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277/86 86 Samstag/Sonntag, 2S./29. November 1987 Nr. 277 WOCHENENDE Jtaie Ader leitung Hermann Drawe photographier 1904 Bewohner des Wiener Kanalsystems (Sammlung Dr. Ch. Brandstätter, Wien). Im Wiener Untergrund Charon - Ratten - Weisses Pferd Von Christoph Braendle (Text) und Aglaia Konrad (Bilder) Charon führt. Charon befiehlt. Kein Goldstück verlangt er, sorgfältig versteckt unter der Zunge, keinen goldenen Zweig. Aber man muss sich die Füsse umwickeln, mit Stofflappen, zwei Lagen, innen Baumwolle, aussen Leinen. Dann Lederstiefel. Massiv, fünf Kilogramm pro Fuss, Eisensohlen und Schäfte bis über die Oberschenkel. Dick eingefettet. Garantiert wasserdicht. Man steht auf. Steht, fest wie ein Baum, mit der Erde verwurzelt, breitbeinig, stark. Man ist bereit, man steigt hinab in die Welt aus Gruft und Phantasie. Wien. Irgendein Tag, irgendeine verkehrsreiche Strasse. Cha- rons Gehilfen pflanzen das rotweisse Schild den Automobilisten zur Warnung, Achtung! Offener Schacht. Einer öffnet den Ei- sendeckel, hinab geht's, senkrecht sieben, neun Meter tief hinab, und man ist eingetaucht in Dunkelheit und seltenen Geruch: mild, warm, voll. Erinnerungen an Bauernhof, an Kuhstall, Plumpsklo, wohlige Finsternis und Fliegenschwärme. In Cha- rons Reich dringen weder Parfums noch Antiseptik, hier riecht's nach Mensch. Die Abwasserkanäle sind immer gleich warm, 24 Grad, Sommer wie Winter, und das ist das einzig Angenehme für die 320 Kanalarbeiter, die mit blossen Händen und einfa- chen Hilfsmitteln dafür sorgen, dass die Stadt nicht im eigenen Dreck ersäuft. Tag und Nacht, meist gebückt in engen Röhren und für geringen Lohn, scheuern und putzen und räumen und fluchen sie. 1700 Kilometer Strassenkanäle und 4300 Kilometer Hauskanäle müssen gewartet werden. Rund um die Uhr. Jahr für Jahr. Jetzt steht man unten. Charons Taschenlampe beleuchtet ein kümmerliches Rinnsal, erhellt Exkremente, Papierknäuel, den Ärmel einer Damenbluse, eine Zahnbürste, eine zerquetschte Ratte, Zitronenhälften. Die Brühe gluckst um die Stiefel, und man hofft, dass sie auch wirklich wasserdicht sind. Das Herz klopft, so allein hat man sich lange nicht gefühlt. Man drückt sich vorsichtig den Wänden entlang, geht dann, dem Beispiel Charons folgend, mutiger, mitten im Bach, aufrecht in diesem Ziegelsteingewölbe. Man geht im Währinger Bach und ist ge- warnt: Bei heftigen Regenfällen kann er innert Minuten zur lebensbedrohenden Gefahr anschwellen und Mann und Maus mit sich reissen. Deshalb steht immer einer Wache. Oben. Bei der Warntafel. Und muss sich von Passanten anpöbeln, der Ver- schleuderung von Steuergeldern bezichtigen lassen. Man stapft, mutig jetzt und breitbeinig, Charon voran durch die Jauche, die Währinger Bach heisst, folgt dem tanzenden Kegel des Lichtes, sucht Seelen oder Untote, freut sich am Wi- derspiel von Helle und Schatten und steht plötzlich in der Ein- mündung zu einem mächtig gewölbten Kirchenschiff aus Ziegel- mauerwerk. Das ruhig fliessende Wasser des Alserbachsammel- kanals lädt zur Meditation, die Gedanken verirren sich, wandern los, bis sie in einen augenscheinlich ganz unbenutzten Teil des Souterrains gelangen. Die gewölbte Decke war niedrig, und rostige Eisenketten hingen an schweren Haken herab. Man konnte kaum noch sehen, der schlüpfrige Boden schien sich etwas zu senken. Auf einmal stol- perte ich über ein paar glitschige Stufen und stand nun gänzlich im Dunkeln. Tiefe Nacht und eisige Kellerluft - oben hörte ich ir- gendwo eine Tür zufallen! Gottlob - ich hatte ein paar Wachs- streichhölze r bei mir. - Da vernahm ich mit einem Male von weit, weit her ein Geräusch. Es klang wie entferntes Hämmern, wurde aber mit unheimlicher Schnelligkeit immer deutlicher. Beim Schein eines Streichholzes sah ich, dass ich mich in einem Gang befand. Mich packte tödliche Angst. «Fort von hier - nur fort von hier!» war mein einziger Gedanke. Ich rannte und stiess manches Mal mit dem Schädel an die triefenden Wände. Hinter mir jedoch schwoll das Tosen - ein furchtbares, taktmässiges Dröhnen wie ein Galopp. Meine Lichtchen wurden immer weniger, die feuchte Luft liess keine Flamme aufkommen. Der Schall kam näher, ich wurde augenscheinlich verfolgt. Jetzt konnte ich deutlich ein Ächzen und Blasen unterscheiden. Das schnitt mir derartig ins Mark, dass ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Wie gepeitscht stürzte ich weiter, doch d a verliess mich die Kraft, und der Ohnmacht nahe fiel ich auf die Knie. Hilflos hielt ich meine Hände der anstürmenden Gefahr entgegen, auf dem Boden flackerten meine letzten Streich- hölzer. Da tobt e es auch schon heran - ein kalter Wind erfasste mich - ich erblickte ein weisses, abgemagertes Pferd, obwohl ich es nur unscharf sah, bemerkte ich doch seinen entsetzlichen Zustand. Die grosse Mähre war fast verhungert und schleuderte mit verzwei- felter Kraft ihre riesigen Hufe. Den knochigen Schädel weit vorge- streckt, die Ohren rückwärts angelegt, so jagte dieses Tier an mir vorüber. Sein trubes, glanzloses Auge traf mich - es war blind. Ich Wer möchte ahnen, wie hart die Arbeit unten ist. Handreinigung mit der Krücke. hörte das Knirschen seiner Zähne, und als ich ihm aufschauend nachblickte, sah ich sein zerschundenes, blutiges Hinterteil glän- zen. Der rasende Galopp dieses lebenden Skeletts kannte kein Ein- halten. Ich tastete mich weiter, während das Dröhnen verhallte, gequält von dem Anblick dieser schrecklichen Knochen. Bald er- blickte ich in der Ferne eine rettende Gasflamme. Nur verschwom- men konnte ich sie sehen, denn ein Nervenschock packte mich. Meine Zunge wurde starr und mein Körper wie Stein ... Da wird man am Arm gepackt, zurückgerissen: «Passen Sie auf!» Charon lacht. Charon weiss, dass die Unterwelt die Hirnströme verwirrt. «Das Wasser ist hier ziemlich tief, und der Boden glitschig. Pas- sen Sie auf, wo Sie hintreten.» Man werde feststellen, erklärt er dann, dass sich der Geruch im Laufe der unterirdischen Wanderung verändere. Hier, unter Wiens Innenstadt, ist er warm und menschlich. Auf der anderen Seite der Donau, wo die Siedlungen weiter verstreut sind und Industrie und Gewerbe dominieren, riecht es scharf, stechend, kalt. Am schlimmsten ist die Nähe des Schlachthofes. Da stinkt es so infernalisch, dass nur noch entschlossene Flucht vor Ohn- macht schützt. Die Kanalarbeiter allerdings müssen ausharren, denn jeder Meter Kanal muss zweimal pro Jahr geräumt werden, von Hand. Das ist Gesetz. Wiens erste Kanalisation wurde bereits um 100 unserer Zeit- rechnung gebaut. Von den Römern, wem sonst, der XIII. Le- gion, die hier in Vindobona stationiert war. Ausgrabungen «Am Hof» legten mit Kalkmörtel gemauerte Bruchsteinkanäle zu Tag. Die Sohlenverkleidung bestand aus Dachziegeln, für die Abdek- kung wurden Steinplatten verwendet, die Kanäle weisen ein Rechteckprofi! der Masse 0,80 x 1,80 Meter auf. Die Legionäre benützten für kleinere Hauskanäle Tonrohre mit einem Durch- messer von 20 Zentimetern. Man nimmt an, dass Vindobona Aborte mit Wasserspülung hatte, so lange jedenfalls, bis die Völ- kerwanderungen über die Stadt fegten. Darnach verfiel das Ka- nalnetz, die sanitären Errungenschaften gerieten in Vergessen- heit. Charons Geschichte, und die Geschichte moderner Hygiene, beginnt im späten Mittelalter. Damals wurden die Schmutzwas- ser über unterirdische Leitungen in die nächstgelegenen Bäche abgeleitet. Nach der zweiten Türkenbelagerung, 1683, erhielten neu errichtete Gebäude Anschluss an Strassenkanäle. Fast der gesamte Bereich innerhalb der Stadtmauern war nun kanali- siert. In den Vororten allerdings lebte man weiterhin zwischen Senkgruben und Dreck, und der Gestank muss Kaiserin Maria Theresia so störend in die Nase gekrochen sein, dass sie am 5. Mai 1753 die Gemeinden schriftlich aufforderte, «nicht allein zur Erhaltung des Gesundheitszustandes, sondern auch zur Ein- führung mehrerer Sauberkeit in allen Strassen und Gassen, wo es nur tunlich ist, Hauptkanäle herzustellen und die Hauseigen- tümer anzuhalten, ihre Nebenkanäle an die Strassenkanäle an- zuschliessen». Der Erfolg dieser Ermahnung hielt sich in engen Grenzen. Wohl wurden die sanitären Verhältnisse in den Häu- sern verbessert. Aber der Zustand der die Stadt durchziehenden Neue Zürcher Zeitung vom 28.11.1987

277/86 - Neue Zürcher ZeitungWiener+Untergrund_1... · 2017-03-08 · 277/86 86 Samstag/Sonntag, 2S./29. November 1987 Nr. 277 WOCHENENDE Jtaie Aderleitung Hermann Drawe photographier

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277/8686 Samstag/Sonntag, 2S./29. November 1987 Nr. 277

WOCHENENDE Jtaie Ader leitung

Hermann Drawe photographier 1904 Bewohner des Wiener Kanalsystems (Sammlung Dr. Ch. Brandstätter, Wien).

Im Wiener Untergrund

Charon - Ratten - Weisses PferdVon Christoph Braendle (Text) und Aglaia Konrad (Bilder)

Charon führt. Charon befiehlt. Kein Goldstück verlangt er,sorgfältig versteckt unter der Zunge, keinen goldenen Zweig.

Aber man muss sich die Füsse umwickeln, mit Stofflappen, zweiLagen, innen Baumwolle, aussen Leinen. Dann Lederstiefel.Massiv, fünf Kilogramm pro Fuss, Eisensohlen und Schäfte bisüber die Oberschenkel. Dick eingefettet. Garantiert wasserdicht.Man steht auf. Steht, fest wie ein Baum, mit der Erde verwurzelt,breitbeinig, stark. Man ist bereit, man steigt hinab in die Weltaus Gruft und Phantasie.

Wien. Irgendein Tag, irgendeine verkehrsreiche Strasse. Cha-rons Gehilfen pflanzen das rotweisse Schild den Automobilistenzur Warnung, Achtung! Offener Schacht. Einer öffnet den Ei-sendeckel, hinab geht's, senkrecht sieben, neun Meter tief hinab,und man ist eingetaucht in Dunkelheit und seltenen Geruch:mild, warm, voll. Erinnerungen an Bauernhof, an Kuhstall,Plumpsklo, wohlige Finsternis und Fliegenschwärme. In Cha-rons Reich dringen weder Parfums noch Antiseptik, hier riecht'snach Mensch. Die Abwasserkanäle sind immer gleich warm, 24Grad, Sommer wie Winter, und das ist das einzig Angenehme

für die 320 Kanalarbeiter, die mit blossen Händen und einfa-chen Hilfsmitteln dafür sorgen, dass die Stadt nicht im eigenen

Dreck ersäuft. Tag und Nacht, meist gebückt in engen Röhrenund für geringen Lohn, scheuern und putzen und räumen undfluchen sie. 1700 Kilometer Strassenkanäle und 4300 KilometerHauskanäle müssen gewartet werden. Rund um die Uhr. Jahr fürJahr.

Jetzt steht man unten. Charons Taschenlampe beleuchtet einkümmerliches Rinnsal, erhellt Exkremente, Papierknäuel, denÄrmel einer Damenbluse, eine Zahnbürste, eine zerquetschteRatte, Zitronenhälften. Die Brühe gluckst um die Stiefel, undman hofft, dass sie auch wirklich wasserdicht sind. Das Herz

klopft, so allein hat man sich lange nicht gefühlt. Man drücktsich vorsichtig den Wänden entlang, geht dann, dem Beispiel

Charons folgend, mutiger, mitten im Bach, aufrecht in diesemZiegelsteingewölbe. Man geht im Währinger Bach und ist ge-

warnt: Bei heftigen Regenfällen kann er innert Minuten zurlebensbedrohenden Gefahr anschwellen und Mann und Mausmit sich reissen. Deshalb steht immer einer Wache. Oben. Beider Warntafel. Und muss sich von Passanten anpöbeln, der Ver-schleuderung von Steuergeldern bezichtigen lassen.

Man stapft, mutig jetzt und breitbeinig, Charon voran durchdie Jauche, die Währinger Bach heisst, folgt dem tanzendenKegel des Lichtes, sucht Seelen oder Untote, freut sich am Wi-derspiel von Helle und Schatten und steht plötzlich in der Ein-mündung zu einem mächtig gewölbten Kirchenschiff aus Ziegel-

mauerwerk. Das ruhig fliessende Wasser des Alserbachsammel-kanals lädt zur Meditation, die Gedanken verirren sich, wandernlos, bis sie in einen augenscheinlich ganz unbenutzten Teil desSouterrains gelangen.

Die gewölbte Decke war niedrig, und rostige Eisenketten hingen

an schweren Haken herab. Man konnte kaum noch sehen, derschlüpfrige Boden schien sich etwas zu senken. Auf einmal stol-perte ich über ein paar glitschige Stufen und stand nun gänzlich imDunkeln. Tiefe Nacht und eisige Kellerluft - oben hörte ich ir-gendwo eine Tür zufallen! Gottlob - ich hatte ein paar Wachs-streichhölzer bei mir. - Da vernahm ich mit einem Male von weit,

weit her ein Geräusch. Es klang wie entferntes Hämmern, wurdeaber mit unheimlicher Schnelligkeit immer deutlicher. Beim Scheineines Streichholzes sah ich, dass ich mich in einem Gang

befand.Mich packte tödliche Angst. «Fort von hier - nur fort von hier!»war mein einziger Gedanke. Ich rannte und stiess manches Malmit dem Schädel an die triefenden Wände. Hinter mir jedoch

schwoll das Tosen - ein furchtbares, taktmässiges Dröhnen wie einGalopp. Meine Lichtchen wurden immer weniger, die feuchte Luftliess keine Flamme aufkommen. Der Schall kam näher, ich wurdeaugenscheinlich verfolgt. Jetzt konnte ich deutlich ein Ächzen undBlasen unterscheiden. Das schnitt mir derartig ins Mark, dass ichglaubte, wahnsinnig zu werden. Wie gepeitscht stürzte ich weiter,

doch da verliess mich die Kraft, und der Ohnmacht nahe fiel ich

auf die Knie. Hilflos hielt ich meine Hände der anstürmendenGefahr entgegen, auf dem Boden flackerten meine letzten Streich-hölzer. Da t o b te es auch schon heran - ein kalter Wind erfasstemich - ich erblickte ein weisses, abgemagertes Pferd, obwohl ich es

nur unscharf sah, bemerkte ich doch seinen entsetzlichen Zustand.Die grosse Mähre warfast verhungert und schleuderte mit verzwei-

felter Kraft ihre riesigen Hufe. Den knochigen Schädel weit vorge-streckt, die Ohren rückwärts angelegt, so jagte dieses Tier an mirvorüber. Sein trubes, glanzloses Auge traf mich - es war blind. Ich

Wer möchte ahnen, wie hart die Arbeit unten ist.

Handreinigung mit der Krücke.

hörte das Knirschen seiner Zähne, und als ich ihm aufschauendnachblickte, sah ich sein zerschundenes, blutiges Hinterteil glän-

zen. Der rasende Galopp dieses lebenden Skeletts kannte kein Ein-halten. Ich tastete mich weiter, während das Dröhnen verhallte,gequält von dem Anblick dieser schrecklichen Knochen. Bald er-blickte ich in der Ferne eine rettende Gasflamme. Nur verschwom-

men konnte ich sie sehen, denn ein Nervenschock packte mich.Meine Zunge wurde starr und mein Körper wie Stein ... Da wirdman am Arm gepackt, zurückgerissen: «Passen Sie auf!» Charonlacht. Charon weiss, dass die Unterwelt die Hirnströme verwirrt.«Das Wasser ist hier ziemlich tief, und der Boden glitschig. Pas-

sen Sie auf, wo Sie hintreten.»

Man werde feststellen, erklärt er dann, dass sich der Geruchim Laufe der unterirdischen Wanderung verändere. Hier, unterWiens Innenstadt, ist er warm und menschlich. Auf der anderenSeite der Donau, wo die Siedlungen weiter verstreut sind undIndustrie und Gewerbe dominieren, riecht es scharf, stechend,

kalt. Am schlimmsten ist die Nähe des Schlachthofes. Da stinktes so infernalisch, dass nur noch entschlossene Flucht vor Ohn-macht schützt. Die Kanalarbeiter allerdings müssen ausharren,

denn jeder Meter Kanal muss zweimal pro Jahr geräumt werden,

von Hand. Das ist Gesetz.

Wiens erste Kanalisation wurde bereits um 100 unserer Zeit-rechnung gebaut. Von den Römern, wem sonst, der XIII. Le-gion, die hier in Vindobona stationiert war. Ausgrabungen «AmHof» legten mit Kalkmörtel gemauerte Bruchsteinkanäle zu Tag.

Die Sohlenverkleidung bestand aus Dachziegeln, für die Abdek-kung wurden Steinplatten verwendet, die Kanäle weisen einRechteckprofi! der Masse 0,80 x 1,80 Meter auf. Die Legionäre

benützten für kleinere Hauskanäle Tonrohre mit einem Durch-messer von 20 Zentimetern. Man nimmt an, dass VindobonaAborte mit Wasserspülung hatte, so lange jedenfalls, bis die Völ-kerwanderungen über die Stadt fegten. Darnach verfiel das Ka-nalnetz, die sanitären Errungenschaften gerieten in Vergessen-

heit.

Charons Geschichte, und die Geschichte moderner Hygiene,beginnt im späten Mittelalter. Damals wurden die Schmutzwas-

ser über unterirdische Leitungen in die nächstgelegenen Bächeabgeleitet. Nach der zweiten Türkenbelagerung, 1683, erhieltenneu errichtete Gebäude Anschluss an Strassenkanäle. Fast dergesamte Bereich innerhalb der Stadtmauern war nun kanali-siert.

In den Vororten allerdings lebte man weiterhin zwischenSenkgruben und Dreck, und der Gestank muss Kaiserin MariaTheresia so störend in die Nase gekrochen sein, dass sie am

5. Mai 1753 die Gemeinden schriftlich aufforderte, «nicht alleinzur Erhaltung des Gesundheitszustandes, sondern auch zur Ein-führung mehrerer Sauberkeit in allen Strassen und Gassen, woes nur tunlich ist, Hauptkanäle herzustellen und die Hauseigen-

tümer anzuhalten, ihre Nebenkanäle an die Strassenkanäle an-zuschliessen». Der Erfolg dieser Ermahnung hielt sich in engen

Grenzen. Wohl wurden die sanitären Verhältnisse in den Häu-sern verbessert. Aber der Zustand der die Stadt durchziehenden

Neue Zürcher Zeitung vom 28.11.1987

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5leiie3iinl|cr Teilung WOCHENENDE277/

Stmstag/Sonnug, 28./29. November 1987 Nr. 277 87

Drehort für Carol Reeds «Der dritte Mann».

offenen Wasserläufe, in die alle Strassenkarte mündeten,wurde immer schlechter. 1792 kam eine kaiserliche Kommissionzum Schluss, dass als einziges Abhilfemittel der Bau von Sam-melkanälen entlang den Ufern von Wiens Bächen und Flüssenin Frage komme. 1822 wiederholte eine neue Kommission diealte Forderung. Getan wurde nichts. Die Volkszählung von 1830ergab eine Zivilbevölkerung von 317 788 Menschen, die 8037Häuser bewohnten. Von diesen waren 6870 an Strassenkanäleoder offene Gerinne angeschlossen, die alle in Bäche mündeten.Am allerärgsten waren die Verhältnisse am Wienfluss. Er musstedie privaten und gewerblichen Abwässer von 2423 Häusern auf-nehmen. Getan wurde weiterhin nichts. Es bedurfte offensicht-lich besonderer Ereignisse, um die Regierung zu energischemEingreifen zu veranlassen.

Am 28. Februar 1830 war es soweit: Ein Eisstoss löste einschreckliches Hochwasser aus. Grosse Teile der Stadt standenmehrere Tage lang unter Wasser. Eine verheerende Choleraepi-demie b r a ch aus, die ihre Opfer vor allem entlang den Bachläu-fen und dem Wienfluss fand. Noch während der Epidemie re-agierten endlich die Behörden. Man begann mit dem Bau desrechten Wienfluss-Sammelkanals und setzte eine stürmische Ent-wicklung der Städtehygiene in Gang.

1 834 verlangte ein kaiserliches Dekret die Errichtung weitererSammelkanäle entlang Wiens Bächen. Andere Grossstädte folg-ten mit ähnlichen Projekten erst später, Hamburg 1848, Paris18SS, London 1858, Frankfurt 1867 und Berlin 1873.

Während der letzten Jahre der Donaumonarchie leuchteteWien dank 922 Kilometern Strassen- und 1530 KilometernHauskanälen in überirdischem Glanz. Aller Schmutz war unterden Boden verbannt: und in der feuchten, fauligen Wärme die-ser Tunnels, Seitenstollen und Schächte hausten die Sandler(wienerisch für Gammler), die Obdachlosen, das Volk der De-klassierten. Sie erhielten sich selbst. Da sie nicht der Wohlfahrtzur Last fielen, wurden sie stillschweigend geduldet. Sie bewohn-ten ihr eigenes, unterirdisches Staatswesen mit eigenen Gesetzen,eigener Polizei und eigenem - Arbeitsrhythmus: Die Strotterarbeiten nachts, wenn die Menschen oben schlafen und der Was-serspiegel in den Kanälen sinkt. Der Sozialreporter Max Winterbegleitete um die Jahrhundertwende den Specklmoritz auf seinermühevollen Tour durch den Bauch von Wien: «Der Specklmo-

ritz ist mir schon zehn Schritte voraus. Da ich ihm nun nachkeu-che, scheint es mir, dass er läuft. So schnell kommt er, so lang-

sam ich vorwärts. (..

.) Mehr als zwei Fünftel meines Körpers

muss ich unterdrücken, um durch den niederen gemauerten Ka-nalgang durchzukommen. Der Oberkörper ist in der Waagrech-ten, die Beine sind etwas gebeugt. In der Rechten trage ich dasLämpchen, dessen offene Flamme bei jedem Schritt nach vor-wärts einen schwarzen Rauchschwall meinen Lungen sendet.Die linke Hand gleitet, für den Körper Stützen suchend, an dernassen, stellenweise glitschigen Kanalwand dahin. (. . .) Schweisstritt aus allen Poren. Der Atem, den es mir zuerst ganz verschla-gen hatte, geht kurz. Meine Beine zittern. Auch sie sind an einVorwärtsschreiten in leichter Kniebeuge nicht gewöhnt. (. . .)<;Sehn S', so find't m'r an Kreuzer.) Specklmoritz fährt mit derHand, der Strömung des Wassers folgend, über die Sohle, be-kommt die Hand voll Rieselsand und wirft diesen gegen dieschiefe Ebene, in die sich die Sohle verliert. Dabei klingt es, undgleich darauf hat er einen Kreuzer. Wieder und wieder wirft erden Sand aus und sichtet ihn dann. So oft er ihn anwirft, klim-pert es metallisch. Aber nicht immer sind es Münzen. Knöpfe,Blechlöffel, Nägel, abgebrochene Messerklingen, Stücke von Ei-senreifen und was sonst an Metallgegenständen in dem Schmutzder Strasse oder durch die Abortschläuche in die Kanäle ge-langt, schlagen da an die Wand und führen den Strotter nichtselten irre.» Der Specklmoritz, als Metallsucher, gehörte zurOberschicht der Strotter. Die Mittelschicht bildeten die Fettfi-scher. Sie waren staatlich konzessioniert und bezahlten Steuern.Sie spannten quer über die Schmutzwasser der Kanäle Seile, diesich mit dem obenaufschwimmenden Fett vollsogen. Das Fettwurde dann von den Seilen in Töpfe gewrungen und an Kerzen-ziehereien verkauft. Den Bodensatz der Strotter bildeten dieKnochensammler, die für nicht viel mehr als ein paar SchluckSchnaps tierische Abfälle von der Unter- in die Oberwelt schaff-ten.

Bei heftigen Regen/allen schwillt das Rinnsal innert Minuten zur lebensbedrohenden Gefahr.

«Nature morte» in der Kläranlage.

Charon winkt ab. Das sind Histörchen, sie lenken ab vomeigentlichen Problem. Man steht inzwischen unter der Friedrich-strasse, im Reich des dritten Mannes, Harry Lime. Die Gewöl-be, die Regenüberfälle, die Metallstege, die Treppen, Nischenund unterirdischen Wasserläufe, Acheron, Kokytos, Styx, dieRatte mit den wildwunden Augen, die Taube mit zerfetzten Flü-geln: der Wienfluss-Sammelkanal ist Kulisse für Filme, Werbe-spots und Videoclips und sommers an Samstagen den Touristenzugänglich. Das eigentliche Problem, doziert Charon, sei, dassman bis vor kurzem die Probleme vor sich hergeschoben habe.Zuerst sammelte man die Schmutzwasser und leitete sie in dieBäche. Als das nicht mehr statthaft war, baute man ein kompli-ziertes und grossartiges System, das den Unrat unter den Bodenkehrte. Aber die ganze Scheisse floss weiterhin ungeklärt in dieDonau. Zwar bedient man sich in Wien des sogenannten Misch-

wassersystems. Schmutz- und Regenwasser fliessen in den glei-

chen Kanalröhren ab, die Schadstoffe werden stark verdünnt.Aber auf die Dauer konnte das nicht verhindern, dass sich derGesundheitszustand der Donau merklich verschlechterte.

1970 wurde mit dem Bau eines ergänzenden Abwassersystemsbegonnen: Die Hauptkläranlage, die jährlich 1700 TonnenSchlamm ausklärt. Die Donausammeikanäle. Und das techni-sche Prunkstück, der Donaudüker, eine Untertunnelung der Do-nau in 20 Metern Tiefe, durch die die Schadstoffe von der UnkenDonauseite zur rechtsseitigen Kläranlage gepumpt werden. DieKosten dieser Einrichtungen, die 1980 ihren Betrieb aufnahmen,beliefen sich auf rund 3 Milliarden Schilling. Heute werden 95Prozent von Wiens Abwässern geklärt, bevor sie weitergeleitet

werden. Der europäische Durchschnitt steht bei 35 Prozent.Charon gerät ins Schwärmen. Für den Bau von Wiens Kanal-

welt wurden bis heute 12 Millionen Kubikmeter Erdreich bewegt

und zwei Millionen Kubikmeter Bauvolumen erstellt. Täglich

fliessen 400000 Kubikmeter Abwasser durch die Rohre, undJahr für Jahr bleiben in den Rechen 6600 Tonnen Abfall hän-gen.

Inzwischen ist man verschwitzt, schmutzig, müde und kaumnoch fähig, die schweren Stiefel zu bewegen. Doch Charon istunerbittlich. Und einer seiner Gehilfen meint: «Wir sind dieHeinzelmännchen der Gegenwart. Niemand bemerkt unsere Ar-beit.» Er ist ein grosser, schwerer Mann. Früher war er Maurer.Dem zog er die Sicherheit des Beamtendaseins vor und wurdeKanalräumer. Seit zehn Jahren kriecht er mit Krücke oderHochdruckwagen durch die engen Röhren. «Für Strotter undRatten interessieren sich die Leut'.» Um seine Augen spielen

feine Lachfältchen. «Aber wenn sie vor einem Wurf junger Rat-ten mit aufgeplatzten Bäuchen stehen, speiben (wienerisch fürerbrechen) sie sich an. Was hier unten wirklich vor sich geht, daswill niemand sehen. An den Gestank gewöhnt man sich schnell.Aber stundenlang tiefgebückt arbeiten, hart arbeiten, und Tag

um Tag bis über die Knie im Wasser stehen, dass man sich ein

Lederstiefel. Massiv, fünf Kilogramm pro Fuss. Garantiert wasserdicht.

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Neue Zürcher Zeitung vom 28.11.1987

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277/888 SaimUg/Sonntig, 28./». November 1987 Nr. 277 WOCHENENDE Sicut <;3iml)tr<;3ciliim(

Rheuma holt, das ist verdammt wenig Romantik für 10 000Schilling im Monat.» Die derben Hände packen den Griff desDüsenschuhs, aus dem Wasser mit einem Druck von 80 atüschiesst, fester, und mit Hilfe dieses Geräts schiebt er denSchlick vor sich her durch den modernen Betonkanal des linkenDonausammlers. Die glatten Wände, die sterile Ausstrahlung

und der widerlich stechende Geruch geben Charon Gelegenheit,die Zukunft zu beschwören:

Sie bringt Wien drei grosse Kanalisationsprojekte: Die Sanie-rung von 250 Kilometern Kanälen aus dem letzten Jahrhundert,die von Rattenfrass und aggressiven Abwässern schwer beschä-digt sind, Kosten rund 3,1 Milliarden Schilling. Den Bau zusätz-licher Entlastungskanäle entlang Wienfluss und Donau, Kostenetwa 3,8 Milliarden Schilling. Und schliesslich sollen die beste-henden 33 000 Senkgruben und 400 Kläranlagen in den Voror-ten ausser Betrieb gesetzt und die Häuser an das Kanalsystemangeschlossen werden. Kosten ungefähr 3,2 Milliarden Schilling.

Im Zuge dieser Programme sollen 1 225 000 Kubikmeter Betonverbaut werden. Sämtliche Grundsatzbeschlüsse wurden 1986ohne Opposition gefasst, Budgetkürzungen werden trotz demangespannten Staatshaushalt nicht erwartet.

«Sie sehen», schliesst Charon und entlässt erst jetzt aus sei-nem Reich, «das sind die wahren Leistungen einer Grossstadt.Wir bauen für die Zukunft, denn unser Werk muss 100 Jahredauern. Die Strotter, das sind Randerscheinungen, vielleicht so-gar Märchen, denn seit Jahrzehnten hat man keinen mehr gese-

hen.»

Man schlendert, frisch geduscht, neu geboren und die Strah-len der Sonne, den kühlen Wind mit ungeahnter Gier genies-

send, heimwärts, vorbei leichten Fusses an einer Litfassäule -man weiss jetzt, dass das Einstiege in die Unterwelt waren,längst vergessen und bedeutungslos -, da fliegt plötzlich die Türauf, zwei stahlharte Hände legten sich um meinen Hals und rissenmich in das Innere der Litfassäule. Bevor ich noch einen Gedanken

fassen konnte, hatte der Unbekannte mich gegen die Wand ge-

schleudert und mit blitzschnellen Handgriffen, die langjährigeÜbung verrieten, mit Ketten an ein eisernes Gestell gefesselt. Erdrehte nun an einer Kurbel, die das Gestell, welches wie ein Xgeformt war, um die Achse in Bewegung setzte. Meine Füsse wan-derten nach oben, und ich hing mit dem Kopf nach unten. MeineHaare schleiften am Boden in einer klebrigen, halberstarrten Flüs-sigkeit. Die Augen quollen mir aus den Höhlen, als ich merkte,

dass es geronnenes Blut war, das im dunklen Rinnsaal zu einerkreisrunden Öffung im Boden sickerte, in welcher man noch dieoberste Sprosse einer rostigen Eisenleiter erkennen konnte, die hin-unter in den Schacht führte, aus dem der faulige Qualm derKanäle stieg. Die Szene war erhellt, durch eine Ölfunzel, in derenLicht ich zu meinem unaussprechlichen Entsetzen wahrnahm, dassder Mann nunmehr ein langes, blitzendes, ungemein scharf ausse-hendes Messer gezogen hatte, mit dem er sich jetzt vor mich hin-kauerte. «Ich bedaure es sehr», murmelte er, sich auf den Fersenhin und her wiegend, «ich bedaure es sehr. Sie so enttäuschen zumüssen . . . Es gibt eine geheime Gesellschaft, die hier unten in denKanälen ihr Wesen treibt.» Seine Hand riss meinen Kopfherunter,

so dass sich mein Halsfrei seinem Messer darbot, dessen scharfeSchneide meine Kehle berührte. In meiner besinnungslosen Angst

machte ich eine zuckende Bewegung, so dass der Stahl die Hautritzte; ich fühlte, wie ein Tropfen warmen Blutes über die Hals-beuge bis zum Kinn lief. Jetzt war es aber genug; ich hielt es nichtmehr aus. Ich musste aufwachen. «Ich träume nur!» schrie ich mitfast berstender Lunge. Die Worte wurden unter dem furchtbarenGriff des Mannes nur ein stöhnender Laut. Aber der Unhold ver-stand mich und schüttelte grinsend den Kopf. «Das ist», sagte ermit einem so untraumhaften Schmatzen, dass es mich die schreck-liche Wahrheit blitzartig erkennen liess, «das ist ein Irrtum, denvor Ihnen schon viele begangen haben, mein Herr.» Dann schnitter mir die Kehle durch.

PS: Der kundige Leser wird wissen, wo man gestrottert hat.Dem unkundigen sei's verraten: Bei Alfred Kubin («Die andereSeite») und bei Peter von Tramin («Der Kanalrat»).

Die Architekten Friedrich Ohmann und Josef Hackhofer leiteten 1903 die Überbauungdes Wienflusses im Stadtparkbereich.

Der Düker führt in 20 Metern Tiefe unter der Donau durch.

Kommandozentrale

8/XU'. . . und Pumpwerk des Donaudükers: Bis 1990 sollen Wiens Abwässer zu 100 Prozent geklärt werden.

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Neue Zürcher Zeitung vom 28.11.1987