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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet Herausgegeben von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. mit Unterstützung der baden-württembergischen Landesregierung Autor: Dr. Alfred Eisfeld

200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet

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Page 1: 200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet

200 JahreAnsiedlung der Deutschen

im Schwarzmeergebiet

Herausgegeben von derLandsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.mit Unterstützungder baden-württembergischen LandesregierungAutor: Dr. Alfred Eisfeld

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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet

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In diesem Jahr wird der 200. Jahres-tag der Auswanderung der Deut-schen in das Schwarzmeergebiet be-

gangen. Daran wird deutlich, wie langdie Geschichte der Deutschen in Russ-land ist. Dort haben sie eine historischeAufbauarbeit für ihr Aufnahmeland ge-leistet, die erst durch den II. Weltkriegabgebrochen ist. Sie wurden ihrer Bür-gerrechte beraubt, enteignet und nachSibirien und Mittelasien deportiert.Nun kehren die Russlanddeutschen aufder Suche nach einer neuen Heimat nach

Deutschland zurück. Vielen Deutschen ist die Leidensge-schichte unserer Landsleute aus Russland unbekannt. Hier tref-fen sie oft auf Unwissenheit und mangelnde Akzeptanz. Wirmüssen dafür sorgen, dass das nicht so bleibt. Die heimischeBevölkerung muss verstehen und anerkennen, warum die Aus-siedler und ihre Angehörigen nach Deutschland übersiedeln.Verständnis setzt Geschichtskenntnis voraus. Deswegen begrü-ße ich Ihre Entscheidung, den 200. Jahrestag der Auswande-rung der Deutschen in das Schwarzmeergebiet mit einer Reihevon Veranstaltungen zu begehen.Wir sind rechtlich und moralisch verpflichtet, die Russland-deutschen aufzunehmen, da sie am längsten unter den Folgendes II. Weltkrieges gelitten haben. Die Zuwanderung muss je-doch sozialverträglich sein und bleiben. Dabei will ich nichtverschweigen, dass die Integration insbesondere jugendlicherAussiedler schwieriger geworden ist. Integration jedoch bedeu-tet: Fördern und Fordern! Ich erwarte die Bereitschaft der Spät-aussiedler und ihrer Familien, sich aktiv an ihrer Eingliederungzu beteiligen. Es ist eine beiderseitige Herausforderung: Einer-seits müssen wir den Menschen die Rahmenbedingungen füreine erfolgreiche Integration schaffen - andererseits müssen dieSpätaussiedler und ihre Familienangehörigen selbst ihre Integ-rationsanstrengungen erheblich verstärken und besonders diedeutsche Sprache intensiv erlernen. Die Bundesregierung wirdgerne helfen, in bewährter Zusammenarbeit mit Ländern undKommunen, mit Kirchen und Verbänden und den vielen enga-gierten Ehrenamtlichen.In diesem Sinne wünsche ich der Landsmannschaft weiterhinviel Erfolg bei ihrer Arbeit, uns eine Fortsetzung der bewährtenZusammenarbeit und der Festveranstaltung zum 200. Jahrestagder Auswanderung der Deutschen in das Schwarzmeergebieteinen guten Verlauf.

Jochen Welt,Beauftragter der Bundesregierung für

Aussiedlerfragen undnationale Minderheiten

Die Geschichte Baden-Württem-bergs ist untrennbar verbundenmit der bewegten Geschichte der

Deutschen, die vor genau 200 Jahren be-gannen, in den Süden Russlands ansSchwarze Meer auszuwandern. Es wa-ren vor allem Menschen aus Württem-berg, die damals dem Ruf des russischenZaren folgten und nach Bessarabien, indie Ukraine, in den Kaukasus oder aufdie Krim zogen. Sie haben in ihrer neu-en Heimat blühende Landschaften undeine reiche Kultur geschaffen.

Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg suchten viele von ih-nen im Südwesten Deutschlands Zuflucht vor Verfolgung, De-portation und Vertreibung. Hier in der Heimat ihrer Vorfahrenhalfen sie tatkräftig mit beim Wiederaufbau unseres Landesund haben so mit Willenskraft und unermüdlichem Fleiß zumwirtschaftlichem Aufschwung des Landes Baden-Württembergbeigetragen.Der Landesregierung Baden-Württembergs war es stets ein be-sonderes Anliegen, den Vertriebenen, Flüchtlingen und Spät-aussiedlern aus Russland eine neue Heimat und ein verlässli-cher Ansprechpartner zu sein. In unserem Land wurde 1950 dieCharta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet und imselben Jahr die Landsmannschaft der Deutschen aus Russlandgegründet. Aus dieser engen Verbundenheit heraus hat dasLand Baden-Württemberg im Jahr 1979 die Patenschaft überdie Landsmannschaft der Deutschen aus Russland übernom-men.Ich möchte den diesjährigen Festtag dazu nutzen, meinen Re-spekt und meine Hochachtung für die Leistungen der Deut-schen aus Russland, aber auch mein Mitgefühl für diese vomSchicksal in besonders schwerer Weise getroffene deutscheVolksgruppe auszudrücken. Ich danke der Landsmannschaftder Deutschen aus Russland für die Arbeit an der Wanderaus-stellung “Deutsche aus Odessa und dem Schwarzmeergebiet”,die nun ihren Weg durch Deutschland nehmen wird, sehr herz-lich und wünsche allen Beteiligten auch für die Zukunft die En-ergie und den Mut, ihre wichtige Arbeit fortzusetzen.

Heribert RechStaatssekretär und Landesbeauftragter für

Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler

Grußworte

Jochen Welt Heribert Rech

200 Jahre Ansiedlungder Deutschen im Schwarzmeergebiet

Verfasser: Dr. Alfred Eisfeldweitere Beiträge: Gertrud Braun (†), Maria Görzen

Redaktion: Hans KampenHerausgeber: Landsmannschaft

der Deutschen aus RusslandAbrufbar im Internet unter der Adresse:

www.deutscheausrussland.de

Liebe Landsleute,

mit der Herausgabe der Broschüre “200 Jahre Ansiedlung derDeutschen im Schwarzmeergebiet” im Jubiläumsjahr derSchwarzmeerdeutschen erinnern wir an die Geschichte vonMenschen, die nach der Auswanderung zu Beginn des 19. Jahr-hunderts und einer langen Blütezeit im 20. Jahrhundert zu Op-fern der stalinistischen Diktatur wurden und heute zum großenTeil wieder in die Heimat ihrer Vorfahren, nach Deutschlandzurückgekehrt sind.Ohne die Unterstützung der baden-württembergischen Landes-regierung und den ehrenamtlichen Einsatz vor allem desHauptautors Dr. Alfred Eisfeld wäre diese Broschüre wohlnicht zu Stande gekommen. Wir bedanken uns dafür herzlichund hoffen, dass sie auch auf das Interesse der einheimischenBevölkerung stoßen wird.

Ihre Landsmannschaft

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Über die 200-jährige Geschichte gibt es zahlreiche Le-genden. Nicht alles, was heute erwähnenswert er-scheint, wurde mündlich überliefert, manches wurde

nach kurzer Zeit nicht mehr erwähnt, weil man das nicht füropportun hielt. Nach der Errichtung der Sowjetmacht warenzahlreiche Personen in der Tat gefährdet, viele waren wegenihrer Vergangenheit Verfolgungen ausgesetzt und verlorenihr Leben.Heute wollen wir uns gemeinsam an den Weg erinnern, dendie Schwarzmeerdeutschen in diesen 200 Jahren zurückge-legt haben, sowie an Personen und Ereignisse, die prägendwaren.Unter dem Begriff “Schwarzmeerdeutsche” bitte ich heutejene Kolonisten zu verstehen, die das Gebiet zwischenDnjestr und Bug besiedelten. Das waren die Kolonien desLiebentaler, des Beresaner, des Kutschurganer und desGlückstaler Gebiets. Die Kolonien an der Molotschnaja, beiMelitopol und auf der Krim nahmen ihren Anfang ein Jahrspäter. Deren Jubiläum werden wir 2004 begehen.

Entstehung der Kolonien

Das Gebiet zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug fiel be-kanntlich 1791 nach dem russisch-türkischen Krieg an Russ-land (Friedensvertrag von Jassy). Zu dieser Zeit war dieseRegion nur dünn besiedelt, aber keineswegs menschenleer.Sie wurde in drei Bezirke eingeteilt: Tiraspol, Otschakow

und Cherson. Zur wirtschaftlichen Erschließung wurdeGutsbesitzern, Beamten und Offizieren Land zugeteilt, ver-bunden mit der Verpflichtung, dieses mit Bauern aufzusie-deln. Die Aufsiedlung machte nur mäßige Fortschritte. DieRegierung sah sich daher gezwungen, Grundbesitzern wie-derholt Fristverlängerungen zu gewähren.Eine Bestandsaufnahme im Sommer 1804 ergab, dass dortzu dieser Zeit 62.933 Staatsbauern siedelten, außerdem Ko-saken am Bug und Bauern, die der Admiralität unterstanden.Der deutsche Südwesten (Württemberg, Baden, Pfalz sowieElsass und Lothringen) befanden sich zu dieser Zeit in einerschwierigen Lage. Einerseits waren es der vom napoleoni-schen Frankreich ausgehende Druck, steigende Steuerforde-rungen und Plünderungen durch fremde Truppen, die 1792bis 1815 wiederholt durch diese Landschaften zogen. Ande-rerseits war es der von Neuerungen in Württemberg selbstausgehende Druck. Württemberg wurde 1805 zum König-reich erhoben. König Friedrich bemühte sich, aus den vielen,vor kurzem noch unabhängigen Territorien einen zentralisti-schen Staat zu schaffen. Sonderprivilegien in einzelnen Ge-bieten wurden aufgehoben und lokale Gewohnheiten über-gangen. Allein in den Jahren 1806 bis 1814 wurden 2.342Reskripte, Dekrete und Verordnungen erlassen.Ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens war für vieleMenschen im 19. Jahrhundert ihre Kirche, wobei sie anAlthergebrachtem hingen. In ihrer alten Heimat, in Würt-temberg, galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts die alte Ord-

DR. ALFRED EISFELD

200 Jahre deutsche Ansiedlungim Schwarzmeergebiet

Rede anlässlich der Jubiläumsfeier der Landsmannschaft der Deutschen aus Russlandam 20. September 2003 im Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart

Blick auf Odessa vom Handelshafen aus; Lithographie von Franz Groß aus den 1850er Jahren.

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nung nicht mehr. Das Gesangbuch wurde bereits 1791 geän-dert und enthielt nur mehr 29 Lieder in gewohnter alter Fas-sung. Die Unruhe in den Gemeinden war so groß, dass 1800sogar Militär zur Wiederherstellung der Ordnung einschrei-ten musste. Die Erregung darüber war noch nicht abgeklun-gen, da wurde 1809 die Liturgie geändert. Viele suchten fürsich nach Rettung und glaubten ihr Heil fern der Heimat, inNeurussland finden zu können.Der erste Transport brauchte von Galaz bis zur russischenGrenzstadt Dubosary zehn Tage. Auf dieser Strecke verstar-ben sechs Personen. Viele der Ankömmlinge, die am 24.August 1803 Dubosary erreichten, waren krank. Der zweiteTransport mit 94 Personen kam am 28. August an. Bis zumJahresende kamen insgesamt neun von zehn Transporten an.Der französische Offizier Franz Ziegler hatte dafür insge-samt 325 Männer und 245 Frauen mit 571 Kindern angewor-ben. Die Überfahrt von Ulm bis Galatz auf der Donau undvon dort auf dem Landweg weiter nach Dubosary dauertezwischen 82 und 88 Tagen.91 Personen des ersten Transports konnten die Quarantäneam 4. September verlassen. 61 von ihnen wurden nachOdessa weiter geleitet, die restlichen 30 blieben vorerst inDubosary.Am 5. Oktober wurde Samuel Kontenius, der Oberrichterdes Neurussischen Fürsorgekontors für ausländische Ansied-ler war, die Leitung der Kolonisation anvertraut. Am 17. Ok-tober unterzeichnete Zar Alexander I. eine Verfügung über

den Ankauf von Land in der Nähe der Stadt Odessa, auf demBauernkolonien angelegt werden sollten. Diesen Tag kannman als Gründungstag der Kolonien bei Odessa betrachten,doch noch war kein Spatenstich getan. Ende November nah-men Abgesandte von sechs bereits in Odessa angekomme-nen Transporten das Land in Augenschein.Den ersten Winter verlebten die Kolonisten in bereitgestell-ten Kasernen. Herzog Richelieu, Samuel Kontenius und ihreMitarbeiter bemühten sich währenddessen, ausreichendeFlächen geeigneten Landes ausfindig zu machen und für dieAnlage von Kolonien zu bekommen. Dies gelang im Früh-jahr und Sommer 1804, so dass an Stelle der früheren Bau-erndörfer Akarscha und Jewstafiewka die ersten KolonienGroß-Liebental und Klein-Liebental gegründet werdenkonnten. Etwas später entstanden in ihrer Nähe Neuburg, Pe-terstal und Josefstal. Im nächsten Jahr kamen die KolonienAlexanderhilf, Franzfeld, Mariental und Lustdorf, das beider Gründung Kaiserheim hieß, und 1806 Freudental dazu.Richelieu nannte diese Kolonien in einem Brief an Konteni-us “unser kleines Fürstentum”.Im Sommer 1808 machten sich Handwerker und Bauern ausBaden und dem Elsass auf den Weg nach Odessa. Die russi-sche Regierung hatte die Obergrenze für Einwanderer auf200 Familien pro Jahr gesenkt, um die Ankömmlinge auf-nehmen und ansiedeln zu können. Vor Ort bemühte mansich, Land für die Ansiedlung vor der Ankunft der Kolonis-ten zu besorgen.Die Kolonistenbezirke Glückstal und Kutschurgan entstan-den fast gleichzeitig. Im Juli 1808 wurde Land für die Kolo-nien Neudorf, Bergdorf und Glückstal zur Verfügung ge-stellt. Da weitere Kolonisten unterwegs waren, in der Nähevon Odessa aber kein Land schnell genug beschafft werdenkonnte, entschloss sich Richelieu, Land am KutschurganerLiman zu kaufen. 1808 konnten darauf die Kolonien Kandel,Selz und Straßburg gegründet werden.

Namensliste der Kolonisten, die am 24. August 1803 mit demersten Transport aus Ulm in Dubosary ankamen.

RichelieuArmand-Emmanuel-Sophie-Septimaniedu Plessis duc de Richelieu (1766-1822) aus einer alten und vornehmenfranzösischen Adelsfamilie (seit 1791Herzog) trat 1803 in russische Diensteüber und wurde Statthalter von Odessa.Zwei Jahre später wurde er General-gouverneur von Neurussland und küm-merte sich um alle Belange einer Regi-

on, die sich vom Dnjestr bis zum Kuban erstreckte. Be-kannt sind sein kriegerischer Einsatz und der Ausbau derHäfen und Festungen Cherson, Kinburn, Sewastopol undOdessa. Wenig bekannt ist dagegen, das Richelieu ab Feb-ruar 1804 und bis zu seiner Abreise nach Frankreich 1814die Oberaufsicht über die ausländische Kolonisation Neu-russlands inne hatte.Richelieu und Kontenius kümmerten sich gemeinsam, je-der im Rahmen seiner Zuständigkeit, um die Kolonisten.Diese Verbindung bestand auch dann fort, als Richelieu1814 Ministerpräsident Frankreichs wurde. Überliefertsind über 90 private Briefe Richelieus an Kontenius, in de-nen viele Fragen der Kolonisation bis ins Detail erörtertwurden.

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Währenddessen erreichte Richelieu die Nachricht, dass wei-tere 500 Familien aus Baden zur Auswanderung bereit seien.Diese galten, im Unterschied zu anderen Einwanderern ausDeutschland, als besonders sittsam und ordentlich in derWirtschaftsführung. Sie sollten getrennt von den anderenKolonisten angesiedelt werden.Wegen der großen Zahl von Kolonisten, die 1808 bereits un-terwegs nach Russland waren bzw. bereit waren aufzubre-chen, wurde mit Hochdruck weiteres geeignetes Land ge-sucht und am Flüsschen Beresan gefunden. 1809 konntendort die Kolonien Landau, Speyer und Rohrbach gegründetwerden. 1810 kamen Worms, Sulz, Karlsruhe, Rastadt undMünchen hinzu.Insgesamt wurden für die Anlage von Kolonien von Februar1804 bis November 1809 rund 71.900 Desjatinen Land zurVerfügung gestellt. Die Revision (Zählung der Steuerseelen)im Jahre 1811 ergab, dass in den vier Kolonistenbezirkenbereits 157.609 Desjatinen Land von Kolonisten bewirt-schaftet wurden. Bis 1858 wuchs das im GouvernementCherson zugeteilte Land bereits auf eine Fläche von 185.963Desjatinen an. Dazu kamen weitere 26.530 Desjatinen Land,die von Kolonien oder einzelnen Kolonisten gekauft wur-den.

In der Literatur kann man häufig die Aussage antreffen, dassdie Kolonisation im Schwarzmeergebiet gut vorbereitet undplanmäßig verlaufen sei. Das vorgefundene Aktenmaterialzeigt ein anderes Bild: Weder die Regierung in St. Peters-burg noch die Verwaltung in Odessa war auf die Kolonisati-on gut vorbereitet. Mit viel Energie und Improvisation ge-lang es Herzog Richelieu und Samuel Kontenius, Land fürdie Anlage der Kolonien zur Verfügung zu stellen und dieEinwanderer aufzunehmen und zu unterstützen. Im Zuge derBeschaffung von Land gewann die Regierung auch Klarheit,wie viel Land diese Region eigentlich hatte, wem es gehörteund wie es genutzt wurde. Für die Kolonisten sollten derständige Bevölkerungszuwachs, erst durch Zuwanderung,dann durch natürlichen Zuwachs, und der Bedarf an immerneuem Land kennzeichnend werden.Ackerbau war nicht die einzige Einnahmequelle der Kolo-nisten. Sie bauten Obst, Wein und Gemüse an, hielten Bie-nen und züchteten Seidenraupen. Eine wichtige Rolle spieltedie Viehhaltung. Aus Europa eingeführte Merinoschafe bil-deten die Grundlage für eine erfolgreiche Schafzucht, dieden Bedarf des russischen Marktes zu befriedigen hatte.Zur wichtigsten Einnahmequelle in der Landwirtschaft wur-de jedoch der Getreideanbau. Begünstigt durch die Nähe zu

Kontenius

Eine der bekanntesten Persönlichkeiten unter den Deut-schen im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts war

Samuel Kontenius. Über 30 Jahre lang hat er sich mit vielEinsatz um die Kolonisten gekümmert. Er sah jede Koloniepersönlich, hinterließ zahlreiche Schriften und blieb dennocheine rätselhafte Figur. Seine Herkunft ist bis heute nicht ge-klärt. Er soll in der Familie des Pastors Christian Konteniusdas Licht der Welt erblickt haben. In einigen Quellen wirdSchlesien, in anderen Westfalen als seine Heimat genannt.Über seine wahre Herkunft wurde schon zu seinen Lebzeitengerätselt. Er soll von vornehmer Herkunft gewesen sein, wohlvom höheren Adel abstammend, aber dieses Geheimnis hat ernicht gelüftet. Gerätselt wurde auch über sein Alter. Genanntwurden drei verschiedene Geburtsjahre, doch er selbst nannte1749.Nach dem Studium an einer deutschen Universität, von derman ebenfalls nicht weiß, welche es war, ging er im Alter von25 Jahren nach Russland und begann sein Berufsleben alsHauslehrer bei adeligen Familien in St. Petersburg. Darauffolgte der Dienst als Postmeister in Simferopol auf der Krim(1785-1789), als Offizier (bis 1795) und als Hofrat des Geo-graphischen Departements (ab 1797). 1798 wurde er mit derInspektion der Ausländerkolonien in Klein- und Neurussland,die zu dieser Zeit eine schwierige Phase durchlebten, betraut.Sein umfangreicher, kenntnisreicher Bericht über die Gründedes Niedergang der Kolonien führte zur Gründung des Fürsor-gekontors für ausländische Ansiedler in Südrussland, dessenOberrichter er in den Jahren 1800 bis 1818 wurde.Kontenius war an der Ausarbeitung der “Instruktion für die in-nere Verwaltung der Ausländerkolonien in Neurussland” von1801 beteiligt und ergänzte diese 1803 durch weitere 18 Para-graphen. Diese Instruktion blieb 70 Jahre lang, bis zur Aufhe-bung der Kolonialverwaltung, in Kraft.Mit der Ankunft der ersten Einwandererwelle des Jahres 1803wurde Kontenius mit deren Aufnahme und Ansiedlung be-

traut. Er kümmerte sich um jeden ankommenden Transport,besichtigte persönlich die für die Ansiedlung bestimmten Stel-len, kümmerte sich um den Häuserbau, die Beschaffung vonSaatgut und landwirtschaftlichem Gerät. Viel Zeit und Mühewidmete er der Verbreitung von Obst- und Gemüseanbau,kümmerte sich um die Schaf- und Seidenraupenzucht (letzte-res ohne bleibenden Erfolg). Für seine Ausdauer spricht u.a.,dass er im Verlauf von 20 Jahren die Entwicklung der Schaf-zucht beobachtete und für die Verbreitung der gewonnenenErkenntnisse sorgte.Am 23. März 1818 wurde Kontenius auf eigenen Wunsch ausdem Dienst entlassen, aber nach einem Dreivierteljahr erneut,dieses Mal als außerordentliches Mitglied des Fürsorgekomi-tees für ausländische Ansiedler in Südrussland in den Dienstaufgenommen. Selbst im Alter von 80 Jahren versah er diesenDienst noch, inspizierte persönlich Kolonien und kümmertesich dabei um alle anfallenden Fragen. Im Umgang mit denUntergebenen und den Kolonisten war er streng, aber gerecht.Faule und verschwenderische Kolonisten konnte man seinerAuffassung nach nicht ohne körperliche Züchtigung zur Ord-nung erziehen. Der Erfolg gab ihm Recht.Kontenius verstarb am 30 Mai 1830 in Jekaterinoslaw undwurde in der nahegelegenen Kolonie Josefstal beigesetzt. Fürdas Grab und den Grabstein trafen Spenden aus den verschie-densten Kolonien Südrusslands ein, ein letztes Zeichen derVerbundenheit der Kolonisten mit ihrem Wohltäter und Be-treuer. Sein eigenes Vermögen hatte er zum größten Teil fürden Bedarf von Schulen und Kirchen gestiftet.Den Grabstein hat K. Stumpp während eines Besuchs in Jo-sefstal im Jahre 1942 gesehen. Nach dem Zweiten Weltkriegwurde Josefstal nach Dnjepropetrowsk eingemeindet; derFriedhof musste Wochenendhäusern weichen, bei deren BauGrabsteine als Bausteine verwendet wurden. Auch der Grab-stein von Kontenius war für Jahrzehnte vom Erdboden ver-schwunden. Erst im Herbst 2002 kam er bei Niedrigwassernach einem regenarmen Sommer zum Vorschein; er lag imFluss und wurde von Anglern als Stütze genutzt.

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Deutsche Kirchenim Schwarzmeergebiet

Entwurf für das Bethaus in der Kolonie Güldendorf bei Odessa,1832.

Katholische Kirche in der Kolonie Rastadt, gebaut 1871/72.

Reformierte Kirche in Odessa, erbaut 1895/96; Ansichtskartevom Ende des 19. Jahrhunderts.

Kirche und Schule in Elsass.

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Entwurf der katholischen Kirche für die Kolonie Rastadt (Kolonistenbezirk Beresan) von 1828, gebaut 1830.

Die Kirche von Landau 1942. Die Mannheimer Kirche nach der Zerstörung.

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Odessa, das zwischen 1817 und 1859 die zollfreie Ausfuhrvon Waren ermöglichte (Porto-franko), entwickelte sich derGetreideanbau rasch und machte 1822 bereits 96 % des rus-sischen Getreideexports aus. Bis zum Jahre 1868 war derWeizenanbau für die Kolonisten dominierend geworden: Sieerzielten daraus 89 % ihrer Einnahmen. Das wiederum stei-gerte die Nachfrage nach immer mehr Land und führte inder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründung zahl-reicher Tochterkolonien und Bauernhöfe, russisch Chutorgenannt.Nach der Bauernbefreiung von 1861 verkauften oder ver-pachteten viele Grundbesitzer ihr Land oder Teile davon.Kolonisten konnten mit Geld, das Gemeinden durch die Ver-pachtung ihres Schäfereilandes erzielten, ihren Grundbesitzbedeutend erweitern. So bewirtschafteten im Jahre 1890 dieauf 104.570 Personen angewachsenen deutschen Kolonistendes Gouvernements Cherson neben den 185.963 Desjatinenzugeteilten Landes 420.073 Desjatinen gekauften und606.036 Desjatinen gepachteten Landes, d. h. sie hatten dieFläche des bewirtschafteten Landes um das Fünfeinhalbfa-che vergrößert.Über den Entwicklungsstand des Handwerks in Odessa zuBeginn des 19. Jahrhunderts gibt eine Anekdote Auskunft:Richelieu konnte nach seiner Ankunft binnen zweier Wo-chen nicht einmal ein paar einfache Stühle für sich auftrei-ben. Einen Tischler, einen Bäcker und einen Schlosser muss-te er sich vom Handelsminister aus St. Petersburg schickenlassen.Gegen diesen Zustand ging er energisch vor. Von den 1803in Odessa angekommenen Kolonisten wurden sogleich 42Handwerkerfamilien in der Stadt belassen. Sie bildeten eineHandwerkerkolonie. Andere Handwerker wurden in denStädten Ovidiopol und Grigoriopol angesiedelt.Bis 1819 entstanden in Odessa bereits neun deutsche Hand-werkerinnungen: Zimmerleute, Wagenbauer, Schlosser,Schuster, Schneider, Buchbinder, Werkzeugmacher, Uhrma-cher und Konditoren. Bis 1835 war die Innung der Zim-merleute auf 52 Meister und 91 Gesellen angewachsen. Biszu 200 junge Leute, darunter auch Russen, gingen bei ihnenin die Lehre. Damit wurden Kenntnisse und Fertigkeiten ineinem der wichtigsten Bauberufe weiter gegeben. Für eine

im Aufbau befindliche Stadt war das von unschätzbaremWert.Die Landwirtschaft konnte expandieren, weil das dafür be-nötigte landwirtschaftliche Gerät von Handwerkern in Odes-sa, aber auch in den Kolonien selbst gefertigt wurde. Am be-

kanntesten ist Johann Höhn und dessenFabrik, in welcher der so genannte Kolo-nistenpflug entwickelt wurde. Die Produk-tion konnte die Nachfrage kaum decken,obwohl zu Beginn des 20. Jahrhundertsbereits 36.00 Pflüge jährlich und 1912 ca.80.000 Pflüge ausgeliefert wurden. Pflügeder Firma Höhn wurden auch in andereGouvernements Russlands bis nach Sibiri-en geliefert.Ein anderes namhaftes Unternehmen wardie Firma “Bellino-Fenderich”. 1873 auseiner Reparaturwerkstatt hervorgegangen,spezialisierte sie sich in den 1880er Jahrenauf den Bau von Dampfschiffen für dieBeförderung von Personen und Gütern,von Dampfkesseln und Waggons für dieStraßenbahn, rüstete Dampfmühlen,Brauereien, Ölmühlen und andere Betriebeaus.

Katalog der Johann-Höhn-Werke für Landmaschinen, heraus-gegeben 1904 zum 50-jährigen Jubiläum.

Werbeanzeige der Pflug-Fabrik Johann Höhn, Odessa, Ende des 19. Jahrhunderts.

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Kirche und Schule

Die Kirche stand nicht nur inmitten der Kolonie, sie bildeteauch den Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebensder Kolonisten. Die evangelisch-lutherischen Gemeindendes Schwarzmeergebiets bildeten seit 1832 den 2. Probstbe-zirk des St. Petersburger Konsistorialbezirks.Die römisch-katholischen Gemeinden des Schwarzmeerge-biets und der Wolgaregion bildeten seit 1848 das Bistum Ti-raspol, dessen Bischofssitz sich von 1856 bis 1917 in Sara-tow befand. Über die Geschichte beider Konfessionen gibtes zahlreiche wissenschaftliche Publikationen in deutscherund in den letzten Jahren auch neuere Arbeiten in russischerSprache. Auf einen Exkurs kann hier daher verzichtet wer-den. Der Hinweis auf eines der Betätigungsfelder der Kir-

che, auf die Kirchenschule, verdeutlicht allein schon derenVerdienste.Die erste Kolonistenschule wurde mit der Gründung derHandwerkerkolonie in Odessa eingerichtet. Sie wurde vonKnaben und Mädchen besucht, die in Lesen, Schreiben,Rechnen, Deutsch, Russisch und Gesang unterrichtet wur-den. Im Jahre 1825 wurde der Unterricht in der Kirchen-schule der evangelisch-lutherischen St.-Pauli-Kirche aufge-nommen. Diese Schule wurde ganz wesentlich vom Pastorder Gemeinde, Karl Fletnitzer, erst als Lehrer, dann 40 Jahrelang als Pastor und ab 1857 als Direktor geprägt. Mit Zu-stimmung des Bildungsministeriums wurde die Gemeinde-schule 1857 in eine Realschule mit zwei Abteilungen umge-wandelt. In der Realabteilung wurden neben Deutsch, Rus-sisch und Französisch Arithmetik, Geometrie, Erdkunde,Geschichte, Gesang, Religion und Zeichnen unterrichtet. Inder Abteilung für Mädchen wurden ebenfalls Deutsch, Rus-sisch, Französisch, Arithmetik, Erdkunde, Geschichte, Reli-gion und Gesang sowie Handarbeit und Haushaltsführungunterrichtet. Die Abteilung für die kaufmännischen Berufe,wie wir das heute nennen würden, konnte nach Abschlussder Realschulabteilung besucht werden. Dort wurden zusätz-lich zu den drei Sprachen noch Englisch und Italienisch,Physik, Technologie, Mechanik und Buchhaltung unterrich-tet. So gerüstet, konnten sich die Absolventen in ihren Beru-fen bestens behaupten und erfolgreich arbeiten.Am 1. Januar hatte die St.-Pauli-Realschule 720 Schüler, da-von 498 Knaben und 222 Mädchen.In den Bauernkolonien wurden nach deren Gründung eben-falls Kirchenschulen gegründet, deren Besuch für Knabenund Mädchen im Alter von 8 bis 14 Jahren obligatorischwar. Im 20. Jahrhundert nannte man die Kirchenschule ofteine Anstalt, in der lediglich auf die Konfirmation bzw.Kommunion vorbereitet wurde. Diese abschätzige Bewer-tung entsprach nicht der Wirklichkeit. Die Qualität des Un-terrichts war sicher von Schule zu Schule unterschiedlichund entsprach nicht immer den Anforderungen der Zeit. EinBlick in die Statistiken der Landschaftsverwaltung zeigt,dass 1889 von den 154 Schulen im Bezirk Odessa 54 auf diedeutschen Kolonien entfielen. Pro 1.000 deutsche Einwoh-ner des Bezirks zählte man 122 Schüler. Bei der nichtdeut-schen Bevölkerung waren es gerade mal 32,7 Schüler.Zum Jahre 1912 gab es in den Kolonien außer den Kirchen-schulen vier private Progymnasien, eine Taubstummenan-

Die Taubstummenanstalt in Worms.

Auszug aus dem Gesetz für dieevangelisch-lutherische Kirche

in Russland (1832)

§ 9In den Evangelisch-Lutherischen Kirchen Russlands werdenaußer den Sonntagen folgende Feste gefeiert: an zwei Tagendas Fest der Geburt Christi (den 25. und 26. Dezember), derNeujahrstag (den 1. Januar), das Fest der Erscheinung Christi(den 6. Januar), Mariae-Verkündigung (den 25. März), Grün-donnerstag, Charfreitag, der 1-te und 2-te Tag des Osterfes-tes, Christi Himmelfahrt, zwei Tage des Pfingstfestes, dasFest Johannis des Täufers (den 24. Juni), der allgemeine Buß-und Bettag (am Mittwoch nach dem Sonntage Invocativ), dasErndtefest (am ersten Sonntage nach Michaelis), das Refor-mations-Fest (den 19/31. October oder am ersten darauf fol-genden Sonntage), die Todtenfeier zum Andenken an die imVerlaufe des Jahres Verstorbenen (am letzten Sonntage desKirchen-Jahres) und endlich das Kirchweihfest, wo solchesbisher gefeiert worden oder die Gemeinde diese Feier einzu-führen wünscht.

§ 10Außer den Kirchenfesten werden in allen Evangelisch-Luthe-rischen Kirchen in Russland gefeiert: die Geburts- und Na-menstage Ihrer Majestäten des Kaisers und der Kaiserin undSeiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers, GroßfürstenZesarewitsch, und andere Staatsfeste, die in dem zu diesemBehufe von dem Ministerium der innern Angelegenheitenjährlich herauszugebenden, besondern Verzeichnisse angege-ben werden.

§ 290Alle Evangelisch-Lutherischen Gemeinden in Russland, mitAusnahme der auf den Colonieen in Grusien befindlichen,stehen unter der Aufsicht der Provinzial- oder Stadt-Consisto-rien, deren Zahl gegenwärtig auf acht festgesetzt wird:1) Das St. Petersburgische, 2) das Liefländische, 3) das Ehst-ländische, 4) das Kurländische, 5) das Moskowische, 6) dasOeselsche, 7) das Rigasche und 8) das Revalsche.

§ 291Zu den Bezirken dieser Consistorien gehören:1) Zu dem Bezirke des St. Petersburgischen Provinzial-Con-sistoriums: die Evangelisch-Lutherischen Gemeinden desGouvernements St. Petersburg, die Städte Kronstadt und Nar-wa mit einbegriffen, ferner die Gouvernements Nowgorod,Pleskow, Wologda, Olonetz, Archangel, Kostroma, Jaroslaw,Smolensk, Tschernigow, Volhynien, Podolien, Kiew, Polta-wa, Ekaterinoslaw, Taurien, Cherson mit der Stadt Odessa,und des Gebiets von Bessarabien.

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stalt in Worms, Zentralschulen in Landau und Großliebentalund eine private Realschule in Neu-Freudental. In Odessafand Unterricht außer an der St.-Pauli-Realschule an der pri-vaten Handelsschule von Heinrich Feig und am ebenfallsprivaten Gymnasium von A. Jungmeister statt. Der Wert ei-ner höheren Bildung wurde von der deutschen Bevölkerungerkannt.Jahrzehnt der Umbrüche und Reformen(1861 bis 1871)Über den Status der Kolonisten und deren Verwaltung gibtes in der Presse noch immer manches zu lesen, was die Au-toren längst wissen müssten: Die Kolonisten leisteten nachihrem Eintreffen in Russland den Untertaneneid, sie wurdenrussische Untertanen.Die hoch gelobte Selbstverwaltung erfolgte nach Regeln, dieauch für die russischen Staatsbauern galten. Außer den auseigener Mitte gewählten Dorfschulzen, Oberschulzen, derenBeisitzern und den Ältesten für je zehn Höfe (Desjatskij) üb-ten Kolonieaufseher des Fürsorgekontors, später des Fürsor-gekomitees die Aufsicht über die Kolonien aus. Außer derniederen Gerichtsbarkeit fielen alle Streit- und Strafsachenin die Zuständigkeit der allgemeinen Justiz. Natürlich wardie rechtliche Lage der Kolonisten ungleich besser als dieder leibeigenen Bauern. Sie entsprach, mit wenigen Ausnah-men, dem Status der Staatsbauern, denn Kolonisten galtenals solche.Nach der Niederlage Russlands im Krim-Krieg (1854-56)trat das Land in eine Periode bedeutender Reformen ein. DieBefreiung der leibeigenen Bauern, die Justiz-, die Verwal-tungs- und die Militärreform veränderten Russland. Siebrachten auch bedeutende Änderungen für die Kolonistenmit sich. Nach der Befreiung der leibeigenen Bauern trenn-ten sich Gutsbesitzer leichter von ihrem Land. Die Kolonis-tengemeinden konnten leichter Land zum Pachten und Kau-fen finden, auch wenn die Preise stark anstiegen.Über die Selbstverwaltung der Kolonisten ist im Schrifttumnachzulesen, es sei ein von den Zaren gewährtes Privileg ge-wesen. Dabei wird übersehen, dass die “Instruktion für dieinnere Verwaltung der Ausländerkolonien Neurusslands”(16. Mai 1801) in den Bestimmungen über die Verwaltungs-organe und Amtspersonen in den Kolonien und Kolonisten-bezirken sowie deren Kompetenzen dem Zaren-Ukas desJahres 1797 “Über die Aufteilung der Siedlungen auf Staats-land in Kreise und deren innere Verwaltung” entsprach.Die Agrarreform von 1861 gab den nun befreiten ehemali-gen leibeigenen Bauern die Möglichkeit, Dorfgemeindenund Kreise zu bilden und ihre Gemeinde- und Kreisverwal-tung nach dem Vorbild des “Kolonialstatuts für Ausländer-kolonien im Reich” von 1857 einzurichten.Der nächste Schritt zur Rechtsangleichung wurde 1864 mitder Einführung der Landschaftsverwaltung auf der Bezirks-und Gouvernementsebene vollzogen. Der Adel, die Groß-grundbesitzer und Kaufleute bildeten die erste und zweiteWahlkurie, die Bauern die dritte. Dieser Unterteilung lag einVermögenszensus zu Grunde. Es war keine Benachteiligungaufgrund der Volkszugehörigkeit.Kolonisten beteiligten sich an den Wahlen und konnten fürdie erste Wahlperiode der Landschaftsversammlung desOdessaer Bezirks (1865-1868) fünf Abgeordnete aus ihrenReihen wählen. Das waren 12,5 % der Abgeordneten. Für

die zweite Wahlperiode (1868-1871) stellten sie 40 % derAbgeordneten von den Grundbesitzern und 30,77 % von denDorfgemeinden. J. A. Kundert wurde zum Mitglied der Be-zirksverwaltung gewählt. Die Bezirksverwaltung bestandaus dem Vorsitzenden und drei Mitgliedern.In die Landschaftsverwaltung des Gouvernements Chersonwurde für die erste Wahlperiode kein deutscher Abgeordne-ter vom Bezirk Odessa entsandt. Für die zweite Wahlperiodewaren es bereits zwei von sieben (28,57 %). Zu dieser Zeithielt das Fürsorgekomitee noch seine schützende Hand überdie Kolonien.Nach der Aufhebung der Kolonialverwaltung ließ das Enga-gement der Siedler-Landeigentümer, wie die Kolonisten jetztoffiziell hießen, nicht nach. Von den Grundeigentümernwurden 15 Deutsche (75 %) und vom Bauernstand fünf(35,71 %) gewählt. Zwei Deutsche wurden Mitglieder dervierköpfigen Bezirksverwaltung. Auch in der Gouverne-mentslandschaftsversammlung waren die Deutschen mit vierAbgeordneten (57,14 %) überrepräsentiert.Diese Zahlen belegen, dass die Kolonisten keineswegs un-vorbereitet in das Jahr 1871 kamen. Sie hatten bereits ge-lernt, erfolgreich für ihre Interessen einzustehen und sich ge-meinsam mit den andersvölkischen Nachbarn um das Ge-meinwohl zu kümmern.

WehrpflichtDie Einführung der Wehrpflicht war sicher eine gravierendeNeuerung. Sie war aber offensichtlich weniger schmerzhaftals befürchtet. Vor dieser Reform hatten Rekruten 15 Jahrelang zu dienen. Nach dem Wehrgesetz von 1871 dauerte derWehrdienst höchstens sechs Jahre. Wer eine Volksschule ab-solviert hatte, musste vier Jahre lang dienen; Absolventen ei-ner Hochschule dienten nur drei Monate. Da der Besuch derKirchenschule für alle Kolonistenkinder obligatorisch war,verkürzte sich ihr Militärdienst. Söhne, welche den Bauern-hof führten und somit Ernährer der Familie waren, bliebenvom Militärdienst ausgenommen.Mennoniten sahen mit der Einführung der Dienstpflicht aufder Grundlage des “Statuts über die Wehrpflicht” großeProbleme auf sich zukommen. Auch wenn es letztendlichgelang, für Mennoniten eine Ausnahme zu erreichen, indemsie ihren Dienst ohne Waffen zu leisten hatten (Regeln überdie Ableistung der obligatorischen Dienstpflicht durch Men-noniten, 1875), war die Unruhe groß. In den Jahren 1874 bis1880 wanderten ca. 15.000 Mennoniten nach USA aus, ob-wohl die amerikanische Regierung ihnen keine Befreiungvom Wehrdienst gewährte. Sie bekamen reichlich Land zu-gewiesen und hinterließen ihren Gemeinden im Schwarz-meergebiet das bisher bewirtschaftete Land. Damit trat einegewisse Entspannung in den übervölkerten Kolonien an derMolotschnaja ein. Auch aus dem Gouvernement Chersonwanderten von 1871 bis Ende August 1873 131 Familiennach Nordamerika aus. In den darauffolgenden Jahren zählteman die Auswanderer in Tausenden. Die Auswanderung warauf der Grundlage des Gesetzes über die Aufhebung des Ko-lonistenstandes von 1871 binnen zehn Jahren unter Mitnah-me des Eigentums möglich. Davon machten insgesamt meh-rere zehntausend Mennoniten, deutsche und bulgarische Ko-lonisten Gebrauch.Insgesamt scheint der Militärdienst in Friedenszeiten für dieKolonisten weniger schwer gewesen zu sein, als man dies

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befürchten hatte müssen. Natürlich gab es zahlreiche Versu-che, dem Militärdienst wegen angeblich schlechter Gesund-heit zu entgehen. Darin unterschieden sich die Kolonistenkaum von ihren russischen und ukrainischen Nachbarn. An-ders war es, will man der “Odessaer Zeitung” glauben, inZeiten einer äußeren Bedrohung. Während des russisch-tür-kischen Krieges 1877-1878 spendeten Kolonisten Geld, Le-bensmittel und Kleider für die Armee und die Hospitäler.Während des russisch-japanischen Krieges von 1905 führtendie molotschnaer Mennoniten für sich eine freiwillige Son-dersteuer in Höhe von 50 Kopeken pro Desjatine Land undvon fünf Kopeken pro Desjatine monatlich für die Dauer desKrieges ein. Mehrere Dutzend Mennoniten meldeten sichfreiwillig als Sanitäter für den Kriegsschauplatz in Fernost.Die Chortizaer Mennoniten übernahmen freiwillig den Un-terhalt von 20 Sanitätern und spendeten größere Geldbeträgefür das “Evangelische Feldlazarett”.Es gab auch Opfer unter den Kolonistensöhnen. So kannman auch heute noch auf einem Denkmal in Belgorod-Dnjestrowskij (früher: Akkerman) neben russischen, ukrai-nischen und bulgarischen Namen auch Namen deutscher Ge-fallener lesen.

Der Erste Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs wurden die Schwarzmeer-deutschen wie die anderen Russlanddeutschen auch auf eineharte Probe gestellt. Die Regierung setzte Gesetze durch,welche zuerst die Liquidierung des Grundbesitzes reichs-deutscher, österreichischer, bulgarischer und türkischer Un-tertanen außerhalb der Städte in einem Grenzstreifen von ca.150 km entlang der Westgrenze und von 100 km Breite ent-lang den Ufern der Ostsee, des Schwarzen, des Asowschenund des Kaspischen Meeres zum Ziel hatten. Diese Gesetzewurden wiederholt “modifiziert” und schließlich gegen rus-sische Untertanen deutscher Volkszugehörigkeit bis hin nachSibirien angewandt.Die Zivilbevölkerung war während des Krieges massiverDiskriminierung ausgesetzt. So durften keine Zeitungenmehr in deutscher Sprache erscheinen, Werbeaufschriftenund Hinweisschilder mussten entfernt werden. Lehrer, dievon der Verwaltung als unzuverlässig angesehen wurden,sollten den Schuldienst verlassen und die Schulen, so sieohne Lehrer blieben, geschlossen werden.Am weitesten ging der Gouverneur von Jekaterinoslaw: Erverbot unter Strafe Versammlungen von mehr als zwei deut-schen Männern, und sei es auch im eigenen Haus. Das führtedazu, dass selbst die Bestattung Verstorbener russischenNachbarn anvertraut werden musste.Zur gleichen Zeit befanden sich über 250.000 Kolonisten inden Reihen der russischen Armee. Nach einer Erhebung vonK. Lindeman sollen aus den Kolonien Neurusslands und derKrim bis zu 60 % aller Männer im wehrfähigen Alter zumDienst einberufen gewesen sein. Aus den Bezirken Odessa,Ananjew und Tiraspol des Gouvernements Cherson wurden2.088 Männer für den Krieg mobilisiert, 108 von ihnen fie-len, 339 wurden verwundet, sieben mit Medaillen und Ordenausgezeichnet. Von den 7.623 Mobilisierten, über die Linde-man Informationen sammeln konnte, fielen 5 %, 5 % wur-den verwundet, 128 Soldaten wurden zu Unteroffizieren be-fördert, 49 kamen als Offiziere von der Front nach Hause.

Wegen des Misstrauens russischer Regierungs- und Militär-stellen wurden deutsche Soldaten von der Front gegenDeutschland und Österreich-Ungarn abgezogen und an dietürkische Front verlegt. Doch auch dort leisteten sie ihrenDienst entsprechend dem geleisteten Eid: Russland war ihrVaterland, sie haben es verteidigt.

Zwischen Aufbruch und UntergangDie ersten Jahre nach dem Sturz des Zaren waren imSchwarzmeergebiet von häufigem Machtwechsel geprägt.Vom Sturz des Zaren (12. März 1917) bis Februar 1920wechselte die Macht in Odessa und Umgebung sieben Mal.Cherson erlebte fünf Machtwechsel. Angesichts der währenddes Weltkrieges durch die russische Regierung veranlasstenDiskriminierung wird verständlich, warum die sonst so za-ren- und staatstreuen Russlanddeutschen den Sturz der Za-renregierung begrüßten und ein sehr reges politisches Lebenan den Tag legten.Die erste Versammlung von Deutschen der Stadt Odessafand bereits am 28. März 1917 statt. Danach folgten Kon-gresse im Mai und August 1917. In den Monaten, die dazwi-schen lagen, wurde der Aufbau eines “Allrussischen Bundesrussischer Deutscher” mit Zentralkomitees in 17 Siedlungs-gebieten des Russischen Reiches vorangetrieben. Das Odes-saer ZK konnte bis August 1917 im Gouvernement Cherson45 Ortsvereine aufbauen, denen 7.240 Mitglieder angehör-ten. Dem Verband ging es um den Aufbau einer wirksamenVertretung der Interessen der Kolonisten (Aufhebung der Li-quidationsgesetze, Zulassung der deutschen Sprache, Land-reform, nationale Schule, Wahl deutscher Abgeordneter indie Nationalversammlung) gegenüber der Regierung, dennin dem sich neu ordnenden Russland bemühten sich alleStände, Volksgruppen und politischen Gruppierungen, ihreVorstellungen öffentlich und mehrheitsfähig zu machen. Dieehemaligen Konstitutionellen Demokraten und die Partei derSozialrevolutionäre hatten in ihren Parteiprogrammen Vor-stellungen zum Recht auf Privateigentum und zur Agrarre-form, zur Selbstverwaltung und zur Kulturautonomie, dieden Kolonisten nahe waren. Doch während des Weltkriegeskonnten die bestehenden politischen Parteien das Deutschenangetane Unrecht nicht verhindern. Man hatte also keine an-dere Wahl, als zu versuchen, sein Schicksal selbst zu meis-tern.Heute hört man mitunter Meinungen, es seien fromme Wün-sche gewesen oder die Russlanddeutschen und die Mennoni-ten seien für die Politik nicht reif gewesen. Hatten sie denneine andere Möglichkeit? Sollten sie etwa untätig abwarten?Die verfassunggebende Versammlung war kaum zusammen-getreten, da jagten die Bolschewiki die Abgeordneten aus-einander und ergriffen die Macht. Wer konnte damals wis-sen, dass sie diese über 70 Jahre lang ausüben würden?

Machtwechel in Odessa1. Provisorische Regierung: 12.3.1917 - 27.1.19182. Sowjetmacht, 1. Phase: 27.1.1918 - 13.3.19183. Österreichische und deutsche Besatzung: 13.3.1918 -

18.12.19184. Französische Interventionstruppen: 18.12.1918 - 4.4.19195. Sowjetmacht, 2. Phase: 4.4.1919 - 23.8.19196. Freiwilligenarmee (die Weißen): 23.8.1919 - 8.2.19207. Sowjetmacht: 8.2.1920 -

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Das Leben verlief in ungewissen und ungeahnten Bahnen:1918 unterzeichnete die ukrainische Regierung einen Frie-densvertrag, der eine Zusatzvereinbarung enthielt. Kolonis-ten durften binnen zehn Jahren unter Mitnahme ihres Eigen-tums nach Deutschland zurückkehren. Als dann im März1918 deutsche und österreichisch-ungarische Truppen in die

Ukraine kamen, glaubten viele, jetzt würden sie dauerhaftenSchutz bekommen. Pastor Immanuel Winkler entwickelte imSchwarzmeegebiet und auf der Krim die Idee, eine deutscheKronkolonie Krim-Taurien zu schaffen und alle Kolonistenvom Gebiet des Russischen Reiches dorthin umzusiedeln.Dieser Plan wurde von der deutschen Reichsleitung nachwochenlangem Zögern abgelehnt. Auch der Wunsch vieler,die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen und nachDeutschland umsiedeln zu dürfen, ging nicht in Erfüllung.Als dann im November 1918 in Berlin und in Wien die Re-volution ausbrach, zogen sich die Besatzungstruppen aus derUkraine zurück. Die Kolonisten blieben auf sich selbst ge-stellt und mussten sich mit ihren Nachbarn und den Macht-habern arrangieren.Jetzt mussten brauchbare Lösungen her. Der Verband derdeutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet stützte sich aufdas von der ukrainischen Regierung erneut in Kraft gesetzte“Gesetz über die national-personale Autonomie” und arbei-tete ein 459 Artikel umfassendes Statut aus. In 24 Abschnit-ten waren u.a. Fragen der Verwaltung, der Polizei, der Streit-kräfte, der Rechtsprechung, des Gesundheitswesens, der Bil-dung und der Steuern geregelt. Alle Fragen, außer die desAufbaus einer Territorialmiliz unter dem Kommando einesGenerals und einer Nationalbank, gehörten in die Zuständig-keit der bisherigen Landschaftsverwaltung. Darin hatten dieKolonisten ihre Erfahrungen sammeln können.Der Verband konnte in der Tat ein Handelsbüro und eineSchulabteilung aufbauen, einen Selbstschutz für die Koloni-en aufstellen und ein Presseorgan herausgeben. Die ukraini-sche Regierung und das Kommando der österreichischenund deutschen Truppen genehmigten deren Tätigkeit, dieFranzosen duldeten sie, die Freiwilligenarmee unterstütztesie zum Teil. Probleme gab es mit den Bolschewiki. Als die-se im Sommer 1919 versuchten, gewaltsam junge Männerfür die Rote Armee zu mobilisieren und Pferde, Getreideund Lebensmittel zu requirieren, brach in Groß-Liebental,Mannheim, Hoffnungstal und den Nachbargemeinden einAufstand aus, dem sich benachbarte bulgarische, russischeund ukrainische Dörfer anschlossen. Die Rote Armee mussteOdessa verlassen und kehrte nach verlustreichen Kämpfengegen die Freiwilligenarmee im Februar 1920 zurück.Bevor die Rote Armee soweit war, bemühte sich der Ver-band der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet er-

neut, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.Im August 1919 wurde der Selbst-schutz neu geordnet und an seine Spit-ze der aus Odessa stammende Gene-ralmajor Gustav-Adolf Schöll gestellt.Im September 1919 wurden für denSelbstschutz Wehrpflichtige im Altervon 36 und 37 Jahren eingezogen. Fürdie Finanzierung des Selbstschutzeswurde eine eigene Steuer erhoben. DerSelbstschutz hielt enge Verbindung zuden Ordnungskräften der Landschafts-verwaltung. Es wundert daher nicht,dass auf Einladung des ZK des Ver-bandes Ende Dezember 1919 in Odes-sa eine Beratung von Vertretern eini-ger deutscher und russischer Kreise

Auszug aus dem Protokoll der Sitzungdes Zentralkomitees des Verbandes

der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebietvom 19. August 1919

1. Der Vorsitzende berichtet über die Verhandlungen, die dieDeputation des Z.-K. mit dem Korpsgeneral der Freiwilli-gen-Armee, Gen. Schilling, geführt hat. Er hat den deut-schen Kolonisten sein vollstes Vertrauen ausgedrückt undbegrüßte deren Absicht, mit der russischen Bevölkerungzusammen gegen die Kommunisten vorzugehen. Dr. Flem-mer schlägt vor, zur Klärung aller die deutschen Kolonis-ten betreffenden Fragen, Rechte und Pflichten eine Dele-gation an Denikin und dessen Ministerien zu entsenden.Das erste wird angenommen, die Besprechung des zweitenVorschlags bis zur nächsten Sitzung verschoben.

2. Die auf Grundlage der alten Regeln neu bearbeiteten Sta-tuten des Selbstschutzes werden von Gen. Schöll verlesenund nach eingehender Besprechung mit einigen prinzipiel-len und redaktionellen Änderungen angenommen. Es sollsofort um Bestätigung dieser Statuten nachgesucht wer-den.

3. Der Vorsitzende weist auf die Notwendigkeit hin, denVereinsboten so schnell als möglich wieder herauszuge-ben. Dieser Vorschlag wird einstimmig angenommen undzugleich beschlossen, das Blatt zweimal wöchentlich er-scheinen zu lassen. Der Preis soll etwa 3 Rubel pro Num-mer betragen. Für den Anfang wird eine Auflage von2.000 Exemplaren festgesetzt.

...6. Zum Schluss der Sitzung wendet sich der Vorsitzende an

die beiden Vertreter Gr. Liebentals, denen er die Anerken-nung des Z.-K. für den mutvollen Kampf gegen die Bol-schewiki ausspricht. Er beklagt die herben Verluste ankostbaren Menschenleben und hofft, dass die Opfer nichtnutzlos gebracht sind.

Quelle: Vereinsbote Nr. 20,Freitag, 30. August (12. September) 1919, S. 2-3.

Der "Vereinsbote" (Januar 1919 bis Februar 1920).

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(wolost) der Bezirke Odessa, Tiraspol und Ananjew statt-fand, in der beschlossen wurde, eine Bürgerwehr für dieAufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und zur Abwehrvon Bandenüberfällen aufzustellen. Die Geschichte nahm je-doch einen anderen Lauf: Im Januar 1920 wurden ca. 500Mann Selbstschutzleute in Landau, Speyer, Rosenfeld undUmgebung zusammengezogen. Nach Kampfverlusten zogsich der deutsche Selbstschutz am 23. Januar nach Odessazurück, um wenige Tage später zusammen mit den Truppen-verbänden unter dem Kommando des Generals F.E. Bredowden Rückzug auf polnisches Gebiet fortzusetzen.

Anfänge der SowjetmachtDie Errichtung der Sowjetmacht ab Februar 1920 bedeutetefür die Kolonisten, immer neue Opfer zu bringen. Im Zei-chen des Kriegskommunismus wurden die Kolonien rück-sichtslos ausgeplündert. Im offiziellen Sprachgebrauch hießdas, durch Druck auf die wohlhabenden Bauern (Kulaken)überschüssiges Getreide für die Rote Armee und das Prole-tariat zu beschaffen. Wer sich dem nicht beugen wollte, wur-de bestraft. Geiselnahmen zur Durchsetzung der Forderun-gen der Bolschewiki waren an der Tagesordnung. Abgeur-teilt wurden auch die Teilnehmer des Aufstands von 1919.Die Sowjetmacht wollte die Landlosen und Landarmen, aufdie sie sich im Wesentlichen stützte, mit Land versorgen.Das Privateigentum sollte aber aufgehoben und durch Ge-nossenschaften, Kommunen und Kollektivwirtschaften ab-gelöst werden. Der Staat beanspruchte für sich das Mono-polrecht über sämtlichen landwirtschaftliche und industriellgefertigte Produkte und setzte es rücksichtslos durch. EinErgebnis dieser Politik war die Hungersnot der Jahre 1921-22.Erneut griffen Kolonisten zur Selbsthilfe und gründeten den“Verband der Bürger deutscher Rasse der Stadt und des Gou-vernements Odessa”. Die Tätigkeit des Vereins wurde am10. April 1922 genehmigt. Bis Ende 1922 zählte der Ver-band ca. 6.000 Mitglieder.Das ZK der Russischen Kommunistischen Partei der Bol-schewiki und das ukrainische ZK dieser Partei machten vonAnfang an dagegen Druck und zwangen diesen und andereHilfsvereine in der Ukraine und in Russland zur Auflösungbzw. Unterordnung unter regierungskonforme Organisatio-nen.Die sowjetische Nationalitätenpolitik sollte für die nationa-len Minderheiten gleiche Entwicklungsmöglichkeiten schaf-fen, wie die Bevölkerungsmehrheit sie bekommen hatte.Kompakt lebende Volksgruppen bekamen nationale Dorfso-wjets und nationale Landkreise. Im Gebiet Odessa wurden1925 die Landkreise (Rayons) “Karl-Liebknecht” (BeresanerKolonien) und “Friedrich-Engels” (Kutschurganer Kolonien)sowie 1926 der Liebentaler Landkreis gegründet. Schon baldnach der Gründung des Liebentaler Rayons wurde er zur Er-innerung an die “Spartakisten”, gegen deren Übergriffe sichdie Kolonisten im Aufstand von 1919 zur Wehr gesetzt hat-ten, in “Spartakisten-Rayon” umbenannt. Zahlreiche deut-sche Ortschaften bekamen neue Namen; so sollte der Heldender Revolution und des Bürgerkriegs gedacht bzw. die Er-rungenschaften der neuen Macht gepriesen werden.Auf dem Gebiet der Volksbildung begann die Sowjetisierungmit der Trennung der Kirche vom Staat und der Schule vonder Kirche (1918). Im Bezirk Odessa wurden 1920 alle

Selbstschutz-Ordnunggegen Bandenunwesen

für die Ortschaften mit deutscher Bevölkerungim Schwarzmeergebiete

1. Nicht in der Zahl der Gewehre, nicht in der Menge derwehrfähigen Mannschaft liegt die Stärke des Selbst-schutzes, sondern in dem festen zielbewussten Willendes Führens und in der entschlossenen, tatkräftigen Un-terordnung der Mannschaft.

2. Alle wehrfähigen Männer einer Ortschaft bilden die Orts-schutztruppe. Sie setzt sich zusammen aus Bewaffnetenund Waffenlosen. Die Bewaffneten sind Reiter (in derRegel mindestens 10 Mann für jede Ortschaft) undSchützen.

3. Alle Wehrfähigen zusammen wählen sich einen Führer,dem sie in öffentlicher Versammlung schriftlich und un-ter Handschlag an Eidesstatt das feierliche Versprechenablegen, sich in den Dienst des Selbstschutzes zu stellenund den gewählten Vorgesetzten militärischen unbeding-ten Gehorsam zu erweisen bei allen zum Selbstschutzgehörigen Befehlen. Auch der Führer verpflichtet sichselbst schriftlich, sich nach bestem Können in den Dienstdes Selbstschutzes zu stellen.

4. Der Führer des örtlichen Selbstschutzes ist möglichst einFront-Offizier oder Front-Unteroffizier. Er kann auch auseinem andern Dorfe stammen, muss aber dann in demDorfe, das ihn gewählt hat, seine Wohnung nehmen.

5. Die Gliederung der ganzen Truppe einer Ortschaft in ein-zelne Teile hängt von der Zahl der Wehrfähigen ab undist von dem Führer vorzunehmen. Etwa 20-40 Mann bil-den eine Gruppe und müssen ihren Vorsteher haben, derBefehlsgewalt über sie hat. Die Gruppe setzt sich zusam-men aus Bewaffneten und Unbewaffneten.

6. Mehrere zusammenliegende Orte bilden den örtlichenSelbstschutzverband. Ihre Führer wählen einen Selbst-schutzoffizier, dem sie ebenfalls schriftlich und unterHandschlag an Eidesstatt das Versprechen des militäri-schen unbedingten Gehorsams bei allen Befehlen desSelbstschutzes ablegen. Auch der Selbstschutzoffizierverpflichtet sich selbst schriftlich.

7. Zum Selbstschutz durch den Kolonistenverband be-schaffte Waffen (Gewehre, Handgranaten, Leuchtpisto-len und Munition) werden gegen Quittung den deutschenDorfschulzen übergeben, die für Verteilung an zuverläs-sige Männer sorgen und über den Bestand und VerbleibBuch führen. Bestand und Verbleib ist den Schulzen jedeWoche von den Führern zu melden.

...22. Im Falle des Hilferufs ist jede Truppe unbedingt ver-

pflichtet, den Bedrohten so schnell wie möglich zu Hilfezu eilen. Die Zurücklassung einer Ortswache zur Sicher-heit des eigenen Dorfes unterliegt dem Ermessen desFührers je nach der Sachlage.

23. Der Führer, dem man zu Hilfe eilt, übernimmt das Kom-mando auch über die Hilfstruppe.

24. In Fällen der Gefahr, wenn eine Truppe der anderen zuHilfe eilen muss, hat die Gemeinde auf Anfordern desSelbstschutzoffiziers oder des Führers die nötigen Fuhr-werke zu stellen.

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Tragischer Bestandteil der Geschichte der Schwarzmeerdeutschen ist die Flucht in den so genannten Trecks Richtung Warthegau.

Schulen der Bildungsabteilung der Bezirksverwaltung unter-stellt. An die Stelle der verschiedenen Schultypen sollte dieEinheits-Arbeitsschule treten. Die vier- bis achtjährigen Kin-der sollten in Kinderheimen und Horten ihre soziale Erzie-hung bekommen, die acht- bis 15-jährigen die siebenjährigeArbeitsschule durchlaufen und die über 15-jährigen eine Be-rufsschule besuchen können. Die Erziehung der vier- bis 15-jährigen Kinder sollte den Familien entzogen werden. Kin-derheime und Internate sollten der Erziehung einer “neuenkommunistischen Generation” dienen.Dies entsprach nicht den Wünschen der Eltern, und diedeutsche Lehrerschaft war, gemäß einer Einschätzung desOdessaer Bezirksparteikomitees von 1925, zu 95 % dafürnicht geeignet.Diverse Versuche, eine neue Lehrerschaft heranzubilden,waren im Grunde genommen gescheitert, da es erst an ge-eigneten Kandidaten für den Lehrerberuf mangelte, dann,nach 1933, Säuberungen die Zahl der Lehrer dezimierten,bis schließlich alle deutschen Schulen 1938 in russischebzw. ukrainische Schulen umgewandelt wurden.

Kollektivierung und SäuberungenIm März 1929 wurde auf Beschluss des ZK der KP(B)U derDruck auf die Bauern in den deutschen Dörfern verstärkt.Am 27. März folgte ein Parteibeschluss “Über die Aussied-

lung der Deutschen aus dem Bezirk Nikolajew”. Von derAussiedlung wurde ausgenommen, wer “freiwillig” seineWirtschaft aufgab und in die Kolchose eintrat.Der Druck auf die Bauern führte 1929 zum Versuch mehre-rer zehntausend, mit Hilfe der Deutschen Botschaft das Landzu verlassen. Deutschland nahm nur 5.750 Flüchtlinge vor-übergehend bis zur Weiterreise nach Übersee auf.In der UdSSR wurde die Vernichtung der wohlhabendenBauern (Kulaken) forciert. Aus der Ukraine sollten 15.000Kulaken in Konzentrationslager verbracht und 30.000 bis35.000 aus ihren Dörfern verbannt werden.Die gewaltsame Enteignung und Kollektivierung der Land-wirtschaft hatte Unruhen in Kandel, Selz, Elsass, Mannheim,Straßburg, Baden und Güldendorf zur Folge.Nach der Machtergreifung der NSDAP in Deutschland wur-den die Schwarzmeerdeutschen und die Wolhyniendeut-schen der konterrevolutionären Tätigkeit, der Spionage undanderer “Verbrechen” verdächtigt. Die Verfolgung Unschul-diger durch die Geheimpolizei GPU und das Innenministeri-um (NKWD) nahm immer bedrohlichere Ausmaße an undgipfelte in den stalinschen Säuberungen der Jahre 1936-1938. Nach Angaben der Odessaer Organisation “Memori-al”, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wur-den in der Stadt und dem Gebiet Odessa zwischen 1919 und1983 über 26.000 Personen verschiedener Volkszugehörig-

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keit verhaftet, davon über die Hälfte inden Jahren 1937-1938. Von den Verhaf-teten entfielen auf Ukrainer 10.318 Per-sonen, auf Russen 4.669, auf Deutsche4.002 und auf Juden 2.047 Personen.Von den verhafteten Ukrainern wurden32,32 % zum Tode verurteilt, von denRussen 28,95 %, von den Juden 25,2 %und von den Deutschen 47,02 %. Deut-sche waren auch mit 15,4 % aller Re-pressierten in der Stadt und dem GebietOdessa weit überproportional betroffen.So erklärt sich die Überlieferung der äl-teren Generation, wonach es keine deut-sche Familie gab, der nicht Angehörigedurch Verhaftungen und Verbannungenentrissen wurden.

Verlust der Heimat

Der Kriegsbeginn im Juni 1941 war an sich schon eine Be-drohung. Die Deportation aller für die sowjetischen Behör-den erreichbaren Deutschen im Sommer und Herbst 1941 -ein vernichtender Schlag, von dem sich die Volksgruppenicht mehr erholen sollte.Das Gebiet zwischen Dnjestr und Bug wurde in den erstenKriegsmonaten von der Wehrmacht und rumänischen Trup-pen besetzt. Am 28. August 1941 übernahm Rumänien die-ses Gebiet unter der Bezeichnung “Transnistrien”. Für dieDeutschen, die ca. 6 % der Bevölkerung stellten, war dasSS-Sonderkommando “R” zuständig. Der Stab befand sindin der Kolonie Landau. Die Erfassung aller Deutschen undihrer Familienangehörigen in der “Deutschen VolkslisteUkraine” mit anschließender "Betreuung" durch die SS dau-erte nicht lange. Die ältere Generation erinnert sich daranwie auch an den Krieg nur ungern. Beides hat traumatischeErinnerungen an den Verlust der Heimat und die Flucht vorder heranrückenden Front hinterlassen. In der Nacht vom 17.auf den 18. März 1944 setzten sich rund 125.000 Schwarz-meerdeutsche nach Westen in Bewegung. In zwei Treckseingeteilt, legten sie in zehn bis zwölf Wochen bis zu 2.000km zu Fuß bis in den Warthegau zurück. Doch auch dortholte sie die Front im Frühjahr 1945 ein. Die Folge war dieso genannte “Repatriierung” - doch keiner der “Repatriier-ten” konnte in sein Heimatdorf zurück. Sie wurden in Son-dersiedlungen im hohen Norden, in Sibirien, Kasachstan undMittelasien gebracht.Mit der Teilamnestie vom 13. Dezember 1956 wurde zu-gleich die Rückkehr in die Wohnorte der Vorkriegszeit ver-boten. Der Ministerrat der Ukraine bekräftigte das Rück-kehrverbot in die Gebiete Dnjepropetrowsk, Saporoshje, Ni-kolajew, Odessa, Cherson und Krim am 15. Dezember 1956und am 21. März 1958. Erst Anfang der 1970er Jahre wurdedieses Verbot aufgehoben. Danach kehrten einige tausendSchwarzmeerdeutsche in die Ukraine zurück.

Die 1990er Jahre

Nach der Erlangung der Souveränität ergriff die Ukraineeine Reihe von Maßnahmen, um einen Teil der aus Kasachs-tan und Mittelasien abwandernden Russlanddeutschen zu

sich zu holen. Bekannt ist die vom Präsidenten der UkraineLeonid Krawtschuk am 23. Januar 1992 ausgesprocheneEinladung an Deutsche in Sibirien, Kasachstan und Mittel-asien, in die Ukraine zurückzukehren. Von einem Teil derÖffentlichkeit in Ost und West wurde ihm sofort unterstellt:er wolle einen Teil der Hilfsgelder der Bundesregierung fürsein Land bekommen.So einfach war es nicht. Auch in der Ukraine war man seitden späten 1980er Jahren dabei, das vom stalinschen Regi-me verschiedenen Volksgruppen und sozialen Schichten zu-gefügte Unrecht wieder gutzumachen, so weit das eben ging.Die Rückkehr der Krim-Tataren war eines der Probleme.Andere Probleme bereitete die Rehabilitierung der währendder Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und währenddes Zweiten Weltkrieges aus der Ukraine deportierten Men-schen, darunter der Deutschen. Zu den ersten Akten der Uk-raine nach der Erlangung der Souveränität gehörte die “De-klaration über die Rechte der Nationalitäten der Ukraine” (1.November 1991). Danach wurde das Gesetz “Über die natio-nalen Minderheiten in der Ukraine” (25. Juni 1992) verab-schiedet.Ein weiteres Problem, die Entvölkerung der Steppenregiondurch die Deportation der Kulaken und der Deutschen, führ-te zu einer spürbaren Schwächung der Wirtschaft der Ver-waltungsgebiete der Schwarzmeerregion. Mit den für die so-wjetische Gesellschaft üblichen Mitteln ließ diese sich nichtüberwinden.Der eine oder andere wird sich noch daran erinnern, wie Jo-hann Hoffmann, damals Generaldirektor des Ukrainisch-Deutschen Fonds, den Delegierten eines Kongresses derRusslanddeutschen in Moskau eine Informationsmappe mitdem Fragebogen für Umsiedlungswillige überreichte. In die-ser Mappe befanden sich u.a. Vereinbarungen der Gesell-schaft “Wiedergeburt” mit den Gebietsverwaltungen von Sa-poroshje, Nikolajew, Cherson und Odessa. Das Gebiet Cher-son zeigte sich zur Aufnahme von bis zu 100.000 Deutschenbereit, das Gebiet Nikolajew war an 15. bis 20.000 und dasGebiet Odessa an 20.000 Personen interessiert. Bereits imMärz 1991 war ich in diesen Gebieten und konnte mich vonder deutschfreundlichen Einstellung der Bevölkerung undder örtlichen Verwaltungen in den Landkreisen Wysokopolje

Überwiegend deutsche Kinder aus dem Schwarzmeergebiet in ihrer neuen Heimat inder Oberpfalz/Bayern 1948.

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(Kronau-Orloff) und Weselinowo (Landau) überzeugen unddarüber der Bundesregierung berichten. Die Einladung desukrainischen Präsidenten kam daher für Bonn nicht überra-schend.Die Umsiedlung sollte schnell vonstatten gehen, denn derVertreibungsdruck infolge des Aufbaus von Nationalstaatenin Kasachstan und Mittelasien, begleitet von Islamisierungund wirtschaftlichem Niedergang, war stark. Im Mai 1992wurde deshalb vereinbart, den Umsiedlern Wohncontainerals provisorischen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Dieukrainische Seite hatte sich für deren Aufstellung sowie fürdie Versorgung der Umsiedler mit Arbeit verpflichtet. Aufukrainischer Seite wurde mit der Umsetzung der geplantenMaßnahmen der Ukrainisch-Deutsche Fond betraut.Bis zum Sommer 1993 zogen ca. 200 Familien in das GebietOdessa, die meisten davon aus Kasachstan (93 %). Der weitüberwiegende Teil der älteren Generation (74 %) stammtenicht aus der Ukraine, und die mittlere und jüngere Genera-tion sah die Ukraine zum ersten Mal. Nur 13 % dieser Um-

siedler nannten den Wunsch, in dieHeimat ihrer Vorfahren zurückzukeh-ren, als Beweggrund ihrer Umsiedlungin das Gebiet Odessa.Der wirtschaftliche Niedergang, einerasante Inflation, oft auch übermäßigeBürokratie führten dazu, dass die An-zahl der in der Ukraine aufgenomme-nen Umsiedler stark beschränkt wurde.Umsiedler bekamen die in Aussicht ge-stellte ukrainische Staatsangehörigkeitnicht, konnten somit keinen Grund undBoden privatisieren und waren von ei-nigen staatlichen Unterstützungsmaß-nahmen ausgeschlossen. Das erzeugteUnruhe, bei vielen auch den Wunsch,nach Deutschland auszuwandern, ob-wohl sie das ursprünglich nicht vorhat-ten.Am 1. Januar 2000 hielten sich, offizi-ellen Angaben zufolge, in der Ukraine1.207 deutsche Umsiedler auf, davonim Gebiet Odessa 661, im Gebiet Cher-son 195, im Gebiet Nikolajew 68 undim Gebiet Saporoshje 199. Sie trafennoch da und dort auf alteingesesseneDeutsche, die zum größten Teil assimi-liert waren.

Resümee

200 Jahre nach der Ankunft der erstenKolonisten in Odessa können wir fest-halten, dass sie sich in der neuen Um-gebung nach anfänglichen Schwierig-keiten zurechtfanden. Das Schwarz-meergebiet wurde ihre Heimat, die siezusammen mit ihren Mitbürgern gegenäußere Feinde verteidigten und der siedurch den Fleiß ihrer Hände zu Wohl-stand verhalfen.Sie waren sicher kein “Staat im Staa-

te”, schon gar nicht eine Bedrohung, keine “fünfte Kolon-ne”. Die angebliche Selbstisolation war das Festhalten an ih-rer Kultur und ihrem Glauben. Das hinderte sie aber nichtdaran, ihre Bürgerrechte wahrzunehmen und nach Wegen indie Zukunft zu suchen.Im 20. Jahrhundert mussten die Schwarzmeerdeutschen demDruck der Diktaturen weichen. Die meisten von ihnen konn-ten schon im Zuge der Familienzusammenführung nachDeutschland ausreisen bzw. ihre Ausreiseanträge stellen.Viele von ihnen sind im wahrsten Sinne des Wortes in ihrehistorische Heimat, nach Baden, nach Württemberg, in diePfalz oder nach Hessen zurückgekehrt.Im Schwarzmeergebiet leben heute wenige tausend alteinge-sessene Deutsche und knapp über 1.000 Zuwanderer aus an-deren Republiken, mit anderen historischen und kulturellenWurzeln. Ob sie sich zusammenfinden und eine beständigeSiedlungsgruppe werden bilden können, muss die Zukunftzeigen. Wir jedenfalls wollen, bei aller Weltoffenheit, unserKulturerbe weiterhin bewahren.

Evangelisch-Lutherische Kirche in Petrodolinskoje (Peterstal), Gebiet Odessa (Auf-nahme von 1998).

Kolonisten-Hof in Nowogradowka (Neuburg), Gebiet Odessa (Aufnahme von 1998).

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GlückstalerKolonistenbezirk

Die Kolonien Glückstal (1809), Neudorf (1809), Berg-dorf (1809) und Kassel (1810) wurden von Einwan-derern aus Württemberg, der Pfalz, dem Elsass und

aus Ungarn gegründet. Es waren evangelisch-lutherischeKolonien. Die Bevölkerung der Kolonien wuchs beständigan von 1.375 Personen im Jahre 1811 bis auf 5.048 im Jahre1850. Die Tochterkolonie Klein-Neudorf wurde 1855 ge-gründet. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden wei-tere Tochterkolonien und Vorwerke (Chutor) gegründet.Die Lebensgrundlage dieser Kolonien war die Landwirt-schaft, wobei neben dem Ackerbau auch der Viehzucht gro-ße Bedeutung beigemessen wurde. 1841 zählte man im Be-zirk über 3.100 Pferde, über 7.200 Rinder und ca. 11.700

Schafe. Es wurden Obst (96.100 Bäume), Wein (194.700Rebstöcke) und Maulbeerbäume (1.600 Bäume) angebaut.Im Bezirk gab es 109 Handwerker, 30 Webstühle und 35Mühlen verschiedenen Typs.Während der Sowjetzeit konnte der Bezirk keinen nationalenRayon bilden, da die dafür festgesetzte Bevölkerungsnormnicht erfüllt wurde.

BeresanerKolonistenbezirk

Die Einwanderer in die Kolonien des Beresaner Ge-biets, so genannt nach dem Flüsschen Beresan, ka-men 1808 nach Russland. 1809 entstanden die Kolo-

nien Landau, Speyer und Rohrbach, 1810 Worms, Sulz,Karlsruhe, Rastadt und München.

In den Jahren 1818-1822 wur-den von Einwanderern ausdem Herzogtum Warschau so-wie aus West- und Südwest-deutschland die Kolonien Ka-tharinental, Johannestal, Neu-Rastadt, Friedrichstal, Stutt-gart und Waterloo gegründet.Die wirtschaftliche Grundlageder Kolonien des Bezirks inden ersten 20 Jahren ihres Be-stehens bildete die Schafzucht.In der zweiten Hälfte der1830er Jahren konnten dieKolonisten dank guter Erntenihre Einnahmen aufstockenund dadurch die Saatflächenausweiten.Ein Jahrzehnt später machtedie Entwicklung des Hand-werks gute Fortschritte. Eswurden Pferdewagen undPflüge hergestellt. 1886 warenin Rohrbach bereits 22 Wa-genbauer und 26 Schmiede, inLandau 25 Wagenbauer und47 Schmiede am Werk.1841 zählte man in den zwölfKolonien des Bezirks 1.215Höfe mit je 60 DesjatinenLand und 417 Landlose; 1858waren es nur noch 1.073 unge-teilte Höfe, aber auch nur 250Landlose. Die nachwachsendeGeneration wurde zum Teildurch die Teilung des elterli-chen Hofes, zum Teil durchgepachtetes Land versorgt.Handwerker im Vollerwerb

Schwarzmeerdeutsche Kolonistenbezirke

Skizze des Kolonistenbezirks Glückstal mit Ländereien für die zukünftige Kolonie Kassel (1809).

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hatten die Landwirtschaft größ-tenteils aufgegeben. Nach derAufhebung der Kolonialver-waltung und somit des Ge-meindebesitzes wandertenzahlreiche landarme und land-lose Kolonisten in die USAund nach Kanada aus. 1907gründeten katholische Kolonis-ten des Bezirks nördlich vonCherson die TochterkolonieAlexanderfeld.Mit der Verwaltungseinteilungdes Jahres 1925 wurden dieGemeinden des Beresaner Ge-biets zu einem deutschen natio-nalen Rayon Landau zusam-mengefasst. Verwaltungssitzdes Rayons wurde Landau. Beider Gründung des Rayons be-stand er aus 19 deutschen undfünf ukrainischen Siedlungenmit insgesamt 25.859 Einwoh-nern. Davon waren 23.521Deutsche (91 %), 1.265 Ukrai-ner (4,9 %), 437 Russen(1,7%) und 398 Juden (1,5 %).Der Rayon wurde im Mai 1926in “Deutscher nationaler Karl-Liebknecht-Rayon”, Landau in“Karl-Liebknecht” (russisch:“Karl-Libknechtowo”) umbe-nannt. Von 1931 bis zum 5.Mai 1939 erschien die Rayon-zeitung “Der sozialistischeVormarsch”.1925 waren von den 66.308Desjatinen Land nur 36.112 be-stellt und 11.356 als Reservefür die Verteilung an Landlose bereit gehalten. Im Rayongab es 5.445 Bauernwirtschaften, davon waren 581 (10,7 %)landlos, und 3.334 (61,2 %) hatten zwischen einer und zehnDesjatinen Land zur Bewirtschaftung.In den Jahren 1926 und 1927 wurden die ersten Landwirt-schaftlichen Genossenschaften gegründet, 1928 zehn Genos-senschaften für die gemeinsame Nutzung der sieben Trakto-ren der Marken “Fordson” und “International”. Im Herbst1929 und im Winter 1929-1930 wurde Getreide gewaltsambeschlagnahmt. Im Zuge dieser Aktion wurden 635 wohlha-bende Bauern (Kulaken) vor Gericht gestellt, 165 Wirtschaf-ten beschrieben und 322 verkauft. Ein Teil der wohlhaben-den Bauern floh unter Zurücklassung ihres Eigentums.Trotz des harten Drucks der im Januar begonnenen Kollekti-vierung konnten bis zum 20. Februar 1930 nur 51 % derBauernwirtschaften zum Beitritt in Kolchosen bewegt wer-den. Im März 1930 ließ der Druck nach, und Bauern ver-ließen die Kolchosen wieder. Im Oktober 1930 waren nurnoch 23,5 % der Bauern in den Kolchosen. Die nächste Kol-lektivierungskampagne des Winters 1930/1931 zwang 95 %der Bauern in die Kolchosen.Der Rayon wurde im April 1939 aufgelöst.

LiebentalerKolonistengebiet

Die deutsche Kolonisation in der Nähe von Odessa be-gann mit der Einwanderung von Kolonisten ausWürttemberg, aus Baden, dem Elsass und der Pfalz

im Jahre 1803. In den darauffolgenden Jahren wurden Groß-Liebental (1804), Klein-Liebental (1804), Alexanderhilf(1805), Neuburg (1805), Peterstal (1805), Mariental (1805),Josefstal (1805), Franzfeld (1805), Lustdorf (1805) undFreudental (1806) gegründet. Klein-Liebental, Josefstal, Ma-riental und Franzfeld waren katholische Kolonien, die ande-ren waren evangelisch. Die Bevölkerungszahl betrug 1806 -2.500, 1836 - 7.213, 1859 - 11.902 und 1905 - 13.309 Perso-nen.Begünstigt durch die Nähe zur Hafenstadt, baute man in die-sen Kolonien Obst und Gemüse, Wein und Getreide an, hieltGeflügel, Schafe und Bienen. Bekannt waren auf den Märk-ten der Stadt insbesondere Salat, Radieschen, Spinat und To-maten aus Klein-Liebental sowie Milch aus Groß-Liebental.In den 1870er Jahren wurden aus Groß-Liebental wöchent-

Karte der Ländereien bei Odessa, auf denen 1804 Groß-Liebental und Klein-Liebental gegrün-det wurden (November 1803).

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lich 600-700 Eimer Milch nach Odessa geliefert. Im “Unter-haltungsblatt für die deutschen Ansiedler im südlichen Rus-sland” waren wiederholt Berichte des Oberschulzen JohannKraus und anderer Kolonisten des Bezirks über ihre Erfah-rungen im Anbau landwirtschaftlicher Kulturen zu lesen. Siegalten den anderen Kolonisten als Vorbild.Vorbildlich war auch das Schulwesen: In jeder Kolonie wur-de schon in den ersten Jahren ihres Bestehens eine Kirchen-schule gebildet., 1869 kam eine Zentralschule, an der Lehrerausgebildet wurden, hinzu. 1905 wurde in Groß-Liebentaleines der ersten Mädchengymnasien gegründet.Nach der Aufhebung der Kolonialverwaltung wurde der Ko-lonistenbezirk in die Kreise Groß-Liebental, Lustdorf, Gül-dendorf und Freudental eingeteilt.Die Nähe zur Stadt wird es wohl gewesen sein, die bei denKolonisten dieses Bezirks eine höhere soziale Mobilität unddas Interesse für das Gemeinwohl und die Politik weckten.Seit der Einbeziehung in die Landschaftsverwaltung (Semst-wo) spielten Abgeordnete aus diesem Bezirk eine wichtigeRolle. So war Johann Kundert in den Jahren 1868-1874und1880-1895 Mitglied der vierköpfigen Bezirksverwaltungund 1877-1880 Abgeordneter der Gouvernementsversamm-

lung. Der Groß-Liebentaler Kreis-vorsteher Johann Münch war 1907-1910 Abgeordneter der Bezirks-versammlung Odessa und Abge-ordneter der II. Russischen Staatsdu-ma.Die Nähe zu Odessa brachte aberauch Gefahren mit sich. Im Sommer1919 versuchten bolschewistisch ge-sinnte deutsche und österreichischeKriegsgefangene, die sich “Sparta-kisten” nannten, in den Kolonien desBezirks die Sowjetmacht durchzu-setzen. Sie hatten vor, junge Kolo-nisten gewaltsam für die Rote Ar-mee zu mobilisieren und Pferde, Ge-treide und andere Lebensmittel zubeschlagnahmen. Das Ergebnis warein Aufstand, dem sich auch benach-barte russische und bulgarische Dör-fer anschlossen.Die Liebentaler Kolonien wurden1926 zu einem Groß-Liebentalerdeutschen nationalen Rayon zusam-mengefasst. Kurze Zeit später wurde

der Rayon zu Ehren der Spartakisten des Jahres 1919 in“Spartakisten-Rayon” umbenannt.In den 1930er Jahren fanden im Landkreis wiederholt Ver-haftungen statt. So wurden schon 1934 in den beiden Land-kreisen Groß-Liebental (Spartakisten) und Selz 40 “faschis-tische Zellen” ausgehoben und 110 Personen verhaftet. Da-runter waren eine Anzahl von Funktionären des Sowjetregi-mes. Die Verhaftungen setzten sich bis Ende der 1930er Jah-re fort. Die Zahl der Opfer steht noch nicht fest.Der Rayon wurde 1939 als deutscher Rayon aufgelöst unddem Rayon Ovidiopol angeschlossen.

KutschurganerKolonistenbezirk

Die Kolonien Straßburg (1808), Selz (1808), Kandel(1808), Baden (1809), Mannheim (1810) und Elsass(1810) wurden von Einwanderern aus Baden, Würt-

temberg, dem Elsass, der Pfalz, Preußen und Polen gegrün-det. Der Kolonistenbezirk wurde nach dem Fluss, an demdie Kolonien angelegt wurden, benannt. Alle Einwandererdieser Gruppe waren katholischen Glaubens.Die wirtschaftliche Grundlage der Kolonien bildete im 19.Jahrhundert die Landwirtschaft (Ackerbau, Viehzucht, Obst-und Weinanbau, Seidenraupenzucht). Im Jahre 1833 zählteman bereits über 20.000 Obstbäume und fast 349.000 Reb-stöcke.Die Revision des Jahres 1811 ergab, dass die Kolonien die-ses Bezirks 2.055 Einwohner hatten. 1833 waren es bereits3.868, 1859 - 7.373, 1905 - 12.554 und 1926 (Friedrich-En-gels-Rayon) -14.518 Personen.Der Aufbau des Sozialismus in den Kolonien des Kutschur-ganer Gebiets begann, wie in anderen Regionen der Ukraineauch, mit Gewalt, die mit Gewalt beantwortet wurde. Im Juli1919 brach ein Aufstand gegen die Spartakisten in den Lie-

Karte der deutschen Ansiedlungen in Südrussland, gezeichnet von J. Wiebe aus Tiege.

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der Deutschen aus Russland e. V.Raitelsbergstraße 49

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16. März 1944. Über den Aufbruch der Gemeinde Landauschreibt die spätere Präsidentin der Landsmannschaft derDeutschen aus Russland, Gertrud Braun (1906-1984):

Seit Weihnachten lebten wir unter ständigem Druck: Müssenwir fort oder dürfen wir bleiben? Man schwankte zwischenHoffen und Bangen.Anfang März machte ich mich auf die Fahrt nach Hoff-nungstal, wo eine meiner Mitarbeiterinnen mit ihren Mütter-beratungsstunden, Kindernachmittagen, Stick- und Nähaben-den eine gute Frauenarbeit aufgezogen hatte. Alles sah sofreudig und zukunftssicher aus. Nur der “Kommandant”machte ein ernstes Gesicht und meinte, dass er in Kürze eineschwerwiegende Entscheidung erwarte.

Da war sie schon wieder, diese dunkle Wolke, die wir immernicht sehen wollten!Es war Sonntag, der 12. März 1944. Um 11 Uhr, als ich nocheinmal - getrieben von innerer Unruhe - zur Kommandanturging, fand ich dort einen Kreis von Männern versammelt,die sehr ernst dreinschauten. Soeben wurde eine telefonischeMeldung aus Odessa durchgegeben. Alarmstufe 4! Da wur-de es ganz still im Raum. Zwar war der Anruf nur die Vor-stufe zum Alarm, aber bei einer endgültigen Bestätigungdieser Alarmstufe bedeutete es, dass sich die Trecks inner-halb weniger Stunden abmarschbereit zu halten hätten. DieRussen hatten den Oberlauf des Bug überschritten!Wir wussten, was das hieß! - Minutenlang sagte niemand einWort. Dann kamen mit möglichst ruhiger Stimme Vorschlä-

Flucht aus Landau

bentaler Kolonien aus. Am 30.Juli erfasste der Aufstand dieKolonien Selz, Straßburg, Kan-del und Baden. Wenig späterschlossen sich auch die nördli-cher gelegenen Kolonien Glücks-tal und Hoffnungstal an. In denKutschurganer Kolonien wurdeder Aufstand von K. Köhler(Selz) und dem Lehrer Schewe-ley (Kandel) geleitet. Der Auf-stand wurde von der Roten Ar-mee niedergeschlagen. Die Ka-vallerie-Brigade unter dem Be-fehl von G. Kotowskij erschosszur Bestrafung jeden fünften er-wachsenen Kolonisten.Nach dem Sieg der Roten gegendie Freiwilligenarmee der Wei-ßen ging es erneut mit Gewaltgegen die Kolonien los. Rekrutenaushebung, Getreidebe-schaffung, Mobilisierung von Pferden usw. wurden rück-sichtslos unter militärischem Druck durchgeführt. Danachwurden auch dort die Schulen der neuen Macht unterstellt:Sie sollten eine neue kommunistische Jugend erziehen, dochfand das bei der Bevölkerung keinen Anklang. Schüler blie-ben dem Unterricht fern und wurden von der Schule genom-men, das Bildungsniveau sank rapide.1925 wurden die Kutschurganer Kolonien zu einem deut-schen nationalen Rayon zusammengefasst, der erst Mann-heim, dann Selz und schließlich Friedrich Engels hieß.Der Kollektivierungsdruck auf die Kolonien war enorm.Nach Auffassung der GPU waren 1929 im Rayon 5,2 % Ku-laken. Bis zum Jahresende hatte der Rayon das Abliefe-rungssoll an Getreide zu 109,9 % erfüllt. Dieser Druck er-zeugte erneut Gegenwehr. Im Februar 1930 kam es zu Unru-hen in Kandel, Selz, Elsass, Mannheim, Straßburg, Badenund Güldendorf. Frauen holten ihr Vieh und das landwirt-schaftliche Gerät aus den Kolchosen zurück und forderten,die verhafteten Männer frei zu lassen. Das vorübergehendeNachlassen des Drucks nach den Unruhen, die nicht nur die

deutschen Kolonien, sondern zahlreiche Gebiete der UdSSRerfasst hatten, wurde durch die Vernichtung der “Kulaken alsKlasse” abgelöst. In Ergebnis wurden alle Bauern in dieKolchosen gezwungen, die Landwirtschaft wurde zugleichruiniert. Folge war die Hungersnot der Jahre 1931/32.Die neuen Herren blieben aber ebenfalls nicht lange aufihren Posten; so wurde J. Haftel, Sekretär des Rayonpartei-komitees, im Mai 1936 verhaftet. Während der Säuberungs-welle 1936-1938 wurden alte Rechnungen beglichen undzahlreiche Bauern, die zu den Kulaken gezählt wurden,am Aufstand von 1919 und den Unruhen von 1930 teilge-nommen hatten oder 1929 versucht hatten auszuwandern,wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt oderverbannt. Viele von ihnen kamen im Gewahrsam ums Le-ben.Der Rayon wurde 1939 aufgelöst. Die deutsche Bevölkerungrettete sich 1944 vor dem Zugriff der Roten Armee durch dieFlucht in den Warthegau, aber ein Teil wurde 1945 in dieUdSSR “repatriiert”. In ihre Dörfer durften sie nicht zurück.Heute erinnern nur noch die Kirchenruinen als stumme Zeu-gen an die Geschichte dieses Siedlungsgebiets.

Blick auf Mannheim im Jahr 1919.

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ge und Gegenvorschläge, was nun zu tun sei. Die gemeister-te Erregung sah man jedem der Männer an. Noch dürfenichts nach draußen dringen. Noch war der endgültige Be-fehl nicht da.Ich wollte versuchen, am nächsten Morgen um 6 Uhr - so-fern dazu noch Zeit war - die nächste Bahnstation zu errei-chen, um nach Landau zu fahren. Da, um 3 Uhr morgensstand zitternd eine unserer bekannten Bäuerinnen im Zim-mer. Eben war die Nachricht aus Odessa durchgekommen,die Alarmstufe gelte für den ganzen Bezirk.Da ging nun die Schreckensstunde durch den Draht hinausin die Dörfer, jagte die verschlafenen Bürgermeister aus ih-ren Betten. Diese begriffen kaum, dann rannten sie hinausauf die Straßen, riefen Boten zusammen, und diese klopftenan Tore und Türen. Heraus! Heraus! Der Russe kommt.Es war eine furchtbare Nacht.In höchster Aufregung liefen die Menschen zusammen. DieDunkelheit, der Schlamm - es hatte seit Wochen geregnet -und dann die Herzensangst vergrößerten in der Phantasie derMenschen die Gefahr ins Ungeheure.Was sollte man als Erstes tun? Was packen, was backen?Konnte man noch schlachten?Es gab einen kurzen, harten Abschied für mich. Keiner hatteZeit für den anderen.Nach erlebnisreicher Fahrt erreichte ich noch am gleichenTag Landau, das Dorf, zu dem ich gehörte. Ernste Gesichterauch hier.Ich erfuhr, dass in den letzten Tagen einige hundert Gespan-ne zum Transportdienst an die Front beordert worden waren.Nun saßen die Familien da ohne Familienoberhaupt undohne die Möglichkeit, mit eigener Kraft fortzukommen. Wo-her für sie alle den Laderaum nehmen?Wohl war es gelungen, drei Züge von der benachbarten Sta-tion auf den Weg zu bringen. Aber dieser Transportraumreichte bei weitem nicht aus.Die Alten, Kranken und Mütter mit Kleinkindern wurdenzuerst fortgebracht. Da gab es die ersten herzzerreißendenAbschiedsszenen, denn notgedrungen mussten die Familien

auseinandergerissen werden, um die Bahn nur mit dem Be-dürftigsten zu füllen. Einige Kleinkinder starben bereits inder ersten Nacht beim Warten auf die Verladung unter frei-em Himmel.Am Donnerstag früh sollte sich der Treck in Marsch setzen.Aber was würde aus den anderen werden, die keine Fuhrenhatten? Die Nerven waren angespannt bis zum Äußersten.Endlich war es soweit. In den frühen Morgenstunden des16. März 1944 sammelten sich die Treckwagen auf der An-höhe in Richtung Rohrbach vor dem Dorf, die Fuhren be-deckt mit Brettern, Blech oder Tüchern oder was man sonstauf dem Hof gefunden hatte, um ein Dach über den Wagenzu spannen. Außen baumelte der notwendigste Hausrat: Ei-mer, Milchkannen, Futtertröge. Hoch aufgeladen waren Ki-sten und Säcke. Dazwischen lugten die Gesichter der Kin-der. Die Erwachsenen mussten zu Fuß nebenher gehen. Fastkonnten die Pferde die Last nicht ziehen. Dazu der klebendeDreck.Alle Wagen wurden einer genauen Prüfung unterzogen, obnicht eine Fuhre zu wenig beladen sei, um Ausgleich für an-dere, überlastete Wagen zu schaffen.Ich ging die Fuhren entlang. Dann musste ich zum Dorf zu-rück. Erst nach Stunden setzte sich der Treck endgültig inBewegung. Er ist am ersten Tag wohl nicht weit gekommen.Vielleicht schaffte er es bis zum nächsten Bahnhof Rohr-bach.Ich konnte noch nicht fort, denn das Schicksal der Leuteohne Fuhren war noch nicht entschieden. Endlich kam dieNachricht: Unsere Leute würden alle herauskommen, wennauch nicht mit Pferd und Wagen, wenn auch keine Lastwa-gen mehr zur Verfügung stünden und keine Bahn mehr ging.Sie sollten nach Odessa herausgeflogen werden. Wir atme-ten auf.Es war dunkel, als sich unsere Kolonne in Bewegung setzte.Unsere Wagen waren aneinandergeseilt wie zu einer Berg-tour. Ganz vorne zog uns ein Traktor. Meter um Meterkämpften wir uns durch den Schlamm. Für 25 Kilometer biszur festen Straße brauchten wir fast zehn Stunden.

MARIA GÖRZEN

Der Friedhof meiner Heimat

Die Erinnerungen an den Friedhof meines HeimatortesPordenau stehen mir oft vor Augen. Besondersschwer werden meine Gedanken am Todestag mei-

ner Mutter. Sie starb 1946 in Kasachstan und wurde auf ei-nem kasachischen Friedhof begraben. Ihr Grab und viele

Gräber daneben bestehen schon lange nicht mehr. Sie wur-den von Viehherden zertrampelt. Ich denke oft an das Gute,das Mutter für uns getan hat. Alles, was ich tue, ist ihr Werk.So lebt sie immer noch im Geiste neben mir. Sie sitzt nebenmir oder schaut auf mich herab. Wir sprechen miteinander.

Bilder der großen Flucht der Schwarzmeerdeutschen aus demNachlass von Gertrud Braun.

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Und ich denke oft an den Friedhof in Pordenau. Das ist meinHeimatort, meine ehemalige Heimat. Dort wurde ich gebo-ren, dort wuchs ich auf. Pordenau war eines der 58 deut-schen Dörfer in der Molotschnaja im Süden der Ukraine. Ichhabe in ihm viele wichtige Erlebnisse und Erfahrungen mitmeiner Mutter geteilt. Das bleibt unvergesslich. Ich warstolz auf sie.Im Frühjahr, wenn die ersten Blumen erwachten, gingen wirgemeinsam zum Friedhof. Ich freute mich so, wenn Muttermich mitnahm. Unser Friedhof lag im Wald, die Gräber wa-ren wie Blumen verstreut zwischen den Bäumen, als hätteder Wald sie aufgenommen.Damals sprachen die Gräber noch nicht mit mir. Sie wareneinfach da und wurden von Menschen gepflegt und ge-schmückt. Ich schaute hinauf zu den herrlichen alten Baum-kronen und ließ mich vom Gesang der Vögel verzaubern.Ich dankte Gott dafür, dass ich zusammen mit meiner Muttergehen durfte und sie mir beistehen konnte. Es war eine ge-segnete Zeit.Auf dem Pordenauer Friedhof wurden bereits meine Urgroß-eltern mütterlicherseits begraben. Ihre Gräber lagen neben-einander. In der Mitte, am Kopfende der beiden Gräber standein großer viereckiger Grabstein mit einer Inschrift. Dane-ben hatte meine Mutter zwei Blumenstöcke mit weißen Ro-sen angepflanzt. Rund um die Gräber blühten andere Blu-men, die nach dem Verblühen durch neue ersetzt wurden.Meine Mutter versuchte auch andere Gräber in Ordnung zuhalten. Meistens waren das die Gräber von Bekannten undVerwandten, die ausgesiedelt worden waren und in Pordenaukeine Angehörigen mehr hatten, so die Familien Heinrichund Driediger.Seit 1980 lebt unsere Familie in Deutschland. Hier sind dieFriedhöfe sauber und gepflegt, Ruhestätten, die wie ein Parkaussehen.Seit einiger Zeit zieht es mich stärker zum Friedhof. MeineBlicke gehen nicht mehr so sehr zu den Baumkronen hinaufwie während meiner Kindheit, sondern hinab zu den Grä-bern vor meinen Füßen. Wie still liegen sie doch nebenein-ander - Namen, Schicksale, vollendete Leben. Vielleicht ha-ben sie sich gekannt oder auch nicht. Doch sie waren alledem gleichen Schicksal unterworfen.Ich schaue mir die Grabsteine an, kleine unscheinbare undgroße prunkvolle. Hie und da ein Holzkreuz. Je nachdem,was an vergänglichen Gütern die Menschen, die ihre irdi-sche Ruhe gefunden haben, besessen haben. Der Menschmuss wieder zu Erde werden. Das gilt für jeden gleicher-maßen, ob unter einem schlichten Holzkreuz oder unter ei-nem gewaltigen Stein.Ich denke an meine Lieben, an die Verstorbenen. Wo sindihre Gräber? Wer pflegt sie heute? Haben sie überhaupt ein

Grab? Wurden sie begraben? Wo ist ihre letzte Ruhestätte?Wer gab ihnen das letzte Geleit? Was war ihr letzterWunsch? Diese und andere Fragen bleiben für immer unbe-antwortet. Mein Vater, meine drei Brüder, mein Schwagerund viele Verwandte und Bekannten bleiben für immer ver-misst. Das tut weh.Im November 2000 starb mein Bruder Gustav. Schon inKöln. Mir ist so seltsam zu Mute. Als wäre es nicht wahr.Der Tod kam und raffte ihn hinweg in eine andere Welt, wokein Leid und keine Kränkungen sein werden. Sein Lebenauf Erden war zu Ende. Aber ich höre seine Stimme, seineSchritte. In meiner Vorstellung sehe ich ihn so ruhig, so zu-frieden, mit gefalteten Händen im Sarg liegen, als wolle ermir noch etwas sagen. Aber sein Mund öffnet sich nichtmehr. Er hat alles gesagt.Und ich erinnere mich an das Auferstehungslied, das meineEltern und Geschwister damals gerne sangen. Ich schreibefür unsere Leser die ersten beiden Strophen aus dem Ge-dächtnis auf:

Wenn aufersteh'n am glorreichen MorgenDie Toten all' große und klein,Im Meer und in Gräbern verborgen,Welch ein Morgen wird das sein!

Chor: Welche Freude, Freude,Wonne wird das sein!

Wenn dann, die hier waren getrennt,Nun auf ewig sind vereintUnd man sie beim Namen wohl nennet,Vater, Mutter, Kind und Freund!

Chor: Welche Freude, Freude,Wonne wird das sein!

1992 an einem deutschen Grab in Peterstal im Gebiet Odessa.

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Liebe Landsleute,

wir begehen in diesem Jahr den 200. Jahrestag der Auswanderung von Deutschen, unserer Vorfahren, in das Schwarz-meergebiet. Nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung, nach Umsiedlung und Rückkehr nach Deutschland le-ben heute nur noch wenige Deutsche im Süden der Ukraine. Mit einer Reihe von Veranstaltungen und Publikationenist die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland im Jubiläumsjahr der Schwarzmeerdeutschen bestrebt, nachhal-tig an die Geschichte dieser vom Schicksal hart geprüften Volksgruppe zu erinnern.

Zwei öffentliche Veranstaltungen der Landsmannschaft am 20. September und am 8. November 2003 in Stuttgart sol-len dem Andenken an die Schwarzmeerdeutschen gerecht werden, mithilfe zweier Ausstellungen wollen wir auch dieeinheimische Bevölkerung informieren, in “Volk auf dem Weg” und dem Heimatbuch 2004 befassen wir uns ausführ-lich mit der Thematik. Mit dieser Broschüre schließlich, für die wir als ehrenamtlichen Verfasser den bekannten russ-landdeutschen Historiker Dr. Alfred Eisfeld gewinnen konnten, liegen Ihnen in wissenschaftlich korrekter und kom-pakter Form die wichtigsten Informationen zur Geschichte und Kultur der Schwarzmeerdeutschen von ihrer Auswan-derung bis in die Gegenwart vor. (Für das nächste Jahre bereiten wir im Übrigen eine weitere Broschüre vor, die dem240-jährigen Jubiläum der Auswanderung der Wolgadeutschen gewidmet ist.)

Wir üblich schicken wir Ihnen die Broschüre kostenlos zu, bitten Sie aber, uns dafür eine Spende nach Ihrem Ermes-sen und gemäß Ihren Möglichkeiten zukommen zu lassen. Sie können sich völlig sicher sein, dass wir Ihre Spendeausschließlich für die landsmannschaftliche Arbeit, insbesondere für die Realisierung weiterer Publikationen verwen-den werden.

Vielen Dank im Voraus!

Ihre Landsmannschaft