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Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (2001) 146/2-3: 75-82 350 Jahre Rechenschieber und was die Region Zürich dazu beigetragen hat Heinz Joss', Dällikon Zusammenfassung Der Rechenschieber, meist in den Bauformen Re- chenstab, -scheibe und -walze, war während rund 350 Jahren das verbreitetste Rechengerät, bis ihm in den 1970er-Jahren der Elektronen rechner ein abruptes Ende bereitete. Der Artikel zeigt die Entwicklungsge- schichte des Rechenschiebers, seine Bauformen, seine Skalensysteme und seine geographische Verbreitung im Zeitverlauf, um dann die Beiträge der Region Zü- rich auf dem Gebiet des Rechenschiebers zu beschrei- ben. Beides, die allgemeine Entwicklung des Rechenschie- bers und die zürcherischen Beiträge in der Marktnische der Rechenwalzen und -scheiben sind weitgehend un- bekannt. 350 years of slide rule history and the contri- butions made by the Zurich region The slide rule — in straight, circular and cylindrical form — was the most widespread calculating device for some 350 years, before being abruptly superseded in the 1970s by the electronic calculator. This article be- gins by outlining the slide rule's development, its diffe- rent forms, scale systems and geographical dissemina- tion during this period. The second section then exami- nes the role played by the Zurich region in the slide ru- le's evolution. Little is known about either the general development of the slide rule or the significance of Zurich-based manu- facturers, specially in the market niche for cylindrical and circular slide rules. Research and writing in this fields are a passionate hobby of the author, who would appreciate any information that might help him add to his knowledge. Key words: Abakus Datenschieber Gunter's scale — Logarithmen Proportionalzirkel — Rechenscheibe Rechenstab — Rechentafel Rechenwalze 1 EINLEITUNG Noch zur Zeit unserer Urgrosseltern war das Rechnen eine Kunst, insbesondere das Multiplizieren oder gar das Dividie- ren. Um das Rechnen zu erleichtern, hat es in der Geschichte der Menschheit bereits sehr früh Hilfsmittel gegeben. Der Abakus («Zählrahmen») hat sich von Mesopotamien aus über das alte Rom weiter nach Asien verbreitet, wo er in Russland, China, Japan, Vietnam und Indonesien heute noch in Gebrauch steht. Bei uns hat er in Form des Rechentisches oder -tuches und losen Rechenpfennigen bis zum Übergang vom Linienrechnen mit den römischen zum schriftlichen Rechnen mit den arabischen Zahlen gedient. Der Proportionalzirkel war ein Rechengerät der Renais- sance. Skalen auf zwei gelenkig miteinander verbundenen Schenkeln gestatten, mit Hilfe eines Stechzirkels Propor- tionsrechnungen durchzuführen. An den Rechenschieber werden sich ältere Leser noch er- innern; Mitte der 1970er-Jahre wurde er abrupt vom Elektro- nenrechner verdrängt. Wer heute jünger als 40 Jahre ist, hat vielleicht noch nie einen Rechenschieber gesehen. Beide «Generationen» haben kaum eine Vorstellung von Geschich- te und Bedeutung dieses gescheiten Recheninstruments, das während 350 Jahren grösste Verbreitung hatte. t Alle Abbildungen stammen vom Autor (Privatsammlung). 75

350 Jahre Rechenschieber und was die Region Zürich dazu ... · and circular slide rules. ... Mathematiker und Astronom, hat 1620 die Logarithmen ... Der Englânder WILLIAM OUGHTRED

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Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (2001) 146/2-3: 75-82

350 Jahre Rechenschieberund was die Region Zürich dazu beigetragen hat

Heinz Joss', Dällikon

Zusammenfassung

Der Rechenschieber, meist in den Bauformen Re-

chenstab, -scheibe und -walze, war während rund 350

Jahren das verbreitetste Rechengerät, bis ihm in den

1970er-Jahren der Elektronenrechner ein abruptes

Ende bereitete. Der Artikel zeigt die Entwicklungsge-

schichte des Rechenschiebers, seine Bauformen, seine

Skalensysteme und seine geographische Verbreitung

im Zeitverlauf, um dann die Beiträge der Region Zü-

rich auf dem Gebiet des Rechenschiebers zu beschrei-

ben.Beides, die allgemeine Entwicklung des Rechenschie-

bers und die zürcherischen Beiträge in der Marktnische

der Rechenwalzen und -scheiben sind weitgehend un-

bekannt.

350 years of slide rule history and the contri-butions made by the Zurich region

The slide rule — in straight, circular and cylindrical

form — was the most widespread calculating device for

some 350 years, before being abruptly superseded in

the 1970s by the electronic calculator. This article be-

gins by outlining the slide rule's development, its diffe-

rent forms, scale systems and geographical dissemina-

tion during this period. The second section then exami-

nes the role played by the Zurich region in the slide ru-

le's evolution.

Little is known about either the general development of

the slide rule or the significance of Zurich-based manu-

facturers, specially in the market niche for cylindrical

and circular slide rules. Research and writing in this

fields are a passionate hobby of the author, who would

appreciate any information that might help him add to

his knowledge.

Key words: Abakus — Datenschieber — Gunter's scale — Logarithmen — Proportionalzirkel — Rechenscheibe —Rechenstab — Rechentafel — Rechenwalze

1 EINLEITUNG

Noch zur Zeit unserer Urgrosseltern war das Rechnen eine

Kunst, insbesondere das Multiplizieren oder gar das Dividie-

ren. Um das Rechnen zu erleichtern, hat es in der Geschichte

der Menschheit bereits sehr früh Hilfsmittel gegeben.

Der Abakus («Zählrahmen») hat sich von Mesopotamien

aus über das alte Rom weiter nach Asien verbreitet, wo er in

Russland, China, Japan, Vietnam und Indonesien heute noch

in Gebrauch steht. Bei uns hat er in Form des Rechentisches

oder -tuches und losen Rechenpfennigen bis zum Übergang

vom Linienrechnen mit den römischen zum schriftlichen

Rechnen mit den arabischen Zahlen gedient.

Der Proportionalzirkel war ein Rechengerät der Renais-

sance. Skalen auf zwei gelenkig miteinander verbundenen

Schenkeln gestatten, mit Hilfe eines Stechzirkels Propor-

tionsrechnungen durchzuführen.

An den Rechenschieber werden sich ältere Leser noch er-

innern; Mitte der 1970er-Jahre wurde er abrupt vom Elektro-

nenrechner verdrängt. Wer heute jünger als 40 Jahre ist, hat

vielleicht noch nie einen Rechenschieber gesehen. Beide

«Generationen» haben kaum eine Vorstellung von Geschich-

te und Bedeutung dieses gescheiten Recheninstruments, das

während 350 Jahren grösste Verbreitung hatte.

t Alle Abbildungen stammen vom Autor (Privatsammlung).

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Heinz Joss

2 DIE GESCHICHTE DES RECHENSCHIEBERS

Ein wesentlicher Schritt zu effizienterem Rechnen war dieEntdeckung der Logarithmen durch den schottischen Mathe-matiker JOHN NAPIER (1550-1617), oft latinisiert NEPERgenannt. Die Logarithmen erlauben es, den Schwierigkeits-grad der Multiplikation aufj enen der Addition zu reduzieren,den der Division auf jenen der Subtraktion. Das logarithmi-sche Rechnen mit den umfangreichen Tafeln blieb aber einemühsame Tätigkeit und den mathematisch Gebildeten vor-behalten.

Der Englânder EDMUND GUNTER (1581-1626), Pfar-rer, Mathematiker und Astronom, hat 1620 die Logarithmenals Skala auf einer zwei Fuss langen hölzernen Zeichenschie-ne aufgetragen. Diese Gunter 's Scale erlaubte graphischeslogarithmisches Rechnen: Mit Hilfe eines Stechzirkels wur-den die Zahlen auf der Skala abgegriffen. Der Gunter-Stabwar zwar noch kein Rechenschieber, aber doch dessen un-mittelbarer Vorläufer.

Der Englânder WILLIAM OUGHTRED (1575-1660),Pfarrer und Professor für Mathematik, war der Erfinder des

Rechenschiebers: Um das Jahr 1630 hat er die ErfindungGÜNTERS weiterentwickelt, indem er die logarithmischenSkalen auf zwei Stäbe aufgetragen hat, welche, lose neben-einander gelegt und gegeneinander verschiebbar, den erstenwirklichen Rechenschieber darstellten; der Stechzirkel er-übrigte sich nun.

Noch eine nachträgliche Bemerkung zu NAPIER und derEntdeckung der Logarithmen: Dass der Schweizer Uhrma-cher, Mathematiker und Astronom JOST BÜRGI die Loga-rithmen schon fIüher entdeckt hatte, ist in Bezug auf die Ge-schichte des Rechenschiebers ohne Bedeutung, da BÜRGISEntdeckung weder NAPIER noch GUNTER und OUGHT-RED bekannt war.

Zurück zum Rechenschieber: Er war nach seiner Erfin-dung rund 350 Jahre lang das wohl am stärksten verbreiteteRechengerät; eIst in den 1970er-Jahren setzten ihm die elek-tronischen Rechner ein Ende. Seither werden nur noch ganzausnahmsweise Rechenschieber gebaut und verwendet.

3 DIE BAUFORMEN DES RECHENSCHIEBERS

Das Prinzip des Rechenschiebers besteht darin, dass zweioder mehr Skalen auf einem zwei- oder mehrteiligen Körperso angebracht werden, dass sie aneinander verschiebbar sind.In den meisten Fällen handelt es sich dabei um logarithmi-sche und trigonometrische Skalen.

Bereits OUGHTRED legte 1630 seine Erfindung des Re-chenschiebers sowohl mit geraden als auch mit kreisförmi-gen Skalen vor und schuf damit die zwei Rechenschieberfor-men, die später vorherrschen sollten, den Rechenstab und dieRechenscheibe.

Der Rechenstab war stets die verbreitetste Form. Er wur-de meist, terminologisch nicht ganz konTekt, als Rechen-schieber bezeichnet. Rechenschieber ist eigentlich der Ober-

begriff sämtlicher Bauformen. Die VoIrangstellung des Re-chenstabs hatte vorwiegend herstellungstechnische Gründe.Gerade Bauteile, ein zweiteiliger Körper mit einer dazwi-schen laufenden verschiebbaren Zunge, waren leichter zubauen als kreisrunde Scheiben, und eine gerade Skala loga-rithmisch zu teilen war einfacher als das Teilen einer kreis-förmigen Skala. Die Rechenscheibe hat sich erst viel spätereinigermassen durchzusetzen vermocht, als die herstellungs-bedingten Probleme technisch zu bewältigen waren. DieScheibe weist vor allem den Vorteil der in sich geschlossenenSkala auf, die einem kontinuierlichen Rechnen entgegen-kommt.

Neben Rechenstab und -scheibe gab es noch die Baufor-men Rechenwalze, Rechenring und -rad sowie Rechenuhr

Auf die Walze ist wegen ihrer Bedeutung Mr den Raum Zü-rich noch näher einzutreten: Die Genauigkeit des Rechen-schiebers ist zur Hauptsache Funktion seiner Skalenlänge;

deshalb wurde immer wieder versucht, bei gleicher Hand-lichkeit des Geräts längere Skalen zu verwirklichen. Die Re-chenwalze kam dieser Zielsetzung am besten entgegen: Sieberuht auf der Idee, einen sehr langen Rechenstab in Einzel-abschnitte aufzuteilen, die parallel zueinander auf einem Zy-lindermantel angeordnet werden. Wâhrend Rechenstäbe inder Regel Skalenlängen von 12,5 oder 25 cm aufwiesen, wur-den Rechenwalzen mit Skalenlängen bis zu 24 m gebaut; siewaren während längerer Zeit wegen ihrer Rechengenauig-keit in Banken, Börsen und Finanzabteilungen von Grossbe-trieben verbreitet.

4 DIE SKALENSYSTEME

Der spätere französische Artillerieoberst und Professor fürMathematik AMEDEE MANNHEIM (1831-1906) hat um1850 eine Skalenkombination und -anordnung für Rechen-stäbe entwickelt, die als erste eine grosse und herstellerunab-hängige Verbreitung erfuhr. Die Vorderseite wies Grund- undQuadratskalen auf, die Rückseite der Zunge eine Sinus- undeine Tangensskala, für welche die Zunge gewendet werdenmusste. Das System Mannheim bildete einen ersten interna-

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350 Jahre Rechenschieber

tionalen Standard und damit die Grundlage für die industriel-le Rechenstabproduktion.

Der deutsche Ingenieur MAX RIETZ (1872-1956) er-gänzte 1902 die MANNHEIMschen Skalen mit einer Ku-ben- und einer MaHtissenskala; Indexlinien auf der Körper-rückseite gestatteten, die Sinus- und Tangensskalen ohneUmdrehen der Zunge anzuwenden. Das System Rietz war biszum Ende der Rechenschieberproduktion eine der meistan-gewendeten Skalenanordnungen und hat das System Mann-

heim völlig verdrängt.1934 wurde das System Rietz nochmals weiterentwickelt:

Die Technische Hochschule Darmstadt erarbeitete eine neueSkalenauswahl und -anordnung; die Vorderseite wurde miteiner pythagoreischen Skala (41-x 2) ergänzt, die Mantissen-skala auf die hintere Längskante verschoben, die Sinus- undTangensskalen auf die vordere, so dass die Zungenrückseitefür drei Exponentialskalen frei wurde. Diese Verbesserungenkamen den Bedürfnissen der Ingenieure entgegen; dem Vaterdes Systems Darmstadt, Prof. ALWIN WALTHER (1898-1967), haben seine Mathematikerkollegen deshalb vorge-worfen, die Mathematik an die Ingenieure verraten zu haben.Das System setzte sich aber durch und blieb bis zum Ende derRechenschieberära neben dem System Rietz im Angebot derHersteller.

5 LÄNDER UND HERSTELLER

Nach deren Erfindung nahm sich in England eine Vielzahlvon InstIumentenmachern des Baus von Rechenschiebernan. Buchsbaumholz war der Hauptwerkstoff; bei teurerenAusfühIungen trat Elfenbein an die Stelle des Holzes, da der

Abb. l. Früher Rechenstab, England, doppelseitig, zwei Zungen,acht Skalenpaare; Elfenbein und Messing, Mitte 19. Jh.

Fig. 1. Early slide rule, England, double-sided, two slides, eightpairs of scales; ivory and brass, mid-19`h century.

Kontrast zur schwarzen Skalengravur die Lesbarkeit verbes-serte (Abb. 1). Neben den mathematischen Skalen gab es an-wendungsbezogene Spezialskalen. Es war die Epoche derEinzelanfertigungen und der Kleinstserien. – AusserhalbEnglands wurden Rechenschieber bis zum Beginn des19. Jahrhunderts kaum bekannt.

Nach dieser englischen Periode folgte eine französische(ca. 1800-1880). Die Firmen BARBOTHEU, LENOIR undspäter TAVERNIER-GRAVET erlangten mit ihren Produk-ten Weltruf. Auch der erwähnte EntwicklungsbeitragMANNHEIMS dürfte zum Ansehen der französischen Re-chenschieber wesentlich beigetragen haben (Abb. 2).

Abb. 2. Rechenstab System MANNT I F. I M. von TAVERNIER-GRAVET, Paris, uIn 1890.

Fig. 2. MANNHEIM system slide rule, made by TAVERNIER-GRAVET, Paris, around 1890.

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Heinz Joss

Die Importsperre des deutsch-französischen Krieges gabder deutschen Industrie den Impuls, ab 1870 eine eigene Re-chenschieberproduktion aufzuziehen. Die Hersteller DEN-NERT & PAPE (ab 1936 unter der Marke ARISTO), FA-BER-CASTELL und NESTLER gehörten in der Folge welt-weit zu den bedeutendsten Produzenten. DENNERT &PAPE entwickelte gegen 1890 den dann für Jahrzehnte vor-heIrschenden Holzstab mit Zelluloidauflage. Ab 1936 ka-men sehr langsam Vollkunststoff-Rechenstäbe auf.

Zu den genannten deutschen Firmen gesellten sich dieUS-amerikanischen Firmen DIETZGEN, KEUFFEL & ES-SER und PICKET & ECKEL sowie die japanische FirmaHEMMI mit der Marke SUN, alle mit Weltruf. Die Japanerhaben übrigens als Einzige Rechenstâbe aus Bambus gebaut,einem dazu ganz hervorragend geeigneten Material.

6 SCHWEIZERISCHE RECHENSCHIEBER AUF DEMWELTMARKT

In der Schweiz haben nur wenige Marken internationale Be-deutung erlangt: Die Finnen BILLETER, DAEMEN-SCHMID, später in LOGA umbenannt, und NATIONAL.Bei allen stellten die Rechenwalzen, bei BILLETER undLOGA auch die Rechenscheiben, SchweIpunkte von Pro-duktion und Export dar; mit diesen zwei Bauformen besetz-ten sie eine Marktnische und behaupteten slch so gegen diegrossen ausländischen Hersteller, deren Schwergewicht beider Produktion von Rechenstäben lag. Allein LOGA hat nacheigenen Angaben Zehntausende von Rechenwalzen herge-stellt und in alle Welt verkauft. War es ein Zufall, dass dieseHersteller alle ihren Standort im Raum Zürich hatten, oderwar es eine Folge der Bedeutung Zürichs in den BereichenHandel, Technik und Wissenschaft?

Meine Sammler- und Forschertätigkeit der letzten Jahrehat dazu geführt, dass tnir heute Dutzende von Namenschweizerischer Personen und Firmen bekannt sind, die Re-

chenschieber entwickelt oder hergestellt haben. Von interna-tionaler Bedeutung waren jedoch nur die erwähnten ZürcherMarken.

7 AUS DER GESCHICHTE DER ZÜRCHERISCHENRECHENWALZEN-HERSTELLER

7.1 Die Zürcher Firmen BILLETER und NATIONALIn nachgelassenen Schriften aus dem Besitz der FamilieBILLETER wird der Seidenfabrikant JULIUS BILLETER(1828-1914) als Erfinder von Rechenscheiben, -tafeln und

-walzen erwâhnt, wobei diese Erfindungen in die Zeit von1879 bis 1885 datiert werden.

Rechentafeln sind eine heute kaum mehr bekannte weite-re Form des Rechenschiebers: Über einer logarithmischenSkala, angeordnet in vielen kurzen, parallelen und einanderüberlappenden Abschnitten, wird zum Rechnen eine Glas-platte mit denselben logarithmischen Skalenteilen horizontalund vertikal verschoben. Die Rechentafel ist der direkte Vor-läufer der Rechenwalze. Rechentafeln aus BILLETERs Pro-duktion sind meines Wissens nur zwei erhalten geblieben; ihrAussehen und ihre Funktionsweise ist auch aus Patentschrif-ten bekannt.

JULIUS BILLETER gründete 1888 in Zürich eine Re-chenwalzenfabrik, die erste schweizerische Fabrik, die sichauf Rechenschieber spezialisierte. Julius' Sohn ERNST BIL-LETER (1858-1941) liess im Jahre 1912 die Firma ins Han-delsregister eintragen; er leitete damals diese Firma zusam-men mit seinem BIuder Max. 1917 wurde sie aufgelöst.

1916 gründete BERNHARD RUBINSTEIN in Zürich dieFirma «National Rechenwalzen Aktien-Gesellschaft»; überihn ist nichts bekannt. Bereits 1917 schied er aus der Firmaaus; verantwortlich für die NATIONAL war nun MAX BIL-LETER (1890-1967). 1934 wurde sie, nach 18-jähriger Tä-tigkeit, geschlossen.

1921, vier Jahre nach der Auflösung der ERNST BILLE-TER & Co., der Firma seiner Söhne Ernst jun. und Max, undfünf Jahre nach der Gründung der NATIONAL RECHEN-WALZEN AG, die nun vom Sohn Max betrieben wurde,wagte der 63-jährige Vater ERNST BILLETER nochmals ei-nen Neubeginn: Er gründete die Firma «Ernst Billeter-Bos-sert, Fabrikation von Rechenwalzen und Blitzrechnern»; dieFirma bestand bis 1942 (Abb. 3).

Abb. 3. «ERNST BILLETERs Blitzrechner», um 1925.

Fig. 3. «ERNST BILLETER's Lightning Calculator», around 1925.

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350 Jahre Rechenschieber

Abb. 4. Zwei kleine LOGA-Rechenwalzen von HEINRICH DAEMEN-SCHMID, um 1935, Skalenlänge l,2 bzw. 2,4 m.

Fig. 4. Two small LOGA cylindrical slide rules by HEINRICH DAEMEN-SCHMID, around 1935, scale lengths 1,2 and 2,4 m respectively.

Von der Geschäftstätigkeit der BILLETER-Firmen undder NATIONAL ist wenig bekannt. Lediglich aus den Jahren1937 bis 1941 sind handgeschriebene Briefentwürfe vonERNST BILLETER erhalten, die vom Verkauf von Rechen-

scheiben und -walzen in viele Länder zeugen: Belgien, Däne-mark, Deutschland, England, Frankreich, Irland, Italien, Ju-goslawien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen,Schweden, Tschechoslowakei, Ungarn und die USA sind er-wähnt. Unter den Stammkunden dominierten Firmen derTextilindustrie (aus der die BILLETER ja selber stammten);aber auch Banken, öffentliche Verwaltungen, Versicherun-gen u.a. haben sich der Rechenscheiben und -walzen bedient,und Büromaterialhändler wurden als Zwischenhändler belie-fert. Ab 1941 gingen die Auslandsbeziehungen zufolge des2. Weltkriegs verloren, und die Geschäftstätigkeit schlief ein.

Von den Produkten der Firmen BILLETER und NATIO-NAL sind nur wenige Exemplare erhalten geblieben. Be-kannt sind Rechentafeln, -scheiben und -walzen von BILLE-TER, von NATIONAL dagegen nur Rechenwalzen.

7.2 Die Zürcher Firmen DAEMEN-SCHMID undLOGA

Im Jahre 1896 wanderte der Textilkaufmann HEINRICHDAEMEN-SCHMID (1856-1934) aus dem damals preussi-schen Rheinland in die Schweiz ein und liess sich in Zürich-Unterstrass nieder. In einer Mansarde in Zürich baute er ab1900 Rechenwalzen; die ältesten erhaltenen Exemplare tra-gen neben seinem Namen den Vermerk «Rekonstruktion

nach Julius Billeter», es wurde also offenbar geistiges Eigen-tum von JULIUS BILLETER in DAEMEN-SCHMIDS Pro-duktion eingebracht.

1903 zog DAEMEN-SCHMID nach Zürich-Oerlikon,

wo er eine spezialisierte Konstruktionswerkstâtte mit eige-ner Lithographie- und Gravierabteilung einrichtete, wie erstolz verkündete. 1911 verlegte er seinen Firmenstandortnach Uster, mit einer nochmaligen Erweiterung der Fabrika-tionsstätte. Der Firmenname HEINRICH DAEMEN-SCHMID wurde 1915 im Handelsregister in LOGA geän-dert; die Bezeichnung LOGA ist allerdings auf den Produk-ten bereits ab ca. 1903 benutzt worden.

HEINRICH DAEMEN-SCHMID hatte neun Kinder; diemeisten von ihnen waren entweder in der Firma LOGA oder

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Heinz Joss

auf verwandten Gebieten tätig (Handel mit Rechengerâten al-ler Art). Ständige Familienzwistigkeiten führten aber zu im-mer wieder neuen Konstellationen in den Beziehungen derDaemen untereinander sowie in und zu der Firma LOGA.

HEINRICH DAEMEN-SCHMID war der alles beherr-schende Stammvater sowohl der Familie als auch der Firma.Nach seinem Tod 1934 übernahmen einige der mit dem Vatervöllig entzweiten Söhne die Firma, welche in einer schwerenwirtschaftlichen Krise steckte. Eine Treuhandfirma, die zu-handen der Aktionäre – alles Mitglieder der Familie DAE-MEN – die Lage zu beurteilen hatte, bezifferte den Firmen-wert auf den Alteisenwert der Maschinen. Anfangs der1970er-Jahre, nach einem kurzen Höhenflug, geriet dieLOGA aber erneut in wirtschaftliche Schwierigkeiten. 1979kam das endgültige Aus: Das Fehlen eines zweiten Stand-beins wurde der Firma zum Verhängnis.

Die Produktion der Firmen HEINRICH DAEMEN-SCHMID und LOGA umfasste Rechenstäbe, Rechenwalzen

und Rechenscheiben. Die Rechenwalzen waren bis in die1930er-Jahre das vorherrschende Geschäft. In einem altenProspekt wird erwähnt, dass bereits 30 000 Logawalzen imEinsatz stünden, in einem anderen steht: «So gibt es wohl 1922kaum eine wichtige Bank in Budapest, Wien, Berlin, Paris,London und New York, welche sich nicht der Usterer Devi-senwalze bedient.» Es hat in den 1920er-Jahren sogar eineFabrikations- und Verkaufsniederlassung in Berlin gegeben.In den 1930er-Jahren begann die Umstellung der Produktionvon Rechenwalzen auf Rechenscheiben (Abb. 4 und 5).

7t1 DAEM p

Abb. 5. LOGA-Rechenscheibe, um 1930 (Ausschnitt); links derZiffer 1 gestaffelte Skalenstriche, die es erlaubten, trotz ungleicherAbstände der logarithmischen Skalen zwischen den ganzen Zahlenje 20 Unterteilungen anzubringen.

Fig. 5. LOGA circular slide rule, around 1930 (detail); to the leftof number 1, staggered scale graduations that permitted subdivi-sion into 20 parts of the space between integers on the unequallyspaced logarithmic scales.

7.3 BILLETER/NATIONAL und HEINRICH DAEMEN-SCHMID/LOGA: Gemeinsamkeiten und Bezie-hungen

Bis heute besteht keine Klarheit darüber, ob zwischen den bei-den Firmenpaaren überhaupt eine Beziehung bestanden hat.

Auffallend sind aber gewisse Gemeinsamkeiten. So wa-ren beide Firmengründer (JULIUS BILLETER bzw. HEIN-RICH DAEMEN-SCHMID) Textilfachleute. Beide Seitenhaben spâter behauptet, der Beginn der Tätigkeit auf demGebiet der Rechenschieber sei das Jahr 1888 gewesen, was inbeiden Fällen nicht nachgewiesen werden kann. Beide warenin der Region Zürich tätig. Während man sich in der FamilieBILLETER zu erinnern meint, HEINRICH DAEMEN-SCHMID sei einmal Angestellter bei BILLETER gewesen,ist davon bei der Familie DAEMEN nichts bekannt.

Sowohl JULIUS BILLETER als auch HEINRICH DAE-MEN-SCHMID haben sich als Erfinder der Rechenwalze

ausgegeben und sind später auch von ihren Nachkommen alssolche bezeichnet worden. Auch ERNST BILLETER hatsich mit diesem Attribut geschmückt. Offenbar genügte allenein Patent auf eine Rechenwalzeneinzelheit, um sich grad alsErfinder der Rechenwalze als solcher zu empfinden.

Zylindrische Rechenschieber sind aber in der Literaturschon vor 1888 erwähnt, so dass weder DAEMEN-SCHMIDnoch BILLETER als Erfinder der Rechenwalze gelten kön-nen, sie haben aber zu Verbesserungen dieses Geräts beige-tragen.

Der damals wohl bestinformierte Kenner der Rechen-schieberszene, der Schweiz-Amerikaner FLORIAN CAJO-RI (ursprünglich CAJÖRI), Professor für Geschichte derMathematik und Dekan an der University of CalifoInia, hat1919 sowohl JULIUS BILLETER als auch HEINRICHDAEMEN-SCHMID und deren Rechenwalzen erwâhnt. Aufallfällige Beziehungen zwischen den beiden weist CAJORIjedoch nicht hin; als Zeitgenosse hätte er wohl Kenntnis da-von gehabt.

7.4 Weitere Rechenschiebernamen aus demRaum Zürich

Der Zürcher Astronom, Physiker und Mathematiker JO-HANN KASPAR HORNER (1774-1834) entwickelte einenRechenstab mit doppelter Skalenlänge, vermutlich einer ge-teilten Skala. Davon ist bisher kein Objekt gefunden worden.– HORNER war auch bewundernswerter Förderer desSchwyzers FELIX DONAT KYD (1793-1869), der als Au-todidakt wohl als erster Schweizer serienmässig Rechenstä-be hergestellt hat; von ihnen sind ebenfalls keine erhalten,wohl aber eine ausführliche Beschreibung.

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350 Jahre Rechenschieber

LEONHARD PESTALOZZI (1786-1864), Bankfach-mann, Finanz- und Währungspolitiker, hat sich für persönli-che Bedürfnisse einen Rechenstab zur WähIungsumrech-nung gebastelt. Obwohl dieses Gerät nur ihm selber gedienthat, ist es in die Rechenschieberliteratur eingegangen. Auchdieser Stab ist nicht erhalten.

KARL CULMANN (1821-1881), Professor an der ETHin Zürich, widmete in seiner beIühmten «Graphischen Sta-tik» ein Kapitel dem Rechenschieber, der offenbar damals inder Schweiz noch wenig gebräuchlich war.

LUDWIG VON TETMAJER, auch er Professor an derETH, war Initiant eines Nachdrucks von CULMANNs «Gra-phischer Statik»; er ergänzte dabei das Rechenschieber-Ka-pitel und ging damit ebenfalls in die Rechenschieberge-schichte ein.

HANS HEINRICH PETER (1875-1931) war Erfinder ei-nes doppelt logarithmischen Rechenstabs mit tachymetri-schen Skalen, den er zuerst selber fertigen liess, der späteraber als System Peter im Angebot von NESTLER figurierte.

SILVIO MASERA aus Winterthur erhielt 1902 ein Patentauf einen Rechenstab mit Endlos-Skalenband; er wollte demRechenstab die Vorteile der Rechenscheibe verleihen, die insich geschlossene Skala. Ob sein Rechenstab je gebaut wur-de, ist nicht bekannt; jedenfalls wurde kein solcher Stab ge-funden.

WILHELM G.G. WEBER, Zürich, war Hersteller einestopographischen Rechenschiebers System Hofer & Brönni-mann.

WALTER SCHAAD, Zürich, erhielt 1921 ein Patent aufeinen Rechenstab mit zwei Mantissenskalen, mit deren Hilfeauch addiert und subtrahiert werden kann, was logarithmi-sche Rechenstäbe sonst eigentlich nicht können.

Eine Firma EMIL PFENNINGER & Co. in Zürich warentweder selber Hersteller von Rechenstäben oder hat mitsolchen eines noch nicht identifizierten Herstellers gehan-delt.

JAKOB HUBER, Winterthur bzw. Zürich, erhielt 1923ein Patent auf Datenschieber. Seine Firma NORMUS ist fürihre Schiebetabellen international bekannt geworden. Siewaren nicht eigentliche Rechner, sondern boten für ganz spe-zifische Zwecke an sich bekanntes Zahlenmaterial als syste-matisierte Arbeitshilfe an.

Ungefähr aus der selben Zeit stammt eine kleine Rechen-scheibe AUTOMETER von P. LANDIS, Automobiles, inZürich. Sie diente der Umrechnung zwischen den die Leis-tung bestimmenden Grössen von Automotoren (Abb. 6).

Zu Ende des 2. Weltkriegs, als man annehmen durfte, dietechnische Entwicklung des Rechenstabes und der Rechen-

scheibe sei abgeschlossen, kam der Zürcher Ingenieur WAL-TER HILTPOLD mit einer neuen Bauform, einer halbrundenScheibe, auf den Markt (Abb. 7). Seinem tragischen frühenTod ist es wohl zuzuschreiben, dass sich die Idee nicht durch-zusetzen vermochte.

Ein Textilrechenstab der Firma RIETER, Winterthur, istbekannt.

Abb. 6. Rechenscheibe von P. LANDIS für Automotoren, um1920.

Fig. 6. Circular car engine slide rule by P. LANDIS, around 1920.

Abb. 7. HalbIunde Rechenscheibe von WALTER HILTPOLD, um1945.

Fig. 7. Semi-circular slide rule by WALTER HILTPOLD, around1945.

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Heinz Joss

Die Firma ZELLWEGER USTER AG hat eine Rechen-scheibe nach dem sog. Smith-Diagramm herausgebracht.ZELLWEGER, heute USTER genannt, hat weiter Textilre-chenstäbe und -scheiben für die Kunden hergestellt.

Heute noch erhältlich ist die Hydro-Rechenscheibe vonGEORG KISSELEFF in Küsnacht/ZH (Abb. 8).

F HYDRORECHENSCHEIBESystem G KisEetYtt,'- KJsxaeet -Zn

Wasserflihrung inRohrleitungen

v=k 31/2 Feh ;Q=F«v

at

8

Abb. 8. «Hydro-Rechenscheibe für Rohrleitungen» von GEORGKISSELEFF, um 1980.

Fig. 8. «Hydro circular slide rule for piping» by GEORG KISSE-LEFF, around 1980.

Die Uhrenfirma VENTURA DESIGN ON TIME in Vol-ketswil dürfte die einzige Zürcher Firma sein, die heute nochRechenschieber herstellt, nämlich Rechenuhren, entworfenvom Zürcher Designer HANNES WETTSTEIN.

8 AUFFORDERUNG FÜR HINWEISE

Die Erforschung und Dokumentier ung des Rechenschieberssind Hobbytâtigkeiten des Autors. Er ist für jeden Hinweisdankbar, der ihm hilft, seine Kenntnisse auf diesen Gebietenzu ergänzen.

9 LITERATUR

JEZIERSKI, D. VON. 1997 und (2. Aufl .) 2000. Rechenschieber, eineDokumentation - Selbstverlag, Stein b. Nürnberg, 110 pp.

JOSS, H. 1998. Messrechnen: 350 Jahre Rechenschieber. - Elem.Math., Bd. 53, 73-78.

JOSS, H. 1998 und (2. Aufl .) 2000. Schweizerische Rechenschieberauf dem Weltmarkt: Die Finnen Billeter und National sowie Dae-men-Sclunid und Loga. In: «4. Internationales Treffen der Rechen

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Heinz Joss, dipl. Architekt ETH/SIA, Rainring 4, CH-8108 Dällikon, e-mail: [email protected]

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