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2/2020 MEZIS Nachrichten In dieser Ausgabe: Impfstoff-Rennen um Covid-19 + Gesundheits-Apps + Resistente Erreger in Indien + Interessenkonflikte in Zeitschriften + MEZIS "Homestory" + 5 Jahre Leitlinienwatch + 5 Fragen an Thomas Lempert MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte

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2/2020 MEZIS Nachrichten

In dieser Ausgabe: Impfstoff-Rennen um Covid-19 + Gesundheits-Apps + Resistente Erreger in Indien + Interessenkonflikte in Zeitschriften + MEZIS "Homestory" + 5 Jahre Leitlinienwatch + 5 Fragen an Thomas Lempert

MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte

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Inhaltsverzeichnis

Dr. rer. nat. Annette Diener, Dr. med. Niklas Schurig Editorial .........................................................................................................................................................................3

Dr. med. Helmut Jäger Aus Fehlern lernen – Historische Erfahrungen mit Impfkampagnen unter hohem Zeitdruck .......................................................................................................4

Prof. Dr. med. Dominikus Bönsch Apps retten die Welt..................................................................................................................................................8

Claudia Jenkes (BUKO Pharma-Kampagne) In der Klemme..............................................................................................................................................................11

Dr. med. Niklas Schurig „Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei!“ und die Zeitschrift Arzneimitteltherapie ist eine „unabhängige Information zur Pharmakotherapie“ ........................................................................... 15

Sabine Hensold MEZIS Kompakt ..........................................................................................................................................................17

Dr. rer. nat. Annette Diener MEZIS Homestory – (M)ein Blick auf die Arbeit von MEZIS .......................................................................... 19

Dr. med. Niklas Schurig Leitlinienwatch wird fünf Jahre alt........................................................................................................................21

Interview | Dr. med. Niklas Schurig 5 Fragen an Thomas Lempert ................................................................................................................................22

Gedruckt auf 100% Recyclingpapier

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Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Thema „Corona“ geht auch an MEZIS nicht gänzlich vorüber und so widmen wir in der aktuel-len Ausgabe Covid-19 zwei umfassende Beiträge. Unter dem Titel „Aus Fehlern lernen" beleuchtet Helmut Jäger im Hinblick auf das Impfstoff-Rennen um Covid-19 die Erfahrungen aus missglückten Impfstoff-Markteinführungen zu Grippeimpfungen und der Dengue-Impfung (Seite 4).

Digitalisierung ist neben Impfstoffentwicklung während der Corona-Krise ein weiteres großes Thema. Dominikus Bönsch beschäftigt sich auf Seite 8 mit der neuen – noch weitgehend unregu-lierten – Wunderwelt der Gesundheits-Apps und ihren Schattenseiten.

Ein Nachdruck aus dem Pharma-Brief Spezial der BUKO Pharma-Kampagne zeigt aus der Global-Health-Perspektive, dass der verzweifelte Kampf in Indien gegen Lungenentzündung, Typhus und Cholera schon vor „Corona“ schwierig war – und nun fast aussichtslos erscheint (Seite 11).

In der vorliegenden Ausgabe haben wir außerdem einen Leserbrief abgedruckt, den das Deutsche Ärzteblatt nicht veröffentlichte. Das Ignorieren dieses Briefes zeigt die immer noch bestehende Situation: Die Durchsetzung von Transparenz bei Interessenkonflikten ist nach wie vor ein Thema! Apropos Interessenkonflikte: Ein genauer Blick auf eine dem Namen nach unabhängige Streuzeit-schrift enthüllt reine Pharma-Werbung (Seite 15 und Seite 16).

In den Rubriken MEZIS Kompakt und in der MEZIS „Homestory“ erhalten Sie viele Einblicke in die MEZIS-Vorstandsarbeit (Seite 17 und Seite 19). Und last but not least fragen wir in der Rubrik „5 Fragen an…" Thomas Lempert zum fünften Geburtstag von Leitlinienwatch, wie sich dieses Projekt entwickelt hat (Seite 22).

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Impressum

Herausgeber: MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte

www.mezis.de, [email protected]

MEZIS Nachrichten 2/2020

ISSN: 2194-1440

Korrespondenzanschrift: Goethestr. 28, 86391 Stadtbergen E-Mail: [email protected] Internet: www.mezis.de Bankverbindung: Ethikbank IBAN: DE36 8309 4495 0003 1467 15 BIC: GENODEF1ETK

Konzeption und Redaktion: (V.i.S.d.P.) Dr. med. Niklas Schurig und Dr. rer. nat. Annette Diener

Grafik und Layout:Maryam Aliakbari, Abid Webdesign

Bilder und Grafiken stock.adobe.de (Sofern nichts anderes angegeben)

Lektorat: Sabine Hensold, Ina Liebe

Druck: Druckerei Joh. Walch GmbH & Co. KG, Augsburg

Stand: Juli 2020

Auflage: 1100 Stück

Erscheinungsweise MEZIS Nachrichten: dreimal im Jahr

Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

Die Wiedergabe oder der Nachdruck von Artikeln aus den MEZIS Nachrichten ist nur nach Rücksprache und mit Genehmigung der Redaktion möglich. Diese wird in der Regel erteilt.

Vorstand

Prof. Dr. med. Dominikus Bönsch, Lohr am Main, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe, [email protected]

Manja Dannenberg, Wismar, Allgemeinmedizinerin, [email protected]

Dr. med. Helmut Jäger, Rotenburg/Wümme, Gynäkologe, [email protected]

Hanna Neumann, Berlin, Orthopädin und Unfallchirurgin, [email protected]

Dr. med. Jan Salzmann, Aachen, Internist, [email protected]

Dr. med. Niklas Schurig, Rastatt, Allgemeinmediziner, [email protected]

InteressenkonflikteAlle Autorinnen und Autoren füllen den für die MN über-arbeiteten Fragebogen der AG „Interessenkonflikte in der Medizin“ (Dtsch Arztebl 2011; 108(6)) aus.

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Dr. rer. nat. Annette Diener Referentin des Vorstands MEZIS e.V.

Dr. med. Niklas Schurig Facharzt für Allgemeinmedizin Vorstandsmitglied MEZIS e.V.

MEZIS Nachrichten 2/2020

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USER-EDIT HELMUT JÄGER

Aus Fehlern lernen – Historische Erfahrungen mit Impfkampagnen unter hohem Zeitdruck

„Normalität nur mit Impfstoff“

Die Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2 läuft auf Hochtouren. Die WHO listete am 15.5.2020 mehr als 110 Impfstoff-Kandidaten gegen Covid-19 auf, von denen bereits acht an Menschen getestet werden (Phase-1-Prüfung).1 Die

1 https://www.who.int/who-documents-detail/draft-landscape-of-covid-19-candidate-vaccines2 https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article207447141/Gavi-fordert-Regeln-fuer-Zugang-zu-Corona-Impfstoff.htm3 Langmuir A. Guillain-Barré syndrome: the swine influenza virus vaccine incident in the United States of America, 1976-77: preliminary communication. J R Soc Med. 1979;72(9):660–6694 Neustadt RE. The Swine Flu Affair. 1978, University Press of the Pacific

Impfallianz GAVI fordert „zeitnahe Regeln“ für den Zugang zum Impfstoff. Man müsse den Impfstoff als „öffentliches Gut“ betrachten.2 Deshalb müsse „der öffentliche Sektor Entwicklung, Produktion und Verteilung finanzieren“ und natürlich auch die spätere Haftung übernehmen. Die kommerziellen Produzenten sollten „vernünftige Gewinnmargen“ erhalten und die Impfstoffe seien dann „in 12-18 Monaten verfügbar“. (Zitate: dpa 24.4.2020)

Normalerweise beruhen Zulassungsverfahren von Impfstoffen auf dem Beleg gesicherter vertrau-enswürdiger Information („Trusted Evidence“). Sie sollten unabhängig sein von industriellem Einfluss und einen uneingeschränkten Zugang zu allen ver-fügbaren Daten hinsichtlich des Medizinproduktes gewährleisten. Beschleunigte Zulassungsverfahren angesichts von Epidemien erwiesen sich in der Vergangenheit mehrfach als Fehler, die weit mehr Schäden verursachten als nutzten. Beispiele sind die Schweinegrippe-Impfstoffe von 1976 und 2009 und der Dengue-Impfstoff 2017.

Schweinegrippe-Epidemie Fort Dix, USA 1976

1976 breitete sich in der Militärregion Fort Dix (USA) ein neuartiges Influenzavirus aus. 230 von 19.000 Soldaten erkrankten, 13 Patienten entwi-ckelten u. a. Lungenentzündungen und ein Soldat verstarb. Im März 1976 begann eine nationale Kampagne mit der Produktion von 150 Mio. Impf-stoffdosen. „Jede Frau, jeder Mann und jedes Kind“ in den USA sollte geimpft werden. Dann stellte sich heraus, dass sich der neue Erreger außerhalb von Fort Dix nicht nennenswert verbreitet hatte. Von Oktober 1976 bis Januar 1977 waren 40-48 Millionen Personen geimpft worden.

Kurz nach Beginn der Impfkampagne kam es zu Problemen bei der Herstellung des Impfstoffes, Weigerungen der Versicherungsgesellschaften, Haftpflichtversicherungen auszustellen, einem nur mäßigen Interesse der Öffentlichkeit an den Impfungen, einem vierfach höheren Risiko für das Auftreten von Lähmungserscheinungen (Guillain-Barré-Syndrom) und einem siebenfach höheren Risiko für das Auftreten von Grippeerkrankun-gen bei Geimpften als bei Ungeimpften.3, 4 Die

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Analyse der „Schweinegrippe-Affäre“ wurde von Mitgliedern der Harvard School of Government and Public Health im Auftrag des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialministeriums durchgeführt und 1978 veröffentlicht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schlussfolgerten:

Wir sind der Meinung, dass in Ermangelung einer offenkundigen Gefahr allumfassendes Handeln falsch war. Vor ... und ... nach der Ent-scheidung. ... wäre es nötig gewesen, Murphys Gesetz zu überdenken: „Wenn etwas schief gehen kann, dann wird es schief gehen!“ Wenn Entscheidungen auf sehr begrenzten wissen-schaftlichen Daten beruhen, sollte das Minis-terium Schlüsselpunkte festlegen, an denen das Programm neu evaluiert werden sollte.1

H1N1 Pandemie und Pandemrix® 2009

Pandemrix® sollte 2009 einer erwarteten „hohen Sterblichkeit“ durch ein neuartiges Influenza-virus (H1N1) vorbeugen. Wie alle sogenannten „Grippe“-Impfstoffe beruhte die Vermutung der Wirkung gegen einen bestimmten Influenzavi-rustyp auf Messungen von Antikörperanstiegen nach Impfungen gesunder Testpersonen. Es war nicht bekannt, ob die Impfung tatsächlich die Personen schützen würde, die aufgrund von Vor-erkrankungen oder ihrer Konstitution für „Grippe“ besonders gefährdet gewesen waren. Denn bei Immungeschwächten fällt natürlich auch der Impferfolg geringer aus.

1 Jacoby MG. The Swine Flu Affair: Decision-Making on a Slippery Disease. BMJ 2005;331:12762 Doshi P. Pandemrix vaccine: why was the public not told of early warning signs? BMJ 2018;362:k39483 Sarkanen T et al. Incidence of narcolepsy after H1N1 influenza and vaccinations: Systematic review and meta-analysis. Sleep medicine 2018;38:177-1864 Ahmed S et al. Antibodies to influenza nucleoprotein cross-react with human hypocretin receptor 2. Science Translational Medicine 2015;7(294):294ra1055 Stowe J et al. Risk of Narcolepsy after AS03 Adjuvanted Pandemic A/H1N1 2009 Influenza Vaccine in Adults: A Case-Coverage Study in England. Sleep 2016;39(5):1051–10576 Sarkanen T et al. Narcolepsy Associated with Pandemrix Vaccine. Current Neurology and Neuroscience Reports. 2018;18:43

Der Influenza-Impfstoff Pandemrix® wurde 2009 millionenfach verimpft, obwohl sich die Zulas-sungsstudien dieses Impfstoffes auf relativ wenige Testpersonen bezogen und interne Reports der Herstellerfirma offenbar frühzeitig auf Sicher-heitsmängel hingewiesen hatten.2 Die Zusiche-rungen der Gesundheitsbehörden, der Impfstoff sei sorgfältig geprüft worden, erwiesen sich im Nachhinein als falsch.

Wie viele Personen durch die Impfstoffvermarktung während der milden Influenzasaison 2009 durch Pandemrix® vor dem Tod oder vor Langzeitschäden bewahrt wurden, ist nicht bekannt. Die europäi-schen Gesundheitsbehörden verzichteten 2009 auf systematisch-begleitende Studien, obwohl es sich um die massenhafte Vermarktung eines neuartigen Medizinproduktes handelte. In Europa untersagte nur Polen den Verkauf von Pandemrix®. Trotz fehlender Impfung wurden von dort aber keine ungewöhnlichen Erkrankungs- oder Sterb-lichkeitszahlen berichtet: Die Influenza-Epidemie verlief im Vergleich zu den Vorjahren relativ mild.

Im Anschluss an die Massen-Impfkampagne von Pandemrix® fiel zunächst in Finnland und dann auch in anderen europäischen Ländern ein An-stieg der Zahl der sonst seltenen neurologischen Erkrankung Narkolepsie auf. Narkolepsie-Patien-tinnen und -Patienten leiden an einer Hirnfunk-tionsstörung mit Tagesschläfrigkeit und gestör-tem Schlafverhalten, insbesondere der Ein- und Tiefschlafphasen. Bei der schweren Form (Typ 1) treten zusätzlich Halluzinationen und plötzliche Muskelschwäche auf. Hierbei handelt es sich um eine immunvermittelte Krankheit, bei der Neuronen im Mittelhirn zerstört werden, die für den Schlaf-Wachrhythmus von Bedeutung sind.3

Die Ergebnisse sorgfältiger Nachuntersuchungen in Finnland, Großbritannien und Frankreich las-sen vermuten, dass das Risiko für das Entstehen einer Narkolepsie bei 1:10-15.000 Pandemrix®-Impfungen lag.4 Bei Kindern stieg das Risiko für Narkolepsie nach Impfung um das vier- bis 14-fache und um das zwei- bis siebenfache bei Erwachsenen.5, 6

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Insgesamt sollen durch Pandemrix® in Europa etwa 1.300 Personen an Narkolepsie erkrankt sein.1, 2 Die Dunkelziffer ist unbekannt, denn die Vermarktung von Pandemrix® an dreißig Millionen Europäern wurde 2009 nicht durch epidemio-logische Studien begleitet. Die bekannten Fälle von Narkolepsie beruhen ausschließlich auf den individuellen Meldungen betroffener Patientinnen, Patienten und deren Ärztinnen und Ärzte. Sie be-inhalten weder leichtere noch untypisch-ähnliche Störungen, noch Fälle, die erst einige Jahre nach dem auslösenden Ereignis aufgetreten sind.3, 4

Als Ursache für die Narkolepsie-Epidemie nach einer Impfung wurde in der Folge eine Autoim-munstörung bei genetischer Disposition (HLA-DQB1*0602) zunehmend bestätigt.5, 6 Der zunächst verdächtigte Pandemrix®-Zusatzstoff „AS03“ wurde später entlastet.7, 8, 9

Die Probleme, die durch diese Intervention ent-standen, erwiesen sich als vielfach größer als die, die gelöst werden sollten. In Deutschland wurden 2009 etwa fünf bis sechs Millionen Dosen verimpft, und weitere 29 Millionen unverbrauchte Dosen mussten anschließend entsorgt werden.

Dengue-Impfung

2017 musste eine landesweite Dengue-Impfkam-pagne in den Philippinen eingestellt werden. Um die Zusammenhänge zu verstehen, sind ein paar Informationen zur Dengue-Infektion nötig:

Denguefieber wird durch Viren der Familie „Flavi“ (ähnlich wie Gelbfieberviren) ausgelöst. Diese Viruserkrankung wird in warmen Klimazonen durch Aedes-Stechmücken übertragen. Dengue-Fieber ist in den betroffenen Ländern ein erhebliches Gesundheitsproblem für etwa 2,5 Milliarden Menschen. Die Ursachen für das Gesundheits-problem sind aber überwiegend sozial bedingt:

1 Vogel G. Narcolepsy Link to Pandemic Flu Vaccine Becomes Clearer. Science 2015;349(6243):172 Doshi P. Pandemrix vaccine: why was the public not told of early warning signs? BMJ 2018;362:k39483 Verstraeten T et al. Pandemrix™ and narcolepsy: A critical appraisal of the observational studies. Hum Vaccin Immunother. 2016;12(1):187–1934 Bollaerts K et al. Application of Probabilistic Multiple-Bias Analyses to a Cohort- and a Case-Control Study on the Association between Pandemrix™ and Narcolepsy. PLoS One. 2016;11(2):e01492895 Canelle Q et al. Evaluation of potential immunogenicity differences between Pandemrix™ and Arepanrix™. Hum Vaccin Immunother. 2016;12(9):2289-986 Anderson P. Hidden authority study data have come to light: besides narcolepsy, the swine influenza vaccine Pandemrix caused type 1 diabetes. J Intern Med. 2017;281:99-1017 Ahmed S et al. Narcolepsy and influenza vaccination-induced autoimmunity. Ann Transl Med. 2017;5(1):258 Ahmed S et al. Mechanistic insights into influenza vaccine-associated narcolepsy. Hum Vaccin Immunother. 2016;12(12):3196-32019 Ahmed S et al. The Safety of Adjuvanted Vaccines Revisited: Vaccine-induced Narcolepsy. Isr Med Assoc J. 2016;18(3-4):216-2010 Yasmin S, Mukerjee M. How the World’s First Dengue Vaccination Drive Ended in Disaster. Is a runaway immune reaction making a dengue vaccine dangerous? Scientific American 01.04.2019

ĉ schlechte Wohnverhältnisse, insbesondere für Kinder

ĉ mangelhafte Müllentsorgung

ĉ Armut, Fehlernährung

ĉ schwieriger Zugang zu Bildung

ĉ soziale Unruhen oder Krieg…

Um diese grundlegenden Probleme zu lösen, wä-ren erhebliche gesellschaftliche Veränderungen nötig. Alternativ bot sich die Vermarktung eines Impfstoffes an, was einfacher umsetzbar ist, aber an den grundlegenden sozialen Problemen nichts ändert.

Da schwere Verlaufsformen bei Dengue selten sind (0,01 Prozent), muss die Wahrscheinlich-keit für seltene Nebenwirkungen einer Impfung mindestens um den Faktor 100 niedriger liegen. Insbesondere darf eine Impfung, die in sehr großer Menge an die Bevölkerung verabreicht wird, nicht

ĉ das spätere Auftreten schwerer Verlaufs-formen begünstigen und

ĉ so nebenwirkungsreich sein wie die ver-wandte Gelbfieberimpfung, bei der mit einer schweren impfstoffbedingten Erkrankung pro 200.000 Geimpften zu rechnen ist.

Das Fiasko in den Philippinen 10

2015 wurde in Mexiko der Impfstoff Denguevaxia erstmals zugelassen. Bereits einen Monat später vereinbarte die philippinische Regierung die Liefe-rung von drei Millionen Ampullen des Impfstoffes, der an Kinder ab zwei Jahren verimpft werden sollte. Das Impfprogramm begann quasi mit der Zulassung im April 2016. Die Beschaffungskosten für den Impfstoff lagen mit 50 Millionen Euro höher als bei allen anderen Impfprogrammen: Ein echter Blockbuster.

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7MEZIS Nachrichten 2/2020

Bereits wenige Tage nach dem Start gab es ein erstes Todesopfer mit einem möglichen Zu-sammenhang mit der Impfung, der dann als un-wahrscheinlich erachtet wurde. In einem ersten Zwischenbericht wurde später beschrieben, dass das Risiko für zwei- bis fünfjährige geimpfte Kinder, an einer schweren Dengueinfektion zu erkranken, um den Faktor sieben steige. Auch weitere Unter-suchungen zeigten, dass Denguevaxia für Kinder, die zuvor noch nie an Dengue erkrankt waren, möglicherweise gefährlich sei. Das Risiko für Kin-der, die noch keine Dengueinfektion erlebt hatten, werde durch die Impfung um ein Vielfaches erhöht. D. h. die durch die Impfung erzeugten Antikörper wirkten sich in diesen Kindern negativ auf eine Infektionsbewältigung aus. Allerdings hatte der Hersteller des Impfstoffes (Sanofi Pasteur) vor einer Impfung nur 10 bis 20 Prozent der Kinder auf eine durchgemachte Dengueinfektion unter-sucht. Bis November 2017 wurden über 800.000 Kinder in den Philippinen geimpft. 154 von ihnen waren wegen unterschiedlicher Krankheiten ver-storben, mindestens 19 davon an einer schweren Dengueinfektion.

Sanofi Pasteur empfahl daraufhin, nur noch Kinder über neun Jahre zu impfen und nur, wenn diese schon einmal eine Dengueinfektion durchgemacht hätten. Erst einen Monat später zog die WHO mit der gleichen Empfehlung nach. Im Dezember 2017 wurde das Impfprogramm auf den Philippinen insgesamt gestoppt.

Es wurde errechnet, dass ab 2018 noch etwa 4.000 geimpfte Kinder mit schweren stationären Dengueverläufen rechnen müssen. Im Februar 2019 empfahlen der Senat und das Repräsentanten-haus der Philippinen, den ehemaligen Präsiden-ten Benigno Aquino, die Gesundheitsministerin Janette Garin und weitere Staatsangestellte auf der Grundlage des Antikorruptionsgesetzes anzu-klagen. Mitangeklagt ist eine Wissenschaftlerin von Sanofi Pasteur, die die klinischen Studien ge-leitet hatte. 30 Eltern von verstorbenen Kindern erstatteten Strafanzeige. Und viele Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr gegen Masern impfen, da sie Impfungen generell misstrauten. In der Folge kam es zu Masernepidemien.

1 NPR 03.05.2019: Rush to Produce, Sell Vaccine Put Kids in Philippines at Risk https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2019/05/03/719037789/botched-vaccine-launch-has-deadly-repercussions?t=1588057357511&t=1588060127327

Hätten diese drei Katastrophen abgewendet werden können?

Im Prinzip ja, wenn

ĉ Infektionskrankheiten auch als soziale Phänomene verstanden und entsprechende Vorsorgemaßnahmen entwickelt werden.

ĉ nicht die Bekämpfung eines Virus in den Vordergrund gestellt wird, sondern die all-gemeinen gesundheitlichen Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen ge-fördert werden.

ĉ Phase-III-Studien sorgfältig und nicht über-stürzt durchgeführt werden.1

ĉ nach der Markteinführung herstellerun-abhängige Phase-IV-Studien (Vergleich Geimpfter und Nichtgeimpfter über mindes-tens 12 Monate) durchgeführt werden.

ĉ nach dem Vorsorgeprinzip gehandelt wird und trotz unvollständiger Wissensbasis alle denkbaren Schäden für die Gesund-heit im Voraus vermieden werden!

HELMUT JÄGERDr. med. Helmut Jäger, MEZIS-Mitglied seit

etwa 2014. Seit 2018 im erweiterten Vorstand von MEZIS. Facharzt für Frauenheilkunde

und Geburtshilfe, seit 2018 in Rente. Weitere Tätigkeitsfelder: Coach und Bewegungslehrer.

Web: www.medizinisches-coaching.netInteressenkonflikte: Keine

AUTOR

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USER-EDIT DOMINIKUS BÖNSCH

Apps retten die Welt

Digitalisierung überall

Spätestens seit der Phase, die die Welt als „Co-rona“ bezeichnet, ist die Digitalisierung unserer Welt kaum mehr aufzuhalten. Nicht nur Schulen haben nichts Dringlicheres zu tun, als Lehrer und Tafeln 2.0 zu kreieren, und Stadtverwaltungen wollen fortschrittlich vom Nummernziehen auf digitale Tickets umschwenken – auch die Me-dizin ist natürlich schon längst dabei. Eine ge-sellschaftliche Transformation ist im Gange, der die Diskussion darüber weit hinterher hinkt: Wer wird unser digitales Leben zukünftig gestalten? Der Staat? Die Wirtschaft? Bürgerin und Bürger, Patientin und Patient?

Und keine Frage – sinnvolle Anwendungen von Apps, mobilen Programmen, für Patientinnen und Patienten, „Kundinnen und Kunden“, lassen sich zu Tausenden vorstellen. Und genau das ist auch bereits passiert. Firmen wurden gegründet, große und kleine, bereits bestehende haben den Markt für sich erschlossen – und innerhalb kürzester Zeit

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9MEZIS Nachrichten 2/2020

entstanden zigtausende Apps für jeden Zweck. Und täglich kommen zahllose dazu. Gefördert wurde dieser Trend schon vor „Corona“ durch die Ankündigung des Gesundheitsministers, sie auf Rezept verordnen zu wollen – der dann allerdings wenig Konkretes folgte.1, 2, 3 Und nochmals: gar keine schlechte Idee. Gerade in der Psychiatrie, in der ich zuhause bin, wären viele Bereiche sinnvoll mit Apps zu unterstützen. Studien zeigen ganz deutlich, dass Online-Therapie, richtig gemacht, keinesfalls schlechter ist als Face-to-Face-Be-handlungen.4 Stimmungstagebücher, Apps zur Information über und Prophylaxe von Depression, Apps für Patientinnen und Patienten mit schizo-phrenen Störungen erweisen sich als unglaublich sinnvolle Ergänzungen. Vor allem, weil sie immer dabei sind, die Therapeutin oder der Therapeut aber nur manchmal erreichbar ist. Außerdem gilt gerade in der Verhaltenstherapie: Vieles des Erarbeiteten muss einfach geübt werden. Die App hat nach 50 Versuchen noch nicht genug. Auch als Indikator für bipolare Störungen – die Handynutzung sieht signifikant anders aus, wenn gerade eine Manie oder eine Depression im Anflug sind. Dies könnte über die Nutzung problemlos erfasst werden.

Und das sind nur ein paar wenige Beispiele aus der Psychiatrie. Andere Fächer haben noch viel mehr zu bieten: Das Handy als mobile Hautkrebs-erfassungseinheit. Oder als Krankenakte. Oder Ultra-Langzeit-EKG oder….

MEZIS-Thema!

Warum ist das dann überhaupt ein Thema für MEZIS und nicht einfach ein neues Kapitel im großen Buch der Fortschritte der Medizin?

1 Bundesministerium für Gesundheit (2020) „Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV)Verordnung über das Verfahren und die Anforderungen der Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsanwendungen in der gesetzlichen Krankenversicherung“, 17.4.2020. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/digav.html (Zugriff 10.6.2020)2 Bundesministerium für Gesundheit (2020) „Ärzte sollen Apps verschreiben können; Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz - DVG)“, 2.4.2020 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/digitale-versorgung-gesetz.html#c15518 (Zugriff 10.6.2020)3 „Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps (CHARISMHA)“, Albrecht, U.-V. (Hrsg.), Medizinische Hochschule Hannover, 2016. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/A/App-Studie/CHARISMHA_gesamt_V.01.3-20160424.pdf (Zugriff 10.6.2020)4 Carlbring P, Andersson G, Cuijpers P, Riper H, Hedman-Lagerlöf E. Internet-based vs. face-to-face cognitive behavior therapy for psychiatric and somatic disorders: an updated systematic review and meta-analysis. Cogn Behav Ther. 2018;47(1):1‐185 Milne-Ives M, Lam C, De Cock C, Van Velthoven MH, Meinert E. Mobile Apps for Health Behavior Change in Physical Activity, Diet, Drug and Alcohol Use, and Mental Health: Systematic Review. JMIR Mhealth Uhealth. 2020;8(3):e170466 Europäische Kommission (2018) "Privacy Code of Conduct on Mobile Health Apps", European Data Protection Boards, 10.12.2018 https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/privacy-code-conduct-mobile-health-apps (Zugriff 10.6.2020)

Weil so gut wie alles dazu noch zu klären ist. Zum einen fehlen für fast alle Apps Wirksamkeitsnach-weise, wie wir sie für alle unsere Therapien fordern. Ein winziger, geradezu unerheblicher Teil der ver-schiedensten Apps wurde in nachvollziehbaren Studien untersucht und publiziert.5 Geschätzt (aufgrund der uneinheitlichen Veröffentlichung der Apps nicht anders zu machen), liegt hier ein Verhältnis von ca. 1:100 vor. Fast alle Apps gelangen ohne irgendeine Form von neutraler Überprüfung auf den Markt.

Das heißt, dass wir für eine einzelne App im Re-gelfall völlig ohne Informationen sind, ob sie das angegebene Ziel auch nur annähernd erreicht.

Selbst wenn wir das wüssten, ist dann aber bei vielen Apps nicht publiziert, was genau sie eigent-lich machen. Während es für Medikamente vor-geschrieben ist, dass dargelegt wird, was genau in der Pille steckt und wenigstens eine Vorstellung der Wirkungsweise existiert, sind die Algorithmen dieser Apps im Regelfall nicht offengelegt.

Und kommen wir zum größten der Probleme: Was passiert eigentlich mit den erfassten Daten? Hier stoßen wir auf blanke Leere. Es gibt aber auch kaum Richtlinien oder gar gesetzliche Bestim-mungen, die App-Herstellerinnen und -Hersteller befolgen müssten. Ein Beispiel: Die Europäische Kommission erarbeitete eine Verhaltensnorm für die App-Herstellung – die unverbindlich ist und eine freiwillige Beteiligung vorsieht.6 Eine Über-prüfung der Kriterieneinhaltung findet nicht statt.

Aktuelle Studien belegen, dass derzeit ein weitge-hend unregulierter Datenabfluss aus den Apps zu Firmen, Tracking- und Analysediensten – zum Teil über Dritte – weltweit stattfindet, trotz der Daten-schutz-Grundverordnung DSGVO und sogar, wenn

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solch ein Transfer explizit ausgeschlossen wurde.1, 2

Es ist also meist nicht erkennbar, welche Daten neben den von der Nutzerin und dem Nutzer selbst eingegebenen, wie Kontakte, Browserver-läufe, Facebook/Werbe-ID's, Handy-Sensordaten, Standorterfassung, usw. durch die Apps erfasst werden. Und es ist meist nicht klar, wie sicher diese sind – und ob die App nicht sogar dazu konzipiert ist, möglichst viele Informationen über die User zu sammeln, mit dem Ziel, diese an wen auch immer weiterzugeben oder für was auch immer zu nutzen.

Bessere Regeln und breite Diskussion erforderlich

Aus Gründen mangelnder Evidenz für den Nutzen und dem immensen Problem der Datensparsamkeit und Datensicherheit können Apps derzeit auch nicht ernsthaft empfohlen werden. Denn wie wir Patientinnen und Patienten über Nebenwirkungen von Behandlungen aufklären müssen, müssten wir auch hierfür Mitverantwortung übernehmen. Und wie sollte dies gehen, wo wir selbst keiner-lei Informationen darüber haben, was mit den Daten passiert? 3

Da Apps natürlich trotzdem in vielen Bereichen sinnvoll sind und Patientinnen und Patienten sie schon längst nutzen und auch danach fragen, kann eigentlich nur auf „Empfehlungsseiten“ verwiesen werden. Davon haben sich inzwi-schen einige etabliert. Hier werden Erfahrungen gesammelt und auch teilweise Angaben zum Datenschutz gemacht. Übersichten über häufig genutzte Apps oder auch Empfehlungen werden z. B. gesammelt auf:

www.ztg-nrw.de/gesundheits-apps

www.kuketz-blog.de/projekte-dienste/ #gesundheits-apps

www.codeberg.org/maltekiefer/Kuketz-Blog/src/branch/master/Gesundheits-App.md

www.healthon.de

www.beacon.anu.edu.au

1 Huckvale K, Torous J, Larsen ME. Assessment of the Data Sharing and Privacy Practices of Smartphone Apps for Depression and Smoking Cessation. JAMA Netw Open. 2019;2(4):e1925422 Grundy Q, Chiu K, Held F, Continella A, Bero L, Holz R. Data sharing practices of medicines related apps and the mobile ecosystem: traffic, content, and network analysis. BMJ 2019;364:l9203 Tagesspiegel (2019) „Wirksamkeit von Gesundheits-Apps fraglich: Es lässt sich kaum beurteilen, ob ein Gütesiegel tatsächlich etwas wert ist" Rainer Woratschka, 15.05.2019 https://www.tagesspiegel.de/wissen/wirksamkeit-von-gesundheits-apps-fraglich-es-laesst-sich-kaum-beurteilen-ob-ein-guetesiegel-tatsaechlich-etwas-wert-ist/24346626.html (Zugriff 10.6.20209)4 https://publiccode.eu/de/ (Zugriff 10.6.2020)

Regeln für Apps und Transparenz sind also drin-gend erforderlich. Was sollte berücksichtigt werden?

ĉ Privacy by Design: Nur die Daten, die wirklich absolut erforderlich sind, sollen er-hoben und gespeichert werden. Grundlage dafür ist der Absatz 1 des Artikels 5 der DSGVO. Pseudonyme wo immer möglich. End-zu-End-Verschlüsselung muss obligat sein. Die Datenschutzregelungen müssen dokumentiert sein. Nutzerinnen und Nutzer müssen darüber aktiv entscheiden können (Opt-in), welchen Prozessen sie zustimmen.

ĉ Software, die gut funktioniert, wird rasch „alternativlos“. So wie sich Google, Face-book und Amazon fest in unser Leben inte-griert haben. Aber was ist mit Menschen, die aufgrund einer Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, sie zu nutzen – oder sie bewusst nicht nutzen wollen? Diese dürfen keine Nachteile erleiden.

ĉ Public money – Public code: Software, die mit Steuergeldern oder mit Unterstützung der Krankenkassen finanziert wurde, muss öffentlich gemacht werden. Der vollstän-dige Code muss frei und ohne Zugangsbe-schränkungen verfügbar sein.4

ĉ Software muss plattformunabhängig nutzbar sein. Es darf keine Monopole für einzelne Betriebssysteme oder Firmen geben. Daten müssen jederzeit gelöscht werden können, die Nutzer müssen volle Verfügung über ihre Konten haben.

ĉ Die Besonderheit der Patientenakte muss gewahrt sein: Recht auf Vertraulichkeit, Recht auf nur teilweise Freigabe und deren Widerruf, Recht auf Änderung unrichtiger Einträge, Recht auf strikte Beachtung der Zweckbindung, Recht auf freie Arztwahl, das Recht, keine elektronische Gesund-heitsakte zu haben, das Recht auf volle Verfügung über die eigene Akte.

Alle diese Regeln müssen natürlich auch für die verschiedenen Formen von Corona-Apps gelten,

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die derzeit zum Download angeboten werden. Die zum Teil haarsträubenden Erfahrungen aus unseren Nachbarländern sollten uns eine Warnung sein.1 Hier besteht die ganz große Gefahr, dass mit dem Argument der Dringlichkeit und der Ge-fahrenabwendung essentielle Rechte in Gefahr geraten.2 Eine Möglichkeit, diese zu schützen, wäre der Einbezug der Bürgerinnen und Bürger, der Ärztinnen und Ärzte und der Patientinnen und Patienten. In einem Artikel in der FAZ vom 26.5.2020 schrieb der Juraprofessor Karl-Heinz Fezer ein Plädoyer für eine digitale Bürgerplatt-form: „Die Wahrnehmung digitaler Bürgerrechte auf einer digitalen Bürgerplattform stellt einen transparenten und demokratischen Kommuni-kationsprozess im Sinne von Pluralität einer offenen Gesellschaft dar. Das gilt selbst für den universalen Geltungsanspruch als Dimension der Menschenrechte – wie der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung im Datenrecht – Grundrechte, die in einer digitalen Welt der Konkretisierung und in der globalen Welt zugleich einer praktischen Konkordanz be-dürfen.“ Eine von vielen Möglichkeiten. Aber am wichtigsten ist: Wir müssen anfangen, darüber zu diskutieren, wie wir uns die digitale Welt vor-stellen. Und uns nicht von ihr überrollen lassen.

1 Netzwerk.org (20202) „Corona-Apps; Was Deutschland von der Welt lernen kann“, Tomas Rudl, Ingo Dachwitz, Marie Bröckling, Daniel Laufer, Julia Barthel, 29.5.2020 https://netzpolitik.org/2020/was-deutschland-von-der-welt-lernen-kann (Zugriff 10.6.2020)2 Chaos Computer Club (2020) „10 Prüfsteine für die Beurteilung von „Contact Tracing“-Apps“, 6.4.2020. https://www.ccc.de/de/updates/2020/contact-tracing-requirements (Zugriff 10.6.2020)

DOMINIKUS BÖNSCHProf. Dr. med. Dominikus Bönsch, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, ist Chefarzt und Ärztlicher Direktor des BKH Lohr am Main. Immaterielle Interessenkonflikte: Mezis-Vorstandsmitglied, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und der Bundesdirektorenkonferenz Psychiatrie, Mitarbeit bei leitlinienwatch.de.

AUTOR

USER-EDIT CLAUDIA JENKES

1 WHO (2019) Global TB Report. Country Profile. www.who.int/tb/data/GTBreportCountryProfles.pdf?ua=1 (Zugriff 21.1.2020)

In der Klemme

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung der BUKO Pharma-Kampagne nachgedruckt aus dem Pharma-Brief Spezial 1/2020 vom 19.5.2020 „Resistente Erreger – Gefahr für Mensch, Tier und Umwelt“.

Der Pharma-Brief 1/2020 wurde gefördert durch die Stiftung Umwelt und Entwicklung NRW. Er ist online unter https://www.bukopharma.de/index.php/de/publikationen/pharmabrief-spezial verfügbar.

Diagnose und Behandlung resistenter Keime stellen das indische Gesundheitssystem vor eine gewaltige Herausforderung. Denn die Bürde an Infektionskrankheiten ist hoch und im Gesundheitssystem gibt es viele Lücken – u. a. bei der Labortechnik zur Bestimmung der Keime. Alte Geißeln wie Tuberkulose und Cholera sind längst nicht besiegt und weisen inzwischen hohe Resistenzraten auf. Zugleich machen neue Superkeime Probleme.

2018 erkrankten über zweieinhalb Millionen Inde-rInnen an Tuberkulose. Ein Viertel aller TB-Kranken erhält laut Schätzung der WHO keine Therapie und nur 80% der Behandelten werden auch geheilt.1 Resistente Erreger sind schon allein vor diesem

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Hintergrund ein erschreckendes Szenario. Sie machen die Behandlung nebenwirkungsreicher und komplizierter, verlängern die Behandlungs-dauer von sechs Monaten auf bis zu zwei Jahre, verursachen extreme Kosten und verringern die Chancen auf Heilung deutlich.1 2018 gab es laut WHO 130.000 neue Fälle von MDR-TB in Indien.

Lungenentzündung, Typhus und Cholera

Bei gramnegativen Bakterien zeigen sich in in-dischen Krankenhäusern hohe Resistenzraten mit wachsender Unempfindlichkeit gegenüber Breitspektrum-Antibiotika und auch gegenüber wichtigen Reserve-Antibiotika.2 Mehr als 70% der Isolate von Kolibakterien sind laut offiziellen Angaben unempfindlich gegenüber Breitspektrum-Antibiotika wie Fluoroquinolone und Cephalospo-rine der dritten Generation. Gleiches gilt für die Krankenhauskeime Klebsiella pneumoniae und Acinetobacter baumannii, beide eine häufige Ursache von im Krankenhaus erworbenen Lungen-entzündungen und anderen Infektionen. Auch die Hälfte aller Isolate des Pseudomonas aeruginosa-Erregers – eines weiteren wichtigen Krankenhaus-keims – waren gegen die Breitband-Antibiotika resistent. Verschiedene Resistenzgene machen die Krankenhauskeime immer häufiger unempfindlich. Gramnegative Bakterien zeigten sich außerdem in hohem Maß unempfindlich gegenüber Wirk-stoffen aus der Gruppe der Carbapeneme – eine unverzichtbare letzte Reserve, um gravierende bakterielle Infektionen behandeln zu können. Die höchsten Resistenzraten zeigte A. baumannii-Keime mit rund 70%, gefolgt von K. pneumoniae (56,6%).3 Resistenzen gegenüber dem wichtigen Reserveantibiotikum Colistin bereiten ebenfalls Grund zur Sorge. Viele Krankenhaus-PatientInnen sterben mangels anderer Behandlungsoptionen. Blutvergiftungen, die auf eine im Krankenhaus erworbenen Lungenentzündung zurückzuführen sind, enden in 70% der Fälle tödlich, weil Colistin und auch Carbapeneme nicht mehr wirken.2 Auch

1 WHO (2019) WHO consolidated guidelines on drug-resistant tuberculosis treatment. www.who.int/tb/publications/2019/consolidatedguidelines-drug-resistant-TB-treatment/en/ (Zugriff 22.1.2020)2 Gandra S et al. (2017) Scoping Report on Antimicrobial Resistance in India. https://cddep.org/wp-content/uploads/2017/11/AMR-INDIASCOPING-REPORT.pdf (Zugriff 21.1.2020)3 Veeraraghavan B and Walia K. Antimicrobial susceptibility profile & resistance mechanisms of Global Antimicrobial Resistance Surveillance System (GLASS) priority pathogens from India. Indian Journal of Medical Research 2019;149(3):87-964 Taneja N and Sharma M. Antimicrobial resistance in the environment: The Indian scenario. Indian Journal of Medical Research 2019;149(29):119-1285 Ganesh Kumar S et al. Antimicrobial resistance in India: A review. Journal of Natural Science Biology and Medicine 2013;4(2):286-2916 Kulkarni AP et al. Current Perspectives on Treatment of Gram-Positive Infections in India: What Is the Way Forward? Hindawi. Interdisciplinary Perspectives on Infectious Diseases 2019;1-9 doi:10.1155/2019/7601847

bakterielle Erreger der Ruhr, Salmonellen- oder Cholera-Erreger entwickeln zunehmend Resisten-zen gegenüber Standard-Therapien. Bei Salmonella typhi und Shigella-Arten wurden Resistenzraten von 28 bzw. 82% gefunden. Bei Cholera-Erregern rangierten die Resistenzraten in verschiedenen Teilen des Landes zwischen 17 und 75%.

MRSA weit verbreitet

Bei den grampositiven Bakterien bereiten MRSA, der multiresistente Staphylococcus aureus-Keim, aber auch resistente Pneumokokken-Keime Proble-

me.2,4 MRSA wird in Indien häufig auch ambulant bzw. im häuslichen Umfeld erworben und ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Studien fanden eine Inzidenzrate von 10%.5 Zunehmend beobachtet man, dass der Keim auch außerhalb des Kran-kenhauses invasiv und ansteckend ist. Er kann Haut- und Wundinfektionen verursachen, aber auch lebensbedrohliche Infektionen wie septische Schocks und schwere Formen der Pneumonie.6

58.000 Neugeborene sterben in Indien jedes Jahr an resistenten Keimen. Foto: © M. Davies, Bureau of investigative Journalism

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Neugeborene sterben durch Sepsis

Stark im öffentlichen Fokus steht seit einigen Jahren die Säuglingssterblichkeit: Man schätzt, dass in Indien jedes Jahr 58.000 Neugeborene an resistenten Infektionen sterben.1 Weil ihr Immunsystem noch nicht entwickelt ist, sind sie besonders anfällig für Infektionen. Gelangt die Infektion in die Blutbahn, verursacht sie eine ge-fährliche Entzündungsreaktion. In Südasien sind solche Fälle neonataler Sepsis stark verbreitet und 4 bis 10 mal häufiger als in reichen Ländern. Grund dafür sind vor allem mangelnde Hygiene bei der Entbindung im Kreißsaal, bei Kaiserschnitten oder auf den Säuglingsstationen.2 Insbesondere bei früher Sepsis kann die Infektion aber auch von der Mutter auf das Kind übertragen worden sein. Die meisten Infektionen treten in Indien bereits in den ersten 72 Stunden nach der Geburt auf. Auslöser der Sepsis sind häufig Klebsiella pneumoniae oder E. coli-Bakterien, aber auch Staphylococcus aureus-Keime. Sie alle weisen hohe Resistenzraten auf.3,4 „In den meisten gro-ßen Krankenhäusern, wo Babies mit Sepsis be-handelt werden, sind Standardantibiotika nicht mehr wirksam“, so Suman Chaurasia, Kinderarzt und Sepsis-Forscher am All India Institute of Medical Sciences, einem führenden staatlichen Universitäts-Krankenhaus in Delhi.5 Er und seine Kollegen untersuchten von Juli 2011 bis Februar 2014 an drei staatlichen Krankenhäusern in Delhi 13.530 Neugeborene. 15% der Babies erlitten eine Sepsis – die Krankheit war für ein Viertel aller Todesfälle bei Neugeborenen verantwortlich.6 50-88% der Isolate, die Sepsis verursachen, zeigten in der Studie Resistenzen gegenüber Standard-antibiotika. Einer der Erreger war Acinetobacter, ein Bakterium mit weiter Verbreitung in Boden und Oberflächengewässern sowie im Trink-und Abwasser. Es hatte eine Resistenzrate von 82%. Zwei Drittel der Babies, die mit dem Keim infiziert waren, starben.

1 Laxminarayan R et al. Antibiotic resistance - the need for global solutions. The Lancet Infectious Diseases 2013;13(12):1057-10982 Chaurasia S et al. Neonatal sepsis in South Asia: huge burden and spiralling antimicrobial resistance. BMJ 2019;364:53143 Muthukumaran N. Mortality profile of neonatal deaths and death due to neonatal sepsis in a tertiary care center in southern India: A retrospective study. International Journal of Contemporary Pediatrics 2018;5(4):1583-15874 Bandyopadhyay T et al. Distribution, antimicrobial resistance and predictors of mortality in neonatal sepsis. Journal Neonatal Perinatal Medicine 2018;11(2):145-1535 Zit. n. Davies M (2018) Babies hit the hardest by India´s Antibiotic Resistance Crisis. www.thebureauinvestigates.com/stories/2018-11-14/babies-hit-the-hardest-by-indias-antibiotic-resistance-crisis (Zugriff 15.1.2020)6 Delhi Neonatal Infection Study (DeNIS) collaboration. Characterisation and antimicrobial resistance of sepsis pathogens in neonates born in tertiary care centres in Delhi, India: a cohort study. Lancet Global Health 2016;4:e752-e7607 Aussage von Dr. Achut im Interview mit unserem indischen Partner Dr. Gopal Dabade am 07.2.2020

Düstere Aussichten

Grund für die schlechten Überlebenschancen ist auch die langwierige Diagnostik. „Sobald die Babies Anzeichen einer Sepsis zeigen, müssen wir sie behandeln, sonst verlieren wir sie“, sagt der indische Kinderarzt Dr. Achut. „Labor-Ergebnis-se von Blut- und Urintests bekommen wir aber erst nach drei bis vier Tagen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns bei der Auswahl der Antibiotikatherapie auf unsere Erfahrung zu verlassen.“ 7 Bessere diagnostische Möglichkeiten und Schnelltests auf allen Ebenen der Gesund-heitsversorgung wären deshalb enorm wichtig. „Wir sind in der Klemme und die Aussichten sind düster,“ resümiert Dr. Chaurasia. Denn auch Reser-veantibiotika verlören zunehmend ihre Wirkung. Bei Erwachsenen mit Sepsis könne man auf ältere Wirkstoffe oder Kombinationen ausweichen, die ursprünglich für andere Indikationen bestimmt waren. Es gebe aber zu wenig Daten darüber, wie diese Medikamente im Körper von Neugeborenen wirken. „Unsere größte Sorge ist, welche Medika-mente uns bleiben. Wie sollen wir Babies künftig behandeln, wenn uns Arzneimittel wie Colistin aus den Händen genommen werden?“

Armut fördert Resistenzen

Faktoren wie Armut, mangelnde Bildung, beengte Wohnverhältnisse und Mangelernährung heizen die Resistenz-Problematik zusätzlich an. Denn sie fördern die Ausbreitung von Infektionskrankheiten und auch den Fehlgebrauch von Antibiotika. Der Verbrauch von Antibiotika in der Humanmedizin hat sich zwischen 2010 und 2015 mehr als ver-doppelt. Selbstmedikation oder die Verordnung von Antibiotika durch HeilerInnen oder informelle ÄrztInnen – vor allem im ländlichen Indien – sind an der Tagesordnung. Die selbsternannten Doktoren bieten kostengünstig ihre Dienste an und sind für arme Menschen häufig die einzige Chance auf

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medizinische Versorgung.1 Eine Auswertung von über 15.000 Rezepten aus solchen Praxen ergab, dass bei Antibiotika-Verschreibungen zu 95% Breitband-Antibiotika verordnet wurden, häufige Indikationen waren Zahnprobleme, Fieber und Atemwegserkrankungen.2 Doch auch ausgebildete ÄrztInnen verordnen zu häufig Reserveantibiotika – auch weil es an geeigneten Diagnostika und an Labortechnik fehlt, um den Erreger und seine

1 Fischer C et al. (2011) Um jeden Preis? Untersuchung des Geschäftsverhaltens von Boehringer Ingelheim, Bayer und Baxter in Indien. Bielefeld: BUKO Pharma-Kampagne. www.bukopharma.de/images/pharmabriefspezial/2011/2011_01_Spezial_Indien.PDF (Zugriff 15.1.2020)2 Khare S et al. Antibiotic Prescribing by Informal Healthcare Providers for Common Illnesses: A Repeated Cross-Sectional Study in Rural India. Antibiotics (Basel) 2019; 8(3):1393 Kotwani A and Holloway K. Access to antibiotics in New Delhi, India: implications for antibiotic policy. Journal of Pharmaceutical Policy and Practice 2013;6:64 Für die BUKO Pharma-Kampagne formuliertes Statement zum Weltantibiotika-Tag 20195 Ranjalkar J and Chandy SJ. India’s National Action Plan for antimicrobial resistance – An overview of the context, status, and way ahead. Journal Family Medicine Primary Care 2019; 8(6):1828-18345 Aussage im Interview mit Madlen Davies / The Bureau of Investigative Journalism, August 2019

Sensibilität zu bestimmen. In Krankenhäusern wiederum mangelt es an Richtlinien zur effekti-ven Prävention und Kontrolle resistenter Keime. Wichtige essenzielle Antibiotika sind zum Teil in Krankenhaus-Apotheken nicht verfügbar, wäh-rend andere auch ohne Rezept leicht zu haben sind.3 Die Probleme sind vielschichtig, wie auch unser Partner Rahul Meesaraganda betont: „Hohe Gewinnspannen beim Verkauf von Antibiotika, schlechte Regulierung des Arzneimittelmarktes und fehlende Verantwortlichkeit sind hier in In-dien der perfekte Mix, um resistente Bakterien entstehen zu lassen, die vorhandene Antibiotika spielend schachmatt setzen.“ 4 Indiens nationaler Aktionsplan zu antimikrobiellen Resistenzen nimmt diese Probleme durchaus in den Blick. Er will das Bewusstsein für Antibiotika-Resistenzen schärfen, die Resistenz-Überwachung und Datenerhebung verbessern, Infektionsraten senken und einen nachhaltigen Gebrauch von Antibiotika fördern. Doch die Umsetzung des gewaltigen Vorhabens geht nur schleppend voran – u. a. weil es an einer soliden Finanzierung fehlt und sinnvolle neue Ini-tiativen und Projekte neben anderen drängenden Aufgaben zurückstehen müssen.5

„In Indien gibt es fünfmal so viele Heiler, die in ländlichen Regionen praktizieren, wie ausgebil-dete Mediziner. Wenn man das bedenkt, ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Antibioti-ka die Patienten auf diesem Weg erreichen. (…) Den Zugang zu Antibiotika zu sichern und zu-gleich Überverschreibung und unangemessenen Gebrauch zu vermeiden, darin liegt die Heraus-forderung.“ 5

Prof. Ramanan Laxminarayan, Direktor des Centre for Disease Dynamics, Economics and Policy (CDDEP)

CLAUDIA JENKESClaudia Jenkes ist Diplom-Journalistin. Sie koordiniert bei der BUKO Pharma-Kampagne seit 1999 neben anderen Aufgaben Bildungsarbeit-Projekte und ist für die redaktionelle Bearbeitung der Publikationen zuständig.Interessenkonflikte: Keine

AUTORIN

Foto: ww

w.bukopharm

a.de

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USER-EDIT NIKLAS SCHURIG

1 Hristio Boytchev (2016). 200.000 Euro Pharma-Honorar „Geld interessiert mich nicht“. Der Spiegel, 19.07.2016 https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/hans-christoph-diener-200-000-euro-honorar-von-pharmabranche-a-1103640.html (Zugriff am 11.6.2020)2 Paquette M, França LR, Teutsch C, et al. Dabigatran Persistence and Outcomes Following Discontinuation in Atrial Fibrillation Patients from the GLORIA-AF Registry. Am J Cardiol. 2020;125(3):383‐391. https://www.ajconline.org/article/S0002-9149(19)31234-2/fulltext#seccesectitle0005 (Zugriff am 11.6.2020)

„Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei!“ und die Zeitschrift Arzneimitteltherapie ist eine „unabhängige Information zur Pharmakotherapie“

Die Zeitschrift „Arzneimitteltherapie – Unab-hängige Informationen zur Pharmakotherapie" Jahrgang 38, Ausgabe 5/2020 zum stolzen Ein-zelpreis von 18 Euro wird an erster Stelle heraus-gegeben vom ärztlichen Titelverteidiger „Meiste Interessenkonflikte in Deutschland schlechthin" Hans-Christoph Diener. Laut „Der Spiegel" vom 16.7.2016 kassierte er pro Jahr bis zu 200.000 Euro Honorar von Pharmafirmen.1 Aus einer seiner aktuellen Interessenkonflikterklärungen ist zu entnehmen, dass er Gelder von fast 40 Pharma-firmen erhält, in dessen Advisory Boards er auch teilweise selbst sitzt.2

Im Heft 5 der „Arzneimitteltherapie“ gibt es drei ganzseitige Arzneimittelwerbungen, zwei davon bewerben Diabetes-Medikamente – diese werden in der vorliegenden Ausgabe gleich mehrfach positiv besprochen.

Als zweite Rubrik folgt das „Industrieforum" in dem nur „Meldungen [...] mit Hilfe von Industrie-informationen" veröffentlicht werden – für die die Herausgeber der Zeitschrift vorsorglich „keine Verantwortung" übernehmen. Nicht verwunder-lich, dass in dieser Rubrik auch eine Pressemit-teilung der PR-Abteilung zum Präparat „Vyndaqel" zu finden ist, schließlich hat der Hersteller eine ganzseitige Anzeige dazu im Heft bezahlt.

Der darauffolgende Artikel zur „Pharmakotherapie des Status Epilepticus" wird konsequenterweise von einem Autor verfasst, der ebenfalls nach-weislich Gelder von eben den Pharmafirmen bekommt, die die im Artikel (durchweg positiv) besprochenen Medikamente auch im Portfolio haben (Eisai und UCB).

Nach weiteren quälenden Rubriken wie „Aus For-schung und Entwicklung" und „Pressekonferenzen"

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dürfte die geneigte Leserin und der geneigte Leser nicht verwundert sein, dass entgegen der norma-len Publikationsempfehlungen für medizinische Fachzeitschriften bei den meisten Autorinnen und Autoren in diesem Heft überhaupt keine Interessenkonflikte angegeben werden.

In der Zusammenfassung steht für mich die Zeitschrift „Arzneimitteltherapie - Unabhängige Informationen zur Pharmakotherapie“ für genau das Gegenteil dessen, was es zu sein behauptet, nämlich für sublime, intransparente Verbreitung von Pharmawerbung:

ĉ durch bewusstes Verschweigen mannigfal-tiger Interessenkonflikte,

ĉ durch konsequentes Ignorieren anerkannter journalistischer und publizistischer Minimal-standards wie Trennung von Werbung und Information oder anerkannte Codices wie ICMJE (International Committee of Medical Journal Editors) oder anderen,

ĉ durch Fokussierung auf Themen, die nach-weislich zu den Sponsoren der Werbung in diesem Heft passen und

ĉ durch Publikation ausschließlich positiver Studienergebnisse in diesem engen Fokus.

Kurzum ein weiteres von vielen pseudowissen-schaftlich angehauchten „U-Booten" der Pharma-industrie, welches das Papier nicht wert ist, auf das es gedruckt wurde.

Die dritte Parole nach „Krieg ist Frieden“ und „Freiheit ist Sklaverei“ aus Orwells Roman „1984“ aus dem Ministerium für Wahrheit lautet übrigens: „Unwissenheit ist Stärke“.

AUTOR

NIKLAS SCHURIGDr. med. Niklas Schurig ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Er ist Mitglied im MEZIS-Vorstand.Interessenkonflikte: Keine

Leserbrief ans Deutsche Ärzteblatt… …der nie gedruckt wurde Leserbrief zum Ärzteblatt-Medizinreport-Artikel „Sekundärprävention nach akutem Koronarsyn-drom: Von einer intensiven Lipidsenkung profitieren vor allem Patienten ab 75 Jahren", Dtsch Arztebl 2020;117(5):A-210/B-189/C-185

Falscher Fokus?Im Medizinreport-Artikel „Sekundärprävention nach akutem Koronarsyndrom: Von einer intensiven Lipid-senkung profitieren vor allem Patienten ab 75 Jahren", Dtsch Arztebl. 2020;117(5):A-210/B-189/C-185, wird eine Nachfolgestudie zur umstrittenen IMPROVE-IT-Studie besprochen. Diese Nachfolgestudie wurde wie die IMPROVE-IT-Studie ebenfalls von der Firma Merck (MSD in Deutschland) finanziert. Der einzige zitierte Experte im Artikel, Oliver Weingärtner, erhielt als Redner Gelder von der Firma Merck, in dessen Beirat er auch sitzt.1 Die Firma Merck vertreibt mit Ezetrol den Cholesterinsenker aus der IMPROVE-IT-Studie.

Ein Blick in die für Deutschland maßgebliche Nationale Versorgungsleitlinie KHK (welche die IMPROVE-IT-Stu-die bereits berücksichtigt) dreht den Fokus diametral: „Im Unterschied zur Statintherapie ist für Ezetimib keine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität und Gesamtmortalität nachgewiesen.“2 Ausgehend von der fundierten Einschätzung dieser aktuellen S3-Leitlinie ändert auch die erneut herstellerfinanzierte nachträgliche „Datenmassage“ für eine zudem in der Praxis wenig relevante geriatrische Subgruppe nichts.

Damit die Leserin und der Leser diese „Studien im Fokus“ beurteilen kann, fände ich seitens der Ärzteblatt-Re-daktion die Angabe der relevanten Interessenkonflikte wünschenswert – ansonsten könnten „Medizinreport“-Texte mit nicht transparent dargestellten und doch relevanten Interessenkonflikten für Schleichwerbung gehalten werden.

Dr. med. Niklas Schurig Mitglied des MEZIS-Vorstands

1 Jones PJH, Shamloo M, MacKay DS, Rideout TC, Myrie SB, Plat J, Roullet JB, Baer DJ, Calkins KL, Davis HR, Barton Duell P, Ginsberg H, Gylling H, Jenkins D, Lütjohann D, Moghadasian M, Moreau RA, Mymin D, Ostlund RE Jr, Ras RT, Ochoa Reparaz J, Trautwein EA, Turley S, Vanmierlo T, Weingärtner O. Progress and perspectives in plant sterol and plant stanol research. Nutr Rev. 2018;76(10):725-746. Declaration of interest https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6130982/2 Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale Versorgungsleitlinie Chronische KHK, 5. Auflage, 2019, Version 1, AWMF-Register-Nr.: nvl-004 https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-004l_S3_KHK_2019-04.pdf, S. 65„Im Unterschied zur Statintherapie ist für Ezetimib keine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität und Gesamtmortalität nachgewiesen. Ezetimib ist deshalb nach Einschätzung der Autoren nur als Mittel der zweiten Wahl bei Patienten einzusetzen, welche keine Hochdosis-Statintherapie vertragen bzw. nicht ausreichend auf sie ansprechen.“

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MEZIS Jahrestreffen 2020 Vom 18. bis 20. September 2020 findet in Würz-burg unsere ursprünglich für März geplante Mit-gliederversammlung (MV) mit Fachtagung zum Thema „Neue Herausforderungen im Gesundheits-wesen – Neuen Chancen für die Industrie" statt. Hierzu laden wir alle Mitglieder sehr herzlich ein. Tagungsort ist das Zentrum für Seelische Gesund-heit am König-Ludwig-Haus, Brettreichstr. 11 in 97074 Würzburg. Die Jahrestagung beginnt am Freitag um 18 Uhr mit dem eynote-Vortrag von Gudrun Rieger-Ndakorerwa, Leiterin des Fach-amtes Gesundheit in Hamburg: "Lernen in der Covid-19-Krise – Chancen und Risiken für eine Stärkung des industrie-unabhängigen Öffentlichen Gesundheitsdienstes."

Um 20 Uhr steht das rund 20-minütige Theater-stück „Antibiotika-Resistenzen weltweit“ von „Schluck & weg“ auf dem Programm. Die Stra-ßentheatergruppe der BUKO Pharma-Kampagne macht im Rahmen ihrer Herbsttournee extra für MEZIS Station in Würzburg.

Am Samstag findet von 9 bis 12 Uhr die MV 2020 statt. Aufgrund von Satzungs- und Strukturände-rungen bei MEZIS räumen wir dieses Jahr mehr Platz für Diskussionen zu gemeinsamen Richtungs-bestimmungen und MEZIS-„Schwerpunkten“ ein.

Nachmittags ab 13 Uhr folgen die drei Workshops „Der Marlboro-Mann hilft in der Corona-Krise – Lobbyarbeit der Tabakindustrie“, „Das Geschäft mit Gesundheitsdaten – Chancen und Risiken von Digitalisierung“ und „Wettrennen um den Covid-19-Blockbuster: Arzneimittelsicherheit in Pandemiezeiten“.

Um 17 Uhr ist das erste Regionalgruppentreffen „Bayern“ mit dem Vorstandsmitglied Dominikus Bönsch geplant. „Get together“ am Freitag- und Samstagabend sowie eine abschließende Stadt-führung durch Würzburg am Sonntag runden das Jahrestreffen ab.

Alles Weitere zu Programm und Anmeldung unter:

www.mezis.de

Aufgrund der nicht vorhersehbaren Corona-Lage müssen wir gegebenen-falls kurzfristig umplanen und die MV

und einzelne Programmpunkte per Live-Videoschaltung übertragen.

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18 MEZIS Nachrichten 2/2020

MEZIS KlausurtagungIm Mai trafen sich der MEZIS-Vorstand und die bei-den MEZIS-Referentinnen zur ersten Klausurtagung 2020. Im Mittelpunkt standen die Vorbereitungen für das Jahrestreffen 2020, Finanz- und Budget-planung sowie redaktionelle Besprechungen für die nächsten Ausgaben der MEZIS-Nachrichten. An dieser Stelle möchten wir nochmals alle Mitglieder herzlich auffordern, Artikel für die MEZIS-Nach-richten zu schreiben (Vorschläge gerne an [email protected]). Weitere Themen waren die Optimierung vereinsinterner Prozesse, die stärkere Einbindung von Mitgliedern, Ausbau der Kooperationen mit anderen NGOs und Initiativen, die Organisation von Arbeitsgruppen- und Regionaltreffen sowie die strategische Umsetzung unserer Kernthemen 2020: Vorlesungs- und Vortragsaktivitäten, CME-zertifizierte Veranstaltungen an Universitäten, unabhängige ärztliche Fortbildungen sowie Di-gitalisierung und Ethik im Gesundheitswesen.

MEZIS No Free Lunch-MailinglisteZusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der französischen No Free Lunch-Gruppe Formindep hat MEZIS in Folge des abgesagten No Free Lunch-Treffens in Paris Anfang Juni eine europa-weite No Free Lunch-Mailingliste gestartet. Rund 90 Personen haben sich bereits registriert. Die Mailingliste dient der Vernetzung aller am No Free Lunch-Thema Interessierten und dem Austausch von Informationen, Dokumenten und Videos. Jedes MEZIS-Mitglied mit Interesse an internationalen Themen der Gesundheitspolitik kann sich direkt unter www.mezis.de/mezis-auf-englisch eintragen. Wir freuen uns auf viele Mitwirkende.

MEZIS Diskussionsforum Unter www.forum.mezis.de haben wir ein neues Diskussionsforum eingerichtet. Das Forum dient als Plattform für einen offenen, konstruktiven und wissenschaftlichen Diskurs, welchen wir als dringend nötig erachten. Hier sind Beiträge nach-zulesen, die MEZIS für interessant und wichtig hält, jedoch nicht immer die Ansichten des MEZIS-Vorstands vertreten. Wir laden alle Interessierten zur Diskussion, zum Mitdenken und zur Mitarbeit rund um aktuelle gesundheitspolitische Themen ein. Nach erfolgreicher Registrierung können alle angemeldeten Personen Beiträge kommentieren und miteinander in Austausch treten. Wenn Sie Vorschläge für das Einstellen diskussionswür-diger Dokumente (Fachartikel, Positionspapier, etc.) im Forum haben, senden Sie diese bitte an [email protected] und beschreiben den Inhalt des Dokumentes in zwei bis drei Sätzen.

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MEZIS auf Social Media

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19MEZIS Nachrichten 2/2020

USER-EDIT ANNETTE DIENER

MEZIS Homestory (M)ein Blick auf die Arbeit von MEZIS

Wir waren gerade bei den letzten Vorbereitungen zur diesjährigen MEZIS-Jahrestagung, als immer klarer wurde, dass sie nicht wie geplant statt-finden konnte. SARS-CoV-2 rückte näher und so entschied der MEZIS-Vorstand Anfang März, die für 13. bis 15. März 2020 geplante Jahrestagung abzusagen und auf den Herbst zu verschieben. Wer hätte damals gedacht, dass nur kurze Zeit später, am 16. März 2020, die Schulen auf be-hördliche Anordnung hin bundesweit schließen und das öffentliche Leben in diesem Ausmaß herunterfahren würde? Seitdem läuft die alltäg-liche MEZIS-Arbeit neben der Pandemie weiter.

Die Umstrukturierung im MEZIS-Vorstand und die Umstellung und Optimierung vereinsinterner Pro-zesse sind noch immer im Gang. Die Abstimmung über eine Satzungsänderung mit dem Vorschlag für das Einsetzen eines MEZIS-Beirats bei der nächsten Mitgliederversammlung, die für den 19. September geplant ist, und die Wahl weiterer Vorstands- und Beiratsmitglieder stehen uns noch bevor. Wir hoffen auf eine rege Beteiligung! Vielleicht müssen wir bei dieser wichtigen Mit-gliederversammlung kurzfristig umdisponieren und auf eine ungewohnte dezentrale digitale Version ausweichen, wenn es die Pandemielage verlangt. Wir sind jedenfalls gewappnet.

Die wegen der Krise forcierte Digitalisierung, allen voran die intensive Nutzung digitaler Kommunika-tionskanäle, ermöglicht vielen, fast wie gewohnt weiter zu arbeiten und soziale und kollegiale Kon-takte weiter zu pflegen. Damit rückt der Schutz von digital erzeugten personenbezogenen Daten stark in den Vordergrund. Da uns das Thema „Datenschutz“ sehr am Herzen liegt, haben wir eine Pressemitteilung mit Tipps für eine digital souveräne Kommunikation in der Corona-Krise erstellt. Sie enthält eine Auswahl von Anbietern von Telefon- und Videokonferenzen, die einen sicheren virtuellen Austausch sicherstellen.

Um die Diskussionsfreudigkeit unter MEZIS-Mit-gliedern und allen anderen Interessierten anzu-kurbeln, haben wir das Diskussionsforum auf der MEZIS-Webseite reaktiviert. Dieses nutzen wir außerdem für den internationalen Austausch.

ANNETTE DIENERAnnette Diener ist Biologin und arbeitet seit 2020 als Referentin bei MEZIS e. V.Interessenkonflikte: Keine

AUTORIN

Denn wir wollen den globalen Gesundheitsbereich weiterhin nicht aus den Augen verlieren. Gerade bei der aktuellen Pandemie ist die globale Diskus-sion – beispielsweise bei der Impfstoffentwicklung und Suche nach geeigneten Behandlungsmetho-den – essentiell.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch erwäh-nen, dass mir als Neuling in der „Vereins-Branche“ besonders die Zusammenarbeit mit anderen NGOs positiv auffällt. Wir kämpfen nicht allein, sondern suchen den Schulterschluss. Daraus resultieren in diesem Jahr bereits einige gemeinsame Er-klärungen. Und da neben Corona langsam auch wieder andere Themen ins Rampenlicht rücken, steigt erneut die Anzahl der Anfragen von Jour-nalistinnen und Journalisten, die MEZIS-Mitglieder um ihre Meinung und Expertise bitten.

Außer diesem „MEZIS-Housekeeping“ führen wir die Arbeit am Aktionsbündnis „Fortbildung 2020“ weiter. Es haben sich Interessenten gemeldet, die bereit sind, die Interessenkonflikte ihrer Referen-tinnen und Referenten sowie Veranstalterinnen und Veranstalter offenzulegen. Die Webseite nimmt zunehmend Formen an – auch wenn zurzeit wegen der Pandemiebestimmungen kaum Fort-bildungsveranstaltungen stattfinden. Als weiteren Arbeitsschwerpunkt recherchieren wir von der Pharmaindustrie gesponserte Fortbildungsveran-staltungen an Universitäten. Hier arbeiten wir mit UAEM (Universities Allied for Essential Medicines) zusammen. Ziel ist, die Zusammenhänge und Hintergründe zu erfassen, wieso sich die Univer-sitäten als Meinungsbildner und Ausbilder nicht von Pharmabeeinflussung distanzieren.

Außerdem entwickeln wir Webinare, über die wir unsere MEZIS-Themen und Ziele, zum Beispiel bei

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20 MEZIS Nachrichten 2/2020

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TiermedizinDermatologie, AllergologiePhysika. und Reha. Medizin

RadiologieKardiologie

HNO-HeilkundeZahnmedizin

OrthopädieChirurgie

Kinder- und JugendpsychiatrieAnästhesie / Anästhesiologie

Kinder- und JugendmedizinNeurologie

GynäkologieFördermitglieder

Psychiatrie, PsychotherapieInnere Medizin

Sonstige*Student/StudentinAllgemeinmedizin

Abbildung 1: Anzahl der MEZIS-Mitglieder 2019 pro Bundesland

Abbildung 2: Anzahl der MEZIS-Mitglieder 2019 pro Fachrichtung

* Z. B. Augenheilkunde, Nephrologie, Urologie, Alternativ- und Arbeitsmedizin, Gesundheitswissenschaften, Epidemiologie ...

Weiterbildungsveranstaltungen in der Allgemein-medizin, präsentieren können. Da Präsenzver-anstaltungen derzeit kaum stattfinden und die Universitäten höchstwahrscheinlich zukünftig ebenfalls ihre gerade erarbeiteten dezentralen Präsentationsmöglichkeiten weiterführen wollen, sehen wir hier ein großes Potenzial für MEZIS.

All dies schaffen wir nur zusammen! Wir freuen uns über Ideen und noch mehr über Mitarbeit bei MEZIS-Projekten! Und: Danke für Euer und Ihr Engagement!

MEZIS in Zahlen

Mitgliederentwicklung

Ende 2019 verzeichnete MEZIS insgesamt 1063 Mitglieder. Im letzten Jahr traten 72 Ärztinnen und Ärzte, Studierende, Fördermitglieder und Angehörige anderer Heilberufe unserer Initiative bei. 39 Mitglieder verließen MEZIS im letzten Jahr. 2020 liegt der Mitgliederzuwachs mit bis-her 20 Neueintritten unter dem Durchschnitt. Die Coronakrise geht auch an MEZIS nicht spurlos vorüber. Durch die vielen stornierten Veranstal-tungen, Kongresse, Vorträge und Seminare fallen die wichtigsten Kontaktpunkte mit potentiellen Neu-Mitgliedern weg. Zudem liegt der Fokus der Gesundheitsbranche und Berichterstattung auf „Corona“ mit all seinen Facetten.

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Leitlinienwatch (LLW) wird fünf Jahre alt!

Wir nehmen das zum Anlass, fünf Fragen an den Initiator Thomas Lempert zu stellen.

Mit der Analyse der S2-Leitlinie „Medikamentenmonitoring" am 2.11.2015 startete vor fast fünf Jahren das gemeinsame Projekt von MEZIS, Neurology First und Transparency International Deutschland.

Das Ziel ist bis heute die Bewertung medizinischer Behandlungsleitlinien auf ihre Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie.

Die (ebenfalls fünf) Bewertungskriterien haben aller wissenschaftlichen Kritik standgehalten und werden fast unverändert für die Bewertung eingesetzt:

ĉ Transparenz

ĉ Zusammensetzung der Leitlinien-Gruppe

ĉ Unabhängigkeit der Koordinatoren / Vorsitzenden / federführenden Autoren

ĉ Enthaltung bei Abstimmungen

ĉ Externe Beratung der Leitlinie

Heute – 168 bewertete Leitlinien später – ist Leitlinienwatch trotz seines jungen Alters den meisten beteiligten Fachgesellschaften, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und auch bei immer mehr Ärztinnen und Ärzten als wachsame Prüf-instanz bekannt, wie an 185.000 Zugriffen auf die Webseite leitlinienwatch.de abzulesen ist.

Etwa zur gleichen Zeit wie Leitlinienwatch begannen das Guideline International Network (G-I-N) und die AWMF an der Reform des Umgangs mit Interessenkonflikten zu arbeiten. Seit 2018 gelten für alle Leitlinien des AWMF-Registers neue Regeln, die beispielsweise eine unabhängige Bewertung von Interessenkonflikten und Enthaltungen bei Abstimmungen vorsehen, wenn Inter-essenkonflikte vorliegen.

21MEZIS Nachrichten 2/2020

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FRAGEN ANThomas Lempert

Wenn Du die fünf Jahre Revue passieren lässt, was waren die wichtigsten Meilensteine für Dich?Das erste große Geschenk war die Bereitschaft von zehn Kolleginnen und Kollegen, bei diesem Projekt ehrenamtlich mitzuarbeiten. Der Großteil ist immer noch dabei, einige neue sind im Laufe der Zeit dazu gestoßen. Inzwischen haben wir die meisten deutschen Leitlinien mit Bezug zu Arzneimitteln (und damit zur Pharmaindustrie) bewertet. Ein wichtiger Schritt war unsere Publikation über das Interes-senkonfliktmanagement von deutschen S3-Leitlinien im Open Access Journal BMC Medical Ethics im Jahr 2018 („Management of financial conflicts of interests in clinical practice guidelines in Germany: results from the public database GuidelineWatch“). Unsere Bewertungen zeigen einerseits, dass es noch viel zu verbessern gibt, andererseits wird aber deutlich, wie man es gut macht. Jedes einzelne unserer Kriterien wird von etlichen Leitlinien erfüllt. Das heißt, dass unabhängig erstellte Leitlinien keine unrealistische Utopie sind, sondern absolut machbar, wenn man es will.

Was waren die für Dich wichtigsten Reaktionen auf das Projekt?Wir haben den Koordinatoren und Herausgebern von Leitlinien von Anfang an einen Dialog zum besse-ren Umgang mit Interessenkonflikten angeboten – und viele sind darauf eingegangen. Anfangs gab es auch einige Unmutsäußerungen, beispielsweise die Frage, ob wir überhaupt zu solchen Bewertungen legitimiert seien. Viele Leitlinienkoordinatoren haben aber den konstruktiven Austausch gesucht. Wir sind mit allen wichtigen Akteuren der deutschen Leitlinienszene im Gespräch: mit der AWMF, dem Ärzt-lichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), das die Nationalen Versorgungsleitlinien herausgibt, und dem Leitlinienprogramm Onkologie. Gerade diese beiden haben in den letzten Jahren Reformen umgesetzt. Auch die Ständige Impfkommission (STIKO) hat sich auf unsere erste Bewertung gemeldet und schneidet in unserer aktuellen Bewertung besser ab als vor vier Jahren. Reaktionen gab es auch von der Presse, die das etwas sperrige Thema in zahlreichen Fernseh-, Rundfunk- und Printbeiträgen aufgenommen hat. Das Schweizer Fernsehmagazin Puls hat kürzlich die Verantwortlichen der European Cardiological Society (ESC) interviewt und mit den (dürftigen) Bewertungsergebnissen von Leitlinien-watch konfrontiert. Wir hoffen auch da auf Veränderungen.

Prof. Dr. med. Thomas Lempert ist Facharzt für Neuro-logie und leitet die neurologische Abteilung der Schlosspark-Klinik in Berlin. Er ist Mitglied der Arznei-mittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ).

Das Gespräch führte Dr. med. Niklas Schurig.

Niklas Schurig ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Ernährungsmediziner. Er arbeitet in einer Gemein-schaftspraxis in Rastatt.

Interessenkonflikte: Beide sind MEZIS-Mitglieder und arbeiten für leitlinienwatch.de.

MEZIS Nachrichten 2/202022

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Was hat sich durch LLW in der deutschen und europäischen Leitlinien-Landschaft geän-dert, gibt es ähnliche Projekte?Inzwischen bewerten wir das Interessenkonfliktmanagement bei 20 Prozent der Leitlinien als gut – vor fünf Jahren waren es nur 10 Prozent. Die Enthaltung bei Abstimmung zu einzelnen Empfehlungen wird für befangene Mitglieder der Leitliniengruppe langsam zur Norm. Ist das allein unser Verdienst?

Natürlich nicht, weil es zeitgleich eine breitere Diskussion um die Unabhängigkeit von Leitlinien gab, auch aus den Institutionen heraus. Unsere Aufgabe war es, für Resonanz in der (Fach-)Öffentlichkeit zu sorgen. Ähnliche Projekte in anderen Ländern kenne ich nicht. Vielleicht regt unser oben genannter Artikel zur Nachahmung an…

Was würdest Du mit einem frei verwendbaren Forschungsmittelzuschuss von einer Mil-lion Euro vom Bundesgesundheitsministerium für LLW finanzieren?Vielleicht eine Studie zu den Abhängigkeiten der Fachgesellschaften von der Arzneimittelindustrie. Viele erzielen ja mehr als die Hälfte ihrer Einkünfte von industriellen Geldgebern, etwa durch die Industrie-symposien bei Kongressen. Die Fachgesellschaften lassen sich dabei den Zugriff des Pharmamarketings auf die ärztlichen Köpfe vergolden. Kann eine derart finanzierte Fachgesellschaft wirklich neutral über das neueste Produkt eines Sponsors urteilen?

Tatsächlich werden neu zugelassene Medikamente in Leitlinien selten kritisch bewertet. Man könnte daher auch einmal vergleichen, für welche Arzneimittel der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen Zusatznutzen feststellt und was dagegen Leitlinien empfehlen. Da solche Studien aber recht preiswert sind, würde ich das meiste Geld wohl weiterreichen, um damit die unabhängige Aufbereitung der Studienevidenz für Leitlinienprojekte zu fördern.

Was wären für Dich auf deutscher, europäischer und auf globaler Ebene die nächsten wichtigen Schritte hin zu qualitativ guten Leitlinien?Leitlinienautorinnen und -autoren werden noch zu oft über „Old boys and girls-Networks“ rekrutiert. Dadurch versammelt man vielbeschäftigte Experten, die zumeist eine Klinik leiten, jedes Wochenende Vorträge halten, in Beratergremien der Industrie sitzen und auf vielen anderen Hochzeiten tanzen. Für die kritische und mühsame evidenzbasierte Analyse klinischer Studien fehlt ihnen oft die Zeit und manchmal auch die Kompetenz. Demzufolge wird in Leitlinien ohne systematische Evidenzaufberei-tung – und das ist die Mehrheit – empfohlen, was gerade der Mainstream-Konsens ist. Und der wird wiederum oft genug vom Pharmamarketing mit seinen „Key Opinion Leadern“ beeinflusst.

Meine Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, hat begonnen, Leute aus der „zwei-ten Reihe“, beispielsweise engagierte Oberärztinnen und Oberärzte mit Interesse für evidenzbasierte Medizin für die Leitlinienarbeit zu rekrutieren, ein nachahmenswertes Beispiel. Für die Leitlinienarbeit sollte es auch eine moderate Aufwandsentschädigung geben, als Wertschätzung für die ganze Arbeit. Dazu hat die Bundesregierung in diesem Jahr ein erstes Programm aufgelegt.

Sinnvoll wäre auch eine internationale Bündelung der Kräfte. Die Evidenz muss nicht an jedem Ort neu aufbereitet werden, vielmehr können für Länder mit vergleichbarem Versorgungskontext supranationale Leitlinien erstellt werden. Das könnte auf EU-Ebene eine Agentur übernehmen, die die wissenschaft-liche Qualität und die Unabhängigkeit der Leitlinie sicherstellt. Auf globaler Ebene formuliert die WHO Leitlinien. Bis heute gibt es für die Länder des globalen Südens deutlich weniger Leitlinien als für die industrialisierten Länder.

Insofern ist die Finanzierung der WHO und eine klare Interessenkonfliktregulierung auch auf dieser Ebene existenziell wichtig.

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MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbstInitiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte

MEZIS Nachrichten 2/2020