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Von Krise spüren Autoverkäufer zurzeit nichts. Bei Opel-Händ- lern ist die Freude über das gute Geschäft nicht ungetrübt. Gemeinsam macht der Einstieg in das Internet doppelt Spaß. Eltern sollten ihre Kinder am Computer im Auge behalten. Die Stuttgarter Veranstaltungs- gesellschaft hat sich einen Part- ner besorgt. Die Agentur Sport- five mischt künftig mit. Region Stuttgart Seite 24 Opel im Aufwind Stuttgart Seite 19 Sicher am Computer Stuttgart Seite 18 Teamwork im Sport Der Fall, der gestern vor dem Amtsgericht verhandelt wurde, ist im Grunde ein positi- ves Beispiel: Da eine Kindergartenleiterin aufmerksam war und hartnäckig blieb, weil der zuständige Jugendamtsmitarbeiter sofort das unterernährte Mädchen in Augenschein nahm, konnte das Leben der heute Sechsjähri- gen gerettet werden. Es hat Runde Tische und Stadtteilgespräche gegeben, so dass der Mutter, die die Unterstützung angenommen hat, auch geholfen werden konnte. Hier hat das Hilfenetz funktioniert. Doch der Fall ist auch ein erschreckendes Beispiel dafür, wie eine Familie mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommt und mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert ist. Und deren Zahl wächst. Ob die jüngste Statistik nun eine drastische Zunahme der Probleme anzeigt oder aufgrund einer erhöhten Auf- merksamkeit doch nur zutage fördert, was man bisher so nicht wusste, ist einerlei: Das System, das sicherstellt, dass solchen Pro- blemfamilien möglichst frühzeitig geholfen werden kann, muss verbessert werden. Wie das aktuelle Beispiel zeigt, muss man in Stuttgart dabei nicht von vorne beginnen. Das soziale Netz bietet auch für diese Gruppe von Betroffenen heute schon Hilfen. Diese müssen aber noch spezifischer ausgebaut werden. Ein erster zaghafter Anfang ist etwa mit dem Modell „Familienhebamme“ ge- macht, die schon werdende Mütter in kriti- schen Situationen betreut. Im Vergleich mit anderen Großstädten ist Stuttgart hier aber nicht Vorbild, sondern die Nachhut. Das geplante Konzept der frühen Hilfen für Familien mit Kindern, das für dieses Frühjahr angekündigt ist, sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Entscheidend wird dabei sein, wie es gelingt, jene Familien in schwierigen Lebenslagen zu erreichen, die bisher keinen Zugang zum Hilfenetz gefun- den haben. Der Druck auf die Familien ist heute aus vielen Gründen groß, und die Erziehungsdefizite sind es leider auch. Frühe Hilfen für Familien Überfällig Die Zahl überforderter Eltern ist 2008 in Stuttgart um fast 16 Prozent erneut stark gestiegen. Das hat gravierende Folgen für die in solchen Familien lebenden Kinder: Missbrauch und Ver- nachlässigung nehmen zu, ebenso die Fälle von Sorgerechtsentzug. Von Mathias Bury Probleme in der Partnerschaft, die psy- chische Erkrankung eines Elternteils, Alkohol- abhängigkeit und Drogensucht, eine starke Belastung durch Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme oder die Überforderung mit der Erziehung der Kinder: die Ursachen, die dazu führen, dass Familien mit ihrem Leben nicht mehr klarkommen, sind vielfältig. Die jüngste Statistik des Jugendamtes zeigt, dass diese Probleme 2008 erneut zuge- nommen haben. Der Indikator für diesen seit Jahren zu verzeichnenden Trend: die Leistun- gen, die Familien mit Kindern nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz in Anspruch genommen haben, sind um 15,5 Prozent gestiegen. Damit gelten sie als Familien, die mit ihrer Lebenssituation überfordert sind. Die Hilfen reichen von der ambulanten Familienhilfe über die Betreuung der Kinder bei den Hausaufgaben und in der Freizeit bis zur Heimunterbringung. „Den größten Teil machen die ambulanten Hilfen aus“, sagt Daniela Hörner, die Sprecherin des Jugendam- tes. Bei ihrer Arbeit haben die Beschäftigten in diesem Bereich festgestellt: „Die Fälle werden schwieriger“, so Hörner. Besonders auffällig sei die zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen von Eltern, sagt Johannes Schmitt-Althaus, der Abtei- lungsleiter Familie und Jugend beim Jugend- amt. „Das ist für die Kinder sehr schwierig.“ Neben Suchtproblemen sind häufig Konflikte in der Partnerschaft Ursache für eine „miss- glückte Elternschaft“. Materielle Probleme seien meist eine „zusätzliche Belastung“, aber vielfach nicht der einzige Grund für die Schwierigkeiten. Schmitt-Althaus: „Wenn je- mand keine Arbeit hat, ist die Hoffnungslosig- keit für die Familie oft das größere Problem.“ Wenn das Familienleben so unter Druck steht, leiden die Kinder besonders. Die Zah- len des Missbrauchs und der Vernachlässi- gung von Kindern sind ein weiteres Mal gestiegen, um 9,5 Prozent auf 873 Fälle. „In solchen Krisen sind die Familien überfordert, das findet ihren Ausdruck bei den Kindern“, ist die Erfahrung von Schmitt-Althaus. „Be- wusste Schädigungen kommen aber ganz selten vor.“ Ein Grund, dass die Zahlen so steigen, ist für den Abteilungsleiter, dass Bürger wie professionelle Helfer stärker sen- sibilisiert seien: „Wir schauen genauer hin.“ Das letzte Mittel für die Helfer, von außen einzugreifen, führt über das Gericht zum Entzug des Sorgerechts. Dies kommt zwar vergleichsweise selten vor, aber doch häufiger, im vergangenen Jahr 83-mal. Auch beim Kinderschutzbund Stuttgart sieht man die Entwicklung mit Sorge, insbe- sondere, dass Partnerschaftskonflikte häufig sehr aggressiv auch auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. „Hochstrittige Trennungsfälle nehmen stark zu“, sagt Uwe Bodmer, der beim Kinderschutzbund im Vor- stand sitzt. Bodmer hält die finanziellen Pro- bleme vieler Familien für eine zentrale Ursa- che dieser Situation, freilich mangele es vie- len Eltern auch an Erziehungskompetenz. Um die Lage der betroffenen Familien zu verbessern, seien „niederschwellige Ange- bote“ nötig, fordert Uwe Bodmer. Die Eltern müsse man früh erreichen, am besten schon in der Schwangerschaft. Das Jugendamt arbei- tet derzeit an einem Konzept für solche frühen Hilfen. In der kommenden Woche soll dazu ein Treffen stattfinden, an dem Vertre- ter verschiedener Einrichtungen der Familien- hilfe und auch Kinderärzte teilnehmen. Ein fünfjähriges Mädchen hat vor gut einem Jahr nur noch 9,3 Kilogramm gewogen, als es in lebensbedrohli- chem Zustand ins Olgäle kam. Doch waren die Eltern daran schuld? Vor Gericht wird klar, dass sie ihre Tochter nicht bewusst vernachlässigt haben. Von Susanne Janssen Die kleine Maria (Name geändert) ist ein liebes Mädchen. Sie sitzt auf dem Schoß ihrer Mutter, die zusammen mit ihrem Mann we- gen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht und gefährlicher Körperverletzung durch Un- terlassen angeklagt ist. Maria ist klein und zierlich, sie ist sechseinhalb Jahre alt, könnte aber für vier durchgehen. Vor einem Jahr wäre sie fast gestorben: Mit einer Lungenent- zündung und Untergewicht kam sie am 9. Ja- nuar 2008 ins Krankenhaus. Sie blieb fünf Wochen, davon zwei auf der Intensivstation. Ein klarer Fall von Vernachlässigung? Die Staatsanwältin wirft den Eltern vor, die Toch- ter trotz vieler Aufforderungen und Hilfen nicht genügend versorgt zu haben. Schon das Zwillingsschwesterchen von Maria ist im Al- ter von 13 Monaten an einer „Gedeihstö- rung“ gestorben, auch sie stark untergewich- tig. Den Eltern konnte eine Vernachlässigung aber nicht nachgewiesen werden, das Verfah- ren wurde eingestellt. Bis Herbst 2006 war eine Familienpflegerin täglich im Haus, denn zur Familie gehören acht Kinder, von denen der älteste Sohn schon alleine wohnt. Die Mutter nahm die Hilfe damals dankbar an. „Ich stand vor dem Herd und konnte nicht kochen“, erklärt die Frau. Der Tod des Kindes habe ihr sehr zu schaffen gemacht. Und der kleinen Zwillingsschwester auch. Im Herbst 2007 wird die neue Kindergar- tenleiterin aufmerksam: Ihre Vorgängerin hatte ihr eingeschärft, Maria im Auge zu behalten. „Das Kind war viel zu klein und leicht für sein Alter“, erklärt die 40-Jährige als Zeugin vor Gericht. Außerdem habe es erhebliche Entwicklungsverzögerungen ge- habt. Die Frau verständigt sofort den Kinder- arzt und den Mitarbeiter des Jugendamtes, der Kontakt zur Familie hat. Sie macht auch die Mutter auf das Untergewicht aufmerk- sam. Was alle verwundert: das Kind be- kommt immer ein bis zwei große Vesper- brote mit, die es in der Pause verschlingt. „Sie hatte kein Sättigungsgefühl“, sagt die Erzieherin. Und auch die Mutter erklärt: „Sie hat gegessen wie ein großer Mann.“ Das Untergewicht kann sie nicht erklären. Die Mutter ist kooperativ, sie lässt das Kind untersuchen, sie nimmt an den Gesprä- chen teil. Vor Weihnachten besucht Maria in der letzten Woche vor den Ferien nicht mehr den Kindergarten, die Mutter erklärt, sie habe Halsschmerzen. Die ganze Familie sei krank gewesen, erklärt die 45-Jährige, noch dazu hatte ihr Mann einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Nach Silvester soll Maria einen Rückfall gehabt haben, sie geht am 7. Januar nicht in den Kindergarten. Die Leite- rin wird hellhörig, lädt zum Gespräch, und auf ihr Drängen beschließt der Jugendamts- mitarbeiter, sich Maria anzuschauen. Sofort kommt das Kind ins Krankenhaus. Die Mutter, die wohl mit ihrer Kinder- schar und dem kranken Mann überfordert gewesen war, bestreitet die Vorwürfe vor Gericht. Maria macht Fortschritte: Sie be- sucht einen Förderkindergarten und hat den Tod der Zwillingsschwester aufgearbeitet. Sie schlingt ihr Essen nicht mehr hinunter und nimmt zu. Der Vater schwieg zu den Vorwür- fen ganz. Das Gericht setzt den Prozess am 3. April fort – und muss ein Urteil finden. In letzter Minute das Kind gerettet Prozess vor dem Amtsgericht Immer mehr Väter und Mütter kapitulieren bei der Erziehung Zahl der überforderten Eltern wächst Die Folge ist oft Missbrauch und Vernachlässigung der Kinder – Sorgerechtsentzüge steigen Die Mutter zeigt sich kooperativ Die Eltern haben ihr Kind an die Hand genommen – der Idealfall auf dem Weg in die Welt. Die Realität der Erziehung sieht nicht selten viel schlechter aus. Foto AP Von Mathias Bury Wachsende Probleme von Familien in Stuttgart Quelle: Jugendamt Stuttgart StZ-Grafik: mik Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern 2003 04 05 06 07 2008 2004 05 06 07 2008 2003 04 05 06 07 2008 Überforderte Familien Entzug des Sorgerechts 496 566 603 551 797 873 5542 6209 6408 7011 8103 42 40 29 36 60 83 Zwillingsschwester ist gestorben 17 Mittwoch, 25. März 2009 Stuttgarter Zeitung Nr. 70 STUTTGART UND SEINE REGION

2503 D STZ HP 017 - Kinderschutzbund Ortsverband …...Eltern sollten ihre Kinder am Computer im Auge behalten. Die Stuttgarter Veranstaltungs-gesellschaft hat sich einen Part-ner

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Page 1: 2503 D STZ HP 017 - Kinderschutzbund Ortsverband …...Eltern sollten ihre Kinder am Computer im Auge behalten. Die Stuttgarter Veranstaltungs-gesellschaft hat sich einen Part-ner

Von Krise spüren Autoverkäuferzurzeit nichts. Bei Opel-Händ-lern ist die Freude über das guteGeschäft nicht ungetrübt.

Gemeinsam macht der Einstiegin das Internet doppelt Spaß.Eltern sollten ihre Kinder amComputer im Auge behalten.

Die Stuttgarter Veranstaltungs-gesellschaft hat sich einen Part-ner besorgt. Die Agentur Sport-five mischt künftig mit.

Region Stuttgart Seite 24

Opel im Aufwind

Stuttgart Seite 19

Sicher am Computer

Stuttgart Seite 18

Teamwork im Sport

Der Fall, der gestern vor dem Amtsgerichtverhandelt wurde, ist im Grunde ein positi-ves Beispiel: Da eine Kindergartenleiterinaufmerksam war und hartnäckig blieb, weilder zuständige Jugendamtsmitarbeiter sofortdas unterernährte Mädchen in Augenscheinnahm, konnte das Leben der heute Sechsjähri-gen gerettet werden. Es hat Runde Tischeund Stadtteilgespräche gegeben, so dass derMutter, die die Unterstützung angenommenhat, auch geholfen werden konnte. Hier hatdas Hilfenetz funktioniert.

Doch der Fall ist auch ein erschreckendesBeispiel dafür, wie eine Familie mit ihremLeben nicht mehr zurechtkommt und mit derBetreuung ihrer Kinder überfordert ist. Undderen Zahl wächst. Ob die jüngste Statistiknun eine drastische Zunahme der Problemeanzeigt oder aufgrund einer erhöhten Auf-merksamkeit doch nur zutage fördert, wasman bisher so nicht wusste, ist einerlei: DasSystem, das sicherstellt, dass solchen Pro-blemfamilien möglichst frühzeitig geholfenwerden kann, muss verbessert werden.

Wie das aktuelle Beispiel zeigt, muss manin Stuttgart dabei nicht von vorne beginnen.Das soziale Netz bietet auch für diese Gruppevon Betroffenen heute schon Hilfen. Diesemüssen aber noch spezifischer ausgebautwerden. Ein erster zaghafter Anfang ist etwamit dem Modell „Familienhebamme“ ge-macht, die schon werdende Mütter in kriti-schen Situationen betreut. Im Vergleich mitanderen Großstädten ist Stuttgart hier abernicht Vorbild, sondern die Nachhut.

Das geplante Konzept der frühen Hilfenfür Familien mit Kindern, das für diesesFrühjahr angekündigt ist, sollte nicht mehrlange auf sich warten lassen. Entscheidendwird dabei sein, wie es gelingt, jene Familienin schwierigen Lebenslagen zu erreichen, diebisher keinen Zugang zum Hilfenetz gefun-den haben. Der Druck auf die Familien istheute aus vielen Gründen groß, und dieErziehungsdefizite sind es leider auch.

Frühe Hilfen für Familien

ÜberfälligDie Zahl überforderter Eltern ist 2008in Stuttgart um fast 16 Prozent erneutstark gestiegen. Das hat gravierendeFolgen für die in solchen Familienlebenden Kinder: Missbrauch und Ver-nachlässigung nehmen zu, ebenso dieFälle von Sorgerechtsentzug.

Von Mathias Bury

Probleme in der Partnerschaft, die psy-chische Erkrankung eines Elternteils, Alkohol-abhängigkeit und Drogensucht, eine starkeBelastung durch Arbeitslosigkeit, finanzielleProbleme oder die Überforderung mit derErziehung der Kinder: die Ursachen, die dazuführen, dass Familien mit ihrem Leben nichtmehr klarkommen, sind vielfältig.

Die jüngste Statistik des Jugendamteszeigt, dass diese Probleme 2008 erneut zuge-nommen haben. Der Indikator für diesen seitJahren zu verzeichnenden Trend: die Leistun-gen, die Familien mit Kindern nach demKinder- und Jugendhilfegesetz in Anspruchgenommen haben, sind um 15,5 Prozentgestiegen. Damit gelten sie als Familien, diemit ihrer Lebenssituation überfordert sind.

Die Hilfen reichen von der ambulantenFamilienhilfe über die Betreuung der Kinderbei den Hausaufgaben und in der Freizeit biszur Heimunterbringung. „Den größten Teilmachen die ambulanten Hilfen aus“, sagtDaniela Hörner, die Sprecherin des Jugendam-tes. Bei ihrer Arbeit haben die Beschäftigtenin diesem Bereich festgestellt: „Die Fällewerden schwieriger“, so Hörner.

Besonders auffällig sei die zunehmendeZahl psychischer Erkrankungen von Eltern,sagt Johannes Schmitt-Althaus, der Abtei-lungsleiter Familie und Jugend beim Jugend-amt. „Das ist für die Kinder sehr schwierig.“Neben Suchtproblemen sind häufig Konfliktein der Partnerschaft Ursache für eine „miss-glückte Elternschaft“. Materielle Problemeseien meist eine „zusätzliche Belastung“,aber vielfach nicht der einzige Grund für die

Schwierigkeiten. Schmitt-Althaus: „Wenn je-mand keine Arbeit hat, ist die Hoffnungslosig-keit für die Familie oft das größere Problem.“

Wenn das Familienleben so unter Drucksteht, leiden die Kinder besonders. Die Zah-len des Missbrauchs und der Vernachlässi-gung von Kindern sind ein weiteres Malgestiegen, um 9,5 Prozent auf 873 Fälle. „Insolchen Krisen sind die Familien überfordert,das findet ihren Ausdruck bei den Kindern“,ist die Erfahrung von Schmitt-Althaus. „Be-wusste Schädigungen kommen aber ganzselten vor.“ Ein Grund, dass die Zahlen sosteigen, ist für den Abteilungsleiter, dassBürger wie professionelle Helfer stärker sen-sibilisiert seien: „Wir schauen genauer hin.“

Das letzte Mittel für die Helfer, vonaußen einzugreifen, führt über das Gerichtzum Entzug des Sorgerechts. Dies kommtzwar vergleichsweise selten vor, aber dochhäufiger, im vergangenen Jahr 83-mal.

Auch beim Kinderschutzbund Stuttgartsieht man die Entwicklung mit Sorge, insbe-sondere, dass Partnerschaftskonflikte häufigsehr aggressiv auch auf dem Rücken derKinder ausgetragen werden. „HochstrittigeTrennungsfälle nehmen stark zu“, sagt UweBodmer, der beim Kinderschutzbund im Vor-stand sitzt. Bodmer hält die finanziellen Pro-bleme vieler Familien für eine zentrale Ursa-che dieser Situation, freilich mangele es vie-len Eltern auch an Erziehungskompetenz.

Um die Lage der betroffenen Familien zuverbessern, seien „niederschwellige Ange-bote“ nötig, fordert Uwe Bodmer. Die Elternmüsse man früh erreichen, am besten schonin der Schwangerschaft. Das Jugendamt arbei-tet derzeit an einem Konzept für solchefrühen Hilfen. In der kommenden Woche solldazu ein Treffen stattfinden, an dem Vertre-ter verschiedener Einrichtungen der Familien-hilfe und auch Kinderärzte teilnehmen.

Ein fünfjähriges Mädchen hat vor guteinem Jahr nur noch 9,3 Kilogrammgewogen, als es in lebensbedrohli-chem Zustand ins Olgäle kam. Dochwaren die Eltern daran schuld? VorGericht wird klar, dass sie ihre Tochternicht bewusst vernachlässigt haben.

Von Susanne Janssen

Die kleine Maria (Name geändert) ist einliebes Mädchen. Sie sitzt auf dem Schoß ihrerMutter, die zusammen mit ihrem Mann we-gen Vernachlässigung der Fürsorgepflichtund gefährlicher Körperverletzung durch Un-terlassen angeklagt ist. Maria ist klein undzierlich, sie ist sechseinhalb Jahre alt, könnteaber für vier durchgehen. Vor einem Jahrwäre sie fast gestorben: Mit einer Lungenent-zündung und Untergewicht kam sie am 9. Ja-nuar 2008 ins Krankenhaus. Sie blieb fünfWochen, davon zwei auf der Intensivstation.

Ein klarer Fall von Vernachlässigung? DieStaatsanwältin wirft den Eltern vor, die Toch-ter trotz vieler Aufforderungen und Hilfennicht genügend versorgt zu haben. Schon dasZwillingsschwesterchen von Maria ist im Al-ter von 13 Monaten an einer „Gedeihstö-rung“ gestorben, auch sie stark untergewich-tig. Den Eltern konnte eine Vernachlässigungaber nicht nachgewiesen werden, das Verfah-ren wurde eingestellt. Bis Herbst 2006 wareine Familienpflegerin täglich im Haus, dennzur Familie gehören acht Kinder, von denender älteste Sohn schon alleine wohnt. DieMutter nahm die Hilfe damals dankbar an.„Ich stand vor dem Herd und konnte nichtkochen“, erklärt die Frau. Der Tod des Kindeshabe ihr sehr zu schaffen gemacht. Und derkleinen Zwillingsschwester auch.

Im Herbst 2007 wird die neue Kindergar-tenleiterin aufmerksam: Ihre Vorgängerinhatte ihr eingeschärft, Maria im Auge zubehalten. „Das Kind war viel zu klein undleicht für sein Alter“, erklärt die 40-Jährigeals Zeugin vor Gericht. Außerdem habe eserhebliche Entwicklungsverzögerungen ge-habt. Die Frau verständigt sofort den Kinder-arzt und den Mitarbeiter des Jugendamtes,der Kontakt zur Familie hat. Sie macht auchdie Mutter auf das Untergewicht aufmerk-sam. Was alle verwundert: das Kind be-kommt immer ein bis zwei große Vesper-brote mit, die es in der Pause verschlingt.„Sie hatte kein Sättigungsgefühl“, sagt dieErzieherin. Und auch die Mutter erklärt: „Siehat gegessen wie ein großer Mann.“ DasUntergewicht kann sie nicht erklären.

Die Mutter ist kooperativ, sie lässt dasKind untersuchen, sie nimmt an den Gesprä-chen teil. Vor Weihnachten besucht Maria inder letzten Woche vor den Ferien nicht mehrden Kindergarten, die Mutter erklärt, siehabe Halsschmerzen. Die ganze Familie seikrank gewesen, erklärt die 45-Jährige, nochdazu hatte ihr Mann einen gesundheitlichenZusammenbruch. Nach Silvester soll Mariaeinen Rückfall gehabt haben, sie geht am7. Januar nicht in den Kindergarten. Die Leite-rin wird hellhörig, lädt zum Gespräch, undauf ihr Drängen beschließt der Jugendamts-mitarbeiter, sich Maria anzuschauen. Sofortkommt das Kind ins Krankenhaus.

Die Mutter, die wohl mit ihrer Kinder-schar und dem kranken Mann überfordertgewesen war, bestreitet die Vorwürfe vorGericht. Maria macht Fortschritte: Sie be-sucht einen Förderkindergarten und hat denTod der Zwillingsschwester aufgearbeitet. Sieschlingt ihr Essen nicht mehr hinunter undnimmt zu. Der Vater schwieg zu den Vorwür-fen ganz. Das Gericht setzt den Prozess am3. April fort – und muss ein Urteil finden.

In letzterMinute dasKind gerettetProzess vor dem Amtsgericht

Immer mehr Väter und Mütter kapitulieren bei der Erziehung

Zahl der überforderten Eltern wächstDie Folge ist oft Missbrauch und Vernachlässigung der Kinder – Sorgerechtsentzüge steigen

Die Mutter zeigt sich kooperativ

Die Eltern haben ihr Kind an die Hand genommen – der Idealfall auf dem Weg in die Welt. Die Realität der Erziehung sieht nicht selten viel schlechter aus. Foto AP

Von Mathias Bury

Wachsende Probleme von Familien in Stuttgart

Quelle: Jugendamt StuttgartStZ-Grafik: mik

Vernachlässigung undMissbrauch von Kindern

2003 04 05 06 07 2008 2004 05 06 07 2008 2003 04 05 06 07 2008

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Zwillingsschwester ist gestorben

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