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BerWissGesch 3, 189-192 (1980) Dokumentation und Information 32. Deutscher Historikertag in Hamburg, 4.-8. Oktober 1978 Berichte zur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE c Akademische Verlagsgcscllschal't 1980 Der 32. deutsche Historikertag erhielt nicht nur durch die Rede des Bundeskanzlers auf der Eröffnungssitzung dieses Kongresses zur Rolle der Geschichtswissenschaft im demo- kratischen Staat seine besondere Note, sondern auch durch die Tatsache, daß Wissen- schafts- und Medizingeschichte auf einem deutschen Historikertag zum erstenmal einen hohen Stellenwert erhielten. Denn das übergreifende Thema dieser Tagung war der "Wis- senschaft als universalhistorischem Problem" gewidmet. Als Sektion 15 war die Geschichte der Medizin zum erstenmal auf einem Historikertag vertreten. Gerhard A. Ritter, der Vorsitzende des Verbands der Historiker Deutschland, hat sowohl in seiner Eröffnungs- ansprache zur Lage der Geschichtswissenschaft als auch bei seiner Vorstellung des über- greifenden Themas das ausdrücklich hervorgehoben; der Bundeskanzler hat im gleichen Sinne auf die Notwendigkeit der Vermittlung der Kenntnis der "zweieinhalbtausend- jährigen Entfaltung des naturwissenschaftlichen Weltbildes" bereits in der Schule hinge- wiesen. Karl-Georg Faber (Münster) hat die Sitzungen des übergreifenden Themas geleitet. In seiner Einftihrung hob er auf die universalhistorische Bedeutung der Wissenschaft in der Strukturierung der modernen Welt ab; damit wäre die Frage der Einbettung der Wissenschaft in den Kontext der Zivilisation zu einem Generalthema geworden. Fünf Vorträge sollten "Wissenschaft als universalhistorisches Problem" beleuchten. In den meisten von ihnen lag das Schwergewicht auf ideengeschichtlichen Fragestellungen; der Referent muß gestehen, daß ihm hierbei die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Komponente, in deren Kontext Wissenschaftsgeschichte oft erst eigentlich Allgemein- geschichte ergänzen und differenzieren kann, bisweilen zu kurz zu kommen schien. Im ersten Vortrag versuchte der Philosoph Manfred Riede! (Erlangen) eine Begriff- bestimmung der Wissenschaft im Spannungsfeld von Theorie, Lehre und System zu geben, denen episteme und empeiria im klassisch-griechischen Wissenschaftsbegriff, scientia und disciplina im christlich-mittelalterlichen, und Methode und Gesetz im neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff korrespondierten. Für Riedel sind damit folgerichtig die wissen- schaftlichen Revolutionen des 17. Jahrhunderts im Kern Revolutionen des Wissenschafts- begriffs. Dieser Wissenschaftsbegriff ist weder analytisch noch empirisch, sondern er ist durch den Kantschen Sinnbegriff der Ideen bestimmt; so würde Wissen zur Wissenschaft durch den jeweiligen Begründungszusammenhang, nämlich durch eine Philosophie der Wissenschaft. Diephilosophie pratique des Descartes ist die Folge. Durch diese Verwechs- lung von Philosophie und Wissenschaft wird im Positivismus Wissenschaft auf das real Ge- gebene relativiert; es entsteht eine Wissenschaft ohne Theorie. Andererseits befindet sich der dialektische Wissenschaftsbegriff im Kontext einer Weltanschauung, die sich der

32. Deutscher Historikertag in Hamburg, 4.-8. Oktober 1978

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Page 1: 32. Deutscher Historikertag in Hamburg, 4.-8. Oktober 1978

BerWissGesch 3, 189-192 (1980)

Dokumentation und Information

32. Deutscher Historikertag in Hamburg, 4.-8. Oktober 1978

Berichte zur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE c Akademische Verlagsgcscllschal't 1980

Der 32. deutsche Historikertag erhielt nicht nur durch die Rede des Bundeskanzlers auf der Eröffnungssitzung dieses Kongresses zur Rolle der Geschichtswissenschaft im demo­kratischen Staat seine besondere Note, sondern auch durch die Tatsache, daß Wissen­schafts- und Medizingeschichte auf einem deutschen Historikertag zum erstenmal einen hohen Stellenwert erhielten. Denn das übergreifende Thema dieser Tagung war der "Wis­senschaft als universalhistorischem Problem" gewidmet. Als Sektion 15 war die Geschichte der Medizin zum erstenmal auf einem Historikertag vertreten. Gerhard A. Ritter, der Vorsitzende des Verbands der Historiker Deutschland, hat sowohl in seiner Eröffnungs­ansprache zur Lage der Geschichtswissenschaft als auch bei seiner Vorstellung des über­greifenden Themas das ausdrücklich hervorgehoben; der Bundeskanzler hat im gleichen Sinne auf die Notwendigkeit der Vermittlung der Kenntnis der "zweieinhalbtausend­jährigen Entfaltung des naturwissenschaftlichen Weltbildes" bereits in der Schule hinge­wiesen.

Karl-Georg Faber (Münster) hat die Sitzungen des übergreifenden Themas geleitet. In seiner Einftihrung hob er auf die universalhistorische Bedeutung der Wissenschaft in der Strukturierung der modernen Welt ab; damit wäre die Frage der Einbettung der Wissenschaft in den Kontext der Zivilisation zu einem Generalthema geworden. Fünf Vorträge sollten "Wissenschaft als universalhistorisches Problem" beleuchten. In den meisten von ihnen lag das Schwergewicht auf ideengeschichtlichen Fragestellungen; der Referent muß gestehen, daß ihm hierbei die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Komponente, in deren Kontext Wissenschaftsgeschichte oft erst eigentlich Allgemein­geschichte ergänzen und differenzieren kann, bisweilen zu kurz zu kommen schien.

Im ersten Vortrag versuchte der Philosoph Manfred Riede! (Erlangen) eine Begriff­bestimmung der Wissenschaft im Spannungsfeld von Theorie, Lehre und System zu geben, denen episteme und empeiria im klassisch-griechischen Wissenschaftsbegriff, scientia und disciplina im christlich-mittelalterlichen, und Methode und Gesetz im neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff korrespondierten. Für Riedel sind damit folgerichtig die wissen­schaftlichen Revolutionen des 17. Jahrhunderts im Kern Revolutionen des Wissenschafts­begriffs. Dieser Wissenschaftsbegriff ist weder analytisch noch empirisch, sondern er ist durch den Kantschen Sinnbegriff der Ideen bestimmt; so würde Wissen zur Wissenschaft durch den jeweiligen Begründungszusammenhang, nämlich durch eine Philosophie der Wissenschaft. Diephilosophie pratique des Descartes ist die Folge. Durch diese Verwechs­lung von Philosophie und Wissenschaft wird im Positivismus Wissenschaft auf das real Ge­gebene relativiert; es entsteht eine Wissenschaft ohne Theorie. Andererseits befindet sich der dialektische Wissenschaftsbegriff im Kontext einer Weltanschauung, die sich der

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Begrifflichkeit neuzeitlicher Wissenschaft angleicht und diese dogmatisiert; damit wieder­hole Marx das cartesianische Mißverständnis von der praktischen Naturwissenschaft. Nach Riedel wäre der moderne Wissenschaftsbegriff nur zu finden, wenn man - wie er es bezeichnet - von der Dogmatisierung des modernen Naturwissenschaftsbegriffs Abschied nähme.

Im zweiten Vortrag des übergreifenden Themas bemühte sich Hermann Strasburger (Freiburg) aufzuzeigen, daß im griechisch-römischen Altertum die eigentlichen Beein­flussungen von Wissenschaft auf den Ablauf der Universalgeschichte nicht von der Natur-, sondern von den Geisteswissenschaften ausgegangen wären; die naturwissenschaftliche und geschichtliche Dynamik liefen infolgedessen nicht synchron. Vielmehr wären die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in der Antike fast nie zur praktischen Verifikation gekommen; ihre revolutionierenden Ansätze hätten am Gang der Alten Geschichte nichts geändert. Für Strasburger ist dies nicht befriedigend zu erklären. Dem Referenten scheint flir eine Erklärung dieses Phänomens weniger, wie Faber meinte, der Charakter des anti­ken Wissenschaftsbegriffs generell in Anspruch zu nehmen zu sein als vielmehr ein Aspekt, den Strasburger zwar auch erwähnte, jedoch nicht voll auswertete, nämlich die Rück­ständigkeit der technischen und ökonomischen Bedingungen in der Antike. Denn der antike Wissenschaftsbegriff ist nur vorwissenschaftlich, wenn man ihn am neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff, der auch den Beitrag von Riedel zugrunde lag, mißt. Dagegen könnten sozial- und wirtschaftshistorische Fragestellungen einer Wissenschaftsgeschichte, die sich als Sozialgeschichte in Erweiterung versteht, zumindest ansatzweise zur Erklärung der von Straburger gestellten Frage beitragen.

Im dritten Vortrag ging August Nitschke (Stuttgart) der Frage nach, welche Zusam­menhänge zwischen den neuen Methoden und Fragestellungen der Naturwissenschaftler des 15. und 16. Jahrhunderts und den gleichzeitigen Verhaltensweisen in der Gesellschaft bestünden. Die Fragen, die Nitschke aufwirft, nämlich ob das, was im Selbstverständnis der damaligen Naturwissenschaftler revolutionär war, wirklich neu ist, ob die Modelle, die die Naturwissenschaftler verwandten, revolutionär waren, und ob die Beschreibungen, die die Naturwissenschaftler von Raum und Bewegungsabläufen gaben, wirklich neu waren, beantwortet er weitgehend negativ und scheint damit die Kontinuitätsthese im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu vertreten. Dieser Weg scheint dem Referenten für eine Wissenschaftsgeschichte, die sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Phänomene in ihr Erklärungsspektrum miteinbezieht, nicht recht gangbar zu sein; vielmehr würde er meinen, daß die vielfachen Spannungen, die sich zwischen den verschiedenen Ein­stellungen der Naturwissenschaftler zur Naturbeobachtung und ihren einander wider­sprechenden Modellen offenbaren, nichts anderes als Widerspiegelungen der inneren Span­nungen der Gesellschaft des 15. und 16. Jahrhunderts selbst in ihrer revolutionären Um­bruchsituation sind. Denn auf den Zusammenhang von den Ansätzen naturwissenschaft­lichen Denkens in dieser Zeit mit gesellschaftlichen Verhaltensweisen hat Nitschke selbst hingewiesen, wenn auch dieser flir ihn vornehmlich ein Wandel der Wahrnehmungs­weisen ist. Für ihn hat das anthropologische Modell, nämlich die Tatsache, daß der Mensch umweltbezogener Teil einer Mensch-Umwelt-Ordnung ist, die größte Erklärungs­relevanz; diese Systemabhängigkeit verlangt zu untersuchen so Nitschke -, wie sich Systeme verändern, das heißt es wäre nötig, die Synergetik der Physik als Methode auf den historischen Raum zu übertragen.

Im vierten Vortrag verfolgte Helmut G. Königsherger (London) die Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Religion in den Anfangen der modernen europäischen Ge­schichte. Er versuchte zu zeigen, daß trotz der Krise des Verhältnisses zwischen Theo­logie und Naturwissenschaft Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die sich besonders im Prozeß gegen Galilei offenbarte, es im 17. und frühen 18. Jahrhundert

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neuerlich zu einer Synthese zwischen Religion und Naturwissenschaft gekommen sei. Königsherger bezog hier sowohl Descartes wie auch die rationale Metaphysik von Leibniz und den Versuch der Royal Society, die Einheit von Religion und Naturwissenschaft herzustellen, mit ein. So bleibe auch in der Aufklärung das Bündnis zwischen Religion und Naturwissenschaft bestehen. Erst Ende des 18. und im 19. Jahrhundert würde Natur­wissenschaft der Ersatz für die Religion. Auch hier überraschte den Referenten die rein ideengeschichtliche Auffassung des Themas.

Im letzten Vortrag des übergreifenden Themas behandelte Heinz Maier-Leibnitz (Bann­Bad Godesberg) als Experimentalphysiker Einflüsse und Wirkungen der Naturwissenschaft im 18. und im 19. Jahrhundert vor allem anhand derNachwirkungvon Bacon und Newton. In eindringlicher Weise verdeutlichte er die Tatsache, daß die von Bacon bereits gefor­derte Nützlichkeit der Wissenschaften und die Notwendigkeit ihrer Planung Bacon war damit der erste Philosoph der industriellen Wissenschaft - erst viel später, nämlich im 19. Jahrhundert unter andersartigen sozio-ökonomischen Bedingungen zum Siegeszug der Wissenschaften führen konnte.

In diesen Vorträgen des übergreifenden Themas wurden zwei Schwerpunkte gesetzt, nämlich die der Behandlung der griechisch-römischen Antike und der Zeit vom Spät­mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, also der neuzeitlichen Wissenschaft. Solche wissen­schaftshistorischen Fragestellungen, wie die hier behandelten, können -und darauf wies auch der Vorsitzende, Herr Faber, abschließend hin - vom Historiker allein nicht be­antwortet werden, sondern nur in Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern und Wis­senschaftshistorikern, die stärker gepflegt werden müßte. Dies ist auch vom Standpunkt der Wissenschaftsgeschichte nur zu unterstreichen.

Folgerichtig fügte es sich in das übergreifende Thema dieses Historikertags ein, daß ein wichtiger Teilbereich der Wissenschaftsgeschichte, nämlich die Medizingeschichte, zum erstenmal auf einem Historikertag in einer eigenen Sektion von Ralf Winau (Berlin) vorgestellt wurde. Antike, Mittelalter und Neuzeit waren hier in gleicher Weise thematisch vertreten. Der gesellschaftliche Stellenwert der Medizin stand dabei im Mittelpunkt des Interesses. Im Spannungsfeld von Gesellschaft und ärztlichem Stand gab Fridolf Kudlien (Kiel) einen Überblick über die Standesverhältnisse im Hellenismus aufgrund neuer Quellen; besonders die Behauptung vom Vorhandensein eines staatlichen Gesundheits­wesens im ptolemäischen Ägypten hielt der Nachprüfung nicht stand. In einer Einzel­untersuchung relativierte Klaus-Dietrich Fischer (Berlin) die These vom staatlichen Ge­sundheitswesen auch für die römische Kaiserzeit. Gerhard Baader (Berlin) und Gundolf Keil (Würzburg) skizzierten die Interpendenz von ärztlichem Stand und Gesellschaft im frühen, hohen und späten Mittelalter. Kar! Hauck (Münster) behandelte anhand der Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit Religion und Medizin als zusammenwirkende soziale Faktoren vom 4. bis 9. Jahrhundert. Die Nachwirkung des Asklepioskultes im nordgermanischen Raum eröffnete hier neue interessante Aspekte. Anstelle des kurz­fristig abgesagten Vortrags von Eduard Seidler (Freiburg) gab der Vorsitzende der Sek­tion, Herr Winau, selbst einen Überblick über die Probleme und Aufgaben der Medizin­geschichtsschreibung für das 19. Jahrhundert. Er zeigte dabei auf, daß hier besonders die Erforschung der AnHinge einer Sozialmedizin um die Mitte des 19. Jahrhunderts und die ihrer ersten Verwirklichung durch Alfred Grotjalm einen wichtigen Beitrag der Medizingeschichtsschreibung zur politischen, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts darstellen.

Zusammenfassend kann man sagen, daß mit diesem thematischen Schwerpunkt "Wis­senschaftsgeschichte" am Historikertag 1978 ein neuer Anfang in der Zusammenarbeit von Wissenschafts- und Allgemeinhistorikern gesetzt wurde. Es liegt im Interesse aller, wenn - wie es Herr Faber in seinem Schlußwort zum übergreifenden Thema sagte - der

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hier begonnene Dialog zwischen Allgemeinhistorikern, Wissenschaftshistorikern und Philosophen nicht abreißt, sondern weiter intensiv gepflegt wird.

Privatdozent Dr. Gerhard Baader Institut ftir Geschichte der Medizin der Freien Universität Berlin Augustastraße 3 7 D-1000 Berlin 45