177/06). Die DNA-Tests bei den Graffitis haben einen anderenTatverdächtigen ergeben. In der Begründung behauptet die 7.Strafkammer um Richter Pfister aber erneut, es hätte Tatver-dacht bestanden und es wäre auch in der Weserstraße (naheder Kanzlei von Inneninister Bouffier) gesprüht worden. Beidesist gelogen. Der Betroffene rügte deshalb trotz der für ihn posi-tiven Entscheidung die Nichtbeachtung seiner Beschwerdein-halte. Der andere Tatverdacht könnte ein Trick sein, um aus derpeinlichen Rechtsbeugung wieder herauszufinden.

2.11.2006Eines der Opfer dieses Polizeieinsatzes trägt die Geschehnisseein einem anderen Gerichtsverfahren vor. Ziel ist die Dokumen-tation verfassungswidrigen Handelns beim Amtsgericht Gießen,weil das Justizkritik rechtfertigen würde. Doch Richter Wendel(auch bei diesem Amtsgericht) verwirft den Antrag: „Ohne Be-deutung“. Damit bleibt es bei dem Stand, dass auch vier Jahrenach Beginn der pausensolen Hetze, dem Verurteilungswahnund vielen Straftaten durch PolitikerInnen, Polizei, Staatsanwälteund RichterInnen gegenüber ihren KritikerInnen zwar derenOpfer vielfach vor Gericht standen und mehrfach verurteiltwurden − aber noch kein einziges Mal die Taten in Uniform undRobe vor Gericht landeten.

Zum EinsatzplanEs waren etliche Polizeigruppen an der Polizeiaktion beteiligt.Diese erhielten bestimmte Aufträge, aber einige waren nurüber die ihren Teil betreffenden Dinge informiert, wussten abernichts über den Gesamtplan.

Auftrag für die Objektschutzgruppe „Bouffier“„Im Zeitraum 13.05.2006, 19.00 Uhr – 14.05.2006, 07.00 Uhrwurde ich als Führer eines Objektschutzkommandos bei der Po-lizeistation Gießen-Nord eingesetzt. ... Auftrag war die Bestrei-fung des Altenfeldsweges im Bereich eines gefährdeten Ob-jekts. Bei der Einsatzbesprechung wurde ein gesondertes Au-genmerk auf eine Person namens BERGSTEDT, welcher sich ver-mutlich mit anderen Personen umgibt, gelegt. Gegen 1.00 Uhrwurde ich durch PK Kaiser fernmündlich über ein Gespräch mitdem PvD, Schust, informiert. Inhalt dieses Gesprächs war, dassdie o.g. Personengruppe um BERGSTEDT von operativen Zivil-kräften aufgenommen und observiert wird. Ein Herantreten andie Personengruppe sollte nicht geschehen. Alle Maßnahmen,welche sich auf diese Personengruppe beziehen, sollten vorhermit der Einsatzzentrale Gießen abgesprochen werden. Der In-halt dieses Telefonats sollte und wurde fernmündlich an die an-deren Streifen weitergegeben.“ (1, Bl. 22, wdh. 35 = Vermerk vonPOK Kohlenberg)

Nach diesem Einsatzplan ist sicher, dass - Die Einsatzzentrale (z.B. der dortige PvD, Schust) immerüber alles (!) informiert war, d.h. die Polizei wusste damitauch, dass die später Festgenommenen nicht tatverdäch-tig, weil zur Tatzeit Federballspielen an einem anderen Ortwaren.

- Die Polizei wollte, dass eine Straftat begangen wird. Hierzeigt sich ein Verfolgungswille, bei dem die Straftat selbstmit provoziert wird, um endlich mal einen Erfolg zu haben.

- Die Polizei ergriff eine Vielzahl von Maßnahmen, damit diebeobachtete Gruppe das umfangreiche Polizeiaufgebotum sie herum und den Einsatzplan nicht bemerkt.

- Nachdem der Plan der Polizei, eine Straftat zu provozierenund dann die TäterInnen auf frischer Tat zu erwischen,scheitert, entscheidet sie sich dennoch für einen Zugriffund dann zur Erfindung eines Tatverdachts unter Ver-schleierung dessen, dass sie selbst weiß, dass es nichtstimmt.

Diese Details gehen auch aus anderen Vermerken hervor:

Polizeikontakt zur RadlerInnengruppe unbedingt vermei-den„Im Laufe der Nacht wurde der Streife über Funk und auch überTelefon von hiesiger Wache mitgeteilt, dass sich Personen derProjektwerkstatt Saasen in Gießen aufhalten. Eine offene Kon-trolle dieser Personen bei deren Antreffen sollte unterblieben. Essollte lediglich Mitteilung über deren Standort erfolgen.“ (1, Bl. 16,Vermerk POK Kelbch).

„Gegen 01:10 Uhr kam vom Kommandoführer, POK Kohlenberg,per Handy die Anweisung, die vorgenannten Personen beimAntreffen nicht zu kontrollieren, sondern lediglich die Feststel-lungen direkt an die EZ weiterzuleiten. Diese Weisung sei unmit-telbar von der EZ ergangen ... Gemäß Auftrag entfernten wiruns vorübergehend aus dem Bereich.“ (1, Bl. 25 = Vermerk POKRöder).

„Die PK'in Lerner und ich wurden kurz zuvor durch den POKKelbch informiert, dass bei Feststellung verdächtiger Personendie Leitstelle telephonisch zu informieren sei und keine weiteren

Page 11: 2 FreiheitsberaubunginAm tundUniform - · PDF fileu ng d eT aCDU üZ t lis chm , of s ic ht lb ef ndF rp I um 2. 8 U u ndm2 .45U h raf eJ siz gl S co nch tm gl , d evo rO bj k s uz

26 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

und damit ein rechtliches Vorgehen gegen die Freiheitsberaubung un-möglich zu machen. Das war zum wiederholten Male nicht nur Straf-vereitelung, sondern auch Rechtsbeugung im Amt, weil es urteils-gleiche Auswirkungen hatte (in diesem Fall: wie ein Freispruch wirkt).Der informelle Grundsatz „Gegen Polizei/Polizisten wird nicht ermit-telt“, der hier aufschien, verstieß zudem gegen das Gleichheitsgebotder Verfassung. ê Mehr Informationen: www.projektwerkstatt.de/9_12_03.

Gewahrsam nach „Feldbefreiung“Am Freitag vor Pfingsten 2006 zerstörten vier AktivistInnen unter Bei-hilfe der sie festnehmenden Polizeibeamten Teile eines Versuchsfeldesmit transgener Gerste. Insgesamt sechs Personen wurden festge-nommen und in Polizeigewahrsam verbracht. Zwei Personen entließdie Polizei relativ schnell wieder, die vier „FeldbefreierInnen“ führt siedem Amtsrichter Hendricks vor. Wieder einmal lautete der Antrag derPolizei: Unterbindungsgewahrsam bis nach Pfingsten.Ein bemerkenswertes Detail ereignete sich in der ersten von vier An-hörungen: Richter Hendricks versuchte zunächst, möglichst korrektalle Seiten anzuhören. Das aber schuf ein Problem: Die Gießener Po-lizei konnte keine brauchbaren Gründe vorbringen, warum ein Platz-verweis/Aufenthaltsverbot zur Sicherung des Genfeldes nicht ausrei-chen sollte. Zudem konnte niemand mit Bestimmtheit aussagen, obder Angeschuldigte überhaupt gentechnisch veränderte Pflanzen zer-stört hatte. Der hilflose Richter Hendricks schickte danach alle nachdraußen und kündigte an, Telefonate u.a. mit der Führung derGießener Polizei zu machen. Etwas später rief er alle wieder rein. DieAnhörung wurde nicht fortgesetzt, sondern Richter Hendricks hatteden Beschluss zum mehrtätigen Unterbindungsgewahrsam schonausgedruckt: „Ich muss leider folgenden Beschluss verkünden.“ Ge-waltenteilung war an diesem Punkt nicht mehr erkennbar; vielmehrschien im vorliegenden Fall die Polizei dem Richter eine klare Ansagegemacht zu haben, was er zu entscheiden hatte.Auffällig war zudem, dass die Polizei zum Zeitpunkt der Anhörungselbst schon vier umfangreiche Dauer-Platzverweise in schriftlicherForm mit sich führte, die den betroffenen Personen nach dem richterli-chen Beschluss ausgehändigt wurden. D.h. die Polizei setzte selbst

Maßnahmen zu treffen sind, da im Stadtgebiet operative zivileKräfte eingesetzt wären, welche die verdächtigen Personenaufnehmen und möglichst auf frischer Tat ertappen sollen. Ausdiesem Grund wurde die Leitstelle telefonisch informiert undeine Personenbeschreibung abgegeben. Weitere Maßnahmenerfolgten nicht. Wir verließen das Gebiet auf Weisung der ope-rativen zivilen Kräfte, um deren Maßnahmen nicht zu stören.“ (1,Bl. 30 = Vermerk PK Franz).

„Eine Meldung an die EZ erfolgt umgehend, woraufhin die EZanordnete, dass hiesige Streife sich unverzüglich aus diesemBereich zu entfernen habe. Auf Nachfrage wurde angeordnet,dass man sich komplett zurückziehen solle und auch ein ver-decktes Aufstellen im Nahbereich nicht zu erfolgen hat“ (1, Bl. 34= Vermerk PK Kaiser)

Ziel: Observation, Straftaten nicht verhindern, sondern er-möglichen, aber dabei erwischenDie normalen Polizeistreifen dienten neben dem Objektschutzvor allem zur Steuerung der zivilen Kräfte MEK und OPE: „Wei-tere offene Maßnahmen sollen unterbleiben, da sich operativezivile Einheiten im Stadtgebiet Giessen befinden, die die Verfol-gung verdächtiger Personen aufnehmen und auf frischer Tatertappen wollen“ (1, Bl. 18, Vermerk PK'in Lerner).

„Unmittelbar nach Erkennen dieser Personen, gab der KollegeKAISER diese Feststellung an die EZ Gießen über Funk weiter.Von dort wurde angewiesen, Maßnahmen zu unterlassen, dazivile Kräfte an diese Personengruppe herangeführt werdensollen. Nähere Hinweise über Alter, Aussehen, Bekleidung etc.können nicht gegeben werden, da sofort nach der Anweisung,ein Einschreiten zu unterlassen, die Örtlichkeit verlassen und aufden Parkplatz Ringallee gefahren wurde. Von dort ist eine Sichtin den Bereich Gutfleischstraße Ecke Ostanlage möglich.Nachdem der Nahbereich durch zivile Kräfte abgedeckt war,verließen wir unserem Standort, um weitere Objekte nacheventuellen Personen abzusuchen. Die Dauer unserer Aufstel-lung am Parkplatz Ringallee betrug ca. 5 Minuten“ (1, Bl. 80 =Vermerk VA Hentschel).

Handy benutzenStatt Funk sollten Handys für Durchsagen über die Standorteder RadlerInnengruppe erfolgen (1, Bl. 18, Vermerk PK'in Lerner).Grund dafür dürfte sein, dass die Polizei auf keinen Fall wollte,dass ihr Plan auffliegt. Der analoge Polizeifunk ist abhörbar,Handy-Gespräche nicht.

Paranoia auf PolizeiseiteDer Antrag des Staatsschutzes an Richter Gotthardt enthältnicht nur Lügen und erkennbare Widersprüche, sondern auchAbsurdes: „Um 02.35 Uhr meldete sich die Zeugin erneut undgab an ... 2 männliche Personen, beide dunkel bekleidet, einedavon mit weißem Kapuzenpulli ...“ (Bl. 144).

PK'in Lerner will Jörg B. um 1.46 Uhr nahe der CDU-Geschäfts-stelle gesehen haben. Angesichts der Observationsergebnisseder Polizei ist das nicht möglich, da er ab 1.42 Uhr auf dem Ge-richtsgelände observiert wird. Es muss also Einbildung gewesensein (1, Bl. 16) – sicherlich ein Vorgang, der zu denken gebensollte angesichts dessen, wie oft PolizistInnen die Personen se-hen, die sie sehen sollen. Von der Einsatzzentrale wurde die Be-obachtung bewusst für die Konstruktion eines Tatverdachts be-nutzt − wider besseren Wissens.

Vier Tage später: Bei Kreidemalereien vor der Kanzlei des In-nenministers Bouffier, die am helllichten Tag (16.10 Uhr) statt-fanden, glauben die Polizeistrategen, es könnte ein Ablen-kungsmanöver sein. Für was es die Ablenkung sein soll, ist nir-gends notiert (1, Bl. 217 = Vermerk POK Brück).

Quellen1. Akte zum Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung:501 UJs 46175/06 POL, eingesehen am 31.8.20062. Akte zum Unterbindungsgewahrsam: AG 22 II 27/06 beimAmtsgericht Gießen; 7 T 215/06 beim Landgericht Gießen.

Fußnoten 1 Das MEK ist eine Spezialeinheit, die bei den Landeskrimi-nalämtern angesiedelt ist. Ihre Aufgabe ist die unauffälligeObservation gefährlicher Straftäter. Dabei wurden im kon-kreten Fall, möglicherweise auch prinzipiell Fahrzeuge mitverdeckten Kameras verwendet, die über eine Funkver-bindung mit wenigstens zwei Monitorwägen verbundenwaren. Einsätze dieser Einheit sind selten und auf schwereDelikte beschränkt.

auf ein niedrigschwelligeres Mittel − und verschwieg dies in der An-hörung wissentlich, um die Unterbindungsgewahrsam durchsetztenzu können. Insofern zeigte das Handeln der Polizei, dass eine Frei-heitsberaubung absichtlich herbeigeführt werden sollte.Gegen die Entscheidung legten alle Betroffenen Beschwerde ein.Diese wurde vom Amtsgericht Gießen zurückgewiesen, während dasLandgericht Gießen einen besonders absurden Beschluss erzeugte:Der Gewahrsam nach der Festnahme sei rechtswidrig, weil nicht um-gehend eine richterliche Entscheidung herbeigeführt wurde. Ab demZeitpunkt des richterlichen Beschlusses sei der Gewahrsam dannaber rechtmäßig. Diese Argumentation überzeugt nicht, weil zweifel-haft ist, wie ein Gewahrsam, der rechtswidrig zu Stande kommt, alsBasis für einen rechtmäßigen dienen kann. Weitere rechtliche Schrittewerden folgen, um die Unrechtmäßigkeit des Gewahrsams feststellenzu lassen. Aber immerhin: Vierfach ist die polizeiliche Haft in derzweiten Instanz schon als rechtswidrig festgestellt worden.

ê Mehr Informationen: www.gendreck-giessen.de.vu.

AbkürzungenEZ = EinsatzzentralePK, POK, KK, KOK, KHK, VA = Dienstränge der PolizeibeamtInnenMEK = Mobiles Einsatzkommando (technische Überwa-chungseinheit der Landespolizei)PvD = Polizeiführer vom Dienst, d.h. der zentrale Einsatzleiter andiesem Abend.HLKA = Hessisches Landeskriminalamt