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32 3 Erweiterte kognitive Verhaltenstherapie für Essstörungen (CBT-E): Ein Überblick 3.2 Verschiedene Formen der CBT-E Die verschiedenen Formen der CBT-E werden im folgenden Kasten zusammen- gefasst. Es gibt zum einen die fokussierte Version, die sich hauptsächlich auf die Essstörungspsychopathologie konzentriert. Diese Version ist für die Mehrheit der Patientinnen sinnvoll und sollte als die verkürzte Version betrachtet werden. Zusätzlich gibt es die erweiterte Version zur Behandlung von Mechanismen, die bei manchen Patienten zusätzlich „außerhalb“ der Kernstörung vorhanden sind und zur Aufrechterhaltung beitragen (s. Kap. 13, S. 251). Letztere Version hat drei zusätzliche Behandlungsmodule: klinisch bedeutsamer Perfektionismus, geringer Selbstwert und interpersonelle Schwierigkeiten. Das ursprünglich vierte Modul zur Behandlung von Stimmungsintoleranz wurde inzwischen in die fokussierte Version der Behandlung integriert (s. Kap. 10, S. 175). Die verschiedenen Formen der CBT-E Zwei Versionen fokussierte Version, die Kernbehandlung (s. Kap. 5–12) die lange Version mit den Modulen zum klinisch bedeutsamen Perfektionismus, geringem Selbstwert und interpersonellen Schwierigkeiten (s. Kap. 13) Zwei Intensitäten 20-Sitzungen-Version, für Patientinnen mit einem BMI > 17,5 (s. Kap. 5–10 u. Kap. 12) 40-Sitzungen-Version, für Patientinnen mit einem BMI zwischen 15,0 und 17,5 (s. Kap. 11) Version für jüngere Patientinnen unter 18 Jahren (s. Kap. 14) intensive Version für stationäre Patientinnen (s. Kap. 15.1, S. 293) und für ambulante Patientinnen mit schwerer Symptomatik (s. Kap. 15.2, S. 303) Gruppenversion (s. Kap. 15.3, S. 307) Die CBT-E wurde adaptiert, um jüngeren (s. Kap. 14, S. 279) und stationären Patientinnen (s Kap. 15.1, S. 293) gerecht zu werden. Zusätzlich gibt es zwei Varianten des klassischen ambulanten Ansatzes, eine intensive Version und eine Gruppenversion (s. Kap. 15, S. 293). Generell, und wie bereits in Forschungsstu- dien evaluiert, ist die CBT-E eine zeitlich begrenzte Behandlungsform. Für Patientinnen, die nicht signifikant untergewichtig sind (in diesem Kontext defi- niert als Patientinnen mit einem BMI über 17,5) sind 20 Behandlungsstunden über einen Zeitraum von 20 Wochen im Allgemeinen ausreichend. Patien- tinnen, die unter diesem BMI liegen, sollten eine modifizierte und längere Behandlung erhalten. Aufgrund der relativen Prävalenz von untergewichtigen und nicht untergewichtigen Patientinnen ist die Version mit 20 Sitzungen für über 80 % der erwachsenen ambulanten Patientinnen ausreichend. Die Adapta- tion für untergewichtige Patientinnen ist in Kapitel 11 beschrieben.

3.2 Verschiedene Formen der CBT-E - · PDF file3.2 Verschiedene Formen der CBT-E 33 Die Tatsache, dass die CBT-E generell zeitlich beschränkt ist, könnte als Widerspruch aufgefasst

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32 3 Erweiterte kognitive Verhaltenstherapie für Essstörungen (CBT-E): Ein Überblick

3.2 Verschiedene Formen der CBT-E

Die verschiedenen Formen der CBT-E werden im folgenden Kasten zusammen-gefasst. Es gibt zum einen die fokussierte Version, die sich hauptsächlich auf die Essstörungspsychopathologie konzentriert. Diese Version ist für die Mehrheit der Patientinnen sinnvoll und sollte als die verkürzte Version betrachtet werden. Zusätzlich gibt es die erweiterte Version zur Behandlung von Mechanismen, die bei manchen Patienten zusätzlich „außerhalb“ der Kernstörung vorhanden sind und zur Aufrechterhaltung beitragen (s. Kap. 13, S. 251). Letztere Version hat drei zusätzliche Behandlungsmodule: klinisch bedeutsamer Perfektionismus, geringer Selbstwert und interpersonelle Schwierigkeiten. Das ursprünglich vierte Modul zur Behandlung von Stimmungsintoleranz wurde inzwischen in die fokussierte Version der Behandlung integriert (s. Kap. 10, S. 175).

Die verschiedenen Formen der CBT-E●● Zwei Versionen

– fokussierte Version, die Kernbehandlung (s. Kap. 5–12) – die lange Version mit den Modulen zum klinisch bedeutsamen Perfektionismus,

geringem Selbstwert und interpersonellen Schwierigkeiten (s. Kap. 13)●● Zwei Intensitäten

– 20-Sitzungen-Version, für Patientinnen mit einem BMI > 17,5 (s. Kap. 5–10 u. Kap. 12)

– 40-Sitzungen-Version, für Patientinnen mit einem BMI zwischen 15,0 und 17,5 (s. Kap. 11)

●● Version für jüngere Patientinnen unter 18 Jahren (s. Kap. 14)●● intensive Version für stationäre Patientinnen (s. Kap. 15.1, S. 293) und für ambulante

Patientinnen mit schwerer Symptomatik (s. Kap. 15.2, S. 303)●● Gruppenversion (s. Kap. 15.3, S. 307)

Die CBT-E wurde adaptiert, um jüngeren (s. Kap. 14, S. 279) und stationären Patientinnen (s Kap. 15.1, S. 293) gerecht zu werden. Zusätzlich gibt es zwei Varianten des klassischen ambulanten Ansatzes, eine intensive Version und eine Gruppenversion (s. Kap. 15, S. 293). Generell, und wie bereits in Forschungsstu-dien evaluiert, ist die CBT-E eine zeitlich begrenzte Behandlungsform. Für Patientinnen, die nicht signifikant untergewichtig sind (in diesem Kontext defi-niert als Patientinnen mit einem BMI über 17,5) sind 20 Behandlungsstunden über einen Zeitraum von 20 Wochen im Allgemeinen ausreichend. Patien-tinnen, die unter diesem BMI liegen, sollten eine modifizierte und längere Behandlung erhalten. Aufgrund der relativen Prävalenz von untergewichtigen und nicht untergewichtigen Patientinnen ist die Version mit 20 Sitzungen für über 80 % der erwachsenen ambulanten Patientinnen ausreichend. Die Adapta-tion für untergewichtige Patientinnen ist in Kapitel 11 beschrieben.

333.2 Verschiedene Formen der CBT-E

Die Tatsache, dass die CBT-E generell zeitlich beschränkt ist, könnte als Widerspruch aufgefasst werden gegenüber der Behauptung, die Behandlung sei sehr individuell. Das stimmt zwar teilweise, jedoch überwiegen unserer Ansicht nach die Vorteile einer standardisierten Behandlungslänge. Der Hauptvorteil liegt darin, dass eine festgelegte Zeit sowohl die Arbeit des Therapeuten als auch der Patientin stärker auf das Wesentliche konzentriert. Das fördert die zügige Herstellung eines „therapeutischen Schwungs“, der notwendig ist, um die Ess-störung frühzeitig in Angriff zu nehmen. Außerdem hilft die zeitliche Begren-zung, dass Therapeut und Patientin eng zusammenarbeiten, um rasch Verhal-tensänderungen zu erreichen. Zusätzlich wird dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Therapie formal abgeschlossen wird, statt dass sie sich totläuft, wie das oft bei Therapien mit offenem Ende der Fall ist. Ein festgesetztes Ende stellt sicher, dass wichtige Themen hinsichtlich der Zukunft der Patientin in den letzten Sitzungen der Behandlung abgedeckt werden.

Es gibt Umstände, unter denen die Länge der Behandlung nochmals ange-passt werden muss. Selten muss die Behandlung verkürzt werden, obwohl auch das in manchen Fällen bei der Binge-Eating-Störung sinnvoll ist, wenn nämlich Essanfälle schnell reduziert werden können und es kaum weiteren Behandlungs-bedarf gibt. Häufiger muss die Therapie etwas verlängert werden. Gründe dafür werden am Ende dieses Kapitels diskutiert (s. Kap. 3.7, S. 42).

In den meisten Fällen wird die Behandlung rechtzeitig beendet, sie sollte auch recht-zeitig beendet werden.

Diese Arbeitsweise war für den Erstautor dieses Buches bislang ungewohnt. Er neigte dazu, Patientinnen so lange zu behandeln, bis sie sprichwörtlich sym-ptomfrei waren. Das war jedoch eigentlich nicht nötig und wahrscheinlich auch nicht im Interesse der Patientinnen. Sobald Patientinnen zu dem Punkt gelan-gen, an dem die wichtigsten die Störung aufrechterhaltenden Mechanismen unterbrochen werden, können sie über das Behandlungsende hinaus von Thera-pieerfolgen profitieren. Unter solchen Umständen kann und sollte die Therapie enden. Anderenfalls neigen Patientinnen (und Therapeuten) dazu, sonstige auf-tretende Erfolge auf die weiterführende Therapie zu beziehen und nicht auf den von der Patientin bereits erzielten Fortschritt. In der Umsetzung bedeutet das, dass es sinnvoll sein kann, auch dann die Therapie von Patientinnen zu been-den, wenn sie immer noch ihr Essen teilweise einschränken oder vielleicht noch Essanfälle haben und gelegentlich erbrechen und/oder sich häufig immer noch um Figur und Gewicht sorgen.

34 3 Erweiterte kognitive Verhaltenstherapie für Essstörungen (CBT-E): Ein Überblick

3.3 Techniken der CBT-E-Behandlung

Die CBT-E ist eine Form der kognitiven Verhaltenstherapie (Cognitive Behavior Therapy, CBT). Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben und entsprechend der meis-ten anderen empirisch bestätigten Formen der CBT beschäftigt sich auch diese Form mit den aufrechterhaltenden Prozessen der Psychopathologie der Patien-tin, wobei kognitiven Prozessen besondere Bedeutung zukommt. Die CBT-E verwendet kognitive sowie verhaltensbasierte Strategien und Verfahren, kombi-niert mit der wichtigen Psychoedukation.

Der Stil der CBT-E ähnelt dem anderer Formen der CBT, so dass es von Vor-teil ist, wenn Therapeuten eine kognitiv-behaviorale Ausbildung erhalten haben. Wie bei anderen Formen der CBT ist die Herstellung einer guten Arbeitsbezie-hung von großer Wichtigkeit. Es geht darum, dass Therapeut und Patientin als ein Team zusammenarbeiten mit dem Ziel, der Patientin bei der Lösung ihres Essproblems zu helfen. Bei Patientinnen mit einer Essstörung ist diese Zusam-menarbeit besonders wichtig, da für sie das Gefühl der Kontrolle so bedeutend ist. Therapeuten müssen daher bei ihren Patientinnen, insbesondere bei unter-gewichtigen, sicherstellen, dass sie verstehen, was in der Therapie passiert, und dass sie aktive Teilnehmer der Behandlung sind. Wenn die Patientinnen das Gefühl haben, kontrolliert, gezwungen oder falsch geleitet zu werden, zeigt sich bei ihnen eine Veränderungsresistenz. (Weitere Details zur Motivation von untergewichtigen Patienten werden in Kapitel 11.7, S. 205 beschrieben.) Den Patientinnen sollte daher klar gemacht werden, dass es zwar schwierig ist, ein Essproblem zu lösen, es aber definitiv wert ist, es zu lösen, und es muss klar gemacht werden, dass der Therapie Priorität gegeben werden muss. Genauso wie andere Formen der CBT ist auch hier die laufende Selbstbeobachtung und das erfolgreiche Umsetzen von strategisch geplanten Hausaufgaben von funda-mentaler Bedeutung. Um sicherzustellen, dass diese Aufgaben, die schwierig und Angst auslösend sein können, von der Patientin auch geleistet werden, sollte es in der therapeutischen Beziehung möglich sein, dass der Therapeut zeitweise streng ist.

Der CBT-E liegen zwei Prinzipien zugrunde. Erstens: einfache Prozeduren werden komplexeren Maßnahmen vorgezogen. Zweitens: Weniges gut zu machen ist besser als Vieles schlecht (Prinzip der Sparsamkeit).

Der Kernpunkt bei der CBT-E ist jedoch, dass die Maßnahmen effektiv sind.Obwohl bei der CBT-E viele kognitiv-behaviorale Strategien und Verfahren

angewendet werden (kognitive Fehler beispielsweise, wie dichotomes Denken oder selektive Aufmerksamkeit, werden auf die herkömmliche Art und Weise behandelt), unterscheidet sich die CBT-E von bestimmten Formen der CBT. Auf die Anfertigung konventioneller Gedankenprotokolle wird verzichtet, obwohl eine Spalte des Essprotokolls für diese Zwecke verwendet werden kann. Gele-

353.3 Techniken der CBT-E-Behandlung

gentlich werden Patientinnen gebeten, zu bestimmten Themen ihre Gedanken und Gefühle zu protokollieren (z. B. wenn Körperkontrolle oder Sich-fett-Füh-len behandelt werden, s. Kap. 8.3, S. 133 u. Kap. 8.4, S. 146). Formales kognitives Umstrukturieren ist nicht Bestandteil der CBT-E, und manchen Leser mag es verwundern, dass einige weit verbreitete CBT-Konzepte, wie automatische Gedanken und Annahmen, Oberpläne und Schemata, nicht vorkommen. Nach unserer Erfahrung brauchen diese Methoden oder Konzepte nicht notwendiger-weise bei dieser spezifischen Patientinnengruppe angewendet werden, um Ver-haltensänderungen zu erreichen.

Der wirksamste Weg zu einer kognitiven Veränderung ist, Patientinnen dabei zu helfen, Veränderungen in ihrem Verhalten zu erzielen und dann die Effekte und Schlussfolge-rungen dieser Veränderungen zu analysieren.

Es mag manchen Leser auch verwundern, dass in diesem Buch kaum auf das Konzept der „Persönlichkeitsstörungen“ eingegangen wird. Dabei bleibt anzu-merken, dass wir natürlich auch Patientinnen sehen, die die Diagnose Persön-lichkeitsstörung bekommen würden. Dennoch benutzen wir dieses Konzept aus verschiedenen Gründen, die in Kapitel 2 (s. S. 20) spezifiziert wurden, nicht. Richtlinien zum Umgang mit diesen Patientinnen sind in diesem Buch an verschiedenen Stellen zu finden, speziell in den Kapiteln 10 (s. S. 175) und 13 (s. S. 251) im Kontext der erweiterten Version der Behandlung.

Während auch die CBT-E den generell für die CBT typischen therapeutischen Stil des kooperativen Empirismus anwendet und mittels explorativer Fragen den Patientinnen bei der Klärung ihrer Gedanken geholfen wird, halten wir den sogenannten „sokratischen Dialog“ nicht für sinnvoll, obwohl er gelegentlich durchaus hilfreich sein kann. (Es ist ganz interessant festzustellen, dass − in Anbetracht des heutigen Wissens über Sokrates – dieser Begriff falsch bestimmt wurde; s. Kasten „Sokrates und sokratischer Dialog“, S. 36). Unserer Ansicht nach und wiederum in Bezug auf diese spezifische Patientengruppe kann dassel-be Ergebnis oft erreicht werden, indem einfachere und dabei effektivere Strate-gien verwendet werden. Außerdem führen wir nur selten formale Verhaltens-übungen durch, da diese (wiederum hier in Bezug auf diese spezifische Gruppe) schwer interpretierbar sind.1 Das liegt teilweise daran, dass die wichtigsten Ergebnisse für die zentrale Psychopathologie der Essstörung (d. h. Verände-rungen in Figur oder Gewicht) nicht durch kurzfristige Verhaltensübungen

1 Verhaltensübungen kann man wie folgt unterscheiden: Es gibt formale Verhaltensübungen zur Überprüfung von Hypothesen, diese wenden wir nur selten an. Und es gibt Verhal-tensübungen als Methode, Patientinnen zu helfen, strategische Verhaltensänderungen zu erzielen, um dabei kognitive Veränderungen herbeizuführen, die begründet sind und im Kontext des individuellen Störungsmodells der Patientin erklärt werden können.