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75 2.2 Teilnehmende Beobachtung im Lebensraum „Straße“ in Yogyakarta - Indonesien Anika Malkus Die kleinen Herzen der Straße Bewusst über ein Leben, das bereits morsch ist Bewusst über ein Leben, das mehr und mehr in Vergessenheit gerät Ohne seine Zukunft beschreiten und gestalten zu können Während ich bedaure, vergessen worden zu sein Läuft die Zeit fortwährend an mir vorbei Meine Zeit ist unterdessen vergeblich und umsonst Ich schreite weiter mit meinen Sünden Es ist so, als sähe man eine welke Blume Die trocken am Wegesrand liegt Und versucht, aus dem Tod zu erwachen Um ein neues Leben zu beginnen Wir, die kleinen Herzen der Straße Wie lange sollen wir diesen Weg noch gehen? Wir benötigen eine Antwort Von denen in den mächtigen Ämtern (Lied einer Gruppe von „Straßenkindern“ aus Yogyakarta) Im folgenden Teil der Arbeit steht meine teilnehmende Beobachtung im Lebensraum „Straße“ in der indonesischen Stadt Yogyakarta im Mittelpunkt, die ich von Anfang Oktober 2003 bis Ende Februar 2004 durchführte. Ein wesentliches Anliegen innerhalb dieses Zeitraumes war für mich, einen Einblick in die lebensweltlichen Kontexte, zentralen Probleme und individuellen Handlungsstrategien der dort

2.2 Teilnehmende Beobachtung im Lebensraum „Straße“ in ...DFenkinder/Kapitel... · nationale Landessprache gilt die Bahasa Indonesia, die Schätzungen zufolge mittlerweile etwa

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2.2 Teilnehmende Beobachtung im Lebensraum „Straße“ in

Yogyakarta - Indonesien Anika Malkus

Die kleinen Herzen der Straße

Bewusst über ein Leben, das bereits morsch ist

Bewusst über ein Leben, das mehr und mehr in Vergessenheit gerät

Ohne seine Zukunft beschreiten und gestalten zu können

Während ich bedaure, vergessen worden zu sein

Läuft die Zeit fortwährend an mir vorbei

Meine Zeit ist unterdessen vergeblich und umsonst

Ich schreite weiter mit meinen Sünden

Es ist so, als sähe man eine welke Blume

Die trocken am Wegesrand liegt

Und versucht, aus dem Tod zu erwachen

Um ein neues Leben zu beginnen

Wir, die kleinen Herzen der Straße

Wie lange sollen wir diesen Weg noch gehen?

Wir benötigen eine Antwort

Von denen in den mächtigen Ämtern

(Lied einer Gruppe von „Straßenkindern“ aus Yogyakarta)

Im folgenden Teil der Arbeit steht meine teilnehmende Beobachtung im Lebensraum

„Straße“ in der indonesischen Stadt Yogyakarta im Mittelpunkt, die ich von Anfang

Oktober 2003 bis Ende Februar 2004 durchführte. Ein wesentliches Anliegen

innerhalb dieses Zeitraumes war für mich, einen Einblick in die lebensweltlichen

Kontexte, zentralen Probleme und individuellen Handlungsstrategien der dort

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lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu bekommen. Meine

Beobachtungen fanden größtenteils an zwei Aufenthaltsorten der in Yogyakarta auf

der Straße lebenden Personen statt, der Straßenkreuzung Gondomanan und der

Haupteinkaufsstraße Jalan Malioboro. Darüber hinaus hatte ich während meines

Aufenthaltes engeren Kontakt zu einigen in Yogyakarta tätigen

Nichtregierungsorganisationen, die mir sowohl den ersten Kontakt zu den Kindern,

Jugendlichen und Erwachsenen ermöglichten, als auch einen Einblick in

Schwerpunkte und Konzepte ihrer Arbeit gewährten.

Bei der Beschreibung und Interpretation meiner Beobachtungen und deren

kontextueller Einordnung stütze ich mich sowohl auf indonesienspezifische Literatur

als auch auf Auszüge meines Forschungstagebuches. Darüber hinaus stellt die

theoretische Ausarbeitung des ersten Teils dieser Arbeit eine Grundlage meiner

Ausführungen dar.

In meinen Darstellungen werde ich zu einer Einordnung der spezifischen

Lebenssituation der auf der Straße lebenden Personen bei einem umfassenderen

gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext ansetzen, wobei ich mich im

Wesentlichen auf Literaturquellen beziehe. Daran anschließend werde ich mich auf

unterschiedliche Aspekte meiner Beobachtungen im Lebensraum „Straße“

konzentrieren, wobei ich eingangs eine Beschreibung des von mir beobachteten

Feldes vornehmen werde bevor. Darauf folgend werde ich näher auf zentrale

Probleme im Lebensalltag auf der Straße eingehen, um daran anschließend

wesentliche Strukturen und Funktionen des sozialen Netzwerkes der Kinder,

Jugendlichen und Erwachsenen herauszuarbeiten. Anschließend wird die Rolle der

im Lebensraum „Straße“ tätigen Nichtregierungsorganisationen in meiner Arbeit

zum Tragen kommen, wobei ich als Beispiel die NGO HUMANA gewählt habe,

deren Arbeit und Konzepte ich darstellen werde.

Abschließend möchte ich meine Erfahrungen als teilnehmende Beobachterin in einer

Subkultur unter unterschiedlichen Gesichtspunkten kritisch reflektieren, wobei ich

insbesondere im letzten Punkt die Bedeutung lebensweltlicher Kontexte für

pädagogische Handlungskonzepte hervorheben werde.

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2.2.1 Lebensweltlicher Kontext

2.2.1.1 Land, Gesellschaft, Kultur

Indonesien ist als Inselarchipel bestehend aus mehr als 17.000 Inseln mit ca. 210

Millionen Einwohnern und einem kontinuierlichen Bevölkerungswachstum von rund

2% das viertbevölkerungsreichste Land der Welt1. Ungefähr 110 Millionen

Einwohner leben auf der Insel Java, die 6,6% der Gesamtfläche des Landes

einnimmt. Damit gehört diese Insel mit rund 755 Einwohnern pro Quadratkilometer

zu den dicht besiedeltsten Gebieten der Welt (vgl. Encarta Enzyklopädie 2001). Die

Bevölkerung Indonesiens setzt sich zusammen aus rund 500 unterschiedlichen

ethnischen Gruppen mit jeweils eigenen stammesinternen Muttersprachen. Als

nationale Landessprache gilt die Bahasa Indonesia, die Schätzungen zufolge

mittlerweile etwa 90% der indonesischen Bevölkerung beherrschen.

Mit rund 87% der Bevölkerung, die sich zum Islam bekennen ist Indonesien das

bevölkerungsreichste muslimische Land. Allerdings ist die Religionsfreiheit in der

indonesischen Verfassung verankert, so dass Indonesien kein islamischer Staat ist.

Vielmehr stellt die Staatsideologie Pancasila mit ihren fünf Säulen die Grundlage

staatlichen Handelns dar. Diese fünf Säulen beinhalten 1. den Glaube an einen Gott,

2. die Achtung der Menschenrechte, 3. die nationale Einheit Indonesiens, 4.

Demokratie und 5. soziale Gerechtigkeit. In ihr sind fünf Religionen offiziell

anerkannt, von denen vier religiöse Minderheiten darstellen: Rund 10% der

Bevölkerung bekennt sich zum Christentum, wobei der Anteil an Protestanten bei

etwa 7% liegt, weitere 2% sind Hindus, und etwa 1% Buddhisten (vgl. Schreiner

(Hrsg.) 2001, S. 159). Die Anhänger autochthoner, sogenannter Stammesreligionen,

die etwa 1% der Bevölkerung ausmachen, sind in diesen Statistiken als solche nicht

erfasst, da die Religionsangehörigkeit im Personalausweis vermerkt wird und somit

jeder indonesische Staatsbürger verpflichtet ist, sich offiziell zu einer der oben

genannten anerkannten Religionen zu bekennen (vgl. Schreiner (Hrsg.) 2001, S.159).

Die islamische Gemeinschaft Indonesiens stellt keineswegs ein einheitliches Gebilde

dar, sondern weist sowohl regional als auch theologisch große Unterschiede auf. So

kann in Indonesien deutlich zwischen einer modernistischen und einer traditionellen

islamischen Strömung unterschieden werden. Unter den traditionalistischen

Islamisten werden jene Gruppen verstanden, die Erneuerungen und

Neuinterpretationen weniger flexibel und offen gegenüberstehen. Besonders auf Java 1 vgl. www.auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type:id=2&land_id=61, 18.07.2004

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ist unter den traditionalistischen Muslimen hinsichtlich ihrer religiösen Praxis und

Rituale eine hohe Anpassung an die javanesische Umwelt zu erkennen, die viele

mystische Elemente enthält (vgl. Schreiner (Hrsg.) 2001, S. 162). Die modernistische

Strömung hingegen lässt auch individuelle reformistische Interpretationen des

Korans zu. Anhänger modernistisch orientierter Gruppen sind als Folge des

geschichtlichen Islamisierungshintergrunds Indonesiens eher an den Küstengebieten

im Westen des Landes vertreten, wo seinerzeit die Islamisierung begann. Hier

koexistieren, teilweise trotz vielfältiger Widersprüche, traditionelles und islamisches

Recht nebeneinander. Aufgrund der Vielfältigkeit der islamischen Existenz in

Indonesien, der damit einhergehenden innerislamischen Zersplitterung und der

gesellschaftlichen und religiösen Pluralität nimmt der Islam bislang eine politisch

untergeordnete Rolle ein (vgl. Schreiner (Hrsg.) 2001, S. 178).

2.2.1.2 Politische Entwicklung in Indonesien

In Indonesien vollzog sich innerhalb der letzten sechs Jahre ein enormer politischer

Wandel, weg von einer autoritären Diktatur in Richtung einer demokratischen

Regierung, die aber bislang nach wie vor sehr instabil ist. Bis zu den

Studentenaufständen im Mai 1998 wurde Indonesien von einem Militärregime unter

dem Präsidenten Suharto regiert. Innerhalb dessen 32jährigen Regierungszeit wurden

Aktivitäten oppositioneller Demokratisierungsbewegungen systematisch

unterbunden und zerschlagen. Indonesische Medien wurden zensiert und unterlagen

scharfer Kontrolle von Seiten der Regierung, Wirtschaftskonzerne befanden sich fast

ausschließlich in der Hand des Militärs oder anderer Anhänger bzw.

Familienangehöriger Suhartos. Die wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung

Indonesiens hatte unter der Orde Baru (im Deutschen: neue Ordnung) Suhartos

absolute Priorität. Allerdings entzogen sich die Unternehmen durch die

ausschließliche Besetzung von Managementpositionen mit Söhnen und anderen

Verwandten Suhartos einer öffentlichen Kontrolle und Rechenschaftspflicht. So

profitierte die indonesische Bevölkerung, abgesehen von den politischen

Machteliten, wenig vom wirtschaftlichen Aufschwung. Auch ansonsten war die

Partizipation der Bevölkerung am politischen Geschehen so gut wie unmöglich, da

„andersdenkenden“ Oppositionellen bei öffentlicher Kritik an der Führungsmacht die

Todesstrafe drohte.

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Versammlungen mit mehr als 5 Teilnehmern mussten bei der Regierung angemeldet

und durch diese genehmigt werden. Allerdings wurden auch Versammlungsinhalte

streng kontrolliert und Veranstaltungen konnten ohne vorherige Verhandlung durch

die Polizei bzw. das Militär aufgelöst oder gewaltsam niedergeschlagen und

Teilnehmer inhaftiert werden.

Das Militär hatte während der Regierungszeit Suhartos eine Doppelfunktion, die der

Diktator durch die Notstandssituation Indonesiens bei seiner Machtübernahme

legitimierte. Ihm kam nicht nur eine verteidigungspolitische Rolle zu, sondern es war

darüber hinaus in gesellschaftspolitische Prozesse involviert. So war das Militär zu

einem großen Anteil in der Parlamentsfraktion vertreten und hatte auch sonst in allen

Institutionen Ministerposten inne. Folglich hatten die Streitkräfte des Landes großen

Einfluss auf alle innenpolitischen Entscheidungen (vgl. Ziegenhain (Hrsg.) 2001,

S.52). Das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Parlament war durch eine

fast alleinige Entscheidungsgewalt Suhartos und eine Bedeutungslosigkeit des

Parlamentes gekennzeichnet.

Trotz der Härte des Regimes ist bereits in den 80er Jahren eine stark zunehmende

Gründung von Nichtregierungsorganisationen und deren nicht unbeachtlicher

Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Geschehen Indonesiens zu

verzeichnen. Auch aus Kreisen der Stundentenbewegung erfuhren diese einen

starken Zulauf, was unter anderem durch Sanktionen („Normalisierung der

Campuspolitik“) von Seiten der Regierung mitbedingt wurde. Diese Sanktion

bedeutete das Verbot jeglicher Studentenaktivitäten im sozialen und politischen

Bereich.

Ein Großteil der Nichtregierungsorganisationen verstand sich offen als Opposition

zur Machtelite, mit dem Ziel, den Machtmissbrauch des Regimes sowie Korruption,

Vetternwirtschaft und Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen,

strukturelle Veränderungen des politischen Systems voranzutreiben und die

Partizipation der Bevölkerung an gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozessen zu

erreichen. Sie stellten somit ein Fundament für die Entwicklung Indonesiens in

Richtung einer Demokratie dar.2

Durch die Asienkrise im Jahre 1997 und die damit verbundenen Konsequenzen für

die wirtschaftliche Situation Indonesiens erlitt die Orde Baru der Suharto-Regierung

eine erhebliche Destabilisierung. Die Arbeitslosenzahlen stiegen enorm an und die

2 vgl. www.snafu.de/watching/Dornige_Weg/kristallisierungskeime/htm, 05.04.2004

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Anzahl der unter der offiziellen Armutsgrenze lebenden Personen stieg laut einer

amtlichen Armutsstatistik auf der Basis der Verbrauchsausgaben der Haushalte von

22,5 Millionen (1996) auf 34,2 Millionen (1998).3

Im Mai 1998 kam es dann letztendlich zu Aufständen der Studentenbewegung,

welche den Rücktritt Suhartos, den Rückzug des Militärs aus dem innenpolitischen,

wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich, die Achtung der Menschenrechte,

demokratische Wahlen und Verfassungsreformen forderte.

Obwohl das Militär vehement versuchte, die Demonstrationen gewaltsam zu

zerschlagen, führten diese letztendlich zum Sturz Suhartos. An seine Stelle trat der

bisherige Vizepräsident Habibie, der bis zu den ersten demokratischen Wahlen im

Jahre 1999 eine Übergangsregierung bildete. Eine wesentliche Errungenschaft

Habibies war die sofortige Wiederherstellung der Pressefreiheit. Ebenfalls wurden

die möglichen Amtsperioden eines Präsidenten auf zwei Jahre beschränkt und die

Handlungsfähigkeit des Parlamentes ausgeweitet. Darüber hinaus erfolgte eine

Legalisierung der meisten politischen Parteien und Gewerkschaften (vgl. Ziegenhain

(Hrsg.) 2001, S.189). Ein weiterer wichtiger Schritt der Regierung unter Habibie war

die offizielle Gewaltenteilung von Polizei und Militär, was für die Streitkräfte einen

Machtverlust im innenpolitischen Bereich bedeutete. Allerdings unterstand die

Polizei weiterhin dem Verteidigungsministerium und somit einer militärischen

Einrichtung.

Aus den Wahlen im Juni 1999 ging die muslimische Partei unter dem neuen

Präsidenten Wahid als Sieger hervor. Bis zu seinem vorzeitigen Rücktritt im Jahre

2001 und der Ernennung Megawatis zur Präsidentin sind unter seiner Regierung

einige nennenswerte reformistische Schritte eingeleitet worden. So wurde zum ersten

Mal ein Ministerium für Menschenrechtsangelegenheiten eingerichtet. Darüber

hinaus wurde der Anteil der vom Präsidenten direkt ernannten Mitglieder der

Volksversammlung aus Reihen der Streitkräfte herabgesetzt. Jedoch war das Militär

nach wie vor überproportional an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, was

unter anderem durch seine finanzielle Macht im wirtschaftlichen Bereich bedingt war

(vgl. Ziegenhain (Hrsg.) 2001, S.191).

In den darauffolgenden drei Jahren der Amtszeit Megawatis als Präsidentin

Indonesiens, die bis heute mit ihrer Demokratischen Partei PDI-P die Regierung

bildet, ist der Plan einer Dezentralisierung Indonesiens, der den einzelnen Provinzen

3 vgl. http://library.fes.de/fulltext/stabsabteilung/01038.htm, 11.04.2004

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mehr Mitspracherecht in politischen Entscheidungsfragen einräumt, verstärkt

vorangetrieben worden. Zum einen soll so einer monopolisierten Machtposition der

Regierung in Jakarta entgegengewirkt werden, zum anderen soll sie eine den

regionalen Bedürfnissen besser angepasste Regional- und Entwicklungspolitik und

die Berücksichtigung regionaler und lokaler Traditionen politischer

Selbstorganisation gewährleisten. Allerdings sind bis heute die den Provinzen

zugestandenen Kompetenzen weder gesetzlich eindeutig geregelt, noch sind sie

ausreichend, um eine grundsätzliche Repräsentation der Regionen zu gewährleisten (

vlg. Ellwein (Hrsg.) 2003, S.9). Das größte Dilemma, in dem sich die Regierung

befindet, ist die Tatsache, dass es seit der Wirtschaftskrise1997 nicht gelungen ist,

die wirtschaftliche Situation des Landes zu stabilisieren. Eine der Ursachen für diese

Instabilität sind nach wie vor Korruption und Vetternwirtschaft, die auch unter der

Regierung Megawatis noch weit verbreitet sind. Konsequenzen dieser

wirtschaftlichen und politischen Instabilität sind die hohe Arbeitslosigkeit,

zunehmende Verelendung, Landflucht und folglich eine damit einhergehende

Urbanisierung. Dies ruft wiederum in der Bevölkerung neue Sympathien für die

alten Kräfte des Suharto-Regimes, das sich bis zum Jahre 1997 hauptsächlich durch

einen wirtschaftlichen Aufschwung Indonesiens legitimierte, hervor.

Sowohl in der Zentralregierung als auch auf Provinzebene fehlt es aber bislang an

unabhängigen Kontrollinstanzen, die Machtmissbrauch, Korruption und strukturelle

Gewalt transparent machen und gezielt bekämpfen.

Der Einfluss des Militärs auf gesellschaftspolitische Entscheidungsfindungen ist

offiziell mittlerweile deutlich beschnitten worden. Es kommt jedoch immer wieder

zu interethnischen Spannungen und Konflikten, die gezielt durch Paramilitärs

provoziert bzw. geschürt werden, um so die innenpolitische Lage des Landes zu

destabilisieren und sich erneut eine gesellschaftspolitische Machtposition zu sichern

(vgl. Ziegenhain (Hrsg.) 2001, S.128).

Was die Menschenrechtspolitik der derzeitigen Regierung angeht, so ist die Achtung

der Menschenrechte zwar gesetzlich verankert, jedoch werden „im nationalen

Menschenrechtsgesetz festgeschriebene Rechte, wie die Freiheit von

Einschüchterung, willkürlicher Verhaftung, Gewalt, Diskriminierung, Folter und

erniedrigender Behandlung etc., nahezu täglich verletzt“ (Ziegenhain (Hrsg.) 2001,

S.194). Aufgrund von käuflichen Richtern bzw. Gerichten und des mangelnden

Bewusstseins der Bevölkerung über ihre Individualrechte kommt es bis heute in den

82

meisten Fällen nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung von

Menschenrechtsverletzungen. So wurden auch unter einem im Jahre 2000 von der

Regierung in Jakarta einberufenen Tribunal zur Aufklärung des von

proindonesischen Milizen angerichteten Massakers in Osttimor, bei dem ein- bis

zweitausend Osttimoresen ermordet und 250.000 vertrieben wurden, bislang alle

mitbeteiligten indonesischen Militär- und Polizeioffiziere freigesprochen (vgl. TAZ,

11.08.2004)

Für das Gelingen der weiteren Demokratisierung Indonesiens ist zunächst einmal der

vollständige Rückzug des Militärs auf den verteidigungspolitischen Bereich, die

systematische Bekämpfung der Korruption, die Entwicklung eines demokratischen

Selbstverständnisses sowohl der Politik als auch der Bevölkerung unerlässlich.

Dieses Selbstverständnis kann aber nur entstehen, wenn

Menschenrechtsverletzungen vollständig aufgeklärt und grundsätzlich strafrechtlich

verfolgt werden und sowohl politische Institutionen als auch das Militär an

humanitäre Normen gebunden werden. Entscheidend für die politische Zukunft

Indonesiens wird auch der Ausgang der voraussichtlich im September 2004

stattfindenden Stichwahl um den Kandidaten des Präsidentschaftsamtes sein. Die am

5. Juli stattgefundene Wahl war die erste demokratische Präsidentschaftswahl in der

Geschichte Indonesiens. Kandidat/innen für das Amt sind die jetzige Präsidentin

Megawati und der ehemalige Militärgeneral Susilo Bambang Yudhoyono, der die

erste Runde der Wahl am 5. Juli mit 33,6 % für sich entschied. Megawati erhielt rund

26,6 % der Stimmen, eng gefolgt von dem ehemaligen Armeechef Wiranto (22,2 %),

der für etliche Kriegsverbrechen in Osttimor verantwortlich gemacht wird (TAZ,

22.07.2004). Aus der zuvor im April diesen Jahres stattgefundenen Parlamentswahl

ging die Golkar-Partei des ehemaligen Diktators Suharto mit 20,85 % der

Wählerstimmen als Sieger hervor (Jakarta Post, 15.04.2004).

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2.2.1.3 Kindheits-, Gemeinschafts- und Familienverständnis auf Java /

Indonesien

Genauso wenig wie es im religiösen Bereich möglich ist, so kann aufgrund einer

Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlicher Strömungen und einer kontinuierlichen

gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, in deren Kontext sich eben auch die

Familie als soziales System und Teil der Gesellschaft in einem fortwährenden

Prozess befindet, auch nicht von dem indonesischen Familiensystem gesprochen

werden. Dennoch möchte ich hier versuchen, einige charakteristische Merkmale des

traditionellen indonesischen Kindheits- und Familienverständnisses herauszustellen,

um die Bedeutung darauf gründender Normen und Werte veranschaulichen zu

können. Bei meiner Darstellung beziehe ich mich insbesondere auf das javanesische

Kindheits- und Familienverständnis, da die Lebenswelt der obdachlosen Kinder und

Jugendlichen in Yogyakarta erheblich durch diese Verständnisse mitbeeinflusst war,

und da ich bei meiner Arbeit in Zentral-Java im Wesentlichen mit Normen und

Werten dieses Kulturkreises konfrontiert war. Durch diese Eingrenzung möchte ich

vermeiden, mich allzu großer Verallgemeinerungen und Vereinfachungen bezüglich

meiner Aussagen über die indonesische Kultur zu bedienen. Das Kindheits- und

Familienverständnis in Indonesien sollte jedoch vor dem Hintergrund der Bedeutung

des Individuums in der Gesellschaft betrachtet werden. So ist in der indonesischen

Gesellschaft im Unterschied zu eher individualistisch geprägten Kulturen (vgl.1.3.1)

vergleichsweise eine stärker interdependente Orientierung des Individuums zu

verzeichnen. Das heißt, das Subjekt sieht sich selbst als Teil umfassender sozialer

Beziehungen, deren Belange häufig vor die eigenen gestellt werden.

„So werden als wesentliche Prinzipien der javanesischen Kultur in Indonesien [...] die

Harmonie in sozialen Gruppen und die Unterordnung des Einzelnen unter die

Interessen der Gemeinschaft betont“ (Trommsdorff 2002, S. 398).

Das javanesische Gemeinschafts- und Familienverständnis

Das javanesische Familiensystem hat innerhalb der indonesischen Gesellschaft einen

sehr hohen Stellenwert, da es die wichtigste Primärgruppe darstellt, wobei es im

traditionellen Sinne die Großfamilie bezeichnet. So wird der Familienverband relativ

unabhängig von der gesellschaftlichen Schichtzugehörigkeit als größtmögliche

Sicherheit verstanden, indem er durch stabile Familienbeziehungen eine

Orientierungshilfe darstellt. Ebenfalls zeichnet er sich durch das Prinzip

gegenseitiger Hilfe und Solidarität innerhalb des Verbandes aus.

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In diesem Familienverband im traditionellen Sinne nimmt meist der Mann den Status

des Familienoberhauptes ein, während aber die Frau im Allgemeinen als Person mit

dem größten Einfluss auf die Familienstruktur gilt. Sie steht im Mittelpunkt der

Familie, und sowohl die Hausarbeit als auch die Erziehung der Kinder fällt im

Wesentlichen in ihren Aufgabenbereich. Dennoch arbeiten javanesische Frauen und

Mütter vielfach außerhalb des Hauses, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu

gewährleisten. In vielen Fällen sind sie daher ökonomisch relativ unabhängig vom

Einkommen des Mannes.

Sowohl das javanesische Familien- als auch das Gesellschaftssystem zeichnet sich

wesentlich durch ein starkes Harmoniebestreben innerhalb des Systems aus. So

werden emotionsbetonte Auseinandersetzungen und Konflikte weitestgehend zu

vermeiden versucht, um so ein harmonisches Zusammenleben zu gewährleisten.

Ebenfalls ist das zur Schau stellen von Affektivitäten zwischen Erwachsenen

gesellschaftlich tabuisiert. Wesentliche sozial und gesellschaftlich anerkannte und

regulierende Kommunikations- und Interaktionsnormen sind darüber hinaus hormat

(im Deutschen: Respekt) und kesopanan (im Deutschen: Höflichkeit), insbesondere

gegenüber älteren Personen4, weil diese Erfahrung, Wissen und Weisheit

repräsentieren.

So schreibt Hadar zur Funktion der kommunikativen Umgangsformen:

„Dabei erfüllen die Umgangsformen die Aufgabe, die innere Harmonie auf den

Interaktionsprozess zu übertragen. Sie gewährleisten die äußere Harmonie, indem sie

die Möglichkeit geben, das Aufkommen von Gefühlen zu verbergen [...] Die

javanesische Sprache ist das Instrument sozialer Differenzierung. Gesprächston,

Aussprache, Betonung, Sprachebene und Inhalt ergeben ein System statusgebundenen

Ausdrucks, durch das jede soziale Beziehung angemessen definiert werden kann“

(Hadar 1999, S. 81-82).

Ein weiterer Bestandteil der Interaktion ist das pura-pura (im Deutschen: „so-tun-

als-ob“). Dieses Vortäuschen ist in diesem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext

keinesfalls negativ bewertet, sondern stellt vielmehr eine legitime Möglichkeit dar,

unangenehme und beschämende (Konflikt)situationen zu vermeiden, die zu einem

„Gesichtsverlust“ führen können.

4 Ausdruck dafür sind unter anderem eine Vielzahl verschiedener Formen der Anrede, die abhängig sind von Alter, gesellschaftlichem Status und Beziehung der Interaktionspartner.

85

So ist das Gemeinschaftsleben wesentlich durch das Bestreben einer harmonischen

Einheit, gegenseitige Anerkennung von Differenzen und Zusammenhörigkeit

geprägt, in dem offene Konflikte fast vollständig fehlen (vgl. Hadar 1999, S. 81).

Kindheit, Erziehung und Sozialisation

Im javanesischen Familienverbund sind Kinder ein bedeutsamer Bestandteil, da sie

in Ermangelung von Sozial- oder Krankenversicherungen als Versorger der älteren

Generation gelten, für deren Überlebenssicherung sie im Erwachsenenalter zuständig

sind. Zunächst werden Kinder noch als unwissende und unfertige Wesen angesehen,

die kulturell und gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen, Normen und Werte

erst erlernen müssen, um sich wie ein orang java, ein erwachsener Javaner zu

verhalten. Bereits in der frühen Sozialisation lernen sie, „dass sie nur in

Abhängigkeit der Gemeinschaft [...] ein sozial anerkanntes und glückliches Leben

führen können“ (Kallauch-Stock 1992, S. 109). Das Kind lernt im Familienverbund,

sich als Teil seiner sozialen Beziehungen zu begreifen, in denen es sich zunächst

unterordnet und den gesellschaftlichen Normen entsprechend assimiliert. Die

traditionelle Erziehung zu kollektiver Solidarität schließt daher für das Individuum

das Streben nach Selbstverwirklichung und privater Bereicherung aus.

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist unmittelbar nach der Geburt eine

ausgeprägt symbiotische. Dies gründet sich mitunter auf die javanesische

Auffassung, dass ein Baby extrem anfällig für Schocks ist, welche die eigenen

Schutzmechanismen herabsetzen und zu Krankheit und Tod führen können. Daher

widmet sich die Mutter nach der Geburt zunächst völlig dem Säugling, der sich

sowohl tagsüber als auch nachts in unmittelbarer Nähe der Mutter befindet. Nachts

schläft er neben der Mutter, tagsüber wird er in einem Tragetuch am Körper der

Mutter getragen und in entspannter und sanfter Art und Weise behandelt (vgl. Hadar

1999, S.83).

Während der ersten Lebensjahre werden an das Kind noch keine Anforderungen

gestellt und ihm wird innerhalb des Familienverbundes soviel Freiheit wie möglich

gelassen, da davon ausgegangen wird, dass es die gesellschaftliche Ordnung noch

nicht versteht. Erst im Alter von fünf bis sechs Jahren wird von ihm erwartet, dass es

beginnt, die Ordnung zu erlernen und seine eigene Stellung in der Gemeinschaft zu

erkennen. So wird es ab diesem Alter vermehrt durch die Familie in wirtschaftliche,

86

politische, religiöse und kulturelle Aktivitäten eingeführt, um ab diesem Zeitpunkt

Normen und Werte der javanesischen Gesellschaft zu erlernen und zu beachten.

Darüber hinaus wird das Kind auch bei seinem Schuleintritt mit dem javanesischen

Normen- und Wertesystem bekannt gemacht, was mit der Erwartung verbunden ist,

dass bestehende Hierarchien respektiert und anerkannt werden, dass das Kind sich in

Selbstkontrolle und gesellschaftlich anerkannten Umgangsformen übt und lernt,

Aggressionen zu unterdrücken. Ärger und Frustration über von den Normen

abweichendes Verhalten wird in der Regel eher auf passive Art und Weise geäußert,

indem die Interaktion mit dem Betroffenen von seinen Bezugspersonen - Einzelnen

oder einer ganzen Gruppe - unterbrochen und der Betroffene ignoriert wird (vgl.

Kallauch-Stock 1992, S. 112). So soll das Kind lernen, abweichendes Verhalten zu

vermeiden, um sich in die Gemeinschaft integrieren zu können.

Allerdings gibt es in der Erziehung durch das Familiensystem geschlechtspezifische

Unterschiede: So werden an Mädchen im Allgemeinen geringere Anforderungen

hinsichtlich des Erlernens und der Beachtung gesellschaftlicher Interaktionsnormen

gestellt als an Jungen. Sie wachsen fast nahtlos in die Welt der Frauen hinein und

werden von der Frauengruppe akzeptiert, indem sie lernen, entsprechende

Arbeitsleistungen und Tätigkeiten zu vollbringen (vgl. Hadar 1999, S.79). Der

Sozialisationsprozess der Jungen hingegen findet in zunehmender Unabhängigkeit

von der Familie statt und ist mit der Erwartung der Integration und Anpassung sowie

der Anerkennung des javanesischen Normen- und Wertesystems verbunden.

Bei der Annahme traditioneller Normen und Werte stellen sowohl die Familie als

auch die Dorfgemeinschaft primäre Sozialisationsinstanzen dar. Wesentliche Ziele

der traditionellen javanesischen Erziehung sind die Reproduktion und

Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die durch das Normen- und

Wertesystem repräsentiert wird. Erziehung vollzieht sich im Wesentlichen durch die

Förderung der Fähigkeit des Kindes, beobachtete Verhaltens- und Umgangsformen

der Erwachsenen nachzuahmen. Das heißt, man erwartet zunehmend von ihm, durch

eigene Beobachtung zu lernen und zu verstehen.

„Das Verhältnis javanesischer Eltern zu den Kindern begründet sich auch darauf, dass

Erziehung inhaltlich keiner Legitimation bedarf. Sie kommt nicht auf der Basis einer

persönlichen Entscheidung zustande, sondern wird aufgrund einer feststehenden,

durch die Gesellschaft repräsentierten Ordnung vollzogen; die Verantwortung der

Eltern im Hinblick auf die Reproduktion der Ordnung unterbindet Fragen, die die

Ordnung selbst in Frage stellen“ (Hadar 1999, S.84)

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Im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs und gravierender politischer

Veränderungen haben sich aber auch die eingangs von mir dargestellten

traditionellen Bedeutungsmuster, die Rolle der Familien und das Bild von Kindheit

verändert. So ergaben sich innerhalb dieses Prozesses Widersprüche innerhalb der

bislang gültigen Normen- und Wertesysteme, die unter der Militärdiktatur bis 1998

durchaus Bestand hatten. Mit der kapitalistischen Vergesellschaftung Indonesiens

gehen auch veränderte Lebensbedingungen sowie neue Formen und Inhalte der

familiären Sozialisation einher, wodurch wiederum auch neue Identifikationsmodelle

entstehen. So werden auch in den Medien verstärkt sogenannte „westliche“ Ideale

wie Individualität, Selbstverantwortung und Unabhängigkeit vermittelt, und im Zuge

dessen traditionelle Systeme und Bedeutungsmuster brüchig und in Frage gestellt.

Familien befinden sich somit häufig in dem Dilemma, einerseits traditionelle Werte

aufrecht erhalten zu wollen, da sie diese für ihre Kinder als wichtig erachten,

während sie andererseits verstärkt vor die Anforderung gestellt werden, in einer sich

zunehmend entwickelnden kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft bestehen zu

können. Somit befindet sich das traditionelle gesellschaftliche Normen- und

Wertegefüge in einem Prozess der Transformation, indem mit dem politischen,

gesellschaftlichen und kulturellen Wandel traditionelle Vorstellungen in ihrer

Bedeutung dekonstruiert und unter Umständen neu definiert werden müssen.

Aufgrund der in der indonesischen Gesellschaft häufig bevorzugten „sowohl-als-

auch“ – Betrachtungsweise anstelle eines „entweder-oder“ – Prinzips (vgl. Hadar

1999, S.13) ist jedoch durchaus in vielen Fällen eine Koexistenz von traditionellen

Werten und sogenannten „westlichen“ Idealen möglich, obgleich sie in vieler

Hinsicht widersprüchlich erscheinen mögen.

2.2.1.4 Das indonesische Bildungswesen

Das indonesische Bildungssystem ist dreistufig aufgebaut, das heißt, das staatliche

Schulwesen ist unterteilt in einen sechsjährigen Primarschulbereich und einen daran

anschließenden sechsjährigen Sekundarschulbereich, der sich in zwei Bereiche von

je drei Jahren Dauer gliedert – die Unterstufe und die Oberstufe (vgl. Hadar 1999,

S.99). Im Unterschied zum Primarschulbereich weist der Sekundarschulbereich eine

große Vielfalt an überwiegend religiösen Privatschulen auf, die den staatlichen

Schulen qualitativ meist überlegen sind. Im Jahre 1994 wurde die allgemeine

Schulpflicht von ehemals sechs Jahren auf neun Jahre erhöht. Als vordringlich

88

nationales Bildungsziel in dem sprachlich und ethnisch pluralistischen Land gilt die

Verbreitung der Bahasa Indonesia als Landessprache. Die Analphabetenrate der

indonesischen Bevölkerung ist im Vergleich zu Indien, wo sie bei rund 50% liegt

(vgl. Information zur politischen Bildung 1997, S.13), mit etwa 10% relativ niedrig.5

Dennoch bleibt nach Aussagen der Tageszeitung Jakarta Post im Jahre 2001 rund

7,5 Millionen schulpflichtigen Kindern in Indonesien der Schulbesuch aufgrund

hoher Ausbildungskosten wie Schulgelder, Registrierung, Unterrichtsmaterial und

Uniformen verwehrt. Weitere 8,5 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter waren

zur gleichen Zeit von einem Schulabbruch bedroht (vgl. Indonesien Information

Nr.1, 2002, „Die Lage der Kinder in Indonesien“). Mboeik und Huber sprechen in

ihrem Artikel von einer verschleierten Form der Privatisierung des Bildungswesens

(vgl. Indonesien Information Nr.1, 2002). Über das Problem des Kostenaufwandes

hinaus, der nötig ist, um die Finanzierung einer Schulbildung zu ermöglichen, bedarf

es im indonesischen Schulsystem Reformen bezüglich der Kurrikula und der

Lehrerausbildung, um die Bildungsinhalte und –bedingungen effizient und

nachhaltig zu verbessern6. So ist das Bildungswesen Indonesiens trotz eines

Delegationsprinzips, das eine Verteilung der Aufgaben an die einzelnen

Provinzverwaltungen vorsieht, nach wie vor durch das Erziehungsministerium

zentralistisch organisiert und geleitet. Dies hat wiederum aufgrund der Heterogenität

des Landes zufolge, dass Bildungsinhalte häufig mit den lokal sehr unterschiedlichen

Lebensrealitäten und beruflichen Ausgangsbedingungen der Schüler divergieren.

Während der Zeit des Suharto-Regimes wurden Bildungsinhalte stark durch die

Regierung kontrolliert und der Unterricht wurde „entpolitisiert“, um ungewünschte

Ideologien zu bekämpfen. Statt dessen wurde die Staatsphilosophie Pancasila als

Pflichtfach in die Lehrpläne aller Schulen eingeführt (vgl. Hadar 1999, S. 101).

Darüber hinaus wurde das Bildungssystem weitgehend von westlich orientierten,

teilweise aus der Kolonialzeit übernommenen Inhalten bestimmt und auf die

Qualifizierung von Arbeitskräften für den wirtschaftlichen Sektor ausgerichtet. So

spiegelt es bis heute Strukturen und Inhalte westlicher Industriegesellschaften wider

und ist stark orientiert an den Interessen der nationalen Eliten, während es den lokal

unterschiedlichen Erfordernissen nicht gerecht wird, da es keine oder nur wenige

Berührungspunkte mit der reellen Lebenssituation eines Großteiles der Bevölkerung

5 vgl. www.auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=13&land_id=61, 18.07.2004 6 vgl. www.ems-online.org/_texte/indonesien/IndonesienBildungskrise.htm, 14.04.2004

89

aufweist. Darüber hinaus widerspricht die vorwiegend nach dem Modell der

Industriestaaten ausgerichtete Bildungspolitik, durch die Leistungs- und

Konkurrenzfähigkeit gefördert werden sollen, dem traditionellen Stellenwert des

Individuums in der Gemeinschaft. Mit den Worten Hadars ausgedrückt „knüpft die

Institution Schule nicht an die Ergebnisse der primären Sozialisation an, sondern

organisiert auch das soziale Lernen weitgehend konträr zu den Ergebnissen

frühkindlicher Sozialisation“ (Hadar 1999, S.175). In diesem gesellschaftlichen

Kontext betrachtet arbeitet die Institution Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz

somit gegenläufig zu Inhalten und Strukturen der primären Sozialisation.

Eine bedeutende Rolle hinsichtlich reformistischer Bildungspolitik spielen in

Indonesien besonders in ländlichen Regionen allerdings autonome islamische

Lerngemeinschaften, sogenannte Pesantren, auf die ich aber aufgrund deren

geringerer Relevanz im Zusammenhang mit dem von mir beobachteten urbanen

Kontext nicht näher eingehen werde (ausführlich in: Hadar 1999).

2.2.1.5 Die Straße als Lebensraum und Sozialisationsort

Im folgenden Punkt möchte ich zunächst das soziale Feld, den Lebensraum Straße, in

dem ich meine Beobachtungen durchgeführt habe, näher beschreiben. Hierbei werde

ich mich verstärkt auf den Alltag der dort lebenden Kinder beziehen, mit denen ich

zu tun hatte, und deren Lebenswelt in diesem Teil der Arbeit im Mittelpunkt stehen

wird. An dieser Stelle möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass die Erkenntnisse

meiner Beobachtungen sich auf einen zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen

beschränken. Die Informationen über biographische Kontexte der auf der Straße

lebenden Personen entstammen sowohl deren eigenen Angaben als auch denen von

Mitarbeitern unterschiedlicher Nichtregierungsorganisationen. Ausgehen möchte ich

bei dieser Beschreibung von meinem Zugang zum sozialen Feld bzw. meinem ersten

Kontakt zu den Kindern, wobei ich einleitend mein Beobachtungsfeld kurz in seinen

geographischen Kontext einordnen werde.

Zur Stadt Yogyakarta

Yogyakarta ist eine indonesische Stadt auf Java, der bevölkerungsreichsten Insel

Indonesiens. Sie liegt in der Provinz Zentral-Java, etwa 27 Kilometer entfernt vom

indischen Ozean. Schätzungen über die Einwohnerzahl Yogyakartas variieren stark.

Nach Angaben der Encarta Enzyklopädie liegt sie bei rund 412.000 (vgl. Encarta

90

Enzyklopädie 2001). Allerdings ist eine genaue Angabe aufgrund fehlender

Registrierung zugezogener Einwohner kaum möglich. Bis 1950 diente Yogyakarta

als provisorische Hauptstadt des Landes, bis sie in dieser Funktion durch Jakarta

abgelöst wurde (vgl. Encarta Enzyklopädie 2001). Bis heute ist Yogyakarta ein

Sultanat, wodurch es innerhalb der Provinz Zentral-Java eine eigene Spezialprovinz

bildet.

Yogyakarta ist ein Zentrum für Batikkunst und anderes Handwerk sowie für Tanz

und Theater und somit eines der bedeutendsten kulturellen Zentren Indonesiens. Ein

Großteil der Einwohner ist im informellen Sektor tätig oder lebt vom

Kunsthandwerk, insbesondere der Herstellung von Batiken. Innerhalb der Stadt

befinden sich drei Universitäten sowie eine Kunstakademie.

Der Lebensraum „Straße“

Bevor ich zur genaueren Beschreibung des Lebensraums „Straße“ komme, möchte

ich zunächst eine grobe Darstellung meines ersten Zugangs zu meinem

Beobachtungsfeld und des weiteren Verlaufes meiner Beobachtung vornehmen, um

somit die Ausgangsposition und meine Vorgehensweise zu verdeutlichen, auf deren

Grundlage meine weiteren Ausführungen basieren:

Der erste Zugang zu meinem Beobachtungsfeld und damit zu den Kindern wurde mir

durch eine Mitarbeiterin der indonesischen Nichtregierungsorganisation Indriyanati

ermöglicht, die seit einigen Jahren in regelmäßigem Kontakt zu ihnen steht. Sie

begleitete mich zu der Kreuzung Gondomanan im Zentrum Yogyakartas, an der

einige der Kinder und Jugendlichen überwiegend leben. Durch die Begleitung der

Mitarbeiterin wurde mein erstes Kennenlernen mit den Kindern wesentlich

erleichtert, da sich mir einerseits durch anfängliche Verständigungsprobleme,

bedingt durch mangelnde sprachliche Kenntnisse, aber andererseits auch aufgrund

meiner eigenen anfänglichen Unsicherheit einige Barrieren in den Weg stellten.

Bislang hatte ich nur wenig Vorstellung von dem Leben der Kinder auf der Straße

und konnte mir somit im Vorfeld kein Bild davon machen, wie die Kinder und

Jugendlichen auf mich als europäische Studentin reagieren würden. Ebenso unsicher

war ich mir im Hinblick darauf, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten sollte – war

ich mir doch bewusst darüber, dass diese Kinder in ihrer Lebenswelt wahrscheinlich

gar nicht meinem durch europäische Definitionen bestimmten Vorverständnis von

„Kindheit“ als Schonraum und den daraus hergeleiteten Erwartungen an einen

91

Erwachsenen hinsichtlich seiner Beziehung zu ihnen entsprechen würden. Wie sich

im Weiteren zeigen wird, entsprachen sie aber ebenso wenig meinem

Vorverständnis, das ich von auf der Straße lebenden Kindern hatte.

Bei meinem ersten Besuch an der Straßenkreuzung traf ich auf etwa zehn Kinder und

Jugendliche, denen ich durch die oben erwähnte Mitarbeiterin von Indriyanati

vorgestellte wurde. Dieser erste Kontakt gestaltete sich so, dass mir zunächst etliche

Fragen über meine Herkunft, mein Leben in Deutschland und die Absicht, mit der

ich zu ihnen gekommen sei, gestellt wurden. Ich legte mein Vorhaben offen, indem

ich ihnen mitteilte, dass ich Studentin sei und nach Yogyakarta gekommen sei, um

etwas über ihr Leben und ihre Situation auf der Straße zu erfahren. Diese offene

Vorgehensweise hinsichtlich meiner Absichten rief bei den Kindern und

Jugendlichen zunächst sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Besonders die

Älteren unter ihnen traten mir zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Auf diese

erste Abwehrreaktion mir gegenüber werde ich in Punkt 2.2.2.3 noch weiter

eingehen.7 Von sich und ihrer Situation auf der Straße erzählten die Kinder und

Jugendlichen bei unseren ersten Zusammenkünften noch wenig.

In den darauffolgenden Monaten verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit damit,

die auf der Straße lebenden Personen an deren Aufenthaltsorten, der

Straßenkreuzung und der Jalan Malioboro aufzusuchen. Schnell kam ich während

meiner Beobachtungen zu der Erkenntnis, dass nicht ich, sondern die Kinder,

Jugendlichen und Erwachsenen in diesem Kontext die „Mehrwisser“ waren, auf die

ich zunächst angewiesen war, um ihre Lebenswelt in ihrer Komplexität ansatzweise

kennen- und verstehen zu lernen. Im Verlauf meines Aufenthaltes begann ich, ihre

Sprache, ihre Lieder, in denen sie über ihr Leben auf der Straße erzählen, zu erlernen

und im Ansatz zu verstehen8, was für mich eine grundlegende Basis für den Aufbau

einer Beziehung und meinen täglichen kommunikativen Austausch mit den auf der

Straße lebenden Personen darstellte.

Bevor ich im Folgenden zu einer Beschreibung meines Beobachtungsfeldes, der

Straße als Lebensraum, komme, möchte ich hier darauf hinweisen, dass die Straße im

indonesischen Gesellschaftskontext eine andere Bedeutung hat als beispielsweise in

7 Die dadurch hervorgerufenen methodologischen Schwierigkeiten und Überlegungen hinsichtlich ethischer Ansprüche werde ich in der Reflexion meiner Position als teilnehmende Beobachterin ausführlich darzustellen. 8 Auf die Bedeutung ihrer Lieder, ihre eigenen Kommunikationsformen und die gruppenintern geltenden Regeln, Normen und Werte werde ich im nächsten Punkt 2.2.2.2 genauer zu sprechen kommen.

92

der deutschen Gesellschaft. So wird sie von einer Gruppe indonesischer

Anthropologen als „Arena der sozialen Interaktion“ beschrieben, in der sich ein

beträchtlicher Teil des Lebens abspielen kann, sowohl im ökonomischen als auch im

sozialen Bereich (vgl. Laksana u.a. 2000, S.3). Sie wird in unterschiedlicher Art und

Weise zu fast jeder Tageszeit genutzt. In diesem Kontext ist daher keine scharfe

Trennung zwischen dem Innenraum als Privatbereich und dem Außenraum als

öffentlichem Bereich zu verzeichnen, wodurch die Straße durchaus mitunter als

legitimer Lebensraum betrachtet werden kann.

Während meines Aufenthaltes in Yogyakarta hatte ich hauptsächlich mit etwa 30 bis

35 auf der Straße lebenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen9 im Alter von

ca. 8 Jahren bis 26 Jahren10 zu tun. Fast ausschließlich handelte es sich hierbei um

Jungen bzw. Männer. Sie alle haben aus vielfältigen und individuell

unterschiedlichen Gründen, auf die ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher

eingehen werde, ihre Eltern bzw. Familien verlassen oder verloren. Das heißt, sie

leben ohne jegliche Einbindung in ein Familiensystem im traditionellen Sinne. Die

Jugendlichen und Erwachsenen unter ihnen leben bis auf wenige Ausnahmen alle seit

ihrer Kindheit auf der Straße. Die Gruppe der Kinder, Jugendlichen und

Erwachsenen ist hinsichtlich ihrer ursprünglichen Herkunft, ihrer ethnischen

Zugehörigkeit und ihres individuellen biographischen Kontextes sehr heterogen.

Viele von ihnen lebten ursprünglich auf anderen Inseln des Landes und kamen

zunächst, bevor sie ein Leben auf der Straße begannen, meist bedingt durch

ökonomische und infrastrukturelle Unterentwicklung der jeweiligen Inseln und damit

einhergehender Arbeitslosigkeit und materieller Armut oder als

Bürgerkriegsflüchtlinge zusammen mit Eltern und Familienangehörigen nach Jakarta

oder in andere Städte Javas. Einige der Kinder wurden aber auch erst in Jakarta

geboren. Andere wiederum trennten sich bereits an ihrem ursprünglichen

Herkunftsort von ihren Familien und machten sich von dort aus allein auf den Weg

nach Java. Lediglich zwei der mit mir in Beziehung stehenden Personen stammten

ursprünglich aus der unmittelbaren Nähe Yogyakartas. Nur wenige der Kinder, zu

denen ich während meiner Beobachtungen Kontakt hatte, haben jemals eine

Regelschule besucht.

9 Aufgrund der hohen Komplexität des Feldes (vgl. Lamnek 1995) und einer relativ großen Fluktuation kann ich keine eindeutigen Angaben zur Anzahl der von mir beobachteten Kinder und Jugendlichen machen. 10 Da einem Großteil der Kinder ihr genaues Alter nicht bekannt ist, gehen diese Angaben aus ihren etwaigen Angaben und meinen eigenen Schätzungen hervor

93

Die Gründe der auf der Straße lebenden Personen, ihre Familien zu verlassen und ein

Leben auf der Straße vorzuziehen, variieren individuell sehr stark, weisen aber

teilweise auch Parallelen auf. So herrschte bei einem Großteil der Kinder ein durch

innerfamiliäre Gewalt geprägtes und autoritäres Klima vor, das in vielen Fällen

durch ökonomische Notlagen mitbedingt war. Auch konnte ihnen durch die Familien

weder in ökonomischer noch in emotionaler Hinsicht Unterstützung geboten werden.

Eine zentrale Motivation zu dem Entschluss, auf der Straße zu leben, den mir

gegenüber fast alle Kinder übereinstimmend hervorhoben, war neben der Suche nach

besseren Lebensbedingungen kebebasan - in Freiheit leben zu können.

Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen ich in Beziehung stand,

gehörten fast ausschließlich der keluarga besar GirLi, einem Zusammenschluss auf

der Straße lebenden Personen an. Keluarga besar bedeutet übersetzt ins Deutsche

„große Familie“. Die Bezeichnung GirLi setzt sich aus den Worten pinggir (im

Deutschen: Rand) und kali (im Deutschen: Fluss) zusammen. Die Bedeutung dieser

Worte geht aus dem Kontext hervor, dass in indonesischen Städten die Menschen aus

den ärmsten Schichten der Bevölkerung sich vermehrt an den Flussufern ansiedeln11.

Der Ursprung des Zusammenschlusses der Kinder zur keluarga besar GirLi liegt in

den Anfängen der 80er Jahre. Auf die Struktur und Bedeutung dieses sozialen

Netzwerkes werde ich in Punkt 2.2.1.7 näher eingehen. Zuvor werde ich aber

versuchen, den Lebensraum „Straße“ und den Alltag der dort lebenden Personen

näher zu beschreiben. An dieser Stelle ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass ich

hierbei gezwungenermaßen Ausschließungen und Vereinfachungen vornehme, um

eine grobe Struktur in der Vielfalt von Ereignissen und täglich unterschiedlichen

Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen erkenntlich werden zu lassen. Meine

Absicht ist es aber keineswegs zu homogenisieren.

Meine teilnehmende Beobachtung führte ich hauptsächlich an den zwei oben bereits

erwähnten überwiegenden Aufenthaltsorten der Kinder und Jugendlichen, zu denen

ich Kontakt hatte, durch – an der Straßenkreuzung Gondomanan im Zentrum der

Stadt und auf der Jalan Malioboro, der Haupteinkaufsstraße Yogyakartas. Von

morgens bis nachmittags hielten sich zur Zeit meines Aufenthaltes fast täglich alle

der Kinder und Jugendlichen an der Kreuzung auf, während sich nachts die Gruppe

auflöste – einige der Kinder und Jugendlichen schliefen mehr oder weniger

11 Aus diesen Anfängen der Selbstorganisation heraus entstand im Jahre 1990 die Nichtregierungsorganisation HUMANA, auf die ich in Punkt 2.2.1.8 der Arbeit noch weiter eingehen werde.

94

regelmäßig auf Containern der Straßenhändler am Rand der Jalan Malioboro, andere

am Rande der Kreuzung12. Oftmals wechselten sie aber auch nachts noch ihren

Aufenthaltsort. Als sanitäre Anlagen nutzten sie öffentliche Toiletten, die sich in der

Nähe ihrer Aufenthaltsorte befanden.

Tagsüber bestimmte größtenteils die Arbeit den Alltag der Kinder, Jugendlichen und

Erwachsenen, wobei ich keine scharfe zeitliche und räumliche Trennung zwischen

Arbeit und Freizeit wahrnehmen konnte. Grundsätzlich waren ihre Arbeitszeiten

stark anihrer aktuellen Bedürfnislage ausgerichtet. Die meisten von ihnen arbeiteten

tagsüber als pengamen (im Deutschen: Straßenmusiker). Meist begannen sie

morgens nach dem Aufwachen in haltenden Bussen und an den Fenstern

vorbeifahrender Autos an der Kreuzung Musik zu machen13. Einige der Kinder

verdienten ihr Geld in den Abendstunden aber auch häufig als Schuhputzer oder

Tellerwäscher. Das im Tagesverlauf gemeinsam erwirtschaftete Geld diente zunächst

der aktuellen Befriedigung der Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, ihren

Tagesbedarf an Nahrungsmitteln, Zigaretten und Alkohol zu decken. Das verdiente

Geld gehörte der Gemeinschaft, das heißt, es wurde zusammengelegt und geteilt.

Während ihrer Arbeit herrschten durchweg rege Interaktion zwischen den Kindern,

Jugendlichen und Erwachsenen.

Gegen Abend versammelten sich die Kinder und Jugendlichen häufig an der

Straßenkreuzung, oder auch auf der Jalan Malioboro, wo sie gemeinsam tranken,

aßen, Musik machten und sich über aktuelle Ereignisse austauschten. Die Wahl ihres

abendlichen Aufenthaltsortes war dabei stark mitbestimmt durch aktuelle situative

Faktoren. So kam es beispielsweise während meines Aufenthaltes in Yogyakarta an

der Kreuzung Gondomanan oftmals zu gewaltsamen Übergriffen durch die

städtische Polizei, sogenannten „Säuberungsaktionen“, bei denen die sich dort

aufhaltenden Kinder geschlagen, in Erziehungsanstalten der Regierung gebracht oder

vorübergehend inhaftiert wurden (ausführlicher in 2.2.1.6). Daher verlagerten sie ihre

nächtlichen Aufenthalte situationsbedingt häufig an andere Plätze.

Durch meine intensiven Beziehungen zu den Kindern, Jugendlichen und

Erwachsenen auf der Straße, die sich im Verlauf meiner Beobachtungen

12 Die jüngeren der Kinder bis zum Alter von ca. 17 Jahren bekamen im Dezember 2003 einen „Nightshelter“ in Nähe der Kreuzung von der Nichtregierungsorganisation HUMANA zur Verfügung gestellt, in dem sie von diesem Zeitpunkt an häufig übernachteten. 13Während meines Aufenthaltes in Yogyakarta stand allerdings ein jährlich von den Kindern organisiertes Festival bevor, auf das ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer eingehen werde, so dass viele von ihnen tagsüber mit organisatorischen Vorbereitungen beschäftigt waren.

95

entwickelten, bekam ich ebenfalls Kontakt zu verschiedenen indonesischen

Nichtregierungsorganisationen, in deren Arbeit ich einen Einblick gewinnen konnte

und deren Arbeitsschwerpunkte und Konzepte in Punkt 2.2.1.8 der Arbeit noch eine

Rolle spielen werden.

Im folgenden Punkt werde ich versuchen, einige zentrale Probleme herauszuarbeiten,

mit denen die in Yogyakarta auf der Straße lebenden Personen während meines

Aufenthaltes konfrontiert waren. Dabei stütze ich mich auf Erkenntnisse, die ich

während meiner Beobachtungen hauptsächlich durch die Kinder, aber auch durch die

Zusammenarbeit mit Mitarbeiter/innen von in Yogyakarta tätigen

Nichtregierungsorganisationen, gewonnen habe.

2.2.1.6 Zentrale Probleme im Lebensalltag auf der Straße

Während der Zeit meiner teilnehmenden Beobachtung in der Lebenswelt der auf der

Straße lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen habe ich einige zentrale

Probleme im Zusammenleben auf der Straße erkennen können, mit denen die

betroffenen Personen in ihrem Alltag häufig konfrontiert waren und die ihre

Lebenswelt und gewisse Handlungsstrategien wesentlich mit beeinflussten.

Wie ich in Punkt 2.2.2.5 bereits angedeutet habe, hat sich ein Großteil der Kinder

und Jugendlichen, zu denen ich in Beziehung stand, für ein Leben auf der Straße

entschieden, um innerfamiliären Gewaltstrukturen zu entfliehen. Das bedeutet, ihr

Lossagen von ihren Familien war in den meisten Fällen eine Reaktion auf einen

scheinbar auswegslosen Zustand, in dem sie sich gefangen und ohnmächtig fühlten.

Ihr Weggang von zu Hause bedeutete also für sie zunächst eine Befreiung aus diesen

Strukturen mit der Hoffnung auf einen Gewinn an Freiheit, Autonomie und

Partizipationsmöglichkeiten. Die Realität, mit der die Kinder und Jugendlichen nun

in ihrer neuen Lebenswelt konfrontiert werden, zeigt allerdings deutlich, dass auch

die Straße als Lebensraum nicht frei von Gewaltstrukturen und Machtgefügen ist, in

denen sie sich zunächst einfügen und allein behaupten müssen. Während meiner

Beobachtungen im Lebensalltag auf der Straße habe ich zunehmend festgestellt, dass

besonders die Beziehungen innerhalb des Zusammenschlusses der dort lebenden

Personen durch eine starke Ambivalenz gekennzeichnet war. So herrschte einerseits

ein sehr starker Zusammenhalt und eine große Solidarität zwischen den Kindern und

Jugendlichen, andererseits kam es aber während meines Aufenthaltes auf der Straße

96

auch relativ häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe14.

Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass gewaltsame Konflikte zwischen

einzelnen Gruppenmitgliedern in keinem Fall eine grundsätzliche Umdefinierung der

Beziehung zueinander nach sich zogen, sondern viel mehr als „normale“

Alltagserscheinung im Straßenleben gewertet wurde.

In diesem Zusammenhang spielte meines Erachtens auch der Drogenkonsum der

Kinder und Jugendlichen eine zentrale Rolle, der an sich wiederum ein wesentliches

Problem darstellte. So gehörte, wie auch gewalttätige Auseinandersetzungen, der

regelmäßige Konsum von Alkohol, Kleber, Medikamenten und unterschiedlichen

pflanzlichen Substanzen zum „normalen“ Alltag der auf der Straße lebenden

Personen. Über die gesundheitlichen Schäden hinaus, die insbesondere der

regelmäßige Gebrauch von Kleber hervorrief15, war besonders unter der Einwirkung

von Alkohol und chemischen Substanzen ein sehr hohes Aggressionspotential zu

erkennen. Bei mir wurde der Eindruck erweckt, dass der Drogenmissbrauch eine

Fluchtfunktion darstellte, die den Kindern und Jugendlichen einen Umgang mit ihren

Problemen ermöglichte, weil dadurch sowohl unverarbeitete traumatische Erlebnisse

als auch die Perspektivlosigkeit in ihrer aktuellen Situation so vorübergehend

verdrängt werden konnten. Ebenfalls wurde nach eigenen Schilderungen der Kinder

besonders unter dem Einfluss von Kleber bei ihnen ein Gefühl der Geborgenheit,

Sicherheit und Stärke hervorgerufen.

Meines Erachtens ist sowohl der Drogenmissbrauch der Kinder und Jugendlichen, als

auch das Konfliktverhalten innerhalb der Gruppe vor dem Hintergrund ihrer

biographischen Vergangenheit und ihrer aktuellen Situation als eine Strategie des

Umgangs mit dem Fehlen an zuverlässigen Bindungspersonen und mit vielfältigen

Erfahrungen von Gewalt, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit zu verstehen.

Insofern stellt der Substanzenmissbrauch für sie zunächst einmal ein gewisses Maß

an Sicherheit her, indem durch die Konsumierung eine verlässliche Reaktion

hervorgerufen wird. Gewissermaßen gibt er dem Kind eine Möglichkeit der

Einflussnahme auf seinen Körper, seine Emotionen und sein Erleben bzw. seine

Bewältigung des Alltags.

14 Auf diesen Aspekt wird in der Beschreibung der Struktur und Funktionen des sozialen Netzwerkes näher eingegangen. 15 Eine hohe Anzahl der Kinder, die regelmäßig Kleber konsumierten, litt sowohl unter starken Konzentrationsschwierigkeiten, häufigen Kopfschmerzen und Erkrankungen der Lungen und Atemwege.

97

Über die oben genannten Schwierigkeiten hinaus haben sich für mich insbesondere

zwei weitere zentrale Problematiken herauskristallisiert, die das Leben der Kinder,

Jugendlichen und Erwachsenen auf der Straße wesentlich beeinflussen bzw.

mitbestimmen und die ich in diesem Kontext als Dimensionen von Armut

bezeichnen möchte – das Leben in der Illegalität durch fehlenden Nachweis der

Identität und die Stigmatisierung und Marginalisierung durch die Gesellschaft. Bei

meiner Darstellung ist es an dieser Stelle schwierig, diese zwei Aspekte scharf

voneinander abzugrenzen, da sie in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen

und sich teilweise wechselseitig bedingen. Allerdings scheint es mir hier sinnvoll,

eine grobe Unterteilung vorzunehmen, um eine bessere Übersicht verschaffen zu

können und die sich aus diesen Dimensionen ergebenden Konsequenzen gezielter

herausstellen zu können.

Leben in der Illegalität

Wie ich eingangs bereits angedeutet habe, stellt die „Identitätslosigkeit“ ein

wesentliches Problem der auf der Straße lebenden Personen dar. „Identitätslosigkeit“

bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen

aufgrund fehlender Dokumente zum Nachweis ihrer Identität nirgendwo registriert

sind. In vielen Fällen befinden sich ihre Geburtsurkunden in ihren Herkunftsfamilien

oder sie existieren überhaupt nicht mehr. Diese „Identitätslosigkeit“ ist, wie ich im

Folgenden erläutern werde, mit weitreichenden Folgen verbunden.

Da laut der indonesischen Gesetzgebung ab dem siebzehnten Lebensjahr die

Ausweispflicht (im Indonesischen: wajib KTP) in Kraft tritt16, bewegen sich somit

all diejenigen Personen, die dieses Alter überschritten haben und ohne registrierte

Identität leben, in der Illegalität – offiziell existieren sie nicht.

Um eine kartu tanda penduduk (kurz: KTP), das heißt, einen Ausweis beantragen zu

können, wäre abgesehen von einem hohen finanziellen Aufwand aber zunächst der

Nachweis einer Identität in Form einer akta kelahiran (im Deutschen:

Geburtsurkunde) oder einer kartu keluarga (im Deutschen: Familienkarte) zwingend

notwendig17. Da den Kindern und Jugendlichen diese Dokumente in den meisten

16 vgl. „Peraturan Daerah Kota Yogyakarta Nomor 2, Tahun 2001, tentang Penyelenggaraan Pendaftaran Penduduk dan Catatan Sipil“ , S. 13 (im Deutschen: „Verordnung der Stadt Yogyakarta Nummer 2, 2002, Über die Durchführung der Einwohneranmeldung und zivile Notizen“). Hier heißt es in § 20, Absatz 1: „Jeder Einwohner, der das Alter von 17 Jahren erreicht hat oder verheiratet ist oder jemals verheiratet war, ist verpflichtet, eine KTP zu besitzen.“ (v.V..) 17 vgl. ebd., S. 19

98

Fällen nicht zugänglich sind, besteht für sie bislang keine legale Möglichkeit, sich

eine juristisch anerkannte Identität zu verschaffen18. Die Konsequenzen, die aus

dieser „Identitätslosigkeit“ heraus erwachsen, beeinträchtigen das Leben der

betroffenen Personen in vielerlei Hinsicht:

Zunächst haben sie aufgrund dessen keinerlei Zugang zu gesellschaftlichen

Institutionen. Das heißt, es ist ihnen weder gestattet, Bildungsangebote in Anspruch

zu nehmen, noch steht ihnen offiziell das Recht auf eine ärztliche Versorgung im

Krankheitsfall zu. Auch ist im Todesfall eines Kindes oder Jugendlichen ohne den

Nachweis seiner Identität das Recht auf eine Beerdigung nicht gewährleistet. Des

weiteren ist es ihnen nicht möglich, ein vertraglich abgesichertes Arbeitsverhältnis

einzugehen oder Mietverträge abzuschließen, da auch hierfür ein Identitätsnachweis

verlangt wird. Auch eine Wahlberechtigung steht den betroffenen Personen aus

demselben Grund nicht zu. Somit bleibt ihnen in jeglicher Hinsicht die Chance auf

eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an gesellschaftspolitischen

Entscheidungen verwehrt.

Ebenso schwerwiegend ist darüber hinaus, dass die betroffenen Kinder, Jugendlichen

und Erwachsenen durch den fehlenden Identitätsnachweis laut indonesischer

Gesetzgebung gegen die bestehende Pflicht, sich im Falle einer polizeilichen

Kontrolle ausweisen zu können, verstoßen, wodurch mitunter gewaltsame Übergriffe

von Seiten der Regierung bzw. der Polizei auf ebendiese Personen legitimiert

werden. So kam es an den von mir in Punkt 2.2.1.5 beschriebenen Aufenthaltsorten

der GirLi- Mitglieder auch während meine Anwesenheit vermehrt zu

Auseinandersetzungen zwischen den dort lebenden Personen und der städtischen

Polizei, bei denen willkürliche Inhaftierungen vorgenommen wurden, die oftmals mit

Folterungen vor Ort, auf der Polizeidienststelle oder in Gefängnissen einhergingen19.

Diesen Übergriffen sind die Betroffenen wiederum schutzlos ausgeliefert, da ohne

die notwendigen finanziellen Mittel und ohne einen Identitätsnachweis kein

juristischer Schutz gewährleistet ist. Das heißt, dass es in keinem Fall von

struktureller Gewalt gegen diese Personen in Form von Folter und Inhaftierung zu 18 Im Jahre 2002 hat es Bestrebungen von Seiten der auf der Straße lebenden Personen in Yogyakarta gegeben, ihr Recht auf eine Identität vor der Provinzregierung geltend zu machen. Ebenfalls gründete sich während meines Aufenthaltes in Yogyakarta ein Komitee aus Mitarbeiter/Innen verschiedener Nichtregierungsorganisationen, die einen Gesetzesentwurf bezüglich der „Identitäten –Regelung“ erarbeiteten und der Provinzregierung in einer Anhörung vorstellten. Bislang ist aber noch keine Reaktion seitens der Regierung erfolgt (ausführlicher in Punkt 2.2.1.8). 19 Ich stütze mich auch hierbei auf meine eigenen Beobachtungen, auf Schilderungen der Kinder und Jugendlichen als auch auf Informationen von Mitarbeiter/innen der dort tätigen Nichtregierungsorganisationen.

99

einer Strafverfolgung kommt. Hinzu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen

aufgrund der traumatischen Erfahrungen mit der Regierung bzw. der Polizei diese

eher als Gefahrenquelle erleben, als dass sie eine Schutzfunktion für sie darstellen

würde20.

Zwar besitzt laut indonesischer Gesetzgebung jede Person mit indonesischer

Staatsbürgerschaft, einschließlich Kinder, das Recht auf einen Nachweis über seine

Identität21. Allerdings befinden sich die auf der Straße lebenden Kinder und

Jugendlichen hier in einer scheinbar zunächst unauflösbaren Situation der

Perspektivlosigkeit, da dieses Recht untrennbar mit dem Besitz einer Geburtsurkunde

verbunden ist. Durch das Fehlen dieses Dokumentes und der Unmöglichkeit, in

seinen Besitz zu gelangen, entfallen für sie gleichzeitig sämtliche bürgerlichen

Grundrechte. Darüber hinaus machen sie sich nach indonesischem Recht bereits

durch die Tatsache, dass sie bei Polizeikontrollen weder eine Geburtsakte noch

einen Ausweis vorweisen können, strafbar und sind in diesem Fall einer

dementsprechenden Behandlung ausgesetzt.

Das Leben ohne eine offiziell anerkannte Identität bringt zudem über die oben

geschilderten Konsequenzen hinaus für die Kinder und Jugendlichen eine ungemeine

Schwierigkeit mit sich, ein positives Selbstkonzept entwickeln und sich als

Individuum in einer Gesellschaft verorten zu können, in der sie offiziell nicht

existieren. Erschwert wird dies zusätzlich durch das ihnen anlastende Stigma, mit

dem sie behaftet sind, und mit dem sie tagtäglich konfrontiert werden. Die Ausmaße

dieses Stigmas und der damit einhergehenden Marginalisierung werde ich im

folgenden Punkt versuchen, herauszuarbeiten.

Stigmatisierung und Marginalisierung

Bevor ich in Folgenden die Stigmatisierung und Marginalisierung als zentrales

Problem im lebensweltlichen Kontext der auf der Straße lebenden Kinder,

Jugendlichen und Erwachsenen beleuchte, möchte ich zunächst näher auf die

Beschaffenheit und Wirkungsweisen von Stigmatisierung im Allgemeinen eingehen. 20 Bei einem „child-participation“-Workshop, der im Januar 2004 von der Nichtregierungsorganisation HUMANA für die auf der Straße lebenden Kinder veranstaltet wurde, sollten die teilnehmenden Kinder eigenständig herausarbeiten, welche Personengruppen und Orte sie mit „Sicherheit“, und welche sie mit „Gefahr“ verbinden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Polizei aus der Sichtweise der teilnehmenden Kinder die potenziell größte Gefahr für sie darstellte, während Müllsammler, andere auf der Straße lebende Personen und Becak - Fahrer ihnen eher Schutz in Gefahrensituationen boten. 21 vgl. SEACA 2003, S. 3: “Jedes Kind hat das Recht auf einen Namen in Form von einer anerkannten Identität und auf den Status einer Staatsangehörigkeit.“ (v.V.)

100

So beschreibt Gerhard Falk die Stigmatisierung folgendermaßen:

„Unity is provided to any collectivity by uniting against those who are seen as a

common threat to the social order and morality of a group. Consequently, the stigma

and the stigmatisation of some persons demarcates a boundary reinforces the conduct

of conformists. Therefore, a collective sense of morality is achieved by the creation of

stigma and stigmatisation and deviance” (Falk 2001, S. 18).

Das heißt, ein Stigma erhält seine Funktion erst durch eine Definition von dem, was

in einer Gesellschaft als “normal” gilt und in Abgrenzung dazu einem Gegenpol, der

Bestimmung dessen, was als „abweichend“ definiert wird. Die Definition dessen,

was eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm darstellt, ist also gleichzeitig

immer auch in einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingebunden, durch

den sie eine Legimitation erhält. Somit richtet sich die Stigmatisierung gegen

Personen oder Personengruppen, welche die gesellschaftliche Ordnung durch ihr

abweichendes Verhalten, bzw. ihr „Anderssein“ zu gefährden scheinen. Durch die

Stigmatisierung einzelner Personengruppen kommen innerhalb einer Gesellschaft

bestehende Machtstrukturen zum Vorschein, da es nicht jeder Gruppe gleichermaßen

möglich ist, an den Entscheidungen darüber, nach welchen Kriterien „normales“ und

abweichendes Verhalten definiert wird, zu partizipieren. Vielmehr sind es je nach

Gesellschaftssystem meist diejenigen, die in irgendeiner Weise eine mächtigere

Position innehaben, denen die Definierung und Durchsetzung gesellschaftlicher

Normen vergönnt ist (vgl. Giddens 1999, S. 195).

Im lebensweltlichen Kontext der obdachlosen Kinder, Jugendlichen und

Erwachsenen in Yogyakarta geht deren Stigmatisierung in erster Linie von Seiten der

Regierung aus, da sie bereits aufgrund ihrer „Identitätslosigkeit“ kriminalisiert

werden. So erhält das auf ihnen lastende Etikett des „Abweichlers“ gar eine

gesetzlich geregelte Legimitation. Bereits durch den fehlenden Nachweis über ihre

Existenz werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt, indem ihnen sämtliche

Chancen der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verwehrt bleiben.

Von der Gesellschaft werden sie in vielerlei Hinsicht als „abweichend“ und

„unruhestiftend“ wahrgenommen und stigmatisiert:

Schon die Tatsache, dass sie allein und ohne Familieneinbindung leben, macht sie in

der indonesischen Gesellschaft, in der das Familiensystem einen hohen Stellenwert

genießt und der traditionellen Einstellung, nach der das Kind seine Eltern

bedingungslos zu achten hat (patuh kepada orang tua, vgl. Indonesien Information

Nr.1, 2002), wie ich bereits in Punkt 2.2.1.3 versucht habe darzustellen, zu

101

„Abweichlern“ von der gesellschaftlichen Norm. Aufgrund ihrer äußeren

Erscheinung, durch die sie ebenfalls aus dem gesellschaftlichen Bild hervortreten,

ihres häufigen Alkohol- und Drogenkonsums auf der Straße und Vorkommnisse

gewalttätiger Auseinandersetzungen sind sie kollektiv mit dem gesellschaftlichen

Stigma des „Unruhestifters“ oder gar des „Kriminellen“ behaftet. Dieses Stigma wird

in diesem Kontext aufrecht erhalten durch eine Vorverurteilung zum Einen und einer

Übertragung dieser Vorurteile auf die gesamte Personengruppe zum Anderen. Dass

es unter den auf der Straße lebenden Personen, wie auch in anderen

gesellschaftlichen Bereichen, durchaus solche gibt, die ihren Lebensunterhalt

überwiegend durch Einbrüche, Raubüberfälle oder sonstige kriminelle Aktivitäten

bestreiten, ist in gewisser Weise durchaus nicht verwunderlich, zumal wir es hier mit

einer sehr heterogenen Zusammensetzung der Personengruppe zu tun haben. Darüber

hinaus spielen in diesem Kontext sicherlich auch langfristige Auswirkungen der

gesellschaftlichen Etikettierung auf das individuelle Selbstkonzept der

stigmatisierten Personen eine nicht unbedeutende Rolle, denn das ihnen anhaftende

Etikett wurde in einigen Fällen zu einem Bestandteil ihrer Selbstwahrnehmung.

Die von der Gesellschaft ausgehende und durch die Regierung legitimierte

Stigmatisierung, Diskriminierung und Marginalisierung der obdachlosen Kinder,

Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen ich während meiner Beobachtungen in

Beziehung stand, äußerste sich auf vielfältige Art und Weise. Das meinen

Beobachtungen nach wesentlichste Merkmal war jedoch zunächst, dass von einem

Großteil der Bevölkerung22 (bezogen auf die Orte, an denen meine Beobachtungen

stattfanden) die auf der Straße lebenden Personen selbst als das eigentliche Problem

identifiziert wurden, nicht aber das politische System, die Gesellschaft und die darin

verankerten Normen und Werte. Somit stellten die auf der Straße lebenden Personen

als Rebellen, die sich gegen das System und bestehende Missstände auflehnten,

besonders für einen großen Teil der Mittel- und Oberschicht, eine akute Gefahr für

die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung dar23. Dies äußerste sich dann

verstärkt, wenn eines der Kinder eine Beziehung bzw. Freundschaft zu einem Kind

22 Meine Absicht ist es an dieser Stelle keinesfalls, die indonesische Gesellschaft zu homogenisieren oder Schuldzuweisungen zu tätigen. Allerdings komme ich bei einer schlüssigen Darstellung der gesellschaftlichen Reaktionen auf die GirLi - Mitglieder schlecht ohne diese Vereinfachung und Verallgemeinerung aus, die ich durch Formulierungen wie „die Gesellschaft“ oder „die Bevölkerung“ bereits vornehme. 23 Zwischen den auf der Straße lebenden Personen und anderen Personen der indonesischen Unterschicht war hingegen eine relativ große Solidarität festzustellen, worauf ich im folgenden Punkt näher eingehen werde.

102

aus einem der Stadtviertel (im Indonesischen: kampung) aufzubauen versuchte. In

den meisten Fällen wurde diese Beziehung von Eltern und Angehörigen des

kampung – Kindes unterbunden. Grund dafür war hingegen in den seltensten der von

mir beobachteten Fälle ein akuter Verstoß des „Straßenkindes“ gegen die

bestehenden Regeln oder Normen. Vielmehr waren es oft das Vorverständnis und die

Vorurteile, die einige Bewohner der Stadtviertel über „die Straßenkinder im

Allgemeinen“ hatten und die damit verbundene Angst, der Kontakt könne eine

Gefährdung ihres eigenen Kindes bedeuten.

Da in der indonesischen Gesellschaft, die im Vergleich zu der deutschen eher

kollektivistische Strukturen aufweist (vgl. 1.3.1), offensives Konfliktverhalten in der

Öffentlichkeit eher unüblich ist, äußerte sich die Stigmatisierung und

Diskriminierung durch die Bevölkerung dementsprechend auf eher passive Art und

Weise, die anfangs von mir auf Anhieb aufgrund meines anderen kulturellen

Hintergrundes schwer zu erkennen war. So empfanden die auf der Straße lebenden

Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen insbesondere ihnen entgegengebrachte

Verhaltensweisen wie das Ignorieren ihres Daseins, geringschätzige Blicke, aber

auch übermäßiges Mitleid als eine Diskriminierung. Anhand eines Auszuges aus

meinem Forschungstagebuch möchte ich dies bezogen auf den Aspekt des

übermäßigen Mitleids an einer konkreten Begebenheit versuchen zu verdeutlichen:

14. November 2003

„ Heute Nachmittag wurden die Kinder und Jugendlichen zum berbuka bersama, dem

gemeinsamen Fastenbrechen zu Sonnenuntergang von einer bekannten indonesischen

Musikgruppe eingeladen. Sie luden mich ein, mit ihnen zu kommen. Also tat ich das.

Mit einem Bus wurden wir von der Kreuzung abgeholt und zur Geschäftsstelle der

Band gebracht. Die Kinder setzten sich unaufgefordert draußen auf den Boden vor den

Eingang und ich mit ihnen. Drinnen saßen die Bandmitglieder und deren Freunde.

Nachdem drinnen das Abendgebet stattgefunden hatte, an dem keines der Kinder

teilnahm, wurde Essen, Trinken und Zigaretten verteilt, die die Kinder dankbar

annahmen. Während wir alle aßen und tranken, wurden von Fotografen Fotos der

essenden und trinkenden Kinder und Jugendlichen gemacht. Als das Essen beendet

war, wurden wir mit dem Bus zur Kreuzung zurückgebracht. Dort angekommen

erzählten mir einige der Kinder und Jugendlichen, wie schrecklich und entwürdigend

sie diese Veranstaltungen fanden, da sie sich vorkamen wie hilfsbedürftige Objekte,

die zu Werbezwecken missbraucht würden. Ich fragte sie, warum sie solche

Einladungen dann nicht ablehnten, sondern sie dankbar annehmen würden. Daraufhin

103

antworteten sie mir, dass sie aufgrund ihres gesellschaftlichen Status nicht das Recht

hätten, sich gegen solche Angebote zu wehren und Hilfe von sogenannten höher

gestellten Personen abzulehnen, da sie sonst als undankbar bezeichnet würden.“

Ein weiteres Merkmal dieses Stigmas ist, dass es von fast statischer Beschaffenheit

ist. Das heißt, der Gruppe der auf der Straße lebenden Personen wird wenig

Veränderungspotential zugestanden. So werden durch Regierung und Gesellschaft

dieser Personengruppe zum Einen hauptsächlich negative Merkmale zugeschrieben,

während zum Anderen ihre Potentiale, die sie zu „Abweichlern“ im positiven Sinne

machen, kaum wahrgenommen werden. Des weiteren werden diese vermeintlichen

Eigenschaften generalisiert, da sie der gesamten Gruppe zugeschrieben werden.

Darüber hinaus scheint dieses Stigma durch seine fortwährende gesellschaftliche und

politische Reproduktion wie „eingefroren“ zu sein.

Aus den Erkenntnissen meiner Beobachtungen entnehme ich diesen

gesellschaftlichen Reaktionen auf die GirLi – Mitglieder eine gewisse Unsicherheit

und Angst der Bevölkerung, die meines Erachtens zum Einen durch Darstellungen

und Verfahren der Regierung produziert wird. Zum Anderen könnte sie aus der

mangelnden produktiven Auseinandersetzung bzw. den fehlenden

Berührungspunkten mit eben dieser ihnen in vieler Hinsicht fremden Personengruppe

resultieren.

Die Handlungsstrategien, die die auf der Straße lebenden Kinder, Jugendlichen und

Erwachsenen im Umgang mit ihrer Stigmatisierung, Diskriminierung und

Marginalisierung entwickelt haben, variieren individuell sehr stark sind und waren

teilweise ambivalent zueinander, da bei vielen Personen sowohl Resignation und

Fluchtversuche aus der eigenen Situation als auch aktive Versuche, die Legimitation

dieses Stigmas zu revidieren und sich daraus zu befreien, koexistieren. Ebenso

wurden für mich sehr viele Tendenzen innerhalb des sozialen Netzwerkes auf der

Straße erkennbar, die eine Sensibilisierung der Gesellschaft für ihre Situation

anstrebten und entschlossen für ihre eigenen Rechte und deren Durchsetzung

eintraten. Wie ich im Folgenden genauer schildern werde, spielt in diesem

Zusammenhang das soziale Netzwerk eine wesentliche Rolle. Hierbei möchte ich

besonders die Potentiale, die für mich in diesem Zusammenschluss erkennbar

wurden, herausarbeiten, weil sie im späteren Verlauf der Arbeit im Hinblick auf

mögliche Kriterien für Handlungskonzepte einen wesentlichen Ausgangspunkt

darstellen werden.

104

2.2.1.7 Beziehungswirklichkeiten in einer Subkultur – Struktur und Funktionen

des sozialen Netzwerkes auf der Straße

Bevor ich im Folgenden die Struktur und Funktionen des sozialen Netzwerkes

darstellen werde, wobei ich mich in erster Linie auf meine teilnehmende

Beobachtung des Zusammenschlusses GirLi beschränke, soll hier zunächst näher

erläutert werden, in welchen größeren Kontexten dieser Zusammenschluss steht. So

ist die Gruppe GirLi Teil eines komplexeren Netzwerkes der Straße, das zusammen

mit weiteren Zusammenschlüssen bzw. Gruppen koexistiert, interagiert und

kooperiert. Darüber hinaus existieren sowohl weitere Zusammenschlüsse von auf der

Straße lebenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch Netzwerke, die

sich aus Zusammenschlüssen von Straßenhändlern, Becak-Fahrern oder

Müllsammlern gebildet haben.

Im Folgenden wird sich der Begriff des sozialen Netzwerkes aber im Wesentlichen

auf den Zusammenschluss GirLi beziehen, deren Strukturen und Bedeutung im

Lebensalltag auf der Straße ich näher beschreiben möchte.

Durch den Beginn eines Lebens auf der Straße beginnt für die Kinder, wie Lamnek

es auch im Kontext der teilnehmenden Beobachtung meiner Meinung nach treffend

formuliert, eine „zweite Sozialisation“ (vgl. Lamnek 1995, S.314). Das heißt, sie

werden gezwungen, ihr Leben im Alleingang zu bewältigen, die Straße als neuen

Lebensraum zu akzeptieren und die alleinige Verantwortung für ihren Körper, ihre

Gesundheit, ihre Sicherheit und ihr Überleben selbst in die Hand zu nehmen. Die

ihnen im Verbund ihrer Herkunftsfamilien vertraute Ordnung in Form von Normen,

Werten und Traditionen verliert mit dem Eintritt in ein Leben auf der Straße an

Gültigkeit bzw. Relevanz, und an ihre Stelle tritt ein den Kindern zunächst völlig

fremdes Ordnungssystem, mit dem sie konfrontiert werden und in das sie sich zuerst

einmal integrieren müssen, um auf der Straße überhaupt überleben zu können. Das

soziale Netzwerk, wie ich hier den Zusammenschluss der Kinder, Jugendlichen und

Erwachsenen bezeichne, die gemeinsam auf der Straße leben, ist bereits in diesem

anfänglichen Prozess der „Straßensozialisation“ und Integration von wesentlicher,

(teils ambivalenter) Bedeutung. Doch auch über den ersten Zugang zum

„Straßenleben“ hinaus erfüllt es vielfältige, mitunter überlebenswichtige

Funktionen. Um diese deutlich zu machen, möchte ich bei den charakteristischen

105

Strukturmerkmalen und Interaktionsmustern dieses Netzwerkes ansetzen, durch die

es sich im Wesentlichen auszeichnet.

Strukturmerkmale des sozialen Netzwerkes

Das Leben der Kinder und Jugendlichen auf der Straße ist aufgrund deren relativ

geringen Ortsgebundenheit durch eine hohe Mobilität gekennzeichnet, was mit einer

relativ großen Fluktuation in der Zusammensetzung der Gruppe einhergeht. So

kommt es durchaus vor, dass ein oder mehrere Kinder sich dazu entscheiden, auf

unbestimmte Zeit an den ca. 30 Kilometer entfernten Strand, nach Jakarta oder in

eine andere Stadt umzuziehen. Ebenso häufig kommen wiederum „neue“ Kinder

oder Jugendliche aus anderen Städten für eine gewisse Zeit nach Yogyakarta, um

dort vorübergehend zu leben. Aus dieser Mobilität und Fluktuation heraus erwächst

wiederum die Entstehung städteübergreifender Beziehungen und Netzwerke der

Kinder untereinander. Hauptsächlich nutzen die Kinder die Bahn als interstädtisches

Transportmittel.

Des weiteren ist das soziale „Straßennetzwerk“ durch eine geringe Offenheit zu

institutionellen Netzwerken gekennzeichnet, was im Wesentlichen bedingt ist durch

mangelnde Zugangschancen zu gesellschaftlichen Institutionen und weitere

desintegrierende gesellschaftliche Faktoren, auf die ich in Punkt 2.2.1.6 bereits

eingegangen bin. Der Zusammenhalt des Netzwerkes ist somit stark mitbestimmt

durch von außen gesetzte Rahmenbedingungen.

Aus ihrer Lebenssituation im Allgemeinen (vgl. 2.2.1.5), aber insbesondere auch aus

der Marginalisierung und Stigmatisierung der auf der Straße lebenden Personen und

den damit einhergehenden Konsequenzen für ihre Lebenswelt (vgl. 2.2.1.6) heraus

haben sich innerhalb ihres Zusammenschlusses starke subkulturelle Strukturen

entwickelt und stabilisiert, das heißt, sie entwickeln ihre eigenen Kulturmerkmale,

die sich sowohl über das äußere Erscheinungsbild der zu dieser Gemeinschaft

gehörenden Personen als auch über bestimmte Kommunikationsformen, eigene

Normen- und Wertesysteme und spezifische Beziehungsstrukturen darstellen. Wie

wir im ersten Teil der Arbeit als zentrales Merkmal von Kulturen im Allgemeinen

herausgestellt haben, sind auch diese subkulturellen Merkmale der Kinder und

Jugendlichen in einem stetigen Wandel begriffen. Diese Prozesshaftigkeit nahm ich

während meines Aufenthaltes in ihrer Lebenswelt insofern besonders stark

hinsichtlich der sprachlichen Interaktion der Kinder untereinander und mit mir wahr,

106

dass der Gebrauch bestimmter Ausdrücke, die eigenen Sprachschöpfungen der

Mitglieder von GirLi entsprangen, häufig veränderte. Gleichzeitig beinhalteten diese

subkulturellen Tendenzen aber auch Elemente, die tief in dem traditionellen

indonesischen Normen- und Wertesystem verwurzelt waren. Dies machte sich zum

Einen durch eine große Akzeptanz und einen Respekt von Hierarchien sowohl

innerhalb als auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft bemerkbar, wobei

hierarchische Verteilungen innerhalb der Gemeinschaft weniger altersabhängig

waren. So hing die Position, die ein Mitglied als Teil des Zusammenschlusses inne

hatte, stark von seiner individuellen Persönlichkeit und seinem Erfahrungswert ab.

Innerhalb der Gruppe habe ich starke individuelle Unterschiede im Umgang mit der

eigenen Machtposition beobachten können. So nahm ich von einigen Personen, die in

der Gemeinschaft eine Schlüsselposition innehatten, Bestrebungen wahr,

gruppeninterne Machtgefälle und Hierarchien abzubauen, indem von ihnen

beispielsweise dazu aufgefordert wurde, auf stellungsangemessene Anredeformen

(vgl. 2.2.1.3) zu verzichten, und indem Kritik auch von sich in dieser Hierarchie

weiter unten befindenden Mitgliedern angenommen wurde. In vielen Situationen

wiederum war für mich jedoch auch der Versuch zu erkennen, bestehende

Hierarchien aufrecht zu erhalten oder zu verstärken, was sich oftmals durch

Sanktionen gegenüber Personen in weniger starken Positionen äußerte. Auch bei den

Personen, die sich innerhalb der Gruppe eher in einer weniger mächtigen Position

befanden, waren für mich individuell unterschiedliche Umgangsweisen mit

ebendiesen Machtgefügen zu erkennen. Bei einem Großteil der Kinder lösten

insbesondere Restriktionen und Sanktionen von Seiten „einflussreicherer“ Mitglieder

oftmals einen vorübergehenden Rückzug von den Aufenthaltsorten aus, wodurch sie

sich den Machtstrukturen und den für sie daraus resultierenden Konsequenzen

versuchten zu entziehen.

Der Einfluss traditioneller gesellschaftlicher Werte äußerte sich über die Akzeptanz

und den Respekt gegenüber bestehender Hierarchien hinaus aber auch durch den

hohen Stellenwert der Gemeinschaft, deren Interessen und Belange grundsätzlich im

Vordergrund standen. Werte wie Höflichkeit, Konfliktvermeidung und

Harmoniestreben waren in der Begegnung mit anderen Personengruppen von großer

Bedeutung, während sie hingegen innerhalb der eigenen Gemeinschaft eine eher

untergeordnete Rolle spielten.

107

Ein wesentlicher Bestandteil, der die tägliche Interaktion des sozialen Netzwerkes

auszeichnete, war die immaterielle und materielle Hilfe sowie der Austausch von

Informationen über aktuelle Vorkommnisse oder drohender Gefahren in ihrem

Lebensraum. Dieser Austausch war in jeder alltäglichen Situation, sowohl während

der Arbeit, bei zufälligen Zusammentreffen zweier oder mehrerer Mitglieder als auch

bei anderen Zusammenkünften expliziter oder impliziter Bestandteil der

Interaktionen.

Die Beziehungswirklichkeiten innerhalb des Zusammenschlusses der auf der Straße

lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen waren meines Erachtens wesentlich

durch eine starke Ambivalenz geprägt. So herrschte einerseits, besonders in

Gefahrensituationen durch Bedrohungen von außen, eine fast uneingeschränkte

Solidarität und ein starker Zusammenhalt innerhalb der Gruppe. Andererseits gab es

auch immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen unter den einzelnen

Gruppenmitgliedern24. Trotz dieser Ambivalenz, welche die

Beziehungswirklichkeiten im sozialen „Straßennetzwerk“ kennzeichnet, war für

mich eine völlige Identifikation der in diesem Zusammenschluss lebenden

Individuen mit der Gruppe zu erkennen, wobei es an dieser Stelle unerlässlich ist,

dies auf dem Kontext der indonesischen Gesellschaft zu betrachten, in der die

Gemeinschaft einen wesentlich höheren Stellenwert einnimmt als in eher

individualistisch strukturierten Gesellschaftssystemen (vgl. 1.3.1). Das heißt, die

Mitglieder des sozialen Netzwerkes definierten in individuell mehr oder weniger

starker Ausprägung ihre eigene Person als Teil der Gemeinschaft. Dies machte sich

im alltäglichen Umgang miteinander bemerkbar. So wurde jeder materielle Besitz,

wie zum Beispiel Kleidungsstücke, Schmuck oder Instrumente, als Eigentum der

Gemeinschaft angesehen und innerhalb der Gruppe geteilt, verschenkt oder gegen

andere materielle Gegenstände getauscht25. Auch das gemeinsam erwirtschaftete

Geld galt als Eigentum der Gemeinschaft, wobei diesem im Wesentlichen eine rein

lebenserhaltene Funktion zugeschrieben wurde, indem es meist unmittelbar in

Lebensmittel investiert wurde. So war ebenfalls das gemeinsame Essen und Trinken 24 Diese von mir beschriebene Ambivalenz nahm ich während meines zweiwöchigen Aufenthaltes in Jakarta im Dezember 2003 innerhalb eines anderen Zusammenschlusses an einem Busterminal lebender Kinder und Jugendlicher in wesentlich ausgeprägterer Form wahr. 25 Die Bereitschaft zum Tausch eines materiellen Besitzes gegen einen anderen spielte besonders für die Integration und Akzeptanz eines „Neuankömmlings“ in der Gruppe eine zentrale Rolle und war von ritueller Bedeutung. Das heißt, seine Rolle innerhalb des sozialen Netzwerkes hing entscheidend von seiner anfänglichen Bereitschaft ab, sich den bestehenden Umgangsformen und Regeln anzupassen bzw. diese zu akzeptieren, was auch auf mich, die zunächst als „Fremde“ in ihren Lebensraum eindrang, zutraf (ausführlicher in 2.2.2.1).

108

meines Erachtens ein zentraler Bestandteil, der den Zusammenhalt des Netzwerkes

deutlich werden ließ. Gleichzeitig war aber die Teilnahme als „Fremde/r“ an ihrem

Essen und Trinken auch entscheidendes Kriterium für die Akzeptanz und Achtung

innerhalb der Gruppe.

Aus diesem kollektivistischen und solidarischen Verständnis des Gruppenmitglieder

als Teil der Gemeinschaft hinaus erwuchsen, abgesehen von alltäglich zu

beobachtenden Strukturmerkmalen, auch gemeinsame kreative Aktivitäten, die

gemeinsam organisiert und durchgeführt wurden. So organisierten die auf der Straße

lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mehrmals im Jahr auf der Straße

stattfindende Festivals, an denen sie ihre selbst komponierte Musik, eigenständig

inszenierte Theaterstücke und Kunst präsentierten26. Bei der Organisation und

Durchführung eines solchen Projektes brachte sich jedes Gruppenmitglied je nach

Lage seiner individuellen Kompetenzen und Interessen mit ein.

Im Folgenden möchte ich die wesentlichen Bedeutungen und Funktionen, die dieses

soziale Netzwerk im Leben auf der Straße erfüllt, herausarbeiten. Hierbei werde ich

mich an den aus der Analyse meiner Beobachtungen hervorgehenden und von mir

dargestellten Strukturmerkmalen, dem lebensweltlichen Kontext und den darin

existierenden zentralen Problemen orientieren.

Bedeutungen und Funktionen des sozialen Netzwerkes

Die meines Erachtens wesentlichste und grundliegendste Funktion des sozialen

Netzwerkes GirLi, aber auch anderer Netzwerke auf der Straße, war, insbesondere

vor dem Hintergrund des eingangs von mir beschriebenen Problems der sogenannten

Identitätslosigkeit der Netzwerkmitglieder (vgl. 2.2.1.6), der Wiedergewinn einer

Identität. So bedeutete die Einbindung der einzelnen Personen in dieses Netzwerk

gleichzeitig, als Individuum wahrgenommen zu werden, sich als Teil der

Gemeinschaft verorten zu können, bestimmte Rollen und Funktionen übernehmen zu

können und einen Namen zu besitzen. Innerhalb des Zusammenschlusses erfuhren

die Kinder und Jugendlichen gegenseitiges Verständnis bezüglich ihres

biographischen Hintergrundes und ihrer aktuellen Lebenssituation, durch die sie sich

in einem wesentlichen Punkt von in Familien aufwachsenden Kindern und

Jugendlichen unterschieden. Der gegenseitige kommunikative Austausch bot ihnen

26 Auf die vielfältigen Funktionen und die Bedeutungen dieser gemeinsamen kreativen Aktivitäten werde ich im Folgenden noch ausführlicher eingehen.

109

so die Möglichkeit, sich aktiv mit ihrer Vergangenheit und ihrer Lebenswelt

auseinander zu setzen und neue Sichtweisen und Handlungsstrategien zu entwickeln.

Des weiteren stellte das soziale Netzwerk durch den Austausch von Informationen

und die Definition der eigenen Person über die Gemeinschaft eine lebenserhaltende

Schutzfunktion für die Kinder und Jugendlichen dar. Als Teil der Gemeinschaft

stand nicht nur der Schutz ihres eigenen Lebens im Vordergrund, sondern vielmehr

lag es in ihrem Interesse, sich gegenseitig und damit die Gruppe zu schützen. Denn

nur durch dieses gut funktionierende Informationsnetzwerk war auch der Schutz der

eigenen Person gewährleistet. So sprachen sich sowohl vermehrt auftretende

Polizeirazzien an Aufenthaltsorten der Kinder und Jugendlichen als auch

Verhaftungen einzelner Mitglieder innerhalb kürzester Zeit und über größere

räumliche Entfernungen herum, so dass sich die Gruppenmitglieder in vielen Fällen

nur durch diesen Informationsfluss rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten oder

weitere Gruppenmitglieder in Notfällen Treffen einberiefen, um mögliche Hilfe zu

organisieren.

Ebenfalls spielte das Netzwerk im Krankheitsfall eines Gruppenmitgliedes eine

entscheidende Rolle. Nur durch den Zusammenhalt der Gruppe und mit finanzieller

Unterstützung der NGOs war in solchen Fällen eine ärztliche Versorgung und Pflege

des Kranken gewährleistet27.

Über die oben genannten Funktionen hinaus ermöglichte das soziale Netzwerk den

Kindern, jugendlichen und erwachsenen Gruppenmitgliedern, in ihrer Lebenswelt

und mit den Mitteln, die ihnen dazu zur Verfügung standen, voneinander zu lernen.

Dies geschah nicht zu festgelegten formellen Treffen sondern war als ein Bestandteil

in ihren Lebensalltag integriert. Einen wesentlichen Faktor bildeten in diesem

Kontext ihre selbstgeschriebene Musik und ihre Gedichte, da sich die Kinder und

Jugendlichen dadurch einerseits eine Ausdrucksmöglichkeit verschaffen, um über ihr

Leben zu berichten und eigene Erfahrungen zu verarbeiten. Andererseits stellten sie

ein alltägliches Lernmedium dar, indem die Gruppenmitglieder sich während ihrer

Arbeit und bei anderen Zusammenkünften untereinander sowohl das Spielen

27 Während meines Aufenthaltes in Yogyakarta besuchte ich über zwei Wochen hinweg in regelmäßigen Abständen ein GirLi – Mitglied, dass an einer Lungenentzündung erkrankt war, im Krankenhaus. In diesem Zeitraum war ohne Unterbrechung immer mindestens eines der anderen auf der Straße lebenden Kinder bei ihm im Krankenhaus anzutreffen, das ihn mit Lebensmitteln und sauberer Kleidung versorgte, darauf achtete, dass er ausreichende ärztliche Versorgung erhielt und die sich mit ihm über aktuelle Geschehnisse austauschte. Die Kinder lösten sich in regelmäßigen Zeitabständen gegenseitig ab. Während dessen wurde von den restlichen Kindern und Jugendlichen auf der Straße Geld gesammelt und gespart, um die Versorgung des Kranken zu gewährleisten.

110

verschiedener Instrumente als auch das Lesen und Schreiben beibrachten,

gemeinsam neue Lieder komponierten und spielten, Texte dazu schrieben und diese

wiederum an andere Gruppenmitglieder weitergaben. Ebenfalls lernten sie durch den

täglichen kommunikativen Austausch, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen und

die für sie geeigneten Umgangsstrategien zu entwickeln.

Gleichzeitig bot die Existenz des sozialen Netzwerkes jedem Einzelnen die

Möglichkeit, an gruppeninternen Entscheidungen und Aktivitäten zu partizipieren

und somit insbesondere ihre Kompetenzen, Interessen und Stärken neu zu entdecken

oder auszubauen. Besonders durch die gemeinschaftlichen kreativen Aktivitäten

konnten sie sich selbst als handlungsfähige, in ihrer Lebenswelt kompetente und

aktiv gestaltende Personen wahrnehmen, die ihrer Lebenssituation nicht hilflos

ausgeliefert waren. Zugleich verliehen die gruppenintern organisierten Aktivitäten

ihrem Leben eine Perspektive, auf die sie, wenn auch nur kurzfristig,

zukunftsorientiert hinarbeiten konnten. Insbesondere konnte ich dies während der

Vorbereitungen für das im Dezember 2003 stattfindende Festival und dessen

Durchführung, bei denen ich die Kinder und Jugendlichen begleitete, feststellen.

Ziel bzw. zugrunde liegende Idee der Kinder und Jugendlichen war es zum einen,

sich dem Rest der Gesellschaft mit den eigenen Potentialen innerhalb des

Netzwerkes zu präsentieren, um so bestehenden Vorurteilen entgegenzuwirken und

die Bevölkerung für die eigene Lebenssituation und innergesellschaftliche

Missstände zu sensibilisieren.

In der Organisationsphase wurden regelmäßig Treffen einberufen, die entweder auf

der Jalan Malioboro oder an der Straßenkreuzung stattfanden. Allein diese

regelmäßigen Versammlungen, an denen meist alle Kinder und Jugendlichen

teilnahmen, erforderten sowohl ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein und

Zuverlässigkeit von jedem einzelnen Mitglied als auch genaue terminliche

Absprachen. In den Sitzungen der GirLi-Mitglieder ging es überwiegend darum,

organisatorische Fragen zu klären, Ideen für die Gestaltung, den Inhalt und das

Motto des Festivals zu entwickeln und über das weitere organisatorische Vorgehen

zu entscheiden. Ebenfalls hatte jeder von ihnen die Möglichkeit, sich in der Gruppe

über seine bisherigen Schwierigkeiten in der Vorbereitung mit den anderen

auszutauschen.

Für die Präsentation ihres Vorhabens entwickelten einige der Mitglieder einen etwa

zwanzig Seiten umfassenden verschriftlichten Entwurf, in dem sie sich selbst und ihr

111

Konzept vorstellten. Eine weitere Aufgabe, mit der fast jedes Mitglied betraut wurde,

war es, diesen Entwurf verschiedenen Institutionen, wie beispielsweise

Universitäten, Restaurants und Nichtregierungsorganisationen, zu präsentieren und

dort um finanzielle Unterstützung des Festivals zu werben. Die täglichen Einnahmen

der Kinder wurden schriftlich festgehalten und einem der Straßenhändler anvertraut,

der das Geld für sie verwaltete.

Im weiteren Planungsverlauf bereiteten sich die Kinder mit regelmäßigen Musik-

und Theaterproben auf ihren bevorstehenden Auftritt vor. Ebenfalls wurde über

mehrere Wochen hinweg im Haus eines Künstlers in der Nähe der Straßenkreuzung

Gondomanan, der sein Arbeitszimmer dazu zur Verfügung stellte, von den Kindern

eine Bühnendekoration hergestellt. Darüber hinaus wurden Einladungen an weitere

auf der Straße lebende Freunde der Kinder und Jugendlichen aus anderen Städten

Javas versandt. Die Einladungen erfolgte sowohl schriftlich als auch telefonisch und

wurden durch eine Kontaktperson in der jeweiligen Stadt weiter übermittelt.

Die vorausgehende Darstellung der Festivalvorbereitung halte ich für geeignet, um

anhand dessen weitere Funktionen des sozialen Netzwerkes herauszustellen:

Meines Erachtens war die Grundvoraussetzung für ein Gelingen in diesem Prozess

die Mitarbeit und Zuverlässigkeit eines jeden Mitgliedes der Gruppe, die zum einen

einer Identifikation mit dem Festival als gemeinschaftlichem Produkt erforderte, das

aus eigener Initiative entstand und für das jeder gleichermaßen Verantwortung trug.

Zum Anderen erforderte es von den Organisatoren längerfristiges, planendes und

kooperatives Vorgehen, das erst durch eine Perspektive bzw. ein selbst abgestecktes

und erreichbares Ziel, welches in diesem Fall das Festival darstellte, einen Sinn

bekam. Die gemeinsamen Musik- und Theaterproben gaben ihnen eine Möglichkeit,

sich durch kreatives Schaffen als produktive Subjekte zu erfahren, sich so über

individuelle Fähigkeiten bewusst zu werden und in diesem Prozess voneinander zu

lernen.

Die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit des sozialen Netzwerkes auf der Straße, das

in diesem Kontext viele fehlende institutionelle Funktionen übernimmt, habe ich in

diesem Teil als eine grundlegende Erkenntnis meiner Beobachtungen versucht

herauszustellen und anhand praktischer Beispiele aus dem Lebensalltag der auf der

Straße lebenden Personen zu verdeutlichen.

Eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Förderung individueller Kompetenzen

der GirLi-Mitglieder und der Vermittlung mit anderen Institutionen zur

112

Durchsetzung individueller Belange der Kinder und Jugendlichen übernahmen in

diesem Zusammenhang aber auch in Yogyakarta tätige

Nichtregierungsorganisationen, deren Rolle ich im folgenden Punkt darstellen werde.

2.2.1.8 Die Rolle der Organisationen

Wie ich eingangs in Punkt 2.2.1.2 schon betont habe, spielten die indonesischen

Nichtregierungsorganisationen bereits während der Regierungszeit Suhartos eine

wichtige Rolle, indem sie wesentliche Funktionen im sozial- und bildungspolitischen

Bereich übernahmen, die zu dieser Zeit nicht institutionell durch die Regierung

verankert waren. Ebenfalls waren sie für den Sturz des Militärregimes im Jahre 1998

mitverantwortlich28.

Im Zuge meiner teilnehmenden Beobachtung in der Lebenswelt der auf der Straße

lebenden Kinder und Jugendlichen bekam ich Kontakt zu einigen in Yogyakarta

ansässigen Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Belange der

„Straßenkinder“ einsetzten. Durch meine Mitwirkung in verschiedenen Komitees

und Projekten bekam ich einen Einblick in ihren institutionellen Aufbau und ihre

Arbeit. Welche Rolle diese Organisationen im Bereich der Arbeit mit den

obdachlosen Kindern und Jugendlichen spielen, möchte ich im Folgenden

beispielhaft anhand der Organisation HUMANA versuchen darzustellen:

Die Ursprünge der Nichtregierungsorganisation HUMANA liegen Anfang des

Jahres 1982, als sich ein Zusammenschluss von Student/innen bildete, die daran

interessiert waren, die Situation der auf der Straße lebenden Kinder kennen zu lernen

und die Bevölkerung für diese Problematik zu sensibilisieren. Zunächst suchten sie

die Kinder und Jugendlichen in regelmäßigen Abständen an ihren Aufenthaltsorten

auf. Einer dieser Studenten entschloss sich, sein ursprüngliches Lebensumfeld

aufzugeben und über einige Jahre gemeinsam mit den Kindern auf der Straße zu

leben, um sich so ein umfassenderes Bild von deren Lebenswelt machen zu können.

Gemeinsam mit den Kindern entwickelte er die Idee, eine Unterkunft am Rande des

Flusses (im Indonesischen: pinggir kali, vgl. 2.2.1.5) zu errichten. Durch die

gemeinsame Errichtung dieses Hauses verstärkte sich der Zusammenhalt der Kinder

und Jugendlichen untereinander wesentlich, so dass sie beschlossen, sich selbst zu

organisieren. So entstand zunächst der Zusammenschluss keluarga besar GirLi (vgl.

2.2.1.5).

28 Vgl. http://home.snafu.de/watchin/Dornige_Weg/kristallisierungskeime.htm

113

Erst im Jahre 1990 bildete sich aus diesen ursprünglichen Anfängen heraus offiziell

die Nichtregierungsorganisation HUMANA. Bis 1993 gelang es ihnen, drei

verschiedene Abteilungen zu errichten, durch die jeweils unterschiedliche

Arbeitsschwerpunkte- bzw. –gebiete abgedeckt wurden bzw. werden.

Eine dieser Abteilungen konzentriert sich auf den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit,

in dem es im Wesentlichen darum geht, die indonesische Bevölkerung für die

Situation der auf der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen zu sensibilisieren und

darüber hinaus die Kooperation des Zusammenschlusses GirLi mit weiteren sozialen

Netzwerken zu fördern und zu stärken. Eine weitere Abteilung befasst sich mit der

Verbesserung von Bildungsmöglichkeiten für auf der Straße lebende Kinder. Ziel der

Organisation ist es hierbei nicht, die Kinder in bestehende formale

Bildungseinrichtungen zu integrieren, sondern vielmehr, alternative und

lebensweltorientierte Bildungsmöglichkeiten zu entwickeln. So existierte über

mehrere Jahre hinweg das Straßenmagazin JeJal („jeritan jalanan“, im Deutschen:

Schrei der Straße), das mit Hilfe von HUMANA gemeinsam mit den Kindern

entwickelt und monatlich herausgebracht wurde. Dieses Straßenmagazin beinhaltete

von den Kindern eigenständig verfasste Artikel, Gedichte und angefertigte Bilder

und Zeichnungen. Die jeweiligen Ausgaben wurden im Anschluss von den Kindern

selbst in Bussen und auf den Straßen verkauft.

Ebenfalls wurde in den 90er Jahren eine universitas jalanan (im Deutschen:

Straßenuniversität) durch HUMANA ins Leben gerufen, die sich auch an auf der

Straße lebende Kinder anderer Städte Indonesiens richtete. Hier hatten die

teilnehmenden Kinder fünf mal wöchentlich die Möglichkeit, grundlegende Dinge

wie Schreiben, Lesen und Rechnen zu erlernen. Darüber hinaus bestand je nach

Interessen und Fähigkeiten der Kinder auch das Angebot, sich künstlerische

Fertigkeiten wie beispielsweise das Batiken, Musizieren, Dichten oder Zeichnen

anzueignen, bzw. bestehende Fähigkeiten zu vertiefen oder auszubauen. Beide

Programme wurden aufgrund mangelnder finanzieller Mittel mittlerweile eingestellt.

Die dritte Abteilung HUMANAs beschäftigt sich in erster Linie mit der

regelmäßigen Erfassung und Dokumentation der aktuellen Lebenssituation der auf

der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen, um darauf aufbauend neue

lebensweltorientierte Methoden und Konzepte zu entwickeln.

Während der letzten drei Monate meines Aufenthaltes in Yogyakarta wurde den

Kindern und Jugendlichen durch HUMANA eine Unterkunft gestellt, die sich in

114

einem Stadtviertel in der Nähe der Straßenkreuzung, an der sich die Kinder

weitgehend aufhielten, befand. Dieses Haus wurde weitestgehend durch die Kinder

selbstverwaltet, wurde aber auch regelmäßig von einem Mitarbeiter der Organisation,

der mit seinem Namen für die Kinder bürgte und der selber lange Zeit auf der Straße

gelebt hatte, aufgesucht. In erster Linie sollte es den Kindern die Möglichkeit

gewähren, sich vor Übergriffen auf der Straße schützen zu können. Die Kinder und

Jugendlichen nutzten die Unterkunft im Wesentlichen, um dort zu übernachten, ihre

Wäsche zu waschen und zu duschen. Darüber hinaus verlagerten die sich in der

Unterkunft aufhaltenden GirLi-Mitglieder aber auch ihre ursprünglich auf der Straße

stattfindenden Musikproben vermehrt dorthin. Ebenfalls wurde in dieser Unterkunft

mit Hilfe von HUMANA zusammen mit einigen Kindern eine „Straßenbibliothek“

eingerichtet, die von den Kindern selbstverwaltet wurde und bei den auf der Straße

lebenden Personen großen Anklang fand und häufig genutzt wurde. Hier hatten sie

die Möglichkeit, sich jederzeit in der Unterkunft aufbewahrte Bücher auszuleihen

und diese mit auf die Straße zu nehmen.

Von dem eben erwähnten HUMANA-Mitarbeiter ausgehend fanden einmal

wöchentlich Kindersitzungen in der Unterkunft statt, an denen auch ich auf

Einladung der Kinder hin regelmäßig teilnahm. Zu Beginn einer solchen Sitzung

erstellten die Kinder gemeinsam eine Tagesordnung, auf der jeder Einzelne die ihm

wichtigen Diskussionsthemen anbringen konnte, die während ihrer Zusammenkunft

bearbeitet werden sollten. Dies konnten beispielsweise aktuelle Konflikte im

Zusammenleben, akute Probleme bzw. Gefahren im Straßenalltag oder Ideen und

Planungen der Kinder für gemeinsame Projekte oder Aktivitäten sein. Bei diesen

Sitzungen hielten sowohl ich als auch der Mitarbeiter von HUMANA sich

weitgehend mit eigenen Vorschlägen und Ideen zurück, um den Kindern die

Möglichkeit zu geben, selbst über den Verlauf und die Ausgestaltung der Sitzung zu

entscheiden. Wir brachten uns lediglich aktiv mit ein, wenn von Seiten der Kinder

Fragen an uns gerichtet wurden oder sie unsere Hilfestellung benötigten. Einige der

aus den Sitzungen hervorgehenden Ideen der Kinder möchte ich zur

Veranschaulichung kurz darstellen:

So entwickelten sie beispielsweise die Idee, eine „Kinderkasse“ einzurichten, in die

alle Sitzungsteilnehmer täglich einen gemeinsam festgelegten Betrag einzahlten.

Verwaltet wurde das ersparte Geld auf Bitten der Kinder bis zum Ende eines jeden

Monats durch den HUMANA-Mitarbeiter. In den darauffolgenden Sitzungen

115

entwickelten die Kinder eigene Ideen, für welchen Zweck sie dieses Geld

verwenden wollten. So planten die Kinder beispielsweise, als Gruppe mit Fahrrädern

in die etwa 400 Kilometer entfernte Hauptstadt Jakarta zu fahren, kauften sich neue

Instrumente und organisierten erneut ein kleines Festival, das nach meiner Abreise

im Mai 2004 stattfand.

Ebenfalls wurden aber auch aktuelle Probleme aus dem Lebensalltag der Kinder

behandelt, die sowohl sie als auch der HUMANA - Mitarbeiter während der

Sitzungen einbrachten. So überlegten sie sich beispielweise, wie sie als Gruppe sich

bei Gefahrensituationen an ihren Aufenthaltsorten verhalten und besser schützen

könnten, an welche Personengruppen sie sich in Notsituationen wenden und Hilfe

erwarten könnten. Hierbei stützten sie sich im Wesentlichen auf ihre individuellen

Erfahrungen, die sie untereinander austauschten.

Die Eingliederung der Kinder und Jugendlichen in den kampung gestaltete sich

aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas, mit dem sie behaftet sind, zunächst nicht

unproblematisch. So löste die Nachricht, dass HUMANA in ihrem Stadtviertel ein

Haus für die GirLi-Mitglieder anmieten wollte, bei den Anwohnern anfangs große

Empörung und Angst aus. In diesem Fall fungierten die Mitarbeiter der Organisation

als Vermittler zwischen den Kindern und Anwohnern. Es wurden gemeinsame

Treffen und Aktivitäten organisiert, an denen beide Parteien die Möglichkeit hatten,

einander besser kennen und die jeweils unterschiedlichen Lebenssituationen

verstehen zu lernen, um so Vorurteile abbauen zu können. Auch bestand bei diesen

Treffen die Chance, bestehende Konflikte zwischen den Kindern und Anwohnern zu

diskutieren. Hier nahmen die Mitarbeiter eine parteiische Haltung den Kindern

gegenüber ein. Im Verlauf meiner Beobachtungen gelang es, eine erstaunlich große

gegenseitige Akzeptanz der Anwohner im Umgang mit den Kindern aufzubauen. So

wurden die GirLi-Mitglieder vermehrt in Nachbarschaftsaktivitäten miteinbezogen,

und auch sie luden die Kinder der Bewohner zu sich auf die Straße ein, was von

deren Familie nicht unterbunden wurde, um ihnen einen Einblick in ihren

eigentlichen Lebensraum zu verschaffen. Ein meines Erachtens deutliches Zeichen

für den gelungenen Abbau von Vorurteilen unter den Anwohnern war, dass nach

dem Einbruch, der von einem der „Straßenkinder“ in einem Haus des Stadtviertels

verübt wurde, dies als Einzelfall bewertet wurde, und keine Abwertung der gesamten

Gruppe nach sich zog. Viermehr verhandelten Anwohner und Girli-Mitglieder

116

gemeinsam über mögliche Sanktionen, die die betreffende Person als Reaktion auf

den Vorfall erfahren sollte.

Über die bisher geschilderten Aktivitäten der Organisation HUMANA hinaus

gründete sich im November 2003 das Komitee SEACA, das sich aus

Mitarbeiter/innen von etwa zehn Nichtregierungsorganisationen und auf der Straße

lebenden Jugendlichen und Erwachsener zusammensetzte. Die Arbeit dieses

Komitees, in das auch ich mich während meines Aufenthaltes in Yogyakarta etwa

einmal wöchentlich mit einbrachte, bestand darin, einen neuen Gesetzesentwurf zu

entwickeln, um so durch Verhandlungen mit der Kommunalregierung Yogyakartas

eine Gesetzesänderung bezüglich der Regelung einer rechtmäßigen und geachteten

Identität für auf der Straße lebende Personen durchsetzen zu können. In diesem

entwickelten Gesetzesentwurf wurde gefordert, dass eine Registrierung der in

Yogyakarta lebenden Kinder und Jugendlichen bei der Stadtverwaltung auch ohne

vorhandene Geburtsurkunde möglich werden sollte, so dass sie den im Gesetz

verankerten Status eines Staatsbürgers erhalten konnten, um sich somit eine

Grundlage zu schaffen, auf der sie sowohl die damit verbundenen Rechte einfordern

und beanspruchen konnten als auch um eine Handhabe zu gewinnen, um gegen die

Verletzungen ihrer Menschenrechte vorgehen zu können. Bis zum Zeitpunkt meiner

Abreise im Februar 2004 dauerten die Verhandlungen mit der Kommunalregierung

an, ohne dass bislang eine klare Entscheidung gefällt wurde.

Wie anhand dieser Beispiele aufgezeigt werden sollte, nehmen die

Nichtregierungsorganisationen im Bezug auf die Situation der auf der Straße

lebenden Personen vielfältige Funktionen ein, um Bewusstseins- und

Veränderungsprozesse in Gang zu bringen oder zu unterstützen. Dabei wurde, soweit

ich in meinen Beobachtungen erkennen konnte, im Wesentlichen versucht,

Alternativen mit den Kindern und nicht für zu diese entwickeln. Im Mittelpunkt

stand hierbei nicht die Anpassung der Kinder und Jugendlichen an das bestehende

Gesellschaftssystem sondern vielmehr die Aufgabe, Partizipationsmöglichkeiten zu

schaffen und auszubauen, Kompetenzen und ein Bewusstsein über eigene Rechte zu

stärken, was den Kindern und Jugendlichen ermöglichen sollte, ihre Lebenswelt

mitzugestalten und zu verändern.

Im Folgenden Teil der Arbeit, in dem die Reflexion meiner eigenen Person als

teilnehmende Beobachterin in Beziehung zu den Kindern, Jugendlichen und

Erwachsenen in deren Lebenswelt „Straße“ im Mittelpunkt stehen wird, werde ich

117

aber auch die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen, in die ich während meiner

Beobachtungen einen Einblick bekam, kritisch reflektieren, um darauf aufbauend die

von mir erarbeiteten Kriterien bezüglich eines pädagogischen Handlungskonzeptes

für die Arbeit mit den in Yogyakarta auf der Straße lebenden Kindern und

Jugendlichen, die ich in Anlehnung an bestehende Konzepte entwickelte,

darzustellen.

2.2.2 Reflexion

2.2.2.1 Die Erfahrung von Fremdheit

Als teilnehmende Beobachterin im Lebensraum „Straße“ in Yogyakarta war ich in

vielerlei Hinsicht mit der Erfahrung von Fremdheit konfrontiert: zum Einen kam ich

als Europäerin in eine mir zunächst relativ fremde Kultur, deren Normen und Werte

mir bis zu diesem Zeitpunkt zu einem großen Teil unbekannt waren. Darüber hinaus

kam ich in meinem Kontakt zu den auf der Straße lebenden Kindern, Jugendlichen

und Erwachsenen wiederum mit erneut unterschiedlichen Lebensweisen,

Umgangsformen, und Regeln in Berührung, die ich anfangs aufgrund meines

Sozialisationshintergrundes und angesichts meines Unwissens über deren Lebenswelt

nicht verstand. Wie sich mein Erleben von Fremdheit in diesem Kontext äußerte und

welche Schwierigkeiten und Anforderungen sich daraus an mich als „Fremde“

ergaben, möchte ich in diesem Punkt näher erläutern. Dabei werde ich mich bei

meinen Darstellungen weitestgehend auf die Beziehung zwischen mir und den auf

der Straße lebenden Personen beschränken.

Bereits während meiner ersten Begegnung mit den Mitgliedern des

Zusammenschlusses GirLi wurde mir mein „Anderssein“ und das Gefühl von

„Fremdheit“ in vielerlei Hinsicht bewusst. Zunächst war mir diese Personengruppe

und deren Leben gänzlich unbekannt, und auch sie wussten nichts über mich und nur

wenig über meine Herkunft. Die erste Schwierigkeit stellte in dieser Situation die

anfängliche Sprachbarriere dar, die es zu überwinden galt. Abgesehen davon, dass

bereits die Bahasa Indonesia eine Fremdsprache für mich ist, waren mir darüber

hinaus viele der von den Kindern gebrauchten Wörter, Bezeichnungen und

Redewendungen in meinen alltäglichen Verständigungen in Indonesien noch nie

begegnet, so dass dies oftmals im sprachlichen Bereich zu Missverständnissen führte.

Ich entschloss mich fortan, mir ein Wörterbuch anzulegen, wodurch ich mir bei

jedem Besuch an den Aufenthaltsorten der Kinder und Jugendlichen die mir neuen

118

Begriffe notieren und einprägen konnte. Auch die Kinder fragten mich häufig nach

Übersetzungen der von ihnen verwendeten Bezeichnungen und Redewendungen ins

Deutsche und Englische, so dass im Verlauf meines Aufenthaltes daraus ein

wechselseitiger Austausch entstand.

Aber auch in der Begegnung mit anderen Personengruppen, insbesondere bei meiner

Teilnahme an dem von mir in 2.2.1.8 erwähnten Komitee verschiedener

Nichtregierungsorganisationen, in dem ein Gesetzesentwurf erarbeitet wurde, stellte

die sprachliche Verständigung für mich zunächst eine große Schwierigkeit dar, da

mir viele juristische Fachbegriffe bislang nicht bekannt waren. So gelang es mir

anfangs nur durch starke Konzentration und häufiges Nachfragen, Diskussionen zu

folgen. Auch musste ich meine Angst, bei meiner aktiven Teilnahme an Gesprächen

Ausdrucksfehler zu machen, überwinden.

Über die sprachliche Barriere hinaus äußerte sich das Empfinden von Fremdheit als

teilnehmende Beobachterin auch in der täglichen Interaktion im Lebensraum

„Straße“ durch mein anfängliches „Nichtverstehen“ von

Bedeutungszusammenhängen, Umgangsformen, Normen und Werten, die mir so aus

meiner Lebenswelt nicht bekannt waren bzw. die dort so nicht existieren .

Die sich aus meinem anfänglichen „Nichtverstehen“ ergebenden Missverständnisse

und Regelverletzungen meinerseits möchte ich anhand eines Beispiels aus meinem

Forschungstagebuch veranschaulichen:

4. Oktober 2003

„ Nach meinem ersten Besuch bei den GirLi-Mitgliedern an der Kreuzung bin ich

heute zum ersten Mal auf der Jalan Malioboro gewesen und lernte etwa zehn weitere

dort lebende Personen kennen. Die meisten von ihnen waren Jugendliche und

Erwachsene. Begleitet wurde ich von den Kindern, die ich gestern an der Kreuzung

kennen gelernt hatte. Bei meiner Ankunft saßen alle gemeinsam am Straßenrand in

einer Runde beisammen, aßen und tranken. Als sie meine Anwesenheit bemerkten,

reagierten sie zunächst recht skeptisch, gleichzeitig aber auch neugierig. Ich wurde

gefragt, wo ich herkäme, was ich hier wolle und ob ich von einer

Nichtregierungsorganisation beauftragt sei, zu ihnen zu kommen. Ich antwortete

ihnen, dass ich allein hier sei, um ihre Lebenssituation auf der Straße kennen zu

lernen.

Daraufhin forderten sie mich auf, mit ihnen zu essen und zu trinken. Anfangs lehnte

ich höflich ab, da ich ihnen nichts von ihrem meiner Ansicht nach knapp bemessenen

Essen nehmen wollte und ich bisher nie Essensreste der Garküchen direkt von der

119

Straße gegessen hatte. Im übrigen hatte ich nirgendwo die Möglichkeit, mir meine

Hände zu waschen. Als sie mich wiederholt eindringlicher dazu aufforderten,

wenigstens ein bisschen mit ihnen zu essen, willigte ich schließlich ein. Sie gaben mir

eine saubere Plastiktüte, die ich mir als Schutz über die Hand stülpen sollte, mit der

ich dann aß. Auch einige von ihnen benutzten Plastiktüten. Also teilte ich mir die

Essensportion mit weiteren zehn Personen. Ganz ähnlich ging es mir, als mir etwas

von ihrem Getränk angeboten wurde. Es war in einer Plastiktüte verpackt und sie

sagten mir, es hieße Lapen und sei ein alkoholisches Mischgetränk. Davon zu trinken

lehnte ich trotz unzähliger Aufforderungen bis zum Ende des Abends ab, da ich nicht

wusste, was es war und Angst vor den Auswirkungen hatte.“

An diesem Beispiel möchte ich mehrere Aspekte im Hinblick auf meine Erfahrung

von Fremdheit versuchen zu verdeutlichen:

Zuerst einmal war die von mir geschilderte Situation für mich mit Angst und Skepsis

verbunden. So bekam ich von einer mir bis dahin fremden Personengruppe, zu der

ich bislang keine Beziehung aufgebaut hatte und die in der von mir beschriebenen

Situation noch skeptisch auf meine Anwesenheit reagierte, Essen angeboten, was für

mich bereits ungewöhnlich und befremdlich war. Eher hätte ich ein abwehrendes und

abgrenzendes Verhalten mir als Fremdem gegenüber erwartet, da ich zunächst die

Rolle eines Eindringlings in ihre Lebenswelt einnahm. Darüber hinaus verwunderte

mich, dass es sich nicht nur um ein einmaliges Angebot handelte, sondern um

eindringliche Aufforderungen, aus denen ich schlussfolgerte, dass von mir erwartet

wurde, mit ihnen gemeinsam zu essen. Hierbei geriet ich aus meinem Vorverständnis

über die materielle Armut dieser Personen zunächst in den Konflikt, ihnen einerseits

nichts von ihrem Essen nehmen zu wollen, andererseits aber auch nicht unhöflich

sein zu wollen. Ebenfalls löste die Art und Weise des Essens an sich zu dieser Zeit

ein befremdliches Gefühl bei mir aus. Zum Einen hatte ich mir nie zuvor gemeinsam

mit mir fremden Personen eine Portion Essen geteilt, zum Anderen war es darüber

hinaus auch das erste Mal für mich, dass ich dazu eine Plastiktüte benutzte. Wie ich

in späteren Begegnungen feststellte, war diese Begebenheit über die Höflichkeit

hinaus, die die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mir mit ihrem Angebot

erwiesen, auch eine Testsituation, die mitunter ausschlaggebend war für die spätere

Akzeptanz meiner Person durch die Gruppe. So hatte ich mich, indem ich ihr

Angebot zunächst ablehnte, was mir aufgrund meines Sozialisationshintergrundes

richtig und höflich erschien, unwissentlich in ihren Augen höchst respektlos und

120

unhöflich verhalten und galt zunächst als orang sombong (im Deutschen: arrogante

Person), da sie aus meinem ablehnenden Verhalten schlossen, das mir angebotene

Essen sei mir nicht gut genug.

Ebenso befremdlich wirkte auf mich in vielfacher Hinsicht zunächst das

Konfliktverhalten der Kinder und Jugendlichen, da ich anfangs gänzlich unfähig war,

sich anbahnende Auseinandersetzungen und Eskalationen im Vorfeld erspüren bzw.

wahrnehmen zu können, da es für mich keine erkennbaren Anzeichen gab, die darauf

hinzudeuten schienen. So kamen gewalttätige Auseinandersetzungen aus meiner

Perspektive betrachtet anfangs völlig überraschend und unerwartet, ohne, dass es

eine für mich wahrnehmbare Ankündigung dafür gegeben hätte. In den seltensten

Fällen ging ein Streit mit einer lauten verbalen Auseinandersetzung einher, die ich

als Anzeichen für einen Konflikt hätte interpretieren können. Für die auf der Straße

lebenden Personen hingegen war meist bereits im Vorfeld eine mögliche

bevorstehende Eskalation spürbar. Ebenso wenig war es mir zunächst möglich zu

erkennen, wenn ich selbst aufgrund unerfüllter Erwartungen oder unbewusster

Regelverletzungen ein Problem ausgelöst hatte, da dies in den meisten Fällen nicht

explizit geäußert wurde, sondern mir vielmehr auf nonverbalen Ebenen zu verstehen

gegeben wurde, die ich zu Anfang kaum wahrnahm. Häufig war ich daher

insbesondere anfangs darauf angewiesen, mich in der mir noch fremden Lebenswelt

in die Position des Lerners zu begeben, indem ich mir von den GirLi-Mitgliedern

bestehende Regeln der alltäglichen Verständigung miteinander erklären ließ und ich

auf bevorstehende Gefahrensituationen aufmerksam gemacht wurde, da ich diese in

den ersten Wochen meiner Beobachtungen selbst nur sehr schwer einschätzen

konnte. Des weiteren schien es mir anfangs unmöglich, bestehende Hierarchien,

Sympathien und Antipathien innerhalb der Gruppe wahrzunehmen, da die mir

bislang vertrauten Interpretationsmuster in diesem Kontext keine Grundlage mehr

darstellten, individuelle Beziehungsdefinitionen und –strukturen zu erkennen. Diese

Schwierigkeit führe ich mitunter darauf zurück, dass ich in meiner Lebenswelt

weitestgehend mit offensiveren und somit für mich besser ersichtlichen und

interpretierbaren affektiven Emotionsäußerungen konfrontiert worden bin, die für

mich eine Orientierung darstellten und durch die mir die individuelle Beschaffenheit

zwischenmenschlicher Beziehungen besser erfassbar wurden. Diese Offensivität auf

der Beziehungsebene und das öffentliche Austragen von Konflikten ist hingegen im

indonesischen Gesellschaftssystem und auch in dem von mir beobachteten

121

Lebensraum „Straße“, soweit ich in meinen Beobachtungen feststellen konnte, eher

unüblich (vgl. 2.2.1.3).

Den eher konfliktvermeidenden Umgang der auf der Straße lebenden Personen

untereinander, relativ unabhängig von dem Gesellschaftssystem betrachtet, in dem

sie leben, führe ich darüber hinaus aber auf die Notwendigkeit zurück, als

Individuum in einer höchst heterogenen Gruppe hinsichtlich des Alters, der

ethnischen Zugehörigkeit und des biographischen Hintergrundes in ein und dem

selben Lebensraum bestehen zu können bzw. zu müssen.

Ein weiteres mir zunächst unvertrautes Element im lebensweltlichen Kontext der

Kinder und Jugendlichen war deren Bezug zu materiellem Besitz. Wie ich bereits in

meiner Darstellung der Strukturen des sozialen Netzwerkes angesprochen habe,

schien meinen Beobachtungen zufolge jegliche Art von Besitz der Gemeinschaft zu

gehören. Zwar wurde in diesem Zusammenhang von mir nicht den gesamten

Zeitraum meiner Beobachtungen überdauernd die gleiche Bereitschaft, mein

Eigentum zu tauschen, zu verschenken oder zu teilen erwartet. Dennoch galt sie

mitunter, wie bereits in Punkt 2.2.1.7 beschrieben, als eine Voraussetzung für die

Akzeptanz einer neuen Person in der Gruppe. Meine persönliche Tauschbereitschaft

machte ich im Verlauf meiner Beobachtungen stark von situationsspezifischen

Kontexten abhängig. Zu meiner anfänglichen Überraschung wurde jedoch materieller

Besitz von den Kindern und Jugendlichen oftmals auch lediglich verschenkt, ohne

dass sie einen Gegenwert dafür erwarteten. Auch hier geriet ich in den Konflikt,

materielle Güter der Kinder aus meinem anfänglich sehr begrenzten Verständnis

ihrer Armut heraus zunächst nicht annehmen zu wollen, da ich vielmehr den

materiellen Verlust des Kindes fokussierte als die Möglichkeit ins Auge zu fassen,

dass das Verschenken oder Tauschen materiellen Besitzes in diesem Kontext von

gruppendynamischer und ritueller Bedeutung sein könnte (vgl. dazu: Hadar 1999,

S.168).

Ein mir darüber hinaus in höchstem Grade befremdliches Ereignis, mit dem ich

während meines Aufenthaltes konfrontiert wurde und das ich im Folgenden anhand

eines Tagebuchauszuges darstellen und erläutern möchte, war der Umgang der

Kinder und Jugendlichen mit dem Tod:

122

15. Dezember 2003

„Gestern Nachmittag ist Agus29 gestorben. Er hatte in einem Rohbau in der Nähe der

Einkaufsmeile geschlafen und war nicht mehr aufgewacht. Seine Freunde fanden ihn

tot auf und gaben sofort allen anderen Kindern Bescheid. Ich war zu diesem Zeitpunkt

auf der Jalan Malioboro, wo ich die Nachricht von einem der Kinder erhielt.

Gemeinsam mit den anderen Kindern, die mich aufforderten mitzukommen, ging ich

zu dem Ort, an dem er sich befinden sollte. Ich hatte große Angst davor, den toten

Agus zu sehen. Ich schätze, er war nicht älter als 17 Jahre. Bei unserer Ankunft waren

bereits unzählige Kinder und Jugendliche dort versammelt, die sich nach und nach in

diesem Rohbau von ihm verabschiedeten. Auch Mitarbeiter von HUMANA waren

gekommen Ich ging trotz meiner Angst mit den Kindern hinein. Agus lag ganz

friedlich auf dem Boden. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen

Toten gesehen hatte, und noch dazu ein Kind, das ich kannte! Die Atmosphäre

empfand ich als so bedrückend, dass ich froh war, den Raum schnell wieder verlassen

zu können. Als sich alle von Agus verabschiedet hatten und er von einem

Leichenwagen weggebracht wurde, gingen wir gemeinsam auf die Jalan Malioboro

zurück. Dort saßen nun bis zum späten Abend alle beisammen. Die Älteren überlegten

zuerst gemeinsam mit den HUMANA – Mitarbeitern, was nun am besten zu

unternehmen sei. Die Jüngeren saßen während dessen am Straßenrand, unterhielten

sich über Agus und spielten Gitarre. Als die Beratungen über das weitere Vorgehen

abgeschlossen waren, gesellten sich auch die Älteren dazu und wir aßen und tranken

zusammen. Ich fühlte mich ziemlich überfordert mit der Situation, da ich das Gefühl

hatte, der Tod ihres Freundes sei für die Kinder fast eine normale Alltagserscheinung.“

Das Miterleben dieser Begebenheit war für mich in mehrerlei Hinsicht mit dem

Erleben von Fremdheit verbunden: Zunächst war es, wie in dem Tagebuchauszug

bereits deutlich wird, das erste Mal für mich, dass ich so direkt mit dem Tod eines

mir bekannten Menschen konfrontiert wurde. Da ich nie zuvor eine tote Person

gesehen hatte, löste dieses Erlebnis Angst und Abwehr bei mir aus. Des weiteren war

mir der Umgang der Kinder und Jugendlichen mit dem Tod sehr befremdlich, da sie

gezwungen waren, ihn als einen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens zu

akzeptierten. Zwar schienen sie traurig über den Verlust eines Freundes zu sein,

empfanden den Tod an sich aber eher als ein „gewöhnliches“ Ereignis, das als eine

selbstverständliche Erscheinung zu ihrem Leben dazu gehörte. Dass dieser

akzeptierende Umgang für mich angstauslösend und befremdlich war, führe ich in

29 Die Namen der in meinen Tagebuchauszügen erwähnten Personen habe ich geändert.

123

erster Linie auf meinen eigenen kulturellen Kontext zurück, in dem der Tod

weitestgehend als eine negative, zu verdrängende Randerscheinung außerhalb des

alltäglichen Lebens tabuisiert wird. Zwar werden wir, insbesondere durch

Mediendarstellungen, tagtäglich mit der Allgegenwärtigkeit des Todes konfrontiert.

Im alltäglichen Leben hingegen verlagert sich die Sterbephase und der Tod an sich

zunehmend in Institutionen wie Krankenhäuser und Hospize. Das heißt, er nimmt in

unserem direkten Umfeld keinen wesentlichen Bestandteil ein und lässt uns somit

eine gewisse emotionale Distanz zur Unausweichlichkeit seines Eintretens aufbauen.

Durch diese Verlagerung verringert sich somit die allgegenwärtige Konfrontation mit

der Präsenz des Todes an sich in unserem persönlichen Alltagsleben.

In dem von mir beschriebenen Kontext stellte die Konfrontation mit dem Tod

hingegen ein zum Alltag der Kinder und Jugendlichen gehörendes Ereignis dar. Dies

ist sicherlich durch vielfältige Faktoren mitbedingt: zum Einen mitunter durch deren

mangelnden Zugang zu institutioneller medizinischer Versorgung, zum Anderen

aufgrund der Tatsache, dass sie in ihrem lebensweltlichen Kontext aufgrund von

(struktureller) Gewalt, Mangelernährung und Substanzenkonsum in einem erhöhten

Maße gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, die mitunter in ihrem direkten

Umfeld zu einem frühzeitigen Tod von Bezugspersonen geführt haben. Darüber

hinaus war ein Großteil der Kinder und Jugendlichen im Zuge von Vertreibung und

Bürgerkriegen, insbesondere aber auch während der Studentenrevolten im Jahre

1998, in ihrem Lebensraum mit dem gewaltsamen Tod von Angehörigen oder

Freunden konfrontiert.

Nur durch ein Einlassen auf die von mir beobachteten Lebenswelt gelang es mir

zunehmend, bestimmte Regeln im alltäglichen Umgang, Kontexte und Perspektiven

zu erfassen bzw. zu erlernen und zu verstehen. Erst so war es mir möglich, mich in

die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, zu denen ich in Beziehung stand,

hineinzuversetzen und deren situationsspezifischen Handlungsstrategien ansatzweise

zu verstehen, die für mich erst in ihrem lebensweltlichen Kontext und meinem

zunehmenden Verständnis darüber eine Bedeutung bekamen. In diesem Prozess

merkte ich immer stärker, dass die mir vertraute Ordnung brüchig wurde, da viele

Bestandteile in Form von Regeln, Umgangsformen, Werten und

Bedeutungszusammenhängen in diesem Kontext nicht mehr relevant waren.30

Gleichzeitig kam es, bedingt durch meinen kulturellen Hintergrund, trotz der von mir 30 Der Aspekt der Re-/De-/Konstruktion eigener Ordnungen wird im folgenden Punkt noch ausführlicher behandelt.

124

angestrebten Offenheit gegenüber dem mir bis dahin „Fremden“ aber auch immer

wieder zu Missverständnissen und Regelverletzungen meinerseits. Während es mir

hinsichtlich der Regeln, Normen und Werte, die die alltägliche Interaktion

mitbestimmten, zunehmend einfacher gelingen konnte, mich in diese Ordnung

einzufinden, sie anzunehmen und zu verstehen und mich gleichzeitig von gewissen

Vorverständnissen und eigenen Vorstellungen zu distanzieren, stieß ich jedoch in

meiner aktiven Teilnahme im Beobachtungsfeld auch immer wieder erneut an

Grenzen meines Verstehens, die mich die Begrenztheit der Offenheit meiner

Beobachterperspektiven und den Einfluss meines kulturellen Kontextes auf meine

Wahrnehmung der für mich anfangs befremdlichen Lebenswelt fortwährend bewusst

werden ließen. Diese Grenzen nahm ich am deutlichsten im Bezug auf

unterschiedliche Identitätsverständnisse der Kinder und Jugendlichen, zu denen ich

während meiner Beobachtungen in Beziehung stand, in Abgrenzung zu meinem

Eigenen wahr. So empfand ich, ohne an dieser Stelle homogenisierend und wertend

vorgehen zu wollen, meine zunehmende Einbindung in das soziale Netzwerk, die aus

dem intensiven Kontakt zu den GirLi-Mitgliedern erwuchs, teilweise als einengend,

hatte jedoch gleichzeitig Schwierigkeiten, mich davon abzugrenzen. Aus meinem

eigenen Identitätsverständnis, dass mitbedingt durch meinen Sozialisationskontext

sicherlich eher individualistisch geprägt ist (vgl. 1.3.1), war es mir nur bedingt

möglich, mich von meinem Bedürfnis nach Rückzug bzw. Abgrenzung von der

Gruppe und der Umsetzung eigener Belange zu distanzieren und mich stattdessen als

Bestandteil der Gemeinschaft zu definieren, ausschließlich die Belange der Gruppe

zu fokussieren und die mit einem Selbstverständnis als Teil des Netzwerkes

verbundenen Erwartungen zu erfüllen. Obgleich selten explizit Erwartungen bzw.

Ansprüche von Seiten der Gruppenmitglieder an mich gerichtet wurden, befand ich

mich dennoch, bedingt durch meinen täglichen und intensiven Kontakt zu ihnen und

durch meine Teilnahme an ihrem Lebensalltag, in einem Prozess der ständigen

wechselseitigen Neudefinierung meiner Beziehung zu dieser Lebenswelt und den

dort lebenden Personen. Somit veränderten sich gleichermaßen auch Erwartungen

und Ansprüche, denen ich versuchte, soweit es mir möglich war gerecht zu werden.

Große Schwierigkeiten hatte ich während meines Aufenthaltes in Indonesien, mit

dem mir anhaftenden Sonderstatus umzugehen, der sich bereits zwangsläufig aus

meinem andersartigen Aussehen konstituierte. So hatte ich das Gefühl, dass mir als

Europäerin in vielen Begegnungen mit Menschen in meinem Alltag in Indonesien

125

aufgrund meiner Herkunft mit Hochachtung und Bewunderung begegnet wurde, was

sich in vielen Situationen durch die ausschließliche Konzentration des Geschehens

auf meine Person äußerte. So bekam ich im Umgang anderer Personen mit mir

oftmals den Eindruck, man sehe mich bereits im Vorfeld als die „Besserwissende“

an, obgleich sich die Gespräche unter Umständen um Dinge handelten, in denen eher

ich die „Unwissende“ war. Auch wurde das, was den mit mir in Beziehung tretenden

Personen über mein Herkunftsland bekannt war, als fortschrittlich, modern und

erstrebenswert angesehen. Zum Einen führe ich diese Ansichten auf ein durch die

Medien verzerrt vermitteltes Bild „des Westens“ zurück, zum Anderen auf die von

den älteren Generationen überlieferte Erlebnisse aus der Kolonialzeit. In diesem

Kontext sind aber darüber hinaus sicherlich vielfältige Faktoren von Bedeutung. So

darf an dieser Stelle keinesfalls die Bewusstmachung nach wie vor vorhandener

Dominanz der Industriestaaten hinsichtlich wirtschaftlicher Interessen,

wissenschaftlicher Diskurse und der Produktion von Wissen vernachlässigt werden

(vgl. auch 1.3.4). Diese Faktoren sind meines Erachtens wesentlich im Hinblick auf

den unterschiedlichen Umgang mit „Fremdheit“ in Gesellschaftssystemen, was

gleichzeitig die Einordnung dieser Reaktionen in historische und globale Strukturen

erfordert. Während ich diesen Sonderstatus im Verlauf meiner Beobachtungen in der

Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen und auch im Bezug zu anderen

vertrauten Kontaktpersonen mit zunehmender Vertrautheit verlor, sah ich mich in

neuen Begegnungen außerhalb dieses sozialen Feldes fortwährend damit

konfrontiert. Zunächst reagierte ich abwehrend auf die Behandlung, die mir

entgegengebracht wurde, da sie mir höchst befremdlich erschien und ich der Ansicht

war, der mir verliehene Status entbehre jeglicher mir nachvollziehbaren Grundlage.

Erst durch die Einordnung in einen historischen und kulturellen Kontext verstand

ich, dass ich in diesen Begebenheiten unabhängig von meinem Verhalten wenig an

diesem Machtgefälle würde verändern können und lernte, es zunächst in diesen

spezifischen Begegnungen akzeptieren zu müssen, einhergehend mit dem

gleichzeitigen Versuch, es durch mein Verhalten zu relativieren.

Ebenso lernte ich aber in diesem Prozess, der für mich mit vielen Grenzerfahrungen

verbunden war, die Veränderlichkeit eben dieser eigenen Grenzen des Verstehens

und der begrenzten Gültigkeit der eigenen Ordnung kennen, da Elemente dieses mir

zunächst fremden Lebensraumes, die anfangs teilweise Angst oder Ablehnung bei

mir hervorriefen, mir zunehmend vertrauter wurden und ich sie in diesem Kontext als

126

einen Bestandteil meines „normalen“ Alltags ansah bzw. annahm. So gewann

beispielsweise das gemeinsame Essen und Trinken nach einiger Zeit für mich an

ganz neuer Bedeutung und ich erkannte, dass es über die reine Befriedigung der

Grundbedürfnisse hinaus mitunter auch dem kommunikativen Austausch der Kinder

und Jugendlichen untereinander diente, das Selbstverständnis der Individuen als Teil

der Gemeinschaft förderte und somit vielfältige Funktionen erfüllte.

Die Annahme der mir zunächst fremden Elemente war allerdings zunächst mit einer

intensiven Auseinandersetzung und kritischen Reflexion der mir bis dahin vertrauten

Vorstellungen, Normen und Werte verbunden, auf die ich mich im folgenden Punkt

konzentrieren möchte.

2.2.2.2 Re-/De-/Konstruktion eigener Vorstellungen, Normen und Werte

Wie ich im Bezug auf mein Erleben von Fremdheit bereits versucht habe

darzustellen, wurde mir im Verlauf meiner Beobachtungen mit der zunehmenden

Vertrautheit, die ich der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gegenüber

entwickelte, vermehrt die Begrenztheit der Gültigkeit eigener Vorstellungen,

Normen und Werte bewusst. So wurde ich in vielen Bereichen des Lebensalltags vor

die Anforderung gestellt, diese vor dem Hintergrund meiner eigenen Lebenswelt zu

betrachten und zu analysieren, sie kritisch zu hinterfragen. Oftmals wurden mir

gewisse Vorstellungen erst im Kontext meiner Begegnung mit dieser mir anfangs

fremden Lebenswelt und der Auseinandersetzung mit den dort lebenden Kindern und

Jugendlichen ersichtlich.

Zunächst einmal wurde mein kulturell geprägtes Verständnis von Kindheit als

Schonraum durch die Begegnung mit den auf der Straße lebenden Kindern

subvertiert, da ihnen weder von Seiten der Gesellschaft noch von familiärer Seite ein

ökonomischer und emotionaler Schutzraum zukam. Gleichzeitig stellte ich mir im

Verlauf meiner Beobachtungen aber auch die Frage, inwiefern es legitim sei, dieses

Kindheitsbild zu universalisieren, was in Abgrenzung zum Lebensraum „Straße“

gleichzeitig eine rein defizitäre Betrachtungsweise des lebensweltlichen Kontextes

der Kinder und Jugendlichen mit sich bringen würde. Zwar stand diesen Kindern in

ihrem Lebensraum, der Straße, nur begrenzt ein Schonraum zur Verfügung, wodurch

sie mitunter vielfältigeren Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt waren.

Gleichzeitig erkannte ich aber auch, dass sie diesen Problemen nicht hilflos und

passiv ausgesetzt waren, sondern unzählige Kompetenzen und Handlungsstrategien

127

entwickelt hatten, die sie dazu befähigten, mit ihrer Lebenssituation umzugehen, sie

im Rahmen ihrer Möglichkeiten individuell mit zu gestalten bzw. zu verändern und

sich vor Gefahren zu schützen. An dieser Stelle soll auch nochmals auf die

Strukturen und Funktionen des sozialen Netzwerkes der Kinder, die ich eingangs in

Punkt 2.2.1.7 dargestellt habe und die meines Erachtens in diesem Kontext eine

wesentliche Rolle spielen, hingewiesen werden. So entwickelte ich zunehmend

größere Achtung vor den Fähigkeiten und der Eigeninitiative der Kinder und

Jugendlichen, denen ich während meines Aufenthaltes regelmäßig begegnete. Damit

einhergehend wurde nicht nur mein bis dahin vorherrschendes Bild von Kindheit,

sondern auch mein Vorverständnis, das ich insbesondere von dieser Personengruppe

hatte, relativiert. Bei meinen anfänglichen Vorstellungen von auf der Straße lebenden

Kindern standen zunächst die in dieser Lebenswelt existierenden Missstände im

Vordergrund meiner Betrachtung, und damit verbunden wurde meine Wahrnehmung

anfangs geprägt bzw. beeinflusst durch mein Bild der Kinder als hilflose,

schutzbedürftige Opfer ihrer Situation. Im Prozess der Annährung an deren

Lebenswelt veränderte sich diese Vorstellung radikal, weil ich die Kinder als

Subjekte kennen lernte, die innerhalb ihres lebensweltlichen Kontextes dazu

gezwungen, aber auch in der Lage waren, die alleinige Verantwortung für die

Gestaltung und den Schutz ihres Lebens zu übernehmen. Somit veränderte sich

gleichzeitig meine im Vorfeld bestehende Vorstellung über die mögliche Position

eines Erwachsenen bzw. eines Pädagogen in diesem lebensweltlichen Kontext und in

Beziehung zu dem Kind. Während ich zunächst der Ansicht war, der Erwachsene

müsse als „Mehrwisser“ eine anleitende Rolle hinsichtlich der grundlegenden

Lebensbewältigung der Kinder einnehmen, kam ich mehr und mehr zu der Einsicht,

dass vielmehr die Kinder selbst aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis über ihren

Lebensraum und ihrer individuellen Kompetenzen in der Bewältigung ihres Alltags

in diesem Kontext als „Experten“ ernstgenommen und respektiert werden sollten,

wohingegen der zu ihnen in Beziehung stehende Pädagoge sich meines Erachtens

zunächst in die Position des Lernenden begeben sollte. Somit wurde für mich die

Notwendigkeit einer erwachsenen Person in der Funktion eines

Erziehungsberechtigten, der den Lebensraum der Kinder für diese regelt und

umgestaltet grundsätzlich fragwürdig.

In einen Konflikt geriet ich hier allerdings bezüglich des regelmäßigen

Drogenkonsums der Kinder, mit dem ich wiederum in meiner Begegnung mit ihnen

128

fortwährend konfrontiert wurde und dem ich zunächst ratlos und schockiert

gegenüberstand. Einerseits begriff ich mich als erwachsene teilnehmende

Beobachterin, insbesondere in Situationen, in denen ich den Kleber-Konsum der

Kinder beobachtete, in einer Position, in der ich verpflichtet war, zu handeln.

Andererseits war mir bewusst, dass weder ein Verbot noch eine Aufklärung über die

Gefahren des Konsums, die den Kindern aus eigener Erfahrung längst bekannt

waren, langfristig irgendetwas bewirken würden. Im Verlauf meiner Beobachtungen,

außerhalb der Situationen des eigentlichen Konsums, versuchte ich also vielmehr,

von den Kindern selbst zu erfahren, was sie insbesondere zu dem regelmäßigen

Gebrauch von Kleber veranlasste, welche Gefühle und Gedanken der Rauschzustand

bei ihnen hervorrief, um so mögliche Ursachenfaktoren bzw. ihre Motivation

ansatzweise verstehen zu können. Gleichzeitig fragte ich sie auch nach den von ihnen

wahrnehmbaren Begleiterscheinungen, die der regelmäßige Gebrauch dieser

Substanz mit sich brachte. Darüber hinaus brachte ich ebenso zum Ausdruck, was ihr

Drogenkonsum bei mir auslöste. So hatte ich das Gefühl, dass, ohne die eigentliche

Situation dadurch kurz- oder langfristig verändert zu haben, doch eine wechselseitige

Auseinandersetzung mit der Problematik stattfinden konnte.31

Meine Überraschung über die Fähigkeit der Kinder, innerhalb ihres Lebensraues eine

Vielfalt von Handlungsstrategien, Kompetenzen und Fertigkeiten zu entwickeln,

brachte mich allerdings zeitweise in die Gefahr, bestehende Missstände innerhalb

ihrer lebensweltlichen Kontexte bei meinen Beobachtungen zu vernachlässigen und

mich fast ausschließlich auf diese vorhandenen Potentiale zu konzentrieren. So

erforderte es eine fortwährende Auseinandersetzung und Reflexion meiner

Beobachterperspektive, um im Umgang mit meiner Überraschung eine Idealisierung

ihrer Lebenswelt zu vermeiden und einen weiten Blickwinkel der Beobachtung

beizubehalten.

Im Kontext meiner Begegnung mit den auf der Straße lebenden Kindern,

Jugendlichen und Erwachsenen veränderte sich ebenfalls mein bestehendes

Vorverständnis von Armut. So hatte für mich Armut bis dahin im Wesentlichen

einen Mangel an materiellen Gütern bedeutet, während ich immaterielle Faktoren

bzw. Dimensionen, die ich eingangs in Punkt 2.2.1.6 bereits ausführlicher dargestellt

habe, in meinem ursprünglichen Verständnis weitgehend vernachlässigt hatte. Soweit

ich aus meinen Beobachtungen erfahren konnte, spielte im lebensweltlichen Kontext 31 Die Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Problematik werden auch im Bezug auf Kriterien für pädagogische Handlungskonzepte noch eine Rolle spielen.

129

der Kinder und Jugendlichen zwar auch die Komponente der materiellen Armut eine

Rolle. Jedoch erschienen mir immaterielle Armutsdimensionen wie die

gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung, der Mangel an Zuwendung und

Schutz vor Gewalt und das Leben ohne einen gesellschaftlichen Status wesentlich

weitreichendere Konsequenzen für die Möglichkeiten der individuellen

Lebensgestaltung zu haben, da ihnen somit offiziell jeglicher Weg zur Entwicklung

längerfristiger Perspektiven, zur Integration in die Gesellschaft und der

Durchsetzung ihrer Rechte weitgehend verwehrt blieb.

Einen weiteren wichtigen Aspekt stellten für mich die Regeln, durch die der

kommunikative Austausch sowie das Konfliktverhalten der Kinder und Jugendlichen

geprägt wurde, dar (vgl. 2.2.1.7), da diese sich in einigen Elementen stark von den

mir bis dahin vertrauten Formen der zwischenmenschlichen Interaktion

unterschieden. Während meiner Ansicht nach in meinem lebensweltlichen Kontext

ein aktiver und konfrontativer Umgang mit Problemen in Form von expliziter

Äußerung eigener Ansichten oder Kritik als Element der Kommunikation

weitestgehend akzeptiert ist, galt der Gebrauch dieser Form der alltäglichen

zwischenmenschlichen Interaktion in dem Feld meiner Beobachtungen als

respektlos, regelverletzend und destruktiv. As heißt, dass ich also anfangs, ausgehend

von meinen Vorstellungen, in diesen Begegnungen versuchte, die Kinder darin zu

bestärken, gruppeninterne Hierarchien zu hinterfragen und sich bei Verletzungen

ihrer Rechte offensiv verbal zur Wehr zu setzen, im weiteren Verlauf meiner

Auseinandersetzung mit deren Lebenswelt aber verstand, dass dies vor ihrem

individuellen Sozialisationshintergrund und im Kontext ihrer gruppeninternen Rollen

für sie alles andere als erstrebenswert war. Zunächst unbewusst hatte ich in diesem

Zusammenhang den Fehler begangen, die mir vertrauten Werte und Regeln als

absoluten Maßstab anzusehen und war dabei unreflektiert davon ausgegangen, sie

seien unabhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Kontextbedingungen gültig.

Des weiteren hatte ich mir unbekannte, teilweise nonverbale Formen des Ausdrucks

in der alltäglichen Verständigung und deren Bedeutung, nicht wahrgenommen und

ging folglich fälschlicherweise davon aus, sie seinen nicht vorhanden. Darüber

hinaus schien den Kindern der Aspekt der Durchsetzung eigener individueller Rechte

innerhalb der Gruppe völlig unverständlich, da sie aufgrund ihrer Identitätsdefinition

als Bestandteil der Gruppe die Durchsetzung und den Schutz gemeinschaftlicher

Belange als viel wesentlicher erachteten als den Gewinn individueller Freiheit. Erst

130

durch eine Auseinandersetzung mit den mir bisher vertrauten Regeln der Interaktion,

deren Gültigkeit ich in diesem Prozess vorübergehend relativieren musste, und einer

zunehmenden Annährung und Wahrnehmung mir neuer Kommunikationsstrukturen

in der indonesischen Gesellschaft, insbesondere der dort auf der Straße lebenden

Kinder und Jugendlichen, konnte es mir gelingen, Dinge wahrzunehmen, die ich bis

dahin übersehen hatte. So erschloss sich für mich durch diese Re- und

Dekonstruktion der mir vertrauten Kommunikationsnormen ein besseres Verständnis

für die Bedeutungen individueller als auch gruppeninterner Umgangsformen der

Kinder und Jugendlichen untereinander sowie über deren Art und Weise der

Konfliktbewältigung. Daraus ergab sich für mich aber gleichzeitig die Anforderung,

meine alltäglichen Kommunikationsstrukturen in der Interaktion mit den Kindern

und Jugendlichen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern, um

sowohl Missverständnisse und Regelverletzungen zu vermeiden als auch, um meine

Akzeptanz innerhalb der Gruppe überhaupt aufrechterhalten zu können. Dieser

Anforderung gerecht zu werden, war für mich aufgrund der Andersartigkeit mir

vertrauter Strukturen und Bedeutungsmustern mit einigen Schwierigkeiten

verbunden. So löste konfliktvermeidendes Verhalten und ein zurückhaltender

Umgang hinsichtlich der Äußerung von Emotionen und Kritik bei mir in vielen

Begebenheiten zunächst Verwirrung aus, da mir, abgesehen von den mir vertrauten

Interaktionsmustern, keine Grundlage zur Verfügung stand, diese Verhaltensweisen

entsprechend zu interpretieren. Ebenfalls fiel es mir schwer, mich bei meiner aktiven

Teilnahme am kommunikativen Austausch der mir zunächst fremden Muster zu

bedienen, was allerdings für das Gelingen der Verständigung und für die Akzeptanz

meiner Anwesenheit durch die Gruppe zunächst unabdingbar war. So lernte ich erst

im Prozess des zunehmenden Verstehens der Bedeutungszusammenhänge, Normen

und Werte besser einzuschätzen, wann und wie es in meiner Rolle als teilnehmende

Beobachterin angebracht war, mich in Diskussionen und Auseinandersetzungen mit

einzubringen, ohne dabei individuelle oder gruppeninterne Maxime oder Gefühle zu

verletzen32.

Die größte Schwierigkeit stellte aber in diesem Kontext der unhinterfragte Respekt

und die Akzeptanz bestehender gruppeninterner Hierarchien und Machtgefüge für

mich dar. So war beispielsweise relativ klar definiert, wem gegenüber Kritik

geäußert werden durfte, wessen Aussagen öffentlich in Frage gestellt werden 32 Mit meiner Rolle als teilnehmende Beobachterin und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Anforderungen werde ich mich im folgenden Punkt kritisch auseinandersetzen.

131

konnten und wem diese Rechte zustanden. Auch hier geriet ich in den Konflikt,

angesichts meiner Position als Beobachterin in der Lebenswelt der Kinder und

Jugendlichen einerseits - zumindest augenscheinlich - diese Strukturen in der

alltäglichen Interaktion beachten zu müssen und anzuerkennen, da sie als Bestandteil

des Systems eine Ordnung darstellten. Andererseits gelang es mir nicht, mich mit

diesem Element zu identifizieren und es für mich zu akzeptieren.

Dieser Prozess der Re-, De- und Konstruktion eigener Vorstellungen erforderte, wie

ich hier versucht habe darzustellen, von meiner Seite aus eine permanente kritische

Auseinandersetzung mit meinem eigenen kulturellen Hintergrund und der Legitimität

der daraus erwachsenden Normen- und Wertesysteme, was in vielen Situationen mit

einem Gefühl der Angst, Abwehr und Überforderung einherging. Von Seiten der

Kinder und Jugendlichen wiederum erforderte die Akzeptanz meiner Person ein

hohes Maß an Geduld, Nachsicht und Toleranz gegenüber meinem anfänglichen

„Nichtverstehen“ ihrer Lebenswelt und dem oftmals daraus resultierenden, aus Sicht

der Kinder und Jugendlichen, unpassenden bzw. „abweichenden“ Verhalten.

Obwohl es nicht meine Absicht ist, zu polarisieren, ließen sich trotz dieser

dargestelllten und nicht zu verleugnenden Differenzen hinsichtlich der Normen,

Werte und individuellen Vorstellungen für mich in einiger Hinsicht auch

Gemeinsamkeiten entdecken, welche besonders bei meinem anfänglichen Zugang

zum Lebensraum der Kinder eine wesentliche Rolle spielten und auf die ich im

Folgenden noch näher eingehen werde.

2.2.2.3 Positionssuche und Beziehungswirklichkeiten – Das Dilemma von

Identifikation und Distanz

Obgleich sowohl mir als auch den Kindern und Jugendlichen zu jedem Zeitpunkt

bewusst war, dass ich mich als teilnehmende Beobachterin über einen begrenzten

Zeitraum in ihrer Lebenswelt aufhielt, war ich doch während dieser Zeit durch

meinen regelmäßigen Aufenthalt in ihrem Lebensraum ein Bestandteil ihres

alltäglichen Lebens. Im Verlauf meiner Beobachtungen veränderten sich, bedingt

durch den intensiven Kontakt zu den GirLi – Mitgliedern, in diesem Zeitraum auch

individuelle Beziehungsdefinitionen und –verständnisse, sowohl von meiner Seite als

auch von Seiten der einzelnen Gruppenmitglieder.

Zunächst sah ich mich, als Fremde in den Lebensraum der Kinder und Jugendlichen

eindringend, mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine Position innerhalb dieses

132

sozialen Feldes zu finden bzw. für mich zu definieren. Im Prozess der zunehmenden

Annährung an den Lebensraum, der sich damit einhergehend entwickelnden

Beziehungen und meines Zugewinns an Verständnis von Normen, Werten,

Beziehungsdefinitionen und Umgangsformen veränderten sich die von mir

eingenommenen Positionen schließlich häufig. Im Folgenden möchte ich daher

versuchen, die Veränderungen bezüglich meiner Beziehung zu den auf der Straße

lebenden Personen und der damit einhergehenden Positionssuche aus meiner

Perspektive als Selbst- und Fremdbeobachterin aufzuzeigen und zu reflektieren.

Im wesentlichen war dieser Prozess meiner teilnehmenden Beobachtung in seinen

unterschiedlichen Phasen für mich gekennzeichnet durch das von Lamnek treffend

formulierte Dilemma von Distanz und Identifikation (vgl. 2.1). Wie ich eingangs in

Punkt 2.2.2.1 bereits versucht habe zu verdeutlichen, kam ich in der Phase meines

Zugangs zum Lebensraum „Straße“ als Eindringling in die Lebenswelt der Kinder

und Jugendlichen mit einer mir völlig neuen Situation in Berührung, die für mich

anfangs in vieler Hinsicht befremdlich war. Doch nicht nur ich, sondern sicherlich

auch die auf der Straße lebenden Personen, mit denen ich in Kontakt trat, waren

aufgrund meiner Anwesenheit mit dem Phänomen „Fremdheit“ konfrontiert. In

dieser Phase des Herantastens an mein Beobachtungsfeld hatte ich das Gefühl, einen

Sonderstatus in der Gruppe einzunehmen, da sich zunächst bei meinen Besuchen an

der Straßenkreuzung und auf der Jalan Malioboro jegliche Aufmerksamkeit auf

mich konzentrierte. Diese Aufmerksamkeit mir gegenüber wurde mir jedoch auf

unterschiedliche Art und Weise zuteil. So reagierten einige Personen, insbesondere

die jüngeren Mitglieder, eher neugierig auf meine Anwesenheit, während mir von

Seiten anderer Personen große Skepsis entgegengebracht wurde. In dieser Phase

versuchte ich zunächst, mich akzeptierend, zurückhaltend und abwartend zu

verhalten, ihren Fragen an mich, welche sich größtenteils darauf bezogen, welche

Absichten ich damit verfolge, ihren Lebensraum zu erforschen, aber gleichzeitig

offen und ehrlich zu begegnen. Stellte doch dieser Zugang gleichzeitig eine

Testphase für mich dar, von deren Verlauf entscheidend abhängen sollte, welche

Rolle ich innerhalb der Gruppe einnehmen könnte und inwieweit meine Anwesenheit

akzeptiert würde. Als wesentliche Voraussetzung für das Gelingen dieses Prozesses

erachtete ich eine akzeptierende und anerkennende Haltung meinerseits den Kindern

und Jugendlichen gegenüber und ein Vermeiden vorschneller Kritik, da

Bestrebungen, aktiv verändernd in ihren Lebensraum einzugreifen, von Seiten der

133

GirLi-Mitglieder explizit verurteilt und abgelehnt wurden. Im Übrigen hätte ich dies

in meiner Position allein aufgrund meiner anfänglichen Unkenntnis als Anmaßung

und Unmöglichkeit angesehen. So befand ich mich in dieser Anfangsphase zunächst

in der Rolle der Lernerin, die sowohl durch ihre reine Beobachtung als auch in

Interaktion mit den Kindern und Jugendlichen versuchte, sich deren Lebenswelt

anzunähren und gruppeninterne Regeln, Umgangsformen und

Bedeutungszusammenhänge zu erfassen. Dies war anfangs häufig mit einem Gefühl

der Überforderung verbunden, da ich tagtäglich mit einer Vielzahl mir neuer

Eindrücke konfrontiert wurde, die mir aus meiner Perspektive als Fremde erst einmal

unverständlich erschienen (vgl. 2.2.2.1). Auch empfand ich aufgrund dessen eine

Unsicherheit darüber, wie ich mich den Personen gegenüber verhalten sollte, um eine

möglichst hohe Authentizität bei meinen Beobachtungen im Feld zu gewährleisten

zu können und gleichzeitig nicht gegen bestehende Regeln zu verstoßen. So

versuchte ich zunächst, eine Basis zu finden, auf der eine Kontaktaufnahme am

einfachsten möglich war, wobei ich in erster Linie nach gemeinsamen Interessen und

Fähigkeiten suchte. Als eine wesentliche Kommunikationsebene kristallisierte sich

hierbei die Musik heraus. Durch das Erlernen der von den Kindern komponierten

Lieder und Texte und das gemeinsame Musizieren konnte ich mich zum Einen auf

einer Ebene mit ihnen treffen, die kein allzu großes Vertrauensverhältnis erforderte.

Zum Anderen sah ich dadurch eine Möglichkeit, mein Interesse an ihrem Leben zu

bekunden. Darüber hinaus erfuhr ich bereits durch die Textinhalte einige Dinge, die

für sie aus ihrer Perspektive in ihrer Lebenswelt eine zentrale Bedeutung hatten.

Nach einigen Wochen schienen meine regelmäßigen Besuche an den von mir

eingangs beschriebenen Aufenthaltsorten für die Kinder und Jugendlichen

zunehmend „normal“ zu werden, was mit einer Verringerung meines Sonderstatus

einherging. Sie gingen weitestgehend trotz meiner Anwesenheit unbeirrt ihren

Tätigkeiten nach und nahmen, ihrem individuelle Bedürfnis nach, einen

kommunikativen Austausch entsprechend Kontakt zu mir auf, so dass sich nicht

permanent die gesamte Gruppe auf mich konzentrierte. So kamen vermehrt

Gespräche mit einzelnen Gruppenmitgliedern zustande. Auch durch eine

Veränderung der Inhalte dieser Interaktionen merkte ich, dass ich mich zunehmend

zu einer Ansprechpartnerin der Kinder entwickelt hatte, die mir nun häufig von

aktuellen Erlebnissen in ihrem Alltag, sowie von ihren Wünschen, Vorhaben und

Sorgen berichteten, gleichzeitig aber auch etwas über meine Erlebnisse des Tages

134

erfahren wollten. Bei ihren Erzählungen musste ich zu dieser Zeit noch sehr oft

nachfragen, da mir einige Zusammenhänge, in denen sich diese Erlebnisse

ereigneten, zunächst nicht bekannt waren, die aber notwendig waren, um die

Bedeutung, die diese Ereignisse für die Kinder hatten, erst begreifen zu können. So

hatten mich beispielsweise Erzählungen über gewalttätige Auseinandersetzungen

innerhalb der Gruppe oder das aktuelle Miterleben solcher Ereignisse zu Anfang sehr

schockiert, während ich durch deren Einordnung in einen größeren Zusammenhang

aber zunehmend feststellte, dass sie im Lebensalltag der Kinder eine „normale

Nebenerscheinung“ waren, mit der sie gezwungen waren umzugehen. Während ich

also der Schilderung eines solchen Erlebnisses anfangs eine Aufforderung des

Kindes entnahm, in irgendeiner Weise aktiv werden, bzw. ihm helfen zu müssen, war

die Erzählung eines solchen Ereignisses für das Kind lediglich ein Bestandteil seines

Alltags, über den es mir berichtete und auf den es keine spezielle Reaktion von

meiner Seite zu erwarten schien. Eher schiene es irritiert zu sein, wenn es meinen

Reaktionen Entsetzen oder Unverständnis entnahm.

Nach wie vor bestand aber auch immer wieder großes Interesse der Kinder und

Jugendlichen daran, etwas über mein Herkunftsland, meine Sprache und mein Leben

dort zu erfahren. Ihre Fragen knüpften in den meisten Fällen an ihre aktuelle

Lebenssituation an, indem sie beispielsweise wissen wollten, ob es auch in

Deutschland auf der Straße lebende Kinder gäbe, wie die Polizei dort mit ihnen

umgehe und ob es in Deutschland solche pengamen (im Deutschen: Straßenmusiker),

wie sie es waren, an den Kreuzungen gäbe. Aus diesen Gesprächen heraus, die sich

nun vermehrt zu einem wechselseitigen Austausch entwickelt hatten, begann ich nun

langsam, das Leben der Kinder und deren Perspektiven ansatzweise verstehen zu

lernen, eine gewisse Ordnung innerhalb dieses sozialen Netzwerkes erkennen zu

können und mich selbst als Beobachterin in der Gruppe verorten zu können. Darüber

hinaus hatte sich auf der Basis des regelmäßigen Austausches eine zunehmende

Vertrautheit in der Beziehung zwischen mir und den Kindern und Jugendlichen

aufbauen können, obgleich mir zu dieser Zeit einige der jüngeren Gruppenmitglieder

in Gesprächen teilweise noch mit einer distanzierten Zurückhaltung begegneten, die

ich häufig fast als Gleichgültigkeit mir gegenüber empfand. Besonders in dieser

Phase meiner Beobachtungen hatte ich große Schwierigkeiten, meine Rolle, die ich

in ihrem Lebensraum einnahm, zu definieren, da sich in der Begegnung zwischen

mir und einzelnen Gruppenmitgliedern sehr große individuelle Unterschiede

135

bemerkbar machten und die Reaktionen auf meine Person zudem stark von situativen

Faktoren abhängig zu sein schienen. Während ich also in der Phase meines

Feldzugangs einen Sonderstatus innehatte, mit dem ich zwar auch gewisse

Schwierigkeiten hatte umzugehen, so sah ich mich trotz dem von mir beschriebenen

Gewinn an Vertrautheit auch häufiger damit konfrontiert, dass auf mein Erscheinen

an ihren Aufenthaltsorten keine verlässliche Reaktion der Kinder erfolgte, da diese

sich nun nicht mehr zwangsläufig verpflichtet fühlten, mir ihre gesamte

Aufmerksamkeit zu schenken. Diesen Wandel empfand ich zunächst als

Statusverlust, weil ich nun zum ersten Mal auch damit konfrontiert wurde, mit

scheinbarer Gleichgültigkeit behandelt zu werden, die ich zunächst als Ablehnung

interpretierte und auf ein Fehlverhalten von meiner Seite aus zurückführte.

Im weiteren Verlauf meiner Beobachtungen hatte ich den Eindruck, eine

zunehmende Akzeptanz innerhalb der Gruppe zu erfahren, was mit Sicherheit auch

damit zusammenhing, dass ich den anfangs von mir empfundenen Statusverlust

gleichzeitig in vieler Hinsicht als gewinnbringend ansehen konnte. So gelang es

durch meinen regelmäßigen und intensiven kommunikativen Austausch mit den

Kindern und Jugendlichen und einer gemeinsamen Beschäftigung mit deren Musik,

eine Kommunikations- und Vertrauensbasis aufzubauen, einen Einblick in ihren

Lebensalltag zu bekommen und mich aus dem Erleben ihres Alltags heraus

zunehmend in ihre individuellen Perspektiven hineinversetzen zu können.

Gleichzeitig war meine wachsende Integration in die Gruppe aber auch mit einer

Zunahme an Erwartungen, die sich implizit an mich stellten, verbunden. So schien es

mir in dieser Phase ungeheuer wichtig, meine Vertrauenswürdigkeit, meine

Zuverlässigkeit und mein vorhandenes Interesse an den Personen über meine

Forschungsabsichten hinaus unter Beweis zu stellen. Oftmals geriet ich hierbei in

den Konflikt, sowohl meiner Rolle innerhalb der Gruppe gerecht werden zu wollen,

was für mich mit einer starken Identifikation mit deren Belangen und einer starken

Einbindung in das Kollektiv einherging, als auch gleichzeitig ein Mindestmaß an

Distanz aufrecht zu erhalten, das ich in meiner Rolle als Beobachterin für das

Gelingen meines Forschungsauftrages für nötig erachtete. Da es mir in dieser Phase

schier unmöglich erschien, diese beiden gegenläufigen Prozesse der Identifikation

und Distanz miteinander zu vereinen und ein ausgewogenes Gleichgewicht

herzustellen, entschloss ich mich dazu, in erster Linie meiner Rolle als Teilnehmerin

an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen Priorität zu schenken. Zwar war

136

sowohl mir als auch den Kindern und Jugendlichen die Absicht meines Aufenthaltes

und mein „Anderssein“ allein aus der Tatsache heraus zu jedem Zeitpunkt bewusst,

dass ich mich aufgrund meiner Herkunft, meines gesellschaftlichen Status und

meines Aussehens von ihnen unterschied. Dennoch nahm ich trotz dieser Differenzen

für viele der Kinder und Jugendlichen die Rolle einer älteren Schwester ein, was in

ihrem lebensweltlichen Kontext nicht zwangsläufig verbunden ist mit einer realen

verwandtschaftlichen Beziehung. Hinsichtlich der Durchsetzung ihrer Belange und

der Organisation und Planung gemeinsamer Projekte des Netzwerkes bemühte ich

mich, keine Schlüsselrolle einzunehmen, da ich die Befürchtung hatte, sowohl die

Authentizität des sozialen Feldes als auch die Eigeninitiative der Kinder und

Jugendlichen zu gefährden bzw. zu hemmen. So brachte ich mich zwar sowohl in

künstlerische als auch organisatorische Aktivitäten mit ein, nahm dabei allerdings

stets eine Rolle ein, die für das Gelingen der Aktivitäten nicht ausschlaggebend und

notwendig war. Beispielsweise unterstützte ich die Kinder bei der Herstellung einer

Bühnendekoration für das von mir in Punkt 2.2.1.7 erwähnte Festival und nahm

sowohl an Musik- und Theaterproben als auch an organisatorischen Treffen teil, bei

denen ich mich jedoch weitestgehend, mitunter aufgrund meiner mangelnden

Kenntnis der Dinge, die bei der Organisation eines Festivals in diesem Kontext zu

beachten waren, zurückhielt. Hinsichtlich der Funktion des Informationsaustausches

war ich allerdings ein Bestandteil des Netzwerkes geworden, was sich dadurch

äußerte, dass ich, bedingt durch meine Anwesenheit, an mehreren Aufenthaltsorten

der Kinder und Jugendlichen, sowohl an der Straßenkreuzung als auch auf der Jalan

Malioboro nach der Situation und aktuellen Ereignissen an dem jeweils anderen Ort

gefragt wurde, Informationen weiterleitete und bei Nachfragen häufig Auskunft über

den derzeitigen Aufenthaltsort bestimmter Mitglieder geben konnte.

Das Ende meines Aufenthaltes in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen

betrachte ich als sehr kritisch, da meine Abreise sowohl für mich als auch für die

Kinder und Jugendlichen, für die ich mich zu einem Ansprechpartner entwickelt

hatte und zu denen ich eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatte, in erster

Linie einen Bindungsabbruch bedeutete. Kritisch sehe ich diese Phase insbesondere

vor dem biographischen Hintergrund der Kinder und Jugendlichen, da der Abbruch

von Beziehungen ein wesentliches Merkmal ihrer Biographie darstellt, mit dessen

Umgang bzw. Verarbeitung sie weitestgehend allein gelassen werden. Zwar war die

zeitliche Begrenztheit meines Aufenthaltes bereits im Vorfeld klar, wodurch

137

mitunter, insbesondere von Seiten der Kinder, auch nur ein begrenztes Maß an

Vertrautheit und Beziehungsaufbau zugelassen wurde. Dennoch spielte die

Beziehungsebene, die sich aufgrund der Intensität meiner teilnehmenden

Beobachtung entwickelte, in meinem Kontakt zu den auf der Straße lebenden

Kindern und Jugendlichen meines Erachtens eine entscheidende Rolle.

Daher stellte sich mir, sowohl in der eigentlichen Situation als auch rückblickend

während der Interpretation und Analyse meiner teilnehmenden Beobachtung, die

Frage, inwieweit ein solcher Vorgang zugunsten letztendlich wissenschaftlicher

Zwecke in diesem Kontext legitim und vertretbar ist. Zwar habe ich die mit mir in

Beziehung stehenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen stets als in ihrer

Lebenswelt höchst kompetente und handlungsfähige Subjekte mit ihren individuell

unterschiedlichen Biographien, Fähigkeiten, Interessen, Problemen und Wünschen

wahrgenommen, und zu keinem Zeitpunkt stellten sie für mich „Forschungsobjekte“

dar. Trotzdem bin ich mir des Machtgefälles bewusst, dass sich zwischen mir und

den in Yogyakarta auf der Straße lebenden Personen befindet. Bereits mein

Eindringen in ihre Lebenswelt stellt für mich rückblickend in gewisser Weise eine

Ausübung von Macht dar, da mir meine privilegierten ökonomischen

Lebensbedingungen bzw. mein gesellschaftlicher Status die Möglichkeit dazu erst

eröffneten. Umgekehrt wäre es von Seiten der Kinder, Jugendlichen und

Erwachsenen also nicht möglich, sich einen Einblick in meinen Lebensraum zu

verschaffen. Des Weiteren hätten die auf der Straße lebenden Personen aufgrund der

Tatsache, dass ihr Lebensraum zugleich ein öffentlicher Ort ist, keine offizielle

Handhabe gehabt, mich bei Missfallen meines Aufenthaltes dort ihres Lebensraumes

zu verweisen. Das heißt, die Entscheidung darüber, meine teilnehmende

Beobachtung in ihrer Lebenswelt durchführen zu können, lag trotz der dafür

notwendigen Akzeptanz durch die dort lebenden Personen, weitestgehend bei mir.

Doch nicht nur der Beobachtung an sich, sondern auch der hier von mir

vorgenommenen Interpretation und Analyse stehe ich kritisch gegenüber, weil ich in

dieser Arbeit „Wissen“ über eine Personengruppe produziere, an dessen Inhalt eben

diese Personengruppe lediglich während meiner aktuellen Beobachtung in Beziehung

zu mir partizipieren konnte. Somit möchte ich an dieser Stelle nochmals auf die

begrenzte Gültigkeit dieses „Wissens“ hinweisen. Als Ergebnis der Interpretation

meiner Beobachtungen ist zugleich Resultat dessen, was ich während dieser

Beobachtungen wahrgenommen, aber auch nicht wahrgenommen und ausgelassen

138

habe. Gleichzeitig fußt die Interpretation meiner Erkenntnisse auf meinem

subjektiven Verständnis dieser Lebenswelt und den Strukturen sowie

Bedeutungszusammenhängen, die sich mit diesem Verständnis für mich entwickelt

haben. Dabei war und bin ich mir bewusst darüber, dass ich mich trotz des von mir

angestrebten Perspektivenwechsels, einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit

Bestandteilen meiner eigenen Lebenswelt und einer ereignisoffenen Begegnung mit

dem mir anfangs „Fremden“ nie vollständig von Vorverständnissen, die mitunter auf

meinem kulturellen Hintergrund basieren, würde befreien können. Somit ist meine

eigentliche Beobachtung sowie die eigene Wahrnehmung und Interpretation immer

bereits durch meinen individuellen Sozialisationshintergrund, durch daraus

hervorgehende Vorverständnisse, Sichtweisen und nicht zuletzt durch eine

emotionale Beteiligung mitbestimmt. Sie ist nicht unabhängig von meinem eigenen

biographischen und kulturellen Kontext zu betrachten und stellt somit nur eine

Perspektive dar, neben der unzählige andere existieren.

2.2.2.5 Kriterien für pädagogische Handlungskonzepte

Im Folgenden möchte ich die von mir, auf der Basis meiner teilnehmenden

Beobachtung in Yogyakarta, als wichtig erachteten Kriterien darstellen, die in einem

pädagogischen Handlungskonzept innerhalb des Lebensraumes der mit mir in

Beziehung stehenden Personen berücksichtigt werden sollten. Im Vordergrund wird

dabei die Orientierung an lebensweltlichen Kontexten der Kinder und Jugendlichen

stehen, die ich in den vorausgehenden Teilen bereits versucht habe, ausführlich

darzustellen. Anlehnen werde ich mich bei meiner Entwicklung von Kriterien sowohl

an den im ersten Teil der Arbeit dargestellten Handlungskonzepte - der kritischen

Pädagogik nach Giroux und der Pädagogik der Unterdrückten nach Paulo Freire –

als das an aktuellen Konzepten der NGO HUMANA in Yogyakarta. Insbesondere

orientiere ich mich aber darüber hinaus an den aus meiner teilnehmenden

Beobachtung im Lebensraum „Straße“ hervorgehenden Erkenntnissen. Der Auswahl

der von mir als wichtig erachteten pädagogischen Handlungskriterien liegt die

Annahme zugrunde, dass die Berücksichtigung individueller lebensweltlicher

Kontexte der Zielgruppe unabdingbar ist, um Lernprozesse in Gang zu setzen und

Partizipationsmöglichkeiten zu entwickeln. In meiner folgenden Ausführung werde

ich versuchen, die Gründe, die die Basis dazu bilden, offen zu legen. Des weiteren

möchte ich näher auf die konkreten Anforderungen eingehen, die sich unter

Berücksichtigung lebensweltlicher Kontexte an den Pädagogen stellen.

139

Zunächst erfordert die Berücksichtigung lebensweltlicher Kontexte in der

pädagogischen Arbeit, das Arbeitsfeld, welches zugleich den Lebensraum der

Zielgruppe darstellt, in seiner Komplexität wahrzunehmen und einer Analyse zu

unterziehen. So gilt es zunächst, aktuelle Lebensbedingungen innerhalb des

Lebensraumes „Straße“ ansatzweise zu erfassen, wobei wesentliche Merkmale dieses

Lebensraumes wie Alltagsabläufe der Kinder und Jugendlichen, zentrale Probleme

im Lebensalltag sowie gesellschaftliche, ökonomische und politische Faktoren

berücksichtigt werden sollten, da diese sich im Prozess befindenden Faktoren die

Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, wie ich in meinen Darstellungen

ausführlich versucht habe deutlich zu machen, wesentlich mit beeinflussen

Des weiteren erachte ich es als notwendig, sich eingehender mit individuellen

biographischen Hintergründen der Kinder und Jugendlichen auseinander zu setzen

sowie individuelle Fähigkeiten, Kompetenzen und Handlungsstrategien

wahrzunehmen, da auch sie eine wichtige Ausgangsbasis eines lebensweltlich

orientierten Konzeptes darstellen.

Daraus ergibt sich für mich zunächst die wesentliche Anforderung an den

Pädagogen, sich zunächst akzeptierend auf sein Arbeitsfeld einzulassen, als

Beobachter eine möglichst weite Perspektive einzunehmen und sich in die Position

des Lerners zu begeben, der die Kinder und Jugendlichen innerhalb ihrer Lebenswelt

als „Experten“ bzw. „Mehrwisser“ anerkennt. Nur so ist es ihm meines Erachtens

möglich, ihre individuellen Fähigkeiten und Perspektiven, ihr Lernverhalten und ihre

in dem Kontext viablen und überlebenssichernden Handlungsstrategien ansatzweise

nachvollziehen und verstehen zu können denn nur so werden ihm gewisse

Alltagsabläufe der Kinder und Jugendlichen ersichtlich, auf die ein späteres

Handlungskonzept abgestimmt sein sollte. Auch ist eine akzeptierende und

wertschätzende Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber meiner Ansicht

nach eine grundlegende Voraussetzung, um eine Beziehung, die durch gegenseitige

Achtung und Vertrauen gekennzeichnet ist, aufzubauen, die eine grundlegende Basis

für die Entwicklung und Umsetzung eines Konzeptes schafft.

Im Folgenden möchte ich näher erläutern, was die Berücksichtigung lebensweltlicher

Kontexte im Lebensraum „Straße“ für die praktische Umsetzung pädagogischer

Handlungskonzepte bedeutet und welchen Anforderungen der Pädagoge in seinem

Arbeitsfeld gerecht werden muss.

140

Hinsichtlich der Erfassung eigentlicher Lebensbedingungen in diesem sozialen Feld

und auch im Hinblick auf mögliche pädagogische Konzepte erschien es mir während

meiner Beobachtungen sehr sinnvoll, zunächst einen weiten Blickwinkel

einzunehmen, um sowohl wesentliche Merkmale und Strukturen des Lebensalltags

der Kinder und Jugendlichen als auch zentrale Probleme in ihrem Lebensraum in

Beziehung zu größeren Kontexten erkennen und verstehen zu können. Meinen

Erkenntnissen zufolge ist die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen trotz ihrer

Heterogenität mitunter durch eine Vielzahl an gemeinsamen Merkmalen, die

zunächst unabhängig von individuell differenten Kontexten vorhanden waren

gekennzeichnet: Alle Kinder und Jugendliche, zu denen ich in Beziehung stand,

hatten sich von ihrer Herkunftsfamilie getrennt. Das heißt, bei keinem von ihnen

bestand ein regelmäßiger Kontakt zu Elternteilen oder Verwandten, so dass sie ohne

jegliche Einbindung in ein Familiensystem im traditionellen Sinne und ohne

erwachsene Erziehungspersonen lebten. Ihr gemeinsamer und ausschließlicher

Lebensraum ist die Straße, die somit in diesem Kontext zugleich ihr Schlafplatz,

Arbeitsplatz und Basis für kommunikativen Austausch, Erfahrungen, Lernprozesse

und Beziehungswirklichkeiten darstellt. Innerhalb ihres Lebensraumes sind alle der

mit mir in Kontakt stehenden dort lebenden Personen gleichermaßen mit den von mir

in Punkt 2.2.1.6 dargestellten zentralen Problemen - insbesondere der

Stigmatisierung, Diskriminierung und Marginalisierung sowie einem Leben ohne

bürgerrechtlichen Status - und den damit einhergehenden Konsequenzen

konfrontiert. Des weiteren sind all diese Kinder und Jugendlichen darauf angewiesen

zu arbeiten, um ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern.

Über diese gemeinsamen Merkmale hinaus spielt meines Erachtens hinsichtlich der

Entwicklung eines Handlungskonzeptes aber auch die Berücksichtigung vorhandener

individueller Handlungsstrategien, Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen sowie

die Anlehnung an Strukturen und Funktionen des sozialen Netzwerkes der Kinder

und Jugendlichen, auf die ich bereits in Punkt 2.2.1.7 ausführlicher eingegangen bin,

eine bedeutende Rolle.

Bei der Aufstellung bzw. Entwicklung von Kriterien gehe ich entsprechend einer

subjekt- und lebensweltorientierten Perspektive von der Grundannahme aus, dass

nicht die Zielgruppe an sich das eigentliche Problem darstellt, das es zu verändern

und an bestehende Systeme und Missstände anzupassen gilt. Vielmehr betrachte ich

die auf der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen als einen Teil ihrer Lebenswelt,

141

die wiederum in weitere Kontexte eingebunden ist, und an deren Gestaltung und

Veränderung sie innerhalb ihrer Möglichkeiten und Grenzen partizipieren. An dieser

Stelle möchte ich sogar noch weiter gehen, da ich auf der Basis meiner

vorangegangenen Darstellungen die in der gemeinsamen Einleitung aufgestellte

These, die Kinder und Jugendlichen stellten ein wesentliches Potential für

gesellschaftliche Veränderung dar, aufgreifen und begründen möchte. So befinden

sich diese Personen spätestens seit dem Zeitpunkt ihrer Loslösung von deren

Herkunftsfamilie auf einer fortwährenden Suche nach Veränderung, sowohl der

Veränderung ihrer eigenen Lebensmodelle als auch der Veränderung

gesellschaftlicher Normen, Werte und Missstände. Besonders in ihrem sich aktiv und

kritisch auseinandersetzenden Umgang mit ihrer eigenen Lebenssituation und mit

gesellschaftlichen und politischen Prozessen, versuchen sie aber auch fortwährend,

sich an den Rest der Bevölkerung zu richten, den sie, ohne pauschale Verurteilungen

und Schuldzuweisungen vorzunehmen, zur kritischen Reflexion anregen wollen, um

öffentlich auf gesamtgesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und

gleichzeitig eigenständig Alternativen zu entwickeln.

Ausgehend von dieser Grundannahme dienen die von mir als wesentlich erachteten

Kriterien, die ich im Folgenden ausführen werde, vielmehr der Entwicklung bzw.

Erweiterung von Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, bei der ein

kritisches Bewusstsein gegenüber bestehenden Systemen und Missständen innerhalb

des lebensweltlichen Kontextes gefördert werden sollte. In vielerlei Hinsicht stimme

ich hier mit dem Konzept der befreienden Bildungsarbeit nach Paulo Freire und der

kritischen Pädagogik von Henry A. Giroux überein, da ich in dem von mir

dargestellten lebensweltlichen Kontext sowohl davon ausgehe, dass eine

Veränderung der Lebensbedingungen in erster Linie ein Bewusstsein der Betroffenen

über bestehende Missstände voraussetzt, als auch dass diese Veränderung lediglich

mit den Betroffenen ausgehend, von ihren Vorstellungen, und nicht für sie erfolgen

kann. Ebenfalls steht auch meines Erachtens hierbei die Förderung der

Eigeninitiative und die Erweiterung von Ausdrucksmöglichkeiten im Vordergrund.

Somit bin auch ich der Ansicht, dass die Einbeziehung der Zielgruppe in die

Entwicklung eines Konzeptes als ein wesentliches Kriterium unabdingbar ist.

Allerdings geht Freire bei seiner Arbeit zunächst davon aus, dass ein Bewusstsein

über Missstände, individuelle Rechte und Möglichkeiten der Veränderung erst mit

Hilfe des Pädagogen geschaffen werden muss (vgl. 1.2.1), während ich mich von

142

dieser Ansicht in Bezug auf die von mir beobachteten Personen in ihrer Lebenswelt

abgrenzen muss. Bereits die Tatsache, dass diese Kinder und Jugendlichen sich aus

bestehenden familiären Strukturen gelöst haben, stellt für mich einen aktiven Akt

der Befreiung dar, der sowohl ein Bewusstsein über ihre individuellen Rechte, die

Fähigkeit, die bestehenden Missstände zu problematisieren, als auch das Wissen um

die Möglichkeit der Veränderung voraussetzt. Des weiteren habe ich auch in ihrem

Lebensalltag, an dem ich über einen begrenzten Zeitraum teilnahm, ein ausgeprägtes

Bewusstsein über die eigene Situation und bestehende Missstände sowie vielfältige,

von den Kindern und Jugendlichen selbst geschaffene Möglichkeiten des Ausdrucks

und des Aufbegehrens gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und

Diskriminierung erkennen können. Die Stärkung und Schärfung dieses Bewusstseins

über die eigene Lebenssituation und individuelle Handlungsfähigkeit sowie die

Erweiterung bzw. Förderung eigener (kreativer) Ausdrucks- und

Partizipationsmöglichkeiten sehe ich dennoch als einen notwendigen Bestandteil

eines partizipativen pädagogischen Handlungskonzeptes an. Aufgrund der aus

meinen Beobachtungen im Lebensraum „Straße“ und in Beziehung zu den dort

lebenden Personen gewonnenen Eindrücke hätte ich mich in der Annahme, die

grundlegende Basis dazu erst schaffen zu müssen, allerdings grenzenlos überschätzt

und die Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen gleichzeitig

unterschätzt. So richtet sich mein Hauptaugenmerk unter Berücksichtigung der

kontextuellen Bedingungen in diesem Zusammenhang vielmehr auf die bereits

erkennbar vorhandenen Kompetenzen und Handlungsstrategien der Kinder und

Jugendlichen sowie auch auf bestehende Strukturen und Funktionen des sozialen

Netzwerkes, die meines Erachtens eine wichtige Ausgangsbasis darstellen, an denen

ein pädagogisches Konzept hinsichtlich seiner praktischen Umsetzung und seiner

Zielsetzungen ansetzen sollte und auf die es aufbauen kann. Die Orientierung an

vorhandenen Kompetenzen und erkennbaren Strukturen und die Funktionen des

sozialen Netzwerkes setzt allerdings eine hohe Flexibilität, eine große

Ereignisoffenheit und insbesondere die Anerkennung von Vorstellungen der Kinder

und Jugendlichen voraus. Somit stellt sich bei der praktischen Umsetzung dieser

Kriterien aber gleichzeitig die Anforderung an den Pädagogen, die in diesem Kontext

von ihm eingenommene Rolle sowie eigene Vorstellungen und Vorverständnisse

kritisch zu reflektieren und sich gegebenenfalls in seiner Arbeit davon zu

distanzieren. Auch hinsichtlich dieser Aufgabenstellung stimme ich mit Giroux und

143

Freire überein, die in ihren Konzeptionen insbesondere den im Bildungsprozess

notwendigen Dialog betonen, in den allerdings immer auch Vorstellungen, Ziele und

Wünsche des Pädagogen mit einfließen. Aufgrund des enormen Machtgefälles, das

in dem von mir beschriebenen Kontext zwischen Lernern und Pädagogen besteht, ist

es insbesondere in einem solchen Dialog wesentlich, die eigene Position sowie

eigene Vorstellungen und Zielsetzungen kritisch zu reflektieren und diese offen zu

legen statt sie zu verleugnen (vgl. 1.2). So habe ich beispielsweise in Punkt 2.2.2.2

die Frage aufgeworfen, inwiefern in diesem spezifischen lebensweltlichen Kontext

der Kinder und Jugendlichen die Notwendigkeit einer erwachsenen

Erziehungsperson gegeben sein muss und legitim ist, die sich innerhalb dieses

Lebensraumes in der Position versteht, wesentliche unterstützende Funktionen

bezüglich der Bewältigung, Gestaltung und Planung des Lebensalltags der Kinder

und Jugendlichen zu übernehmen. Meines Erachtens basiert diese Rolle und

Funktion des Erwachsenen auf einem diesbezüglich nicht viablen Kindheitsbild und

würde eher eine Begrenzung der vorhandenen Eigenverantwortlichkeit und

Eigeninitiative der Kinder und Jugendlichen mit sich bringen, als dass sie

Partizipationsmöglichkeiten eröffnen würde, da sie die Nutzung bereits vorhandener

Kompetenzen unterbinden bzw. einschränken würde. Daher halte ich es vor dem

Hintergrund der spezifischen Lebensbedingungen dieser Personengruppe für

bedeutend, dass die erwachsene Bezugsperson ihnen die selbst geforderte

Entscheidungsfreiheit und Eigenständigkeit zugesteht und sie als

eigenverantwortliche und in ihrer Lebenswelt kompetente Subjekte, die darauf

angewiesen und fähig sind, ihren Alltag zu gestalten und zu bewältigen wahrnimmt

und anerkennt. Insofern unterschätzt auch das in den Industriestaaten überwiegend

vorherrschende Kindheitsbild, in dem Kindheit als Schonraum verstanden wird (vgl.

dazu auch Reich, „Kindheit als Konstrukt“33), in diesem Kontext zum Einen die

entwickelten Fähigkeiten der Kinder, ihr Leben eigenständig zu bewältigen und zu

gestalten, zum Anderen weist dieses Bild nur wenige Parallelen zur eigentlichen

Lebenswirklichkeit dieser Kinder und Jugendlichen auf und entbehrt somit in diesem

Zusammenhang jeglicher Grundlage. Darüber hinaus gehe ich auf der Basis meiner

Beobachtungen davon aus, dass die zu mir in Beziehung stehenden der Kinder und

Jugendlichen, die die Freiheit und Eigenverantwortlichkeit ihrer Lebensgestaltung

33 Reich, K.: „Kindheit als Konstrukt“. Im Internet zugänglich unter: http://www.uni-koeln.de/ew-fak/konstrukt/texte/download/kindheit.pdf

144

mir gegenüber als einen zentralen Wert des Lebens auf der Straße hervorhoben, einer

massiven Form des Eingreifens in ihren Alltag eher ablehnend gegenüberstünden

und als eine Beschneidung ihrer Rechte empfinden würden.

Vielmehr erachte ich es für wichtig, dass sich die erwachsene Bezugsperson,

basierend auf einem Vertrauen in diese Eigenverantwortlichkeit und individueller

Kompetenzen, in der Funktion eines zuverlässigen und parteiischen

Ansprechpartners versteht, die bei Handlungsbedarf in gesamtgesellschaftlichen,

politischen oder anderen institutionellen Kontexten vermittelnde, beratende und

unterstützende Funktionen hinsichtlich der Durchsetzung der Belange seiner

Zielgruppe übernimmt. Dies setzt allerdings genaue Kenntnisse über die aktuelle

Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen sowie über komplexe gesellschaftliche,

politische und juristische Kontexte voraus. Darüber hinaus erfordert es eine Vielfalt

an pädagogischen Handlungskompetenzen, um dieser Funktion gerecht zu werden.

Ebenfalls ist die kontinuierliche Kommunikation und intensive Auseinandersetzung

mit den Kindern und Jugendlichen im Kontext ihrer Lebenswelt - meines Erachtens

auch eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens -

notwendig, um sowohl aktuelle Veränderungsprozesse innerhalb deren Lebensraum

wahrzunehmen als auch, um individuelle Anliegen, Vorstellungen und Ideen

erfahren und nachvollziehen zu können. Insbesondere vor den individuellen

biographischen Hintergründen der Kinder und Jugendlichen und deren aktueller

Lebensbedingungen, die mitunter wesentlich durch gewaltsame Verletzungen ihrer

Rechte, durch Bindungsabbrüche, gesellschaftliche Ausgrenzung und

Diskriminierung gekennzeichnet sind, sehe ich eine akzeptierende und erstnehmende

– jedoch nicht unkritische – achtende Haltung des Pädagogen in Interaktion mit

seiner Zielgruppe als ein grundlegendes Kriterium der pädagogischen Arbeit mit

ebendiesen Kindern und Jugendlichen an.

Über eine rein vermittelnde und beratende Funktion hinaus sollte sich ein

pädagogisches Handlungskonzept in diesem Lebensraum ebenso intensiv auf die

Förderung und Entwicklung von Kompetenzen, Fertigkeiten und Ausdrucksformen

konzentrieren, um eine Erweiterung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten

der Kinder und Jugendlichen zu erzielen. Deshalb halte ich eine Orientierung an

vorhandenen Ideen, Vorstellungen, Interessen und Kompetenzen der Zielgruppe

sowie an deren aktuellen Lebensbedingungen für sinnvoll, da sie hinsichtlich der

Lerninhalte sowie auch deren Vermittlung als grundlegende Basis genutzt werden

145

kann, um den Ansatz eines Bildungskonzeptes zu entwickeln. Gleichzeitig ist meiner

Ansicht nach nur durch eine Anknüpfung an Faktoren lebensweltlicher Kontexte ein

partizipativer Bildungsprozess möglich, da der Zielgruppe einerseits ein Nutzen der

Lerninhalte durch eine Verknüpfung mit ihren aktuellen Lebensbedingungen

erkennbar werden kann und sie andererseits die Möglichkeit haben, sich durch die

Orientierung an vorhandenen Potentialen bereits im Vorfeld als produktive Subjekte

zu erfahren. Eine wesentliche Rolle hinsichtlich der Lerninhalte und deren

Vermittlung spielt darüber hinaus die Verknüpfung mit der Möglichkeit, gleichzeitig

ihren Bedarf an grundlegenden materiellen Gütern sichern zu können und innerhalb

dieses Lebensraumes berufliche Perspektiven entwickeln zu können. Hierbei gehe

ich von der Annahme aus, dass die Kinder und Jugendlichen arbeiten müssen, da in

ihrem Lebensraum keine institutionelle Einrichtung existiert, die eine ökonomische

Sicherung ihres Lebensunterhaltes gewährleistet. Daher kann es aufgrund der

Ermangelung an Alternativen in diesem Kontext nicht um die grundsätzliche Frage

gehen, inwiefern Kinderarbeit an sich vertretbar ist. Vielmehr sollte sich ein Konzept

mit der Entwicklung von Möglichkeiten zur Verbesserung der Lern- und

Arbeitsbedingungen auseinandersetzen, bzw. Arbeitsprozesse in Gang setzen, die

gleichzeitig Lernprozesse fördert. Als ein Beispiel möchte ich an dieser Stelle die

Herstellung und den Vertrieb des von HUMANA zusammen mit den GirLi-

Mitgliedern entwickelte Straßenmagazin JeJal anführen. Meines Erachtens wurden

bei diesem Projekt in vielerlei Hinsicht wesentliche Kriterien berücksichtigt: Zum

Einen wurden die Kinder und Jugendlichen in die Entwicklung dieses Konzeptes

insofern mit einbezogen, als dass ihre Ideen und Vorstellungen als wesentliche

Gestaltungsgrundlage dienten. Zugleich hatten sie durch die gemeinsame kreative

Gestaltung des Magazins die Möglichkeit, sich als schöpferische und produktive

Subjekte zu erfahren. In diesem Schaffensprozess hatten sie sowohl die Chance,

grundlegende Fertigkeiten - in erster Linie die des Schreibens und Lesens – zu

erwerben und somit ihnen bislang verschlossen gebliebene kreative

Ausdrucksformen zu entdecken. Der eigenständige Vertrieb des Magazins erfüllte

wiederum zum Einen die Funktion der Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes,

zum Anderen gab er ihnen die Möglichkeit, sich aus ihrem Lebensraum heraus der

Gesellschaft mitzuteilen und diese für eine differenziertere Sichtweise des

Lebensraumes „Straße“ und der dort lebenden Personen zu sensibilisieren. Der

Erwerb und die Förderung des kreativen Ausdrucks in enger Verbindung mit ihrer

146

Lebenswelt ließ die Kinder und Jugendlichen somit einen Nutzen des Lesens und

Schreibens erkennen und ermöglichte ihnen durch das Verfassen von Gedichten und

Erzählungen, ihre Lebensbedingungen differenziert zu betrachten und zu

problematisieren. Darüber hinaus erwarben sie Fertigkeiten, die ihnen über dieses

spezifische Projekt hinaus als notwendige Grundlagen dienten, auf denen sie

aufbauen konnten.

Hinsichtlich der Förderung kreativer Ausdrucksformen - insbesondere im musischen,

aber auch in anderen künstlerischen und handwerklichen Bereichen - nahm meiner

Ansicht nach allerdings auch das soziale Netzwerk der Kinder und Jugendlichen

insofern eine wesentliche Rolle ein, als dass es den Kindern und Jugendlichen die

Möglichkeit gab, Interessen zu entwickeln und Fertigkeiten voneinander zu erlernen

und weiter zu vermitteln. Deshalb ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit

der Institutionalisierung des Lernens in Form von Verschulung kritisch zu

betrachten. In dem von mir beobachteten Kontext waren Lernprozesse als

Bestandteil des Alltags der Kinder und Jugendlichen klar erkennbar, die wesentlich

durch individuelles Entdecken und Erfahren des Lerngegenstandes sowie einer

aktiven Auseinandersetzung mit diesem gekennzeichnet waren. Auch hier sehe ich

einen Ansatzpunkt für pädagogische Handlungskonzepte, einerseits durch materielle

Unterstützung, andererseits aber auch durch kompetente Begleitung dieser

Lernprozesse, um Möglichkeiten der Förderung zu erweitern, bzw. zu verbessern und

auszubauen. Wie bereits dargestellt übernahm aber auch das soziale Netzwerk der

Kinder und Jugendlichen über den Erwerb kreativer Fertigkeiten und einer

bedeutenden identitätsstiftenden und überlebenssichernden Funktion hinaus aus

meiner Sicht wesentliche Lern- und Bildungsfunktionen, durch die eine Erweiterung

von Partizipationsmöglichkeiten erzielt werden konnte. So waren für mich

insbesondere in der von mir dargestellten Planungs- und Organisationsphase des

Festivals der Kinder und Jugendlichen vielfältige (Lern)funktionen erkennbar:

Zunächst setzte das Gelingen dieses Projektes die eigenständige Entwicklung von

Ideen und Vorstellungen innerhalb der Gruppe voraus. Zugleich gab das Projekt

ihnen die Möglichkeit, durch die Planung und Organisation eine längerfristige

Perspektive zu entwickeln, auf die es sich lohnte, hinzuarbeiten. Ein Bestandteil

dessen war das Sparen der gesammelten Gelder, für das in meinen Augen erst ein

erstrebenswertes Ziel bzw. eine Perspektive erkennbar sein musste, mit der sich in

diesem Kontext ein jedes Gruppenmitglied identifizieren konnte. Durch die

147

gemeinsame Planung und die kollektive Verantwortung für eine gemeinsam initiierte

Sache wurden zugleich soziale Kompetenzen gefördert, da Absprachen getroffen und

Kompromisse gefunden werden mussten. Des Weiteren erforderte die Präsentation

des gemeinsamen Konzeptes im Vorfeld das Sammeln von Spenden und das Erbitten

von Genehmigungen, die für die Durchführung notwendig waren, darüber hinaus

eine enge Kooperation der Kinder und Jugendlichen mit ansässigen Institutionen,

was sowohl eine wachsende Offenheit des sozialen Netzwerkes begünstigte als auch

einen Versuch darstellte, andere Bevölkerungsgruppen auf die eigene Situation und

die ihr eigenen Potentiale aufmerksam zu machen.

Jedoch sollten innerhalb eines Handlungskonzeptes auch zentral vorherrschende

interne Probleme dieses Netzwerkes nicht vernachlässigt werden. Eines davon stellt

für mich der bereits erwähnte regelmäßige Substanzenmissbrauch der Kinder dar,

dem die pädagogische Arbeit in diesem Feld meiner Ansicht nach am ehesten durch

die Erweiterung von Möglichkeiten der Verarbeitung und des Umgangs mit

vorausgegangenen Traumatisierungen und erlebter Gewalt und Diskriminierung

entgegenwirken kann. Diesbezüglich sind meines Erachtens fachlich und sozial

kompetente Personen notwendig, die den Kindern und Jugendlichen als vertraute und

zuverlässige Ansprechpartner und Bezugspersonen zur Verfügung stehen, die aber

darüber hinaus auch eine aktive Auseinandersetzung der Kinder mit der Thematik

des Substanzkonsums in Gang setzen und langfristig begleiten können. Dabei sollten

sich diese Personen allerdings nicht als Besserwisser verstehen, die eine belehrende

Funktion einnehmen. Vielmehr halte ich es für das Gelingen einer kommunikativen

Verständigung über diese Problematik für grundlegend, die Kinder als kompetente

Kommunikationspartner, die sich der möglichen Folgen ihres Konsums durchaus

bewusst sind, ernst zu nehmen und weder die Personen an sich, noch ihren Konsum

pauschal zu verurteilen.

Insgesamt bin ich der Ansicht, dass Orientierung an den lebensweltlichen Kontexten

eine fruchtbare Ausgangsbasis für die mögliche Umsetzung pädagogischer

Handlungskonzepte darstellt. Dies halte ich sowohl hinsichtlich der Erreichbarkeit

der Zielgruppe für notwendig als auch in Bezug auf die Kontextviabilität der Lern-

und Bildungsinhalte und deren Vermittlung, die eine Grundvoraussetzung für das

Erkennen und Erfahren von Sinnzusammenhängen und Nutzen im Lebensraum der

Kinder und Jugendlichen darstellt.

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Darüber hinaus erachte ich das Zugeständnis des Rechts der Kinder und

Jugendlichen, auf der Straße zu leben, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer

Motivation, sich durch ihre Loslösung von ihren Familien aus gewaltgeprägten

Strukturen zu befreien, als ein grundlegendes Kriterium. Ein pädagogisches

Handlungskonzept sollte dementsprechend langfristig darauf abzielen, gemeinsam

mit der Zielgruppe und im vermittelnden Dialog mit Institutionen und anderen

sozialen Netzwerken gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen bzw.

zu erweitern, um somit die individuelle Entwicklung von Perspektiven innerhalb des

Lebensraumes „Straße“ zu ermöglichen. Damit einhergehend sollte ein solches

Konzept aber auch Prozesse der Entwicklung von alternativen Möglichkeiten der

Lebensgestaltung unterstützend begleiten, in denen das Leben der Kinder und

Jugendlichen auf der Straße zwar als eine Form der Lebensgestaltung vollwertig

anerkannt und geachtet wird, gleichzeitig aber keine unausweichliche, durch

strukturelle Gewalt und vielfältige Dimensionen der Armut bestimmte

Notwendigkeit mehr darstellt.

Abschließend sollte sich der in diesem Kontext tätige Pädagoge aber, wie bereits

angesprochen, über seine eigenen Vorstellungen und die eigene Machtposition, die

diese Prozesse unausweichlich mit beeinflussen, bewusst werden und diese

kontinuierlich einer kritischen Reflexion unterziehen. So mögen ihm individuelle

Ideen, Vorstellungen oder Wege zur Erreichung angestrebter Ziele der Kinder und

Jugendlichen mitunter aus seiner Perspektive als Beobachter unsinnig erscheinen.

Bei genauem Hinschauen, dem Wechsel der eigenen Perspektive und dem Versuch,

sich in individuelle Perspektiven der Kinder und Jugendlichen in Beziehung zu ihrem

Lebensraum hineinzuversetzen, kann es ihm allerdings durchaus gelingen, ihr

Handeln ansatzweise nachzuvollziehen und als ernstzunehmende Perspektive

anzuerkennen.

In diesem Kontext halte ich es für sehr wichtig, auch Differenzen hinsichtlich

individueller Vorstellungen und Zielsetzungen offen zu legen und zu akzeptieren. So

ist eine kritische und fortwährende Reflexion des Pädagogen bezüglich seiner

Position in der Begleitung von Bildungsprozessen meines Erachtens von großer

Bedeutung, um zu vermeiden, eigene Vorstellungen zum absoluten Maßstab der

Dinge zu machen, wodurch er den Prozessverlauf wesentlich bestimmen und lenken

würde. Gleichzeitig sollte er versuchen, sich eigene Wünsche und Projektionen

bewusst zu machen, um diese nicht unreflektiert auf seine Zielgruppe zu übertragen.

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Meines Erachtens ist dies insbesondere im interkulturellen Kontext von großer

Wichtigkeit, da die Übertragung kultureller Normen und Werte und die

Beanspruchung deren universeller Gültigkeit in vielfacher Hinsicht an der

Ereignishaftigkeit individueller lebensweltlicher Kontexten vorbeizielen würde. Ein

Beleg dafür ist das Scheitern etlicher „Entwicklungshilfe“-Projekte, denen die

Übertragung „westlicher“ Werte und Maßstäbe zugrunde lag.