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„Wir haben eine besondere Verbindung zur Erde, sie ist unser

Zuhause. Ich weiß nicht, wie man aus dem Weltraum zurück­

kommen und nicht verändert sein kann. […] Jeder,

der zurückkehrt, hat in seinen Erinnerungen verankert,

wie der Planet aussieht. Das kann man nicht auf die leichte

Schulter nehmen.“

Nicole Passonno Stott (Astronautin)

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HARRY GATTERER

Wir leben in einer Zeit, in der man sich wieder auf nationalistische Gedanken besinnt, während gigantische Entwicklungen wie die Erderwärmung sich nicht an solche Konstrukte halten. Staaten versuchen Menschen daran zu hindern, ihre Grenzen zu überschreiten, aber die Luftverschmutzung macht an diesen Grenzen nicht halt. Wenn die führenden politischen Köpfe der Welt zusammensitzen, geht es um Handelskriege, Flüchtlinge oder den Austritt aus alten Bündnissen. Es wird gerungen, verteidigt und attackiert. Am Ende ist sich jeder selbst der Nächste, schließlich gilt es, in der „Heimat“ einen Erfolg verkaufen zu können. Das wird sich auch nicht ändern, wenn Donald Trump die G7 beim nächsten Mal in die USA einlädt.

Was aber, wenn der G7-Gipfel nicht mehr auf der Erde stattfinden dürfte? Wenn Politiker und Politikerinnen der führenden Industrienationen in eine Rakete einsteigen und die Erdoberfläche sowie die Atmosphäre verlassen würden, um in der ISS zu tagen? Der Overview-Effekt würde das Ergebnis der Gespräche vermutlich massiv beeinflussen. Dieser Effekt tritt ein, wenn Menschen aus dem Weltraum auf die Erde blicken. Die ersten Raumfahrer berichteten von einer völlig veränderten Perspektive auf die Erde und die Menschen, die darauf leben. Von einem Gefühl der Ehrfurcht, einem tiefen Verstehen der Verbundenheit allen Lebens auf der Erde und einem neuen Empfinden der Verantwortung für unsere Umwelt.

An Overview-Bildmaterial mangelt es heute nicht und vielleicht hilft auch das wieder erstarkte Interesse am Weltraum – Stichwort New Space Age –, die Verbindungen, Zusammenhänge und Dimensionen unseres Handelns auf dem Planeten zu realisieren. Vielleicht reicht der Protest der globalen Jugend, die bereits weiter blickt als ihre aktuellen politischen Vertreterinnen und Vertreter. Und falls nicht: Schießen wir sie ins All!

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„Es braucht keine Erklärung oder Invasion, um einen Krieg zu beginnen.

Alles, was man braucht, ist ein ‚Wir‘ und ein ‚Sie‘. Und einen Funken.“

Ada Palmer, Seven Surrenders

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MATTHIAS HORX

Unsere tribale Sehnsucht zwingt uns immer wieder in Deutungsmuster des „Wir“ gegen „die Anderen“ – und in die Abwertung der Anderen zugunsten eines (im Grunde brüchigen) Wir. Besonders in Zeiten, in denen sich große Teile der Gesellschaft verunsichert und abgehängt fühlen, ist die Sehnsucht nach einem großen Wir – und der Abgrenzung gegenüber den Anderen – stark.

Was aber, wenn der bösartige Rechtspopulismus dies nützen und die Welt erobern würde? Marine Le Pen wird neue französische Premier-ministerin, Boris Johnson der Oberhulk Europas. In Südamerika kommen Militärs an die Macht, Putin und der Iran bilden eine Supermacht, Erdogan ruft die Islamische Republik Türkei aus und marschiert in Griechenland ein. Europa, dieses feine, zivilisierte Gespinst, zerfällt. Ganz zu schweigen von Afrika. Und Bernd Höcke wird Bundesdiktator.

Beängstigend. Doch der Faschismus, wie wir ihn aus dem 20. Jahr-hundert kennen, kommt nicht wieder. Nicht nur, weil nach den Gesetzen der Trenddynamik jeder Trend einen Gegentrend provoziert. Der Populismus ist vielerorts bereits wieder über seinem Zenit, er erzeugt vitale Abwehr-kräfte, Widerständigkeiten, neue Protestformen. In vielen Ländern gibt es heute eher eine stärkere Pro-Europa-Tendenz, weil die Populistinnen und Populisten uns deutlich zeigen, was zu verlieren wäre, würden sie sich durchsetzen.

Wut-Populismus ist ein Aufmerksamkeitsphänomen, ein Kind auch der Übermedialisierung, eine geistige Enge, die aus Angst Größenwahn-phantasien destilliert. Rechtsradikales Denken ist auch das Produkt von Einsamkeiten: Man sehnt sich nach einer starken Gruppe und eindeutigen Zugehörigkeiten. Dafür muss man andere abwerten, hassen und verachten. Der Aufmerksamkeitsrausch der Populisten kippt aber schnell wieder in sein Gegenteil um: Überdruss. Die Megatrends Individualisierung, Globali-sierung und Urbanisierung tragen ihren Teil dazu bei, dass wir nicht so ohne Weiteres in die faschistische Ära zurückfallen. Von der Hongkong-Revolte bis Fridays for Future, von den Liberalisierungsprozessen in vielen Ländern bis zur neuen Lust an der Ökologie: Populismus ist ein Echo der Geschichte, das uns auf verquere Art den Weg in die richtige Richtung weist.

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„Der Gedanke an die Zukunft löst heute Angst aus, da wir das Vertrauen

in unsere kollektive Fähigkeit verloren haben, mögliche Exzesse zu

verhindern und das Morgen weniger furchteinflößend und

abstoßend und dafür ‚nutzerfreund­licher‘ zu machen. Was wir aus

Gewohnheit nach wie vor ‚ Fortschritt‘ nennen, löst heute ganz andere

Emotionen aus, als Kant, der Schöpfer des Begriffs, mit ihm wachrufen

wollte: nicht mehr freudige Hoffnung auf einen Zugewinn an Komfort

und das bevorstehende Verschwinden von Unannehmlichkeiten und

Beunruhigungen […], sondern Furcht vor nahenden Katastrophen.“

Zygmunt Bauman, Retrotopia

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HARRY GATTERER

Viele Unternehmen haben das Gefühl, dem permanenten Fortschritt hinter-herzulaufen, weshalb ein wahrer Kampf um das Neueste ausgebrochen ist, mit der Idee, weiterhin eine Chance auf dem Markt zu haben. Oft wird Innovation als großes Theater inszeniert und macht zwanghaft alles „neu“ und „smart“. Unternehmen produzieren so reihenweise Lösungen, für die es eigentlich gar keine Probleme gibt.

Was aber, wenn wir unseren Kindern diese aktuelle Idee des Fort-schritts, des Müssen-Müssens, ersparen und stattdessen auf eine neue Idee des Fortschritts hinwirken würden? Wir sollten Fortschritt heute im Kontext des 21. Jahrhunderts neu bestimmen. Ein Zugewinn an Komfort ist nicht mehr mit Automatisierung und klassischen Verbesserungskonzepten zu erreichen. Unannehmlichkeiten werden nicht allein dadurch verschwinden, dass wir mehr „design thinken“. Was wir brauchen, ist ein mentales Update für das, was Komfort ist: Die Entwicklung vom Schlechteren zum wirklich Besseren. Wenn wir nicht aus der Angst heraus handeln, etwas zu verpassen, sondern aus der Freude, etwas zum Besseren zu verändern, dann fällt der Vorhang des Innovationstheaters. Wir können dann unsere Kraft darauf verwenden, Lösungen für echte Probleme zu finden, statt Innovation zum Selbstzweck zu betreiben.

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„Wie groß deine Triumphe und wie tragisch deine Niederlagen

auch sein mögen – rund einer Milliarde Chinesen ist das

völlig wurscht.“

Unbekannt

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MATTHIAS HORX

China wirkt heute wie eine ständige Drohgebärde. Schon die pure Anzahl der Chinesen … Müssen diese Menschenmassen nicht, wie wir es von Touristenhotspots kennen, den Planeten „überschwemmen“? Sind die chinesischen Herrscher nicht ideologische Autokraten, die sich keinen Deut um Demokratie kümmern und ihre globalen Machtpositionen rücksichtslos vorantreiben? Ist der chinesische Konsumrausch nicht der Nagel im Sarg der globalen Umwelt, mit seinem unendlichen Hunger nach Kohle, billigen Produkten und ständigem Wachstum?

Was aber, wenn die Angst des Westens vor „den Chinesen“ Teil eines alten kulturellen Hochmuts wäre – und mit der wahren Zukunft wenig zu tun hätte? Was, wenn China nicht die Welt verderben würde, sondern ein Teil der Lösung unserer zivilisatorischen Probleme sein könnte?

Chinas Bevölkerung altert massiv und wird in einigen Jahren beginnen, radikal zu schrumpfen. Alternde Gesellschaften neigen nicht zu Kriegen und Konflikten, zudem liegt im Kern des chinesischen Wertesystems die konfuzianische Harmonie, und die verträgt sich durchaus mit ökologischem Denken. Kein aufstrebendes Industrieland versucht so konsequent umzu-steuern wie China: Heute schon stammen 20 Prozent des chinesischen Strombedarfs aus erneuerbaren Energien, 2025 werden es 40 Prozent sein. Als einziges Land hat sich China Quoten für Elektromobile verordnet. Das Riesenland entwickelt ein konsequentes Recycling-System und investiert massiv in Innovationen, die wir im Westen vernachlässigen, viele davon „grüne“ Innovationen. Der Westen kann sich ängstigen, er kann sich aber auch mit China verpartnern, um gemeinsam die großen Schritte zu gehen.

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„Nichts Geringeres als die menschliche Wahrnehmung wird in

einem Moment zum Thema, in dem die Maschinen sensorisch und

motorisch aufrüsten […].“

Dirk Baecker, 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt

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HARRY GATTERER

Notifications, Werbebanner, große Headlines … alles schrill, schnell, sensationell – das Buhlen um unsere Aufmerksamkeit kennt keine Grenzen. Wir sind getrimmt auf Screens, sie sind unsere Fenster in die Welt. Hier sehen wir, was abgeht – oder besser gesagt, was uns die Algorithmen von Unternehmen und Politikern zubilligen, was in unserer Bubble akzeptiert ist und was unsere ohnehin bereits gefasste Meinung bestätigt. Vertieft in unsere Screens scheinen wir die Welt heute gar nicht mehr wirklich wahrzunehmen. Eigene Meinungen und Erfahrungen brauchen wir nicht, Bewertungen – ein paar Sterne auf unserem Screen – sagen uns schon, was gut ist. Und unsere Beziehungen? Sie leiden darunter, dass wir ständig abgelenkt und kaum noch wirklich präsent sind.

Was aber, wenn all diesen Untergangsängsten zum Trotz die menschliche Wahrnehmung entscheidend für uns bleiben würde? Also nicht die durch Codes und Algorithmen produzierte Wahrnehmung, sondern jene, die durch unsere eigene Aufmerksamkeit gelenkt wird. Was, wenn wir dabei (wieder)erkennen würden, dass wir viel mehr wahrnehmen können als visuelle Reize? Plötzlich würden die anderen Sinne jenseits des Sehens dominanter werden, das Hören zum Beispiel, das Fühlen oder das Schmecken. Letzteres hat in den vergangenen Jahren bereits einen neuen Siegeszug angetreten. Essen ist ein quasi religiöser Akt geworden, bei dem wir abwägen und entscheiden: Ja, dieses tut uns gut, jenes nicht. Doch auch das Hören ist nicht zu unterschätzen. Streaming ist nicht die einzig wahre Form des Hörgenusses. Nicht nur, dass Schallplatten wieder hip sind, auch Musikinstrumente sind der Renner: Noch nie zuvor gab so viele Instrumente in den heimischen Haushalten.

Wenn wir uns als Menschen mit allen Sinnen bewusst verstehen und erfahren, können wir sicher sein, dass wir etwas anderes sind als eine Menge Code. Allerdings gilt es, sehr achtsam mit unserer Wahrnehmung umzugehen. Die Flut an vor allem visuellen Eindrücken erstickt unsere Fähigkeit, selektiv, distinktiv und reflexiv wahrzunehmen. Doch wir haben diese Fähigkeit. Sie ist ein besonderer Wert, denn unsere Wahrnehmung ist die Summe unserer Sinne und unserer Interpretationen. Eine Kombination, die Maschinen fremd ist.

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„Gehe nie zu einem Doktor, dem die Büropflanzen eingegangen sind!“

Erma Bombeck

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MATTHIAS HORX

Menschen sind ganzheitliche Wesen, körperlich-geistige Einheiten, eingebettet in den Kontext von Natur, Umwelt und sozialen Beziehungen. Genesung und Heilung ist Hoffnung. Doch die heutige Funktionsmedizin bietet wenig Heilung. Sie organisiert Reparatur – oft hochprofessionell, aber auch seelenlos, im Sinne eines Körper-Taylorismus, der den Menschen als Verknüpfung lauter kleiner Teile und Mechanismen begreift. Der moderne Medizinsektor rennt einer Idee von Effizienz hinterher, die er nie erreichen kann.

Was aber, wenn die entscheidenden Innovationen in Richtung Future Health weniger in Gentechnik, Big-Data- oder Telemedizin liegen, sondern in einer Rückkehr – oder besser einem Fortschritt – in Richtung Heilkunde? Die sogenannte Beziehungsmedizin – oder auch Concierge-Medizin – stellt als Grundidee das Primat der Arzt-Mensch-Beziehung in den Mittelpunkt aller Prozesse. Wenn wir einen Arzt aufsuchen, dann sollten wir Zeit zum Sprechen und für die Suche nach Ursachen haben, für die Beschäftigung mit Umständen und Herkünften unserer Krankheit. Digitale Diagnose-Tools sollen genutzt werden, aber nicht im Vordergrund stehen. Über allem steht das Ziel Gesunderhaltung. Ein solches Medizinsystem, in dem am Ende gesunde Lebensjahre – und nicht das Gegenteil – bezahlt werden, ist viel zu teuer? Unrealistisch? Reisen wir 120 Jahre zurück, in die Zeit, als die ersten allgemeinen Krankenhäuser entstanden. Auf die Frage, ob moderne medizinische Methoden je für die gesamte Bevölkerung möglich und erschwinglich sein würden, antworteten die Mediziner und Politiker von damals mit einem Achselzucken. Viel zu teuer! Unrealistisch!

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„Während Extrovertierte dazu neigen, Führung in öffentlichen Bereichen

zu erlangen, neigen Introvertierte dazu, Führung in theoretischen und

ästhetischen Bereichen zu erringen. Herausragende introvertierte

Anführer wie Charles Darwin [oder] Marie Curie […], die entweder neue

Denkfelder geschaffen oder be stehendes Wissen neu geordnet

haben, haben lange Zeit ihres Lebens in Einsamkeit verbracht.“

Janet Farrell und Leonie Kronborg, Leadership Development for the Gifted

and Talented

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HARRY GATTERER

Im gemeinsamen Tun sehen viele die Stärken der Gegenwart. Wir-Gemein-schaften poppen überall auf, Co ist Trend: Co-Working, Co-Living, Co-Housing, Cooperation, Collaboration, Coopetition etc. Eines gerät in diesen Wir-Trends jedoch in den Hintergrund: Es gibt kein Wir ohne ein Ich! Wir benötigen Individuen, um die Welt zu verändern.

Was aber, wenn diese Individuen besser in Einsamkeit und Stille gedeihen als in Gemeinschaft und Lärm? Gerade die herausragenden Talente sind häufig nicht die lauten. Sehr oft sind es die übersehenen, leisen Zeitgenossen, jene die sich zurückziehen, um zu arbeiten und zu denken, die „den Unterschied machen können, der den Unterschied macht“ (Bateson). Doch die derzeit herrschende große Vorliebe für das Wir in vielen Bereichen ist nicht immer hilfreich, wenn es darum geht, neue Gedanken zu entwickeln. Wenn Menschen ständig im Scheinwerferlicht der Gruppe agieren, treten sie in ihren eigenen Talenten vielleicht zurück und überlassen der Masse die Entscheidungen. Selbst, wenn sie es besser wüssten. Aber spricht das für einen neuen Individualismus oder gar Egoismus? Mitnichten. Es spricht für eine sehr differenzierte Wahrnehmung von Menschen und Situationen. Und für die bewusste Gestaltung von Räumen, in denen sich Wir und Ich nicht widersprechen. Räume, in denen jeder bei sich selbst bleiben kann, auch wenn noch 999 andere anwesend sind – weil sie ein „Denken ohne Lärm“ ermöglichen.

Neue Gedanken entstehen meist nicht beim Reden, sondern dann, wenn man sich selbst beim Denken beobachtet. Das ist eine introvertierte Tätigkeit. Es kommt darauf an, dass wir diese individuelle schöpferische Kraft für die Gemeinschaft nutzen, indem wir es vermeiden, der narzisstischen Dynamik der Egos zu verfallen. Die Zukunft gehört dem „progressiven Wir“: Einer Balance zwischen Wir-Tendenzen und dennoch erhalten bleibenden individuellen Wünschen, Bedürfnissen und Talenten. Dem Besten aus beiden Welten, sozusagen.

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„Ihr Weißen seid sonderbar. Wir finden es sehr primitiv, dass ein

Kind nur zwei Eltern hat.“

Ein Ältester der australischen Aborigines

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MATTHIAS HORX

Nach wie vor beharren wir auf einem Modell des „Kinderhabens“, das die Erziehungsarbeit der Kleinfamilie – und damit immer noch über-wiegend den Frauen – überlässt. Die Folge sind Phänomene wie Helicopter Parenting und Boomerang Children; Eltern kommen nicht von den Kindern und die Kinder nicht von den Eltern los. Was wir in der Erziehung an Freiheit und Lockerheit gewonnen haben, fressen die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder auf. Elternschaft ist ein Jonglieren entlang ständiger Ausnahmesituationen, das Kinder und Eltern neurotisch macht.

Was aber, wenn die Zukunft den sozialen Innovationen gehören würde? Was zum Beispiel, wenn sich die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in immer mehr Ländern durchsetzen würde? Oder neue Formen von Gemeineigentum aufkommen würden, so etwas wie „Allmende 2.0“? Oder was, wenn sich die Reproduktion immer weiter von der Beziehung zwischen Männern und Frauen löst? Wenn Männer mit Männern Kinder bekommen können – auf biologischem Wege? Wenn 70-jährige Frauen gebären? Wenn es drei Elternteile gibt? Was wäre, wenn mit steigender Familienvielfalt, mehr Alleinerziehenden und einem sozial vernetzten Leben mehr Multi-Elternschaften entstehen – ein Netzwerk von Bezugspersonen, ein ständiges Dorf, in dem Kinder sich verlieren können? Wenn sich Lebensweisen entwickeln, in denen man sich, wie in der alten Stammesgesellschaft, die Kindererziehung teilt? Und die Kindheit wieder ein Abenteuer wird, die Erwachsenen ein Stück weit aufatmen und sich um sich selbst kümmern können?

Zu den wichtigsten sozialen Innovationen der letzten 20 Jahre gehören die gleichgeschlechtliche Ehe und der Vaterschaftsurlaub. Solche „Inventionen“ gibt es heute sogar in der konservativen Schweiz. Die Welt des Sozialen wandelt sich womöglich sogar schneller als die Technologie, nur haben wir es noch nicht bemerkt.

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„Was in allen Systemen vor sich geht, ist […] notwendig durch ihre

Struktur bestimmt, nicht aber durch externe Einflüsse determinierbar.“

Humberto Maturana, Vom Sein zum Tun

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HARRY GATTERER

In einer komplexen Welt zu leben bedeutet, die Welt in ihren Systemen zu erkennen und die den Systemen innewohnenden Strukturen zu verstehen. Wenn der Youtuber Rezo mit einem Video den Ausgang der Europawahl beeinflussen kann, dann nicht, weil er Teil der politischen Systeme wäre. Für diese Systeme ist er ein „Außen“, das die Organisation im „Innen“ der Politik — hier am Beispiel der CDU als Partei — nicht strukturell verändern kann. Sein systemisches „Innen“, die Millionen von YouTube-Klicks, hat eine völlig eigene strukturelle Beschaffenheit, welche wiederum nichts mit Politik per se zu tun hat. Der Effekt von Rezos Video war demnach der Zufall einer Berührung zweier Strukturen, die an und für sich nichts miteinander zu tun haben. Auch in Zukunft nicht. Wenn die CDU einen YouTube-Channel betreibt und darin versucht zu kommunizieren, bleibt sie strukturell dennoch die CDU. Sie wird nicht zu YouTube und auch nicht zu einem Youtuber. Dafür müsste die Struktur im Innen der Partei massiv verwandelt werden, was — wie man weiß — nicht so einfach geschieht.

Was aber, wenn wir in Wirtschaft und Politik lernen würden, die Welt in ihren System-Dynamiken zu erkennen? Systeme sind von ihrer Struktur her bestimmt, wodurch sich ihre Wirkungsweisen in der Gegenwart wie auch in eine Zukunft hinein erklären lassen. Führung der Zukunft muss mit der Unterscheidung zwischen der eigenen Struktur und dem Außen umgehen können, um nicht permanent Signale von außen als Hinweise auf zukünftige Richtungen zu missdeuten. Organisationen, wie zum Beispiel Unternehmen, welche durch ihre inneren Strukturen bestimmt sind, können nicht mir nichts, dir nichts die Richtung ändern. Sie verfügen über einen individuellen Future Code, der ihnen dabei hilft, die umgebende Umwelt zu erkennen und zu deuten. Diese Erkenntnis ist für unser Verständnis der Zukunft ebenso essenziell, wie systemisch zu denken. Wer Zukunft nicht linear weiterdenkt, sondern Zyklen und Feedbackloops, Trends und Gegentrends sowie Spannungen und Konflikte beachtet, wird die System-Dynamiken erkennen und anhand seines individuellen Future Codes zukunftsfähige Entscheidungen treffen.

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„Die Menschheit ist zu weit vorwärts­gegangen, um sich zurückzuwenden,

und bewegt sich zu rasch, um an zuhalten.“

Winston Churchill

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MATTHIAS HORX

Viele Menschen sind heute einem tiefen Zukunftszynismus verfallen. „Die Menschheit“, so heißt es immer wieder, „ist am Ende! Wir sind als Spezies nicht überlebensfähig, zu blöd und zu unsozial, um das 21. Jahrhundert zu überstehen. Die Natur wird uns abschütteln. Die Zukunft gehört vielleicht intelligenten Tintenfischen, die es besser machen.“

Was aber, wenn das alles Unsinn wäre; nichts als Denkfaulheiten und ängstliche Verkürzungen – oder einfach nur subjektive Verbitterung, gerade-wegs auf die Welt projiziert? „Theorien sind gewöhnlich Übereilungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne los sein möchte“, meinte Goethe. In Wahrheit befindet sich die menschliche Kultur in einem ständigen Umbruch, einer ewigen Adaption an neue Umweltverhältnisse. Unsere Vorfahren konnten mit ungleich geringeren Mitteln als heute in den extremsten Bedingungen überleben – sonst wären wir nicht hier. Global Warming scheint komplizierter als das Problem, einer Mammut-Stampede entkommen oder neue Steinwerkzeuge herstellen zu müssen. Aber ist die Dekarbonisierung wirklich so unmöglich, wie uns das unser innerer Doomsday-Sänger immer wieder weismachen will?

Die Technologien für eine Zukunft jenseits fossiler Energien sind längst vorhanden. Wir haben heute die Konzepte für intelligente Verkehrs-lösungen, große Speichersysteme und alternative Treibstoffe. Wir sind überreich beschenkt mit den Kräften der Natur; von Sonne, Wind und Biomasse. Wir verfügen über einen reichhaltigen Baukasten an Materie-Konversions-Techniken – „Cradle-to-Cradle“, „Synfuels“, „Carbon Food“, etc. Es geht nur darum, das alles sinnvoll und profitabel zusammenzufügen. Dafür braucht es vor allem ein neues Denken. Ein Denken von der Zukunft aus. Alle Zukunft, das ist die erste futuristische Regel, beginnt mit Denken in Lösungen statt in Problemen. Beherzigen wir dies, können unsere Enkelkinder im Jahr 2050 vielleicht zurückschauen und sich fragen, wie wir es geschafft haben, die Erderwärmung zu stoppen. Wäre das nicht eine schöne Vorstellung?

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HARRY GATTERER

Der Geschäftsführer des Zukunftsinstituts unterstützt Unternehmen dabei, relevante Trends zu erkennen und zu nutzen. Seine Erfahrung aus über 20 Jahren als Trend- und Zukunftsforscher sowie als Unternehmer lässt er in eigens entwickelte Methoden einfließen, mit denen er KMU ebenso wie internationale Konzerne und öffentliche Institutionen berät.

MATTHIAS HORX

Der Gründer des Zukunftsinstituts gilt heute als ein-flussreichster Trend- und Zukunftsforscher im deutsch-sprachigen Raum. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Studien sowie profilierter Redner zu sozialen, techno-logischen, ökonomischen und politischen Trends.

© Zukunftsinstitut, 2019Alle Rechte vorbehalten

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© Zukunftsinstitut, 2019Alle Rechte vorbehalten

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