41711615 Noam Chomsky Sprache Und Politik

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    Andre Nguemning, Kamerun Maja Krejci, Freiburg Gnther Grewendorf, Mnchen Manfred Czubayko,Bad Arolsen UH Opdenberg, Aachen Ulrich Bauer,Bayreuth Celia Robledo, Degerndorf Anna Ries,Oerlinghausen Michael Emter, Mainhardt AugustoCarli, Triest Franz Dokoupil, Ahrensburg GeorgLang, Bamberg Theo Grundhfer, Wrzburg DieterErtl, Mainz Lutz Gtze, Herrsching DieterWunderlich, Dsseldorf Peter Kubiak, Ganderkesee Martin Supper, Berlin Horst Schrgle, Osnabrck Klaus Sptgens, Kln Karl Hassbach, Bad Kreuznach Bert Thinius, Berlin Karl Wirth, Helmbrechts Hans-Joachim Frick, Hornberg-Reichenbach AlbrechtWill, Tangerhtte Hermann Golfen, Duisburg DieterKinkelbur, Altenberge Erhard Albrecht, Greifswald Martine Dalmas, Allauch Hans-Jochen Vogel,Chemnitz Christian Margiotta, Zrich Bernd Fischer,Vaals Heinrich Josef Quadt, Aachen HellmutGeissner, Lausanne Wolfram Heinrich, Kln Giovanni Sommaruga, Freiburg Henner Barthel,Landau Hans-Wilhelm Pschel, Aurich Jan BartBs, Eemnes Martina Pregartner, Lebring MarkusSchrder-Augustin, Hanau Jan Heilmann, Chemnitz Christian Kleinert, Frankfurt/M. Gert Schfer,Hannover Hans-Jrg Schrum, Hamburg Elke Brns,Berlin Ralf Grigoleit, Bayreuth Erich Chr. Schrder,Leopoldshhe Ernst G. Just, Neunkirchen-Seelscheid Andreas Zienczyk, Osnabrck Thorsten Schumacher,Gttingen Bernd Bscher, Dortmund HeinrichReiss, Schwabach Elmar Holthaus, Bietigheim Helmut Brckner, Lneburg Jrgen Mmken, Kassel Peter Ernst, Bernbeuren Bernd Buldt, Konstanz

  • Noam Chomsky

    Sprache und PolitikHerausgegeben und aus dem amerikanischen Englisch bersetzt

    von Michael Schiffmann

    PHILO

  • 1999 Philo Verlagsgesellschaft mbH : Berlin und Bodenheim bei MainzAlle Rechte vorbehalten.

    der Originalbeitrge by Noam ChomskyUmschlaggestaltung: Gunter Rambow, Frankfurt a. M.

    Druck und Bindung: Nexus Druck GmbH, Frankfurt a. M.Printed in Germany

    ISBN 3-8257-0123-9

    digitalisert vonDUB SCHMITZ

    Die Seitenzahlen dieser digitalenVersion entsprechen dem Original.

    nicht zum Verkauf bestimmt !

  • Inhaltsverzeichnis

    John Pilger: Noam Chomsky

    I. Sprache und menschliche Natur

    1. Aspekte einer Theorie des Geistes2. Gleichheit

    II. Notwendige Illusionen

    3. Demokratie und Medien4. Bemerkungen zu Orwells Problem

    III. Die Verdammten dieser Erde

    5. Osttimor6. Die Schwachen erben nichts

    IV. Staatskapitalismus und Staats-,,Sozialismus"

    7. Das Gegenteil von Sozialismus8. Die Bilanz der neunziger Jahre

    V. Wege der Freiheit: Autokratie oder Anarchie?

    9. Einige Aufgben fr die Linke10. Die heutige Relevanz des Anarchosyndikalismus

    VI. Blick in die Zukunft

    11. Die ungezhmte Meute

    Nachwort

    Ausgewhlte Literatur

    7

    1745

    78109

    123136

    144150

    196214

    238

    245

    253

  • Der bersetzer dankt Tobias Erler fr Gesprche ber die Theoriedes Geistes, Irmela und Axel Rtters fr ihre verlegerischeUntersttzung und Claudia Grgen, Monika Regelin, AnnetteSchiffmann, Ulrich Schlomacher und Falk Wiedenroth fr ihreRatschlge bei der bersetzung. Mein besonderer Dank gilt FalkWiedenroth, der auch das Nachwort gelesen hat.

    Michael Schiffmann

  • 7Noam Chomsky

    - John Pilger* -

    Einem Geist zu begegnen, der unsere Wahrnehmung von derWelt radikal verndert", schrieb Jim Peck in seiner Einfhrung zuder Sammlung The Chomsky Reader, stellt eine der beunruhi-gendsten, aber zugleich auch eine der befreiendsten Erfahrungenim Leben dar. Beunruhigend, weil eine solche Erfahrung sorgfltigzurechtgelegte Rationalisierungen untergraben kann, und be-freiend, weil man endlich das Offensichtliche als das sieht, was esist."

    Fr mich hat Chomsky das Offensichtliche" sichtbar gemacht,seit ich zu der Zeit, als ich aus den Vereinigten Staaten ber denamerikanischen Krieg in Vietnam berichtete, seine Bcher undArtikel las. Ohne Chomskys peinlich genaue Auflistung desBeweismaterials und seine Kritik an der Machtausbung Amerikaswre die Wahrheit, das Offensichtliche" ber diesen Krieg nichtgesagt worden; dasselbe gilt fr die Wahrheit ber viele anderekleine Kriege" und gesellschaftliche Auseinandersetzungenunserer Zeit. Seine Suche nach der Wahrheit ist fraglos heroisch;ebenso wie Millionen anderer, zu deren Aufklrung er beigetragenhat, verdanke ich ihm viel. Auf einzigartige Weise hat Chomskybestndig die Mauern der Orwellschen Wahrheit" durchbrochen,die so viel von unserer freien" Gesellschaft und dem Leid jenerMenschen in der ganzen Welt verbergen, die den Preis fr unsereFreiheit" bezahlen.

    In seinen Essays, Bchern und Vortrgen hat er unnachgiebigeinen offiziell beglaubigten Mythos nach dem anderen zerstrt,und zwar mittels Fakten und Dokumenten, die zumeist aus offizi-ellen Quellen stammen. Seine Enthllungen und die Klarheit, mitder er sie betreibt, sind ein lebendiges Beispiel fr KunderasAphorismus, da der Kampf des Menschen gegen die Macht derKampf der Erinnerung gegen das Vergessen ist". Er hat gezeigt,da der Krieg in Vietnam keineswegs der tragische Fehler" war,als der er so oft hingestellt wird, sondern die logische Konsequenz

    * John Pilger ist australischer Journalist und Dokumentarfilmer. Er hat mehrere Bcherverffentlicht, in denen er ber die sozialen Verhltnisse in den westlichen Demokratien, dieUnterdrckung in den realsozialistischen Staaten und die nationalen und sozialen Kmpfe in derDritten Welt berichtet, zuletzt Distant Voices (1994) und Hidden Agendas (1998). Seinebekanntesten Filme sind Cambodia Year Zero, Cambodia Year Ten, Death of a Nation (berOsttimor) und Breaking the Mirror (ber den Niedergang der populren demokratischen Presse inEngland). Er lebt in London. Der vorliegende Text entstand im Dezember 1992.

  • 8der Ausbung imperialer Macht, und da die Vereinigten Staatenin Verfolgung ihrer strategischen Interessen in Sdostasien einkleines buerliches Land berfielen, es systematisch verwstetenund seine Menschen, Kommunisten ebenso wie Nichtkommuni-sten, tteten. Ohne den massiven Widerstand in den VereinigtenStaaten selbst, der Noam Chomskys kritischem Geist und schrift-stellerischer Ttigkeit viel verdankt, wre Ronald Reagan viel-leicht mit amerikanischen Truppen in Nicaragua einmarschiert.

    Ich las Noam Chomskys Buch The Backroom Boys zuerst aufeinem Flug nach Vietnam 1974. Der ehrenvolle Friede", dasVersprechen, aufgrund dessen Richard Nixon und Henry Kissin-ger erneut an die Macht gewhlt worden waren, befand sich invollem Gang. Die amerikanischen Bodentruppen waren abgezo-gen worden, und amerikanische Bomber warfen eine grereBombenlast ber Indochina ab als smtliche Kriegsteilnehmerber allen Kriegsschaupltzen whrend des gesamten ZweitenWeltkriegs.

    Der Krieg in Asien machte keine Schlagzeilen mehr.In The Backroom Boys zitierte Chomsky einen amerikanischen

    Piloten, der die besonderen Vorteile" von Napalm auseinander-setzte: Natrlich sind wir auch wirklich zufrieden mit den Jungsin den Hinterzimmern von Dow Chemical. Das ursprnglicheMaterial war nicht so scharf - wenn die Schlitzaugen schnell ge-nug waren, konnten sie es abkratzen. Also fingen die Jungs an,Polystyrol zuzusetzen - jetzt klebt das Zeug wie Scheie amLeintuch. Es brennt jetzt sogar unter Wasser."

    Ich wute aus eigener Erfahrung, da das stimmte; ich be-rhrte einmal das Opfer eines Napalmangriffs, und danach hatteich die Haut des Mdchens an meiner Hand. Was Chomsky indiesem und anderen Bchern und in seinen Vortrgen und Arti-keln vorlegte, war nicht nur eine Chronik moderner Barbarei,sondern auch die Einordnung dieser Barbarei in den Rahmen einersystematischen Arbeitsteilung". Die eine Gruppe von Jungs inden Hinterzimmern" hatte die Entwicklung von Napalm in Auf-trag gegeben, whrend eine andere es dann verfeinert hatte, da-mit es bis hinunter auf den Knochen brennt". Die Piloten brauch-ten es dann nur noch abzuwerfen. Unterdessen sorgten die Mediendafr, da das Gesamtbild dieses unvorstellbaren Vorgangs so gutwie unsichtbar und damit akzeptabel blieb.

    Auf diese Weise konnten politische Fhrer, deren gem-igtes" Auftreten nicht einmal entfernt an Totalitarismus denkenlie, aus der sicheren Entfernung physischer und kultureller Di-stanz Menschen in einem Ausma tten und verstmmeln, das andie Taten der berchtigten Ungeheuer unserer Zeit heranreicht. So

  • 9unterwarf John F. Kennedy Vietnam einem Terrorbombardement;Gerald Ford und Henry Kissinger untersttzten den Vlkermord inOsttimor; und George Bush verbte 1991 mit John Major imSchlepptau die Schlchterei am Golf und nannte sie einenKreuzzug fr die Moral".

    Indem er solche Wahrheiten benannte, hat Chomsky sich eineMenge Schwierigkeiten eingehandelt. Einer der Grnde fr dieFeindseligkeit, die ihm entgegengebracht wird, liegt darin, da erden Kern des freiheitlichen Selbstbildes Amerikas angreift undzwischen Liberalen und Konservativen nur unterscheidet, um ihreGemeinsamkeiten zu beleuchten. Tatschlich stellten seine erstenbeiden Bcher, Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen (1967)und Amerika und die neuen Mandarine (1969), frontale Angriffeauf einen Groteil der amerikanischen Intellektuellen und Journa-listen dar, deren Liberalismus seiner Ansicht nach dazu diente, ihreRolle als ideologische Manager" eines gesetzlosen, imperialenSystems, das rund um den Globus Tod und Zerstrung verursachte,zu maskieren.

    Wie die Dissidenten in der frheren Sowjetunion kehrt er ineinem Groteil seines Werks immer wieder zu einem Thema vongrundlegender moralischer Bedeutung zurck: der Tatsache, dadie Amerikaner, und in entsprechender Weise auch diejenigen vonuns, die innerhalb der Reichweite des amerikanischen Einflussesleben, einem der herrschenden Macht dienenden ideologischenSystem" ausgesetzt sind, dem Gewissenserwgungen fremd sindund das von den Menschen Apathie und Gehorsam" verlangt,um jede ernsthafte Bedrohung der Herrschaft der Elite von vorn-herein zu verhindern".

    Abweichende Meinungen werden durch den Mechanismus derhistorischen Amnesie und des Tunnelblicks, wie sie in denintellektuellen Kreisen kultiviert werden", an den Rand gedrngt.Chomsky bezeichnet das Gros der amerikanischen Akademikerund Journalisten als eine weltliche Priesterkaste", fr die Ameri-kas manifester Auftrag", sein Recht", kleine Nationen anzugrei-fen und unter die Knute zu zwingen, allem Anschein nach etwasGottgegebenes sind.

    Aus diesem Grund ist es ihm oft unmglich gemacht worden,seine Ansichten zu verffentlichen, besonders in den groen libe-ralen Zeitungen, denen er lstig ist und die er in Verlegenheitbringt, da seine Analyse der imperialen Macht eben jene intellek-tuelle Unabhngigkeit aufweist, die seine Kritiker und die liberalenJournalisten so gerne fr sich in Anspruch nehmen. Was bei derErinnerung an die skandalsen Vorflle um Watergate, die Iran-Contra-Affre, das geheime Bombardement Kambodschas

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    und die tief verwurzelte Korruption whrend der Reaganjahre oftvergessen wird, ist die Tatsache, da so wenige Journalisten ver-suchten - oder die Gelegenheit erhielten -, sie zu enthllen. berden Zionismus, der immer noch eines der groen Tabus in Ameri-ka ist, schrieb Chomsky in The Culture of Terrorism, das Verhlt-nis der amerikanischen liberalen Intellektuellen zu Israel sei ver-gleichbar mit dem Flirt ihrer Vorgnger mit der Sowjetunion inden dreiiger Jahren. Sie seien, so schrieb er, Trittbrettfahrer, frdie eine Schutzhaltung gegenber dem Heiligen Staat und derVersuch, dessen unterdrckerische Haltung und Gewaltttigkeitherunterzuspielen und Entschuldigungen dafr zu finden", typischseien.

    Was Chomskys Feinde in Rage bringt, ist die Tatsache, da esfast unmglich ist, ihn in eine Schublade einzuordnen. Er sprachsich gegen die Manipulationen beider Seiten im Kalten Krieg ausund vertrat die Auffassung, die Supermchte seien sich in Wirk-lichkeit in der Unterdrckung der Bestrebungen kleinerer Nationeneinig. Es ist typisch fr diesen brillanten Auenseiter, da er zueinem Zeitpunkt, als viele das Ende des Kalten Krieges feierten,vorsichtig blieb. Er beschrieb die Beherrschung der eurasischenLandmasse durch eine einzige vereinigte Macht", nmlich Europa,als einen Alptraum fr die amerikanischen Machthaber, und stelltefest, da das, was wir heute sehen, eine schrittweiseWiederherstellung der Handels- und Kolonialbeziehungen West-europas mit dem Osten darstellt". Weiter sagt er: Der groe, sichverschrfende Konflikt der heutigen Welt ist der zwischen Europaund den Vereinigten Staaten. So verhlt es sich schon seit Jahren,und mittlerweile ist dieser Konflikt sehr ernst. Das US-Establish-ment will den Europern klarmachen, wer der Herr ist."

    Obwohl Chomsky sich als libertren Sozialisten bezeichnet, ister nicht Anhnger irgend einer Ideologie. Tatschlich scheint sei-ne politische Haltung fr jemanden, der sich seinen Namen alsTheoretiker - in der Sprachwissenschaft - gemacht hat, merkwr-dig untheoretisch. Er ist der Ansicht, da Revolutionen Gewaltund Leid mit sich bringen, und er vertritt die Position, da nie-mand, der sich ein wenig mit Geschichte befat, berrascht seinwird, diejenigen, die am lautesten nach Destruktion und Zerst-rung schreien, als Verwalter eines neuen Systems der Unterdrk-kung wiederzufinden". Sofern er berhaupt an etwas glaubt, ist es lder gesunde Menschenverstand gewhnlicher Menschen... seitberhaupt irgendein politisches Bewutsein hatte, war ichimmer auf der Seite der Verlierer". Der Essayist Brian Mortonschrieb krzlich, da viele Amerikaner nicht mehr davon ber-zeugt sind, da unsere Regierung das Recht hat, jedes Land, das

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    es will, zu zerstren - und das ist zum groen Teil Chomskys Ver-dienst". Der verstorbene Francis Hope schrieb ber ihn: Leute wieer sind gefhrlich; ihr Fehlen ist eine Katastrophe."

    Ich habe jahrelang mit Chomsky korrespondiert, ihn aber erst1989 persnlich getroffen. Ich ging damals zu einer Veranstaltungin einer berfllten Halle in Battersea, um ihn sprechen zu hren,und zu meiner berraschung fand ich keinen routinierten Rednervor, sondern einen freundlichen, bescheidenen Mann, der eine ge-winnende Atmosphre der Anarchie um sich verbreitete. Mankonnte ihn kaum ber die dritte Reihe hinaus verstehen, und erverwendete ein Gutteil seiner Mhe darauf, auf die weitschweifi-gen Unterbrechungen eines Zwischenrufers zu antworten. SeinEngagement fr das Prinzip der Meinungsfreiheit, das Prinzip, dadie Stimme eines jeden gehrt werden mu", hat ihn oft inSchwierigkeiten gebracht; der Mann, der Brandreden gegen ihnhielt und dessen Recht, angehrt zu werden, er dennoch vertei-digte, verfocht neofaschistische Ansichten. Chomsky machte denEindruck eines humanen und sehr moralischen Menschen aufmich, und ich mochte ihn.

    Auf jeden Fall widerspricht seine Sanftmut dem Bild des Auf-rhrers; sie erinnert mich an die Beschreibung, die Norman Mai-ler, der nach dem Marsch auf das Pentagon 1967 eine Gefngnis-zelle mit ihm teilte, in seinem Buch Heere in der Nacht von ihmgab: ein schlanker Mann mit scharfgeschnittenen Zgen und as-ketischem Gesichtsausdnick, den eine Atmosphre von Milde, abergleichzeitig von absoluter moralischer Integritt umgab". Davonabgesehen hat er viel Humor; sein Gebrauch von Farce und Ironie,der oft als Sarkasmus miverstanden wird, ermglicht es ihm, ausoffizisen Verlautbarungen und Formulierungen deren wahrenGehalt herauszuschlen.

    Als ich ihn traf, fragte ich ihn danach, besonders nach demGewicht gngiger politischer Bezeichnungen wie Gemigter"und Extremist".

    Er sagte: In gebildeten Kreisen werden sie sehr ernst genom-men. Kein Journalist, kein Intellektueller, kein Schriftsteller kanneinfach die Wahrheit ber den Vietnamkrieg sagen, nmlich dadie Vereinigten Staaten Sdvietnam angriffen. So etwas zu sagen,ist nicht gemigt... In den dreiiger Jahren bezeichnete die ame-rikanische Regierung Hitler als einen Gemigten, der zwischenden Extremisten der Linken und der Rechten stand; daher mutenwir ihn untersttzen. Auch Mussolini galt als Gemigter. Mitte der achtziger Jahre war Saddam Hussein ein Gemigter, der zur'Stabilitt' beitrug. General Suharto von Indonesien wird hufigund immer wieder als Gemigter bezeichnet. Seit 1965, als er an

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    die Macht kam, wobei er vielleicht 700.000 Menschen abschlach-tete, haben die New York Times und andere Zeitungen ihn als denFhrer der indonesischen Gemigten ausgemacht."

    Ich sagte: Aber Sie werden oft als Extremist bezeichnet."Sicher, ich bin ein Extremist, weil ein Gemigter jeder ist,

    der die Macht des Westens untersttzt, und ein Extremist jeder, dersich gegen sie wendet. Nehmen wir zum Beispiel George Kerman,den amerikanischen Strategen des Kalten Kriegs nach demZweiten Weltkrieg. Er war einer der fhrenden Architekten derheutigen Welt und stand auf dem linken" oder pazifistischenFlgel des Spektrums der US-Planer. Als er Vorsitzender des po-litischen Planungsstabs war, sagte er - in internen Dokumenten,natrlich nicht ffentlich - ganz explizit, wenn wir die Diskrepanzzwischen unserem enormen Reichtum und dem Elend aller anderenaufrechterhalten wollten, mten wir verschwommene undidealistische Slogans ber Menschenrechte, Demokratisierung unddie Hebung des Lebensstandards beiseite lassen und statt dessen inreinen Machtkonzepten denken. Aber es ist selten, da jemand soehrlich ist."

    Ich sagte: Sie haben einige spektakulre Auseinandersetzun-gen hinter sich. Arthur Schlesinger hat Sie angeklagt, die intel-lektuelle Tradition zu verraten,"

    Das stimmt, da bin ich mit ihm einer Meinung. Die intellek-tuelle Tradition ist eine Tradition der Dienstbarkeit gegenber derMacht, und wenn ich sie nicht verraten wrde, mte ich michmeiner selbst schmen."

    Ich erinnerte ihn daran, da er Schlesinger und andere Liberalebeschuldigt hatte, eine weltliche Priesterschaft" zu bilden, die dieUS-Regierung in einer Reihe bler auenpolitischer Aktivittenuntersttze. Ob er diesen Punkt untermauern knne?

    Ja, durchaus, ich habe das dokumentiert. Den Begriff 'weltli-che Priesterschaft' habe ich in Wirklichkeit von Isaiah Berlin ent-liehen, der ihn auf die russische Kommissarsklasse anwendete; undnatrlich haben auch wir eine derartige Priesterschaft. 'Kom-missar' ist ein zutreffender und brauchbarer Ausdruck. In smtli-chen Lndern dominieren die geachteten und respektablen Intel-lektuellen, die einer ueren Macht dienen, das Bild. Wir mgenzwar die sowjetischen Dissidenten ehren, aber in der Sowjetunionwurden sie nicht geehrt, sondern in den Schmutz gezogen. DieLeute, die geachtet waren, waren die Kommissare, und dieserSachverhalt reicht weit in die Geschichte zurck. Den Erzhlun-gen der Bibel zufolge waren es regelmig die falschen Prophe-ten, die Ehre und Anerkennung genossen. Diejenigen, die wirheute als die Propheten bezeichnen, wurden zu ihrer Zeit ins Ge-

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    fngnis geworfen oder in die Wste verjagt und was sonst noch.Wenn etwa ein britischer Intellektueller vulgre Rechtfertigungenfr Greueltaten der US-Regierung verbreitet, unterscheidet sich dasin keiner Weise von den vulgren Rechtfertigungen irgendwelcheramerikanischer Intellektueller fr Stalin."

    Ich sagte: Ihre Bcher werden in der amerikanischen Main-streampresse fast nie besprochen, und man bittet Sie dort nie umGastkommentare. Hat man Sie in den etablierten Kreisen zur Un-person erklrt?"

    Oh ja. Tatschlich wrde ich mich fragen, was ich falsch ma-che, wenn das nicht der Fall wre... Nehmen Sie zum Beispiel Bo-ston, die Stadt, in der ich lebe. Der Boston Globe ist wahrschein-lich die liberalste Zeitung der Vereinigten Staaten. Ich habe vieleFreunde beim Globe. Sie drfen nicht nur meine Bcher nicht be-sprechen, sie drfen sie nicht einmal auf die Liste der Bcher derBostoner Autoren setzen! Tatschlich hat der fr Buchbespre-chungen zustndige Redakteur gesagt, keines meiner Bcher drfebesprochen werden, und auch von den Bchern des BostonerVerlagskollektivs South End Press werde keines je besprochenwerden, solange dort Bcher von mir herauskommen."

    Ich machte ihn darauf aufmerksam, da seine Angriffe haupt-schlich auf die Vereinigten Staaten abzielten, und da er oft vonder schlechten Seite" Amerikas spreche. Und doch behaupte er,Amerika sei wahrscheinlich die freieste Gesellschaft der Ge-schichte. Ob darin nicht ein grundlegender Widerspruch liege?

    Nein. Die Vereinigten Staaten sind in der Tat die freieste Ge-sellschaft der Welt. Der Grad der Freiheit und des Schutzes derRedefreiheit hat nirgendwo sonst eine Parallele. Das war kein Ge-schenk; es verhlt sich ja nicht deshalb so, weil es in der Verfas-sung steht. Bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts warendie Vereinigten Staaten sehr repressiv, wahrscheinlich noch re-pressiver als England. Der groe Durchbrach kam 1964, als dasGesetz ber aufrhrerische Verleumdung fr nichtig erklrt wurde.Dieses Gesetz erklrte grundstzliche Kritik an der Staatsgewaltzum Verbrechen. Es wurde damals im Verlauf der Brger-rechtskmpfe fr verfassungswidrig erklrt. Nur der Kampf derMenschen selbst schtzt die Freiheit."

    Aber wenn Amerika die freieste Gesellschaft der Welt ist, woist denn dann die systematische Unterdrckung, die Sie so oft an-greifen?"

    Im neunzehnten Jahrhundert war Grobritannien eines derfreiesten Lnder der Welt und hatte dennoch eine schauerliche Bi-lanz von Greueltaten, Es gibt ganz einfach keine Korrelation zwi-schen der Freiheit im Inneren eines Landes und der Gewalt, die es

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    nach auen anwendet. In den Vereinigten Staaten wird die Sachedadurch noch komplexer, da sie wahrscheinlich das ausgefeilte--ste System doktrinren Managements der Welt besitzen. Wir ms-sen uns klar machen, da der grundlegende Gedanke, der sichdurch die gesamte moderne Geschichte und den modernen Libe-ralismus zieht, besagt, da die Bevlkerung marginalisiert werdenmu.

    In diesem System betrachtet man die Bevlkerung als Ganzelediglich als Ansammlung unwissender und lstiger Auenseiter,eine verwirrte Schafherde. Und es sind die verantwortlichen Mn-ner, die die Entscheidungen treffen und die Gesellschaft vor demStampfen und der Wut der verwirrten Herde beschtzen mssen.Da wir aber in Demokratien leben, erlaubt man den Leuten - derverwirrten Herde - gelegentlich, ihr Gewicht zugunsten des einenoder anderen Mitglieds der verantwortlichen Klasse in die Waag-schale zu werfen. Das nennt man dann Wahlen.

    Ich erwhnte den Vorfall in der Town Hall von Battersea, beidem er das Recht des Neofaschisten, ihn mit Zwischenrufen zustren, verteidigte. Gilt dieses Recht Ihrer Ansicht nach fr je-den?" fragte ich.

    Ja. Wenn wir nicht an das Recht auf freie Meinungsuerungfr Menschen glauben, die wir nicht leiden knnen, glauben wirberhaupt nicht daran."

    Aber hat ein Rassist, der in Anwesenheit einer anderen ethni-schen Gemeinschaft spricht und eine provozierende, gewaltttigeSprache verwendet, dasselbe Recht?"

    Natrlich. Nehmen wir einen Fall, den es wirklich gegebenhat. In Illinois gibt es eine Stadt mit einem groen jdischen Be-vlkerungsanteil, in der viele berlebende des Holocaust wohnen.Eine Gruppe von Nazis forderte das Recht, dort zu demonstrieren -das war sehr provokativ. Die amerikanische BrgerrechtsunionACLU verteidigte ihr Recht dazu, und ich habe sie darin unter-sttzt."

    Ich fragte ihn, ob er das Recht auf freie Rede" fr jene unter-sttzen wrde, die den Tod Salman Rushdies fordern.

    Unter gewissen Vorbehalten, ja... aber da mu man fragen, obes dabei um unmittelbare Anstiftung zu gewaltttigen Hand-lungen geht. Hier gibt es keinen klaren Lackmustest, aus dem ein-deutig hervorginge, wo die Grenze ist. Was Rushdie betrifft, binauch ich der Meinung, da wir da hart an diese Grenze heran-kommen. Ich meine, wenn wir an den Punkt kommen, wo jemanddas Kommando zum Schieen gibt, und Rushdie befindet sich inunmittelbarer Nhe, dann fllt das nicht unter das Prinzip der frei-en Meinungsuerung. Wenn es sich nur um jemanden handelt, der

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    eine Rede hlt, in der er sagt, 'Ich finde, er sollte gettet werden',denke ich nicht, da man ihn daran hindern sollte. Wo genau manhier die Scheidelinie ziehen soll, ist nicht leicht zu sagen, aber ichbin der Ansicht, da das Recht auf freie Meinungsuerung vonuerst groer Bedeutung ist."

    Es ist offensichtlich, da Chomsky fr seine abweichende Hal-tung einen hohen Preis bezahlt. Es macht mich wtend," sagte er.,,Ich werde zornig. Ich bin ein ziemlich sanfter Typ. Ich randalierenicht herum, aber innerlich koche ich die ganze Zeit... Viele vonmeinen Freunden knnen einfach nicht mehr, und ich kann sieverstehen. Es ist sehr krftezehrend und sehr frustrierend."

    Ich fragte ihn, was ihn dazu bringt, weiterzumachen. Ich den-ke, man sollte die Belohnungen nicht unterschtzen. Die Verei-nigten Staaten sind heute ein ganz anderes Land als vor dreiigJahren. Sie sind ein viel zivilisierteres Land geworden, jedenfallsauerhalb der gebildeten Kreise... Wir mssen heute das Bewut-sein des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wiederbeleben,da die autokratische Kontrolle ber das Wirtschaftssystemunertrglich ist. Heute findet in der ganzen Welt ein groangeleg-ter Angriff auf die Demokratie statt, und es wird eine Art Weltre-gierung etabliert, zu deren Institutionen der Internationale Wh-rungsfonds und die Weltbank und die Welthandelsorganisationgehren. Das mssen wir verstehen... Und wir mssen dagegenkmpfen."

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    I. Sprache und menschliche Natur

    1. Aspekte einer Theorie des Geistes*

    Matthew Rispoli: Knnten Sie Ihre Ideen hinsichtlich der psy-chologischen Basis der menschlichen Sprache skizzieren unddarlegen, wie sich diese Ideen seit Ihrem Buch Aspekte der Syn-taxtheorie (1965) zu der Theorie in ihrer heutigen Form entwik-ke11 haben?

    Noam Chomsky: Wenn man die Sache auf einer sehr allgemeinenEbene betrachtet, hat sich die Theorie gar nicht so sehr verndert.Es gab aber eine Menge von Modifikationen theorieinterner Natur,die ich fr ziemlich wichtig halte, und gerade in den letzten dreioder vier Jahren haben sich einige Perspektiven und Standpunktein durchaus markanter Weise verndert. Sie lassen dasUnternehmen zwar von auen her nicht wesentlich anderserscheinen, aber im Rahmen der Theorie selbst haben wir heuteeine andere Sicht der Dinge als vorher.

    Anfang der sechziger Jahre sah die allgemeine Vorstellung dermeisten Leute, die sich mit diesem Gebiet beschftigten, etwafolgendermaen aus: Eine Grammatik besteht aus einem Systemvon Regeln, und die genetische Ausstattung des Menschen liefertuns einen Mechanismus, eine Art Notationssystem, das die For-mulierung von Grammatiken ermglicht. Dabei handelte es sichum eine generelle Festlegung, ein Format" mglicher Regeln, undim Rahmen dieses Formats konnte es dann die ein oder andere Artvon Regeln geben, diese Regeln konnten wiederum aufverschiedene Art in Wechselbeziehung zueinander stehen undhnliches mehr. Die Frage war dann: Gut, wie whlt ein Kind, dasdie Sprache lernt, eine der vom Format erlaubten Grammatikenaus?" Und da war der Gedanke der, da es eine Art von Be-wertungsmastab gibt. Bei Vorliegen einer bestimmten Art vonDaten gibt es unter den Grammatiken, die sowohl dem Formatentsprechen als auch mit den Daten in bereinstimmung stehen,

    * Das folgende Interview mit Noam Chomsky wurde Ende 1984 von Richard Beckwithund Matthew Rispoli fr die Zeitschrift New Ideas in Psychology gefuhrt, in der es 1986(Vol. 4:2) erschien. Zusammen mit vielen anderen Interviews zu hnlichen Themen istes ferner abgedruckt in Chomskys von Carlos Otero zusammengestelltem undherausgegebenem Sammelband Language and Politics, S. 450 - 469. Die vorliegendeFassung enthlt einige nicht gesondert gekennzeichnete Ergnzungen, die dem Leserohne sprachwissenschaftliche Vorbildung das Verstndnis erleichtem sollen.

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    eine, die am hchsten bewertet wird, und das ist diejenige, dieman auswhlt, das ist die, die man lernt. Demnach handelt essich gewissermaen um Hypothesen, von denen jede eine Gram-matik ist, und der Sprachlernproze besteht darin, da das Kind,sobald einmal bestimmte Daten gegeben sind, die am hchstenbewertete Hypothese auswhlt. Das war grob gesagt das Bild.

    Damit gab es eine Menge Schwierigkeiten und Probleme.Zum Beispiel war es sehr schwierig, all diese Metaphern in ir-gend etwas umzuformulieren, was nach einem realistischen Al-gorithmus fr den Spracherwerb aussah. Ich meine, es konntenicht sein, da der Sprachlerner erst einmal smtliche der er-laubten Hypothesen absucht. Es war alles andere als einfach, einsolches System so zu gestalten, da es empirisch tragfhige Re-sultate lieferte. Das allgemeine Problem spiegelte sich in densprachwissenschaftlichen Einzelstudien wieder. Es zeigte sich,da die Beschreibung der untersuchten Phnomene sehr reicheund komplexe Regelsysteme erforderte.

    Hier lag tatschlich die erste Aufgabe fr die generativeGrammatik. Gleich zu Beginn unserer Arbeit sahen wir uns beidem Versuch, eine przise Beschreibung der Phnomene derSprache zu geben, sofort einer riesigen Skala mysteriser Ph-nomene gegenber, die zwar teilweise in gewisser Hinsicht sehrsimpel waren, von denen aber die meisten bisher einfach unbe-merkt geblieben waren. Das Problem war, Regelsysteme auszuar-beiten, die diese Probleme wenigstens deskriptiv erfassen konn-ten. Das fhrte allerdings zur Entwicklung sehr reicher undkomplexer Regelsysteme, wodurch sich die Frage, wie man siejemals erlernen konnte, natrlich noch schrfer stellte. Wie kannein Mensch jemals diese verrckten Regelsysteme entwickeln,wenn doch die Datenmenge, die fr diese Aufgabe zur Verfgungsteht, so klein ist?

    Man mu sich erinnern, da ungefhr zur selben Zeit ein sehrscharfer Wandel in der allgemeinen Einstellung der Wissenschaftzu Fragen wie diesen stattfand. Noch zu Anfang der fnfzigerJahre zum Beispiel ging man generell davon aus, dem Sprachlernerstnden zum Erlernen der Sprache Daten im berflu zurVerfgung, und das Problem, das die Psychologen formulierten,lautete: Wie kommt es zu diesem Phnomen der berdetermi-nierung?" Sobald man sich aber die Tatsachen wirklich genauansieht, wird sofort klar, da das Problem genau entgegenge-setzter Natur ist; es besteht in dem, was damals Armut des Sti-mulus" genannt wurde. Fr die meisten Dinge, die die Menschenwissen, stehen ihnen gar keine Erfahrungsdaten zur Verfgung.Die Auffassung, da Menschen durch Einbung zum Wissen

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    gelangen, oder da es sich beim Erwerb von Wissenssystemen umberdeterminiertes Lernen" (oder auch nur Lernen" in ir-gendeinem brauchbaren Sinn dieses Begriffs) handelt, basierte aufdem Versumnis, auch nur den einfachsten PhnomenenAufmerksamkeit zu schenken. Sobald man das Wissen, ber daseine Person verfugt, wirklich aufmerksam betrachtet, liegt auf derHand, da einem Kind, das solches Wissen erwirbt, keine relevanteErfahrung, oder zumindest nicht das fr dieses Wissen relevanteMinimum an Erfahrung zur Verfgung steht. Da wir unsereForschungsresultate also ausschlielich in Kategorien komplexerRegelsysteme ausdrcken konnten, aber zugleich der Tatsachegegenberstanden, da die zur Konstruktion solcher Systemeverfgbare Erfahrung sehr begrenzt ist, sahen wir uns mit einemechten Rtsel konfrontiert, nmlich: Wie ist es mglich, auf derGrundlage begrenzter Erfahrung ein hochkomplexes Regelsystemzu konstruieren?

    Fortschritte in der Psychologie der Sprache

    Seit Anfang der sechziger Jahre setzten sich dann verschiedeneLeute mit diesem Problem auseinander, indem sie sich das Zielsteckten, die allgemeinen Prinzipien herauszufiltern, die fr Re-gelsysteme der skizzierten Art gelten - Prinzipien, die die zulssigeSorte von Regeln stark beschrnken. Sie versuchten zu zeigen, dadie ungeheure Komplexitt der Regelsysteme in Wirklichkeitnichts weiter als die Realisierung einer kleinen Anzahl vonOptionen ist, die von sehr viel allgemeineren Bedingungen frRegelsysteme gestattet werden. Diese Arbeit ist nun seit zwanzigJahren weitergefhrt worden, was zu den verschiedensten Erfolgenund Fehlschlgen gefhrt hat, aber vor einigen Jahren kristallisiertesich aus dieser Forschung eine weitgehend einheitliche Perspektiveheraus, die ein neues Bild der ganzen Sache lieferte. Dieses Bildwird jetzt manchmal als eine Theorie der Prinzipien undParameter" bezeichnet.

    Das, was verschiedentlich Universalgrammatik genannt wurde,nmlich die Theorie des kognitiven Ursprungszustands, desgenetisch determinierten Systems des Sprachlerners, wre ausmeiner heutigen Sicht kein Format fr Regelsysteme plus einerMethode der Hypothesenbewertung, um aus den Regelsystemendas richtige auszuwhlen; gerade an diesem Punkt hat sich eini-

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    ges gendert. Wenn wir das mit Hilfe einer Metapher beschreibenwollen, wre das eine Art System mit einer verwickelten undkomplexen Verdrahtung, von der aber einige Teile noch nicht festmiteinander verbunden sind. Fr diesen Teil gbe es einen Kastenmit Schaltern, die sich in einer von mehreren (vielleicht nur zwei)Schaltpositionen befinden knnen. Sobald die Schalter auf ihrejeweilige Position eingestellt sind, sind die fehlendenVerbindungen hergestellt, und dann ist das System voll funkti-onsfhig. Nun, die Schalter sind das, was Parameter" genanntwird. Sie mssen aufgrund sprachlicher Erfahrung eingestelltwerden - die Erfahrung mu einem sagen, wie jeder dieser Schaltereingestellt werden mu. Sobald man sie auf eine der zulssigenArten eingestellt hat, hat man eine bestimmte Sprache erworben.Wenn ein solches System eine gengend groe innere Komplexittaufweist, kann die Vernderung nur einer einzigenSchaltereinstellung sehr heftige, unvorhersehbare und komplexeAuswirkungen auf das Gesamtresultat haben. So kommt es danndazu, da sich Sprachen, die sich - wie zum Beispiel das Franz-sische von den anderen romanischen Sprachen - erst relativ sptvoneinander getrennt haben, dennoch in einer ganzen Reihe be-stimmter Eigenschaften voneinander unterscheiden. Das liegtmglicherweise nur daran, da ein einziger Schalter irgendwannwhrend des Prozesses umgeschaltet wurde, was dann eine ganzkomplexe Skala von Konsequenzen mit sich brachte.

    Nehmen wir einmal das Franzsische und das Italienische. Siesind geschichtlich eng verbunden, weisen aber recht starkestrukturelle Unterschiede voneinander auf. So kann man zumBeispiel im Standarditalienischen das Subjekt eines Satzes weg-lassen, man kann sagen, ging" statt er ging", und es bedeutet erging"; im Franzsischen geht das nicht. Und im Italienischen oderSpanischen kann man eine Reihenfolge wie kam an Jean"verwenden. Im Franzsischen ist das nicht mglich - die richtigeReihenfolge lautet Jean kam an". Es gibt eine Reihe derartigerEigenschaften, in denen das Franzsische sich vom Italienischenunterscheidet, und dementsprechend hat mein Kollege hier amMIT Luigi Rizzi die These aufgestellt, da dieser Unterschiedhinsichtlich einer bestimmten Gruppe von Eigenschaften aus einereinzigen Schaltereinstellung folgt, die an einem der Parametervorgenommen wird. Diesen Parameter nennt er den Null-Subjekt-Parameter". Bei diesem Parameter geht es um die Frage, ob dasSubjekt eines Satzes vom Sprecher der Sprache ausgespro-chen werden mu oder nicht. Die Theorie ist so aufgebaut, da

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    man bei Einstellung des Parameters auf die eine Art eine ganzbestimmte Serie von Konsequenzen erhlt, whrend man eineandere Serie von Konsequenzen bekommt, wenn man ihn auf eineandere Art einstellt. Aus der Einstellung des Null-Subjekt-Parameters folgt ein betrchtlicher Teil genau der Eigenschaften,durch die sich das Franzsische vom Italienischen unterscheidet; indieser Hinsicht stehen nicht nur das Franzsische, sondern auchdas Englische und weitere Sprachen auf der einen und dienichtfranzsischen romanischen Sprachen auf der anderen Seite.

    Es gibt weitere Parameter dieser Art. Betrachten wir zum Bei-spiel Reflexivpronomen im Englischen, wie etwa himself. Einsolches Reflexiv kann sich im Englischen entweder auf das Sub-jekt oder auf das Objekt des Satzes beziehen. So kann ich sagen,John told Bill about himself. Himself kann sich hier entwederauf John" - das Subjekt von told" - beziehen, oder auf Bill, dasObjekt von told". In einigen anderen Sprachen kann sich dasentsprechende Element nur auf das Subjekt beziehen. Das ist alsoein anderer parametrischer Unterschied, und auch dieser hat dannwieder eine Reihe von Konsequenzen.

    Gleichzeitig war klar, da eine sehr kleine Menge sprachlicherDaten ausreichen mute, um die Einstellung der Parameterfestzulegen, weil Kindern eben nur eine begrenzte Datenmengezur Verfgung steht. Sobald die Parameter festgelegt sind, funk-tioniert auch der ganze Rest des Systems. So scheint es bei-spielsweise so zu sein, da die Art, wie sprachliche Ausdrckeaufgebaut und zusammengesetzt werden, auf einer abstraktenEbene fr alle Sprachen weitgehend gleich ist; sie haben ann-hernd dasselbe System der Phrasenstruktur. Aber einer derPunkte, wo sich verschiedene Sprachen unterscheiden, bestehtdarin, da in der einen Sprache das Verb dem Objekt folgt, wh-rend es ihm in der anderen Sprache vorausgeht. Wenn das Verbdem Objekt vorausgeht, ist es sehr wahrscheinlich, da auch dasAdjektiv seiner Ergnzung vorausgeht. Dasselbe gilt fr das No-men und die anderen Wortkategorien, die eine Ergnzung for-dern: die Sprache hat dann die Eigenschaft dessen, was manKopf-zuerst" nennt - nmlich da das Verb, die Prposition, dasAdjektiv und das Nomen den Ergnzungen, die mit ihnen jeweilsverbunden sind, vorausgehen. So sagen wir im Englischen read -the book", in - the room", happy - that John is here", the fact -that John is here". Andererseits gibt es Sprachen, bei denen derWert des Parameters Kopf-zuletzt" ist und in denen das Verb,das Adjektiv, die Prposition (die in diesem Fall eine Postpositi-

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    on ist) und das Nomen den Ergnzungen, die mit ihnen verbundensind, folgen. Das Englische ist eine typische Kopf-zuerst"-Sprache; die typische Eigenschaft des Japanischen dagegen istKopf-zuletzt". Sobald der Parameter Kopf-zuerst/Kopf-zuletzt"einmal auf seinen sprachspezifischen Wert festlegt ist, ergebensich daraus zahlreiche Konsequenzen. Sowie diese und einigeandere Optionen fixiert sind, sind die Regeln fr den grundle-genden grammatischen Aufbau der Sprache, die Phrasenstruktur-regeln, im wesentlichen gegeben; sie mssen nicht eigens gelerntwerden und stellen keinen von irgendwelcher Erfahrung abhn-gigen Teil unseres Wissens dar. Tatschlich knnen wir den Be-griff der Phrasenstrukturregel sogar fallenlassen.

    Neben den Prinzipien des Phrasenaufbaus gibt es noch anderesehr allgemeine Prinzipien hnlicher Art (von denen einige zuabstrakt und verwickelt sind, um sie hier zu beschreiben), Prinzi-pien, die mit Parametern verbunden sind - Schaltern, um das ebenverwendete Bild wiederaufzunehmen, die auf der Grundlage sehreinfacher Daten eingestellt werden knnen. Um zum Beispiel zulernen, ob die eigene Sprache den Parameterwert Kopf-zuerst"oder Kopf-zuletzt" und damit entweder die Eigenschaften desEnglischen oder die des Japanischen hat, reicht es vollkommenaus, Drei-Wort-Stze wie John saw Bill" oder John Bill saw" zuhren. Wenn man hrt John saw Bill" (John sah Bill"), hat manes mit einer Kopf-zuerst"-Sprache zu tun. Wenn man hrt JohnBill saw" (John Bill sah"), wei man, da es sich um eine Kopf-zuletzt"-Sprache handelt. Einfache Daten dieser Art gengen, undsolche Daten stehen Kindern natrlich zur Verfgung. Sie reichenaus, um den Wert der Parameter festzulegen, und dann ergebensich die entsprechenden Konsequenzen daraus. Es funktioniertnicht immer ganz so einfach, aber das ist der grandlegendeGedanke.

    Daraus ergibt sich eine andere Auffassung ber das Lernenvon Sprache. In dieser Konzeption dreht es sich beim Spracher-werb nicht darum, aus einer unendlichen Menge sehr verwickel-ter Hypothesen eine Hypothese auszuwhlen. Sondern es gehtdarum, innerhalb eines von vornherein sehr stark beschrnktenSystems, bei dem die Komplexitt der Regeln ausgesondert undin die von Anfang an vorhandene Verdrahtung verlegt wordenist, die fr eine vollstndige Verdrahtung" noch fehlenden Pa-rameterwerte festzulegen. Das mte in etwa die richtige Sichtsein. Ich meine, ein System dieser Art ist intuitiv einleuchtend;es hat die richtige Art von qualitativen Eigenschaften. Mit seiner

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    Hilfe liee sich erklren, wie man auf der Grundlage so geringenDatenmaterials so viel sprachliches Wissen haben kann, undweshalb die menschlichen Sprachen eine so reichhaltige Strukturhaben, whrend sie ja andererseits keinesfalls ein Regelsystemhaben knnen, das so komplex und umfangreich ist, da man esgar nicht lernen kann. In einigen Bereichen hat diese Herange-hensweise zu ziemlich interessanten Ergebnissen gefhrt.

    Gleichzeitig hat sich die Bandbreite der empirischen Arbeitenorm erweitert. Das ist natrlich sehr hilfreich gewesen. So fandzum Beispiel vor zwanzig Jahren die wichtigste theoretische Arbeitgrtenteils im Bereich der Erforschung des Englischen statt. Mankann eine Sprache nicht wirklich erforschen, wenn man sie nichtzumindest annhernd wie seine Muttersprache beherrscht, genauwie man ja auch nicht Chemie betreiben kann, wenn man dieDaten nicht versteht. Man kann keine Arbeit auf einem Gebietleisten, in dem man die Daten nicht beherrscht, und auf diesemGebiet die Daten zu beherrschen, heit, annhernd einMuttersprachler zu sein. Selbst der phantastischste Linguist wirdnur mit oberflchlichen Informationen arbeiten, wenn er die be-treffende Sprache nicht beinahe so perfekt spricht wie seine eigene.Die Situation nderte sich dann grundlegend, als Muttersprachlerund andere mit annhernd mratersprachlicher Kenntnis anfingen,an anderen Sprachen zu arbeiten. Das geschah zuerst umfassendbei den romanischen Sprachen. Es gibt jetzt eine hervorragendeSchule von Linguisten, die damals, in den sechziger und siebzigerJahren noch sehr jung waren. Viele von ihnen waren Studentenvon Richard Kayne, der hier am MIT seinen Doktor machte, spternach Frankreich ging und dort eine Reihe weiterer Wissenschaftlerausbildete. All diese Leute machten sich an eine umfangreicheErforschung der romanischen Sprachen.

    Aus dieser Arbeit ging eine Reihe neuer Erkenntnisse hervor.Dasselbe geschah im Bereich des Hollndischen, der skandinavi-schen Sprachen, des Japanischen, seit kurzem auch des Chinesi-schen und einer Anzahl indianischer, australischer und weitererSprachen. Als Resultat ist die Bandbreite der relevanten Datensehr stark gewachsen. Damit meine ich nicht einfach deskriptiveDaten, sondern solche, die fr unsere Forschung wichtig sind,solche, die wirklich Folgen dafr haben, wie die Universalgram-matik formuliert und verstanden werden mu. Dadurch knnenwir an einer Menge neuer Probleme arbeiten. Wir haben alsojetzt ein Ineinandergreifen theoretischer Ideen und einer Erweite-rung der empirischen Basis, das zu einer neuen, sehr aufregen-

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    den Phase gefhrt hat. Ich sollte noch erwhnen, da zur Zeit eineganze Anzahl verschiedener Theorien ausprobiert wird, von denenalle sich im groen und ganzen in dem Bereich bewegen, den ichgerade umrissen habe.

    Matthew Rispoli: Und dementsprechend auch auf dem Modell derPrinzipien und Parameter" beruhen.

    Noam Chomsky: Ja. Diese Theorien mgen es zwar anders for-mulieren, aber sie haben diesen Charakter. Ich wrde sagen, dasie einander wahrscheinlich hnlicher sind, als es zunchst aus-sieht. Wenn wir die richtige Ebene der Abstraktion finden, wirdsich wahrscheinlich herausstellen, da mehrere Zugnge, die jetztaktiv verfolgt werden, mehr oder weniger dasselbe sagen undlediglich verschiedene Notationen dafr verwenden. Im Au-genblick erwecken sie noch den Anschein, als stnden sie inscharfem Widerspruch zueinander.

    Richard Beckwith: Sind diese Prinzipien" Prinzipien desOrganismus selbst?

    Noam Chomsky: Ich gehe davon aus, da diese Prinzipien ge-nauso ein Teil unserer genetischen Ausstattung sind wie diePrinzipien, die bestimmen, da uns Arme und Beine wachsen undnicht Flgel, oder da wir ein menschliches Auge haben undkein Insektenauge. In der Arbeit von David Marrs findet sich ei-ne Analogie, die vielleicht hierher gehrt. Laut Marrs Theoriedes Sehens reprsentiert das visuelle System den visuellen Inputauf einer bestimmten Ebene mehr oder weniger in Form zylindri-scher Figuren. Falls das stimmt, liegt hier ebenfalls ein Prinzip derkognitiven Reprsentation von durch die Auenwelt gegebe-nen Daten vor, das zweifellos Bestandteil unserer genetischenAusstattung ist. Bei anderen Organismen werden wir hchst-wahrscheinlich nicht diese Form der Reprsentation finden; einInsektenauge zum Beispiel wird vermutlich anders funktionieren.Um ein weiteres Beispiel zu nehmen: Einer von Marrs Kolle-gen, Shimon Ullman, hat auf berzeugende Weise gezeigt, dadas visuelle System des Menschen auf einer Art Rigidittsan-nahme" basiert. Das heit, die zweidimensionalen Erscheinun-gen, die auf die Netzhaut geworfen werden, werden interpretiert,als seien sie die Bewegungen eines Gegenstandes, dessen Formrigide" ist, d. h. unverndert bleibt, auch wenn die Bilder auf

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    der Netzhaut sich aufgrund der Bewegung verndern. Metapho-risch gesprochen ist das so, als ob der menschliche Geist sichsagte: Ich werde versuchen, herauszufinden, was fr ein form-gleich bleibender Gegenstand Anla fr diese seltsame Folge vonzweidimensionalen Bildern gewesen sein knnte", und deshalbsehen wir das, was vor uns ist, als dreidimensionale Gegenstndein Bewegung, deren Form wir als gleichbleibend interpretieren,obwohl sich das aus den Bildern auf der Netzhaut nicht ablesenlt. Vermutlich legt die von vornherein vorhandene Struktur desvisuellen Systems die Art von Dingen, die wir sehen knnen unddie Weise, in der wir sie sehen, fest. Die Prinzipien der Univer-salgrammatik sind ganz hnlicher Art.

    In letzter Zeit hat Elizabeth Spelke auf einem anderen Gebietsehr interessante Arbeit geleistet, nmlich ber die Art, wie KinderGegenstnde identifizieren, und darber, welche Eigenschaften frsie hervorstechend sind. Sie stellt fest, da Kinder Konturen undden gemeinsamen Lebenslauf der Teile als wesentlicheEigenschaften von Gegenstnden beurteilen, aber Dinge wie zumBeispiel dieselbe Farbe nicht. Auch das ist wieder Bestandteil derursprnglichen Anlagen; es ist einfach die Art, auf die das KindErfahrung verarbeitet bzw. Erfahrung organisiert. Und ich gehedavon aus, da es sich mit den Prinzipien der Sprache ebensoverhlt.

    Angeborene Ideen, Universalgrammatik und Kerngrammatik

    Matthew Rispoli: In letzter Zeit scheint man etwas von der viel-leicht irrigen Vorstellung abgekommen zu sein, nach der dieUniversalgrammatik auf so etwas wie angeborenen Ideen basiert,und es wird statt dessen von angeborenen Neuronensystemen ge-sprochen, die spter dann an unterschiedlichen Stellen verstrktwerden. Wie 'wrden Sie heute die Universalgrammatik charakte-risieren? Ist sie die Menge aller Prinzipien, deren Parameter nochnicht festgelegt sind?

    Noam Chomsky: Um mit dem zweiten Teil Ihrer Frage zu be-ginnen: In meiner Sicht besteht die Universalgrammatik aus demskizzierten System von Prinzipien, den damit verbundenen Pa-rametern und den zwischen den verschiedenen Parametereinstel-mngen bestehenden Zusammenhngen. Aber was den ersten TeilIhrer Frage betrifft, glaube ich nicht, da es die Art von Vernde-rung gegeben hat, die Sie beschreiben. Da liegen einfach viele

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    Miverstndnisse vor. Die Verbindungslinie zu den traditionellenTheorien ber die angeborenen Ideen wurde Mitte der sechzigerJahre entwickelt und ist meines Erachtens von betrchtlichemhistorischem Interesse. Ich bin der Ansicht, da die gegenwrtigenTheorien der kognitiven Entwicklung in vieler Hinsicht einenaheliegende Wiederbelebung der Tradition darstellen, die vonangeborenen Ideen" sprach und in sehr reicher Weise im 17. und18, Jahrhundert entwickelt und dann groenteils fallengelassenwurde. Natrlich gibt es da groe Unterschiede. Wir machen unsheute nicht mehr die cartesianische Metaphysik von Geist undKrper zu eigen. Ferner mu man auch daran denken, da dieCartesianer unter Idee" etwas ganz anderes verstanden als wirheute. Fr die Cartesianer beinhaltete der Begriff der IdeeWahrnehmungen und Aussagen und semantische Reprsentationenjeder Art. Idee" war ein Ausdruck, mit dem in Wirklichkeittheoretisches Konstrukt der Theorie des Geistes" gemeint war.Und die dem Geist zugeschriebenen Gebilde waren dann auf ir-gendeine Weise in der Natur des Organismus verankert. Aber soetwas wie menschlichen Geist" gab es fr die Cartesianer garnicht; es gab einfach nur Geist. Es gab Geist und Materie. Men-schen waren im Besitz von Geist und alles andere war einfach nurKrper. Heute sehen wir das natrlich anders. Wir studieren diegeistigen Funktionen von Tieren und gehen dabei davon aus, dasie sich von denen des Menschen unterscheiden.

    Es gibt da also viele Unterschiede, aber es gibt auch interes-sante hnlichkeiten. Man betrachte zum Beispiel die Theorien des17. Jahrhunderts ber das, was man damals die erkenntnis-bildende Fhigkeit" nannte, die Fhigkeit, Gedanken, Bilder undBegriffe hervorzubringen. Das waren sehr reichhaltige Theorien,die sich auf alle mglichen Vorstellungen ber Gestalteigen-schaften und auf Begriffe vom Kantschen Typ sttzten, und zwarschon lange vor Kant. Diese Tradition war wirklich sehr vielfltigund komplex. Aber natrlich kann keine Rede davon sein, siewiederauferstehen zu lassen - die metaphysischen und sonstigenAnnahmen, auf denen sie basierte, waren ganz andere als heute.

    Ich sollte vielleicht auch erwhnen, da die Wiederentdek-kung dieser Tradition gewissermaen nachtrglich stattfand. Eswar nicht so, da diese Traditionen die gegenwrtige Arbeit in-spirierten, sondern eher anders herum: die gegenwrtige Arbeitfhrte zu einem erneuten Interesse an einigen frheren Vorlu-fern, die hnliche Ideen entwickelt hatten. Dies geschieht derzeitauch im Hinblick auf den Begriff der Modularitt. So hat zum

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    Beispiel Franz Josef Gall krzlich eine Renaissance erlebt. Einganzes Jahrhundert lang war er eine der meistgeschmhten Ge-stalten der Psychologie, aber jetzt ist er auf einmal der neue Held.Man hat sich noch einmal mit seinem Werk beschftigt und kamdabei darauf, da all das nicht so dumm war, wie es spter hinge-stellt wurde. Tatschlich waren seine Theorien klug gedacht undwahrscheinlich durchaus auf dem richtigen Weg. Auch wenn dieeinzelnen Fhigkeiten, die er identifizierte, nicht die von ihm be-hauptete Beziehung zu Unebenheiten des Schdels haben, gelanges ihm anscheinend doch, die verschiedenen Sorten von Fhig-keiten, die jeweils ein Modul bilden, richtig auszumachen. UnsereVorgnger sind eben oft doch nicht die Dummkpfe gewesen, dieman spter aus ihnen hat machen wollen.

    Matthew Rispoli: In der gegenwrtigen neurolinguistischen For-schung gibt es tatschlich einiges, das die neueren Hypothesenber die Lokalisierung menschlicher Fhigkeiten an bestimmtenStellen des Gehirns untersttzt. Gehen Sie davon aus, da Datenaus der Neurolinguistik und ber aphasische Syndrome fr IhreArbeit von Bedeutung sind? Erwarten Sie, da man aphasischeSyndrome finden -wird, in denen sich linguistische Prinzipien -wi-derspiegeln?

    Noam Chomsky: Es wre schn, wenn das der Fall wre. Viel-leicht wird man das eines Tages demonstrieren knnen. Die bisjetzt vorliegenden Daten sind Resultate von Experimenten derNatur", und aus ethischen Grnden kann es auch gar nicht an-ders sein. Sie sind vermutlich zu ungenau, um przise Antwortenzu liefern, aber ich denke schon, da Ihre berlegung in dierichtige Richtung geht. Wir htten dann physisch realisierteNetzwerke der ein oder anderen Art, die den jeweiligen Aspektenoder einzelnen Eigenschaften der Struktur der kognitiven Sy-steme des Menschen entsprechen. Es knnte sein, da Verlet-zungen sie in differenzierter Weise in Mitleidenschaft ziehen. Esgibt positive Resultate, die darauf hinweisen, allerdings ist dasMuster noch sehr grob. So gibt es zum Beispiel klinische Fllevon Kindern, die anscheinend insofern volle Sprachkompetenzbesitzen, als sie Stze in derselben Weise verstehen wie wir. Aberdiese Kinder wissen dann nicht, wie sie die Stze verwendensollen. Sie haben die pragmatische Kompetenz verloren. Sie wis-sen nicht, -wann es angebracht ist was zu sagen, obwohl sie denStzen dieselbe Interpretation geben wie ein normaler Mensch.

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    Man sollte annehmen, das dies einer physischen Vernderung anirgendeiner Stelle des Gehirns entspricht. Ein Teil der in letzterZeit geleisteten Arbeit ber Aphasien scheint darauf hinzudeuten,da Vorstellungen wie diese richtig sind und knnte spezifischeresMaterial ber den Zusammenhang zwischen linguistischenStrukturen und ihren neuralen Grundlagen liefern; dabei denke ichzum Beispiel an einige Resultate, die von Yosef Grodzinsky ineiner Dissertation an der Brandeis Universitt vorgelegt wordensind.

    Richard Beckwith: Was ist eine Kerngrammatik? Ist sie das, waswir in der sprachlichen Entwicklung des Kindes vorfinden, nach-dem die Parameterwerte einmal eingestellt sind?

    Noam Chomsky: Was ich vorhin beschrieben habe, ist in Wirk-lichkeit das, was manchmal Kerngrammatik" genannt wird. Wirsollten uns nicht darber hinwegtuschen, da es sehr unklar ist,auf was sich die Bezeichnung Sprache" bezieht, wenn berhauptauf etwas. Was wir als eine Sprache, sei es nun Englisch oder eineandere Sprache, bezeichnen, ist in Wirklichkeit ein Durcheinander,eine Ansammlung von verschiedenen Dialekten und eineAnhufung von Unregelmigkeiten und Anleihen. Aber wirsollten von keinem der konkreten Systeme, die in der Kom-munikation tatschlich verwendet werden, erwarten, da es genauden Prinzipien der Universalgrammatik entspricht. Angesichts derkonkreten Bedingungen ist von vornherein klar, da sie diesePrinzipien nicht widerspiegeln. Man wrde von derUniversalgrammatik nur dann erwarten, da sie przise realisiertwird, wenn ein Kind in einer vollkommen homogenen Sprach-gemeinschaft aufwchse, in der die sprachlichen Daten keinerleiinneren Widersprche enthalten, wo es keine Flle gibt, wo dieeine Person auf die eine Weise und eine andere Person auf eineandere Weise spricht. Unter solchen Bedingungen vollkommenerHomogenitt und bei Abstraktion von smtlichen sprachlichenEinsprengseln, die nur dem zuflligen Verlauf der Geschichtegeschuldet sind, wrde die Grammatik, die herauskme, einfacheine Widerspiegelung der Universalgrammatik sein. Aber natrlichkommt so etwas in der realen Welt nie vor. Wir wachsen immerinnerhalb einer Mischung von Sprachen auf, und so ist das, wassich schlielich in unserem Kopf befindet, etwas viel Komplexe-res. Dementsprechend unterscheiden wir manchmal zwischen einerKerngrammatik, also dem Subsystem innerhalb der tatschlich vor-

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    kommenden sprachlichen Systeme, das direkt die Universal-grammatik widerspiegelt und sich einfach aus der Einstellung derSchalter, aus der Fixierung der von der Universalgrammatikvorgesehenen Parameter ergibt, und einem System der sprachli-chen Peripherie, das das System der Kerngrammatik ergnzt.

    Die Rolle der Parameter" beim Sprachenverb

    Richard Beckwith: Was meinen Sie zu der hufig vorgebrachtenBehauptung, nach der die eben angesprochene Homogenisierungdes Inputs das Problem mit dessen Drftigkeit beseitigen wrde?Und zweitens: wrden unter solch idealisierten Umstnden dieFehler, die das Kind beim Spracherwerb macht, den ursprngli-chen Zustand des Sprachvermgens widerspiegeln?

    Noam Chomsky: Das Problem der Stimulusarmut und der Drf-tigkeit des Input bleibt auch bei Idealisierung des Dateninputs imwesentlichen unverndert. Man knnte argumentieren, da in derrealen Welt die Situation um einiges komplexer ist als unter denidealisierten Voraussetzungen, weil Kinder hier nicht nur lernenmssen, wie sie die Schalter setzen mssen, sondern auch vor derTatsache stehen, da verschiedene Leute um sie herum die Schalterverschieden setzen. So stehen sie nicht nur der Armut des Stimulusgegenber, sondern auch widersprchlichen Daten, was es nochschwieriger macht, den Spracherwerb zu erklren. Bei idealisiertenDaten wrden einige dieser Schwierigkeiten teilweise, anderesogar vllig wegfallen.

    Was die Bereiche betrifft, in denen Kinder Fehler machen,scheint es im wesentlichen zwei Kategorien zu geben. So wissenwir ja, da Kinder auf einer bestimmten Stufe annehmen, dieVergangenheitsform von sleep sei sleeped (schlafen/schlafte),und da sie dann aber lernen, da nicht sleeped, sondern slept(schlief) die richtige Form ist. Es kommt auch vor, da sie es garnicht lernen. In gewissen Dialekten kommt die Form sleeped vor,und manchmal werden Formen wie diese am Ende zur regulrenForm. Damit haben wir eine erste Klasse von Fehlern. Die ande-re Klasse von Fehlern sind die Flle, wo das Kind einfach nochnicht wei, welches der richtige Parameterwert ist. So ist es zumBeispiel durchaus mglich, da ein Kind, das die englische Spra-che erlernt, auf einer gewissen Stufe des Spracherwerbs an-nimmt, da sich Reflexive nur auf Subjekte beziehen knnen underst noch lernen mu, da sie sich manchmal auch auf Objekte

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    beziehen - da es falsch wre, das Objekt als Bezugswort auszu-schlieen.

    Richard Beckwith: Gibt es fr die Parameter manchmal einenbevorzugten, einen nichtmarkierten " Wert?

    Noam Chomsky: Das ist anzunehmen. Manche Parameter habendiese Eigenschaft, andere dagegen nicht. Nehmen wir zum Beispielden Kopf-zuerst/Kopf-zuletzt"-Parameter. Wahrscheinlich istkeiner der Werte markiert; der eine ist genauso gut wie der andere.Aber in einigen Fllen, so etwa beim Null-Subjekt-Parameter"oder bei dem Parameter fr die Bezugswrter fr Reflexive gibt eswahrscheinlich einen markierten und einen unmarkierten Wert,was bedeutet, da das Kind den Parameter in der unmarkiertenPosition festlegen wird, falls es keine Daten gibt, die das Gegenteilbesagen.

    Robert Berwick von der Fakultt fr Computerwissenschaftenam MIT hat eine interessante Doktorarbeit geschrieben, in der erversucht hat, ein Programm fr den Spracherwerb zu konstruieren.Das ist ein Algorithmus, dessen Anwendung auf die Datenautomatisch das sprachliche Wissen eines Sprechers ergibt. Dabeistellte er sich unter anderem die Frage: Wie stellen wir fest,welches der unmarkierte Wert eines Parameters ist?" Er berck-sichtigte, da Sprache nur anhand positiver Daten gelernt wird;das heit, da die Berichtigung von Fehlern keine nennenswerteRolle spielt. Nur das, was der Sprachlerner an sprachlichen u-erungen hrt, sind seine Daten, sonst nichts. Darauf wendeteBerwick dann die formale Lerntheorie an, eine rein mathemati-sche Theorie, die untersucht, wie Funktionen unter unterschiedli-chen Bedingungen bestimmte Grammatiken oder andere Systemehervorbringen knnen. Im Rahmen dieser Theorie gibt es Ber-wick zufolge eine notwendige und hinreichende Bedingung frdas Erlernen eines Systems ausschlielich anhand positiver Da-ten: jeder Parameter mu immer auf seinen minimalen Wert"festgelegt werden, das heit, den Wert, der die kleinste Spracheergibt. Wenn also ein Parameter einen Wert hat, der mehr Stzeergibt als der andere Wert, dann mu man den Wert nehmen, derdie Sprache mit weniger Stzen ergibt. Das ist das, was er dasTeilmengenprinzip" nennt: man nimmt immer die kleinere Spra-che, die sogenannte Subsprache, wenn eine Wahl besteht. Es gibtalso eine gewisse mathematische Untersttzung fr das Markie-rungsprinzip.

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    Dann ging er natrlich dazu ber, sich empirische Daten an-zusehen. Aber ist es tatschlich so, da Kinder Parameterwerte aufeine Weise festsetzen, die eine kleinere Sprache ergibt? Das istkitzlig, weil die mathematische Theorie aufgrund der Annahmearbeitet, da die Parameter alle voneinander unabhngig sind, aberin Wirklichkeit sind sie das vielleicht gar nicht. Es kann sein, dadie Einstellung von Schaltern auf einen bestimmten Wert dieEinstellung von anderen Schaltern beeinflut, und das wirft dannweitere Fragen auf. Die empirischen Daten reichen bis jetzt nichtsehr weit. Es ist schwer, wirklich berzeugende Daten aus realenSituationen zu bekommen, die etwas ber formale Idealisierungenaussagen knnten, in deren abstrakter Handhabung man sichauskennt. Immerhin ist es ein interessanter Gedanke, undtatschlich knnte man fast sagen, da es vielleicht das erstetheoretische Lernprinzip ist, das jemals vorgeschlagen worden ist.

    Eine allgemeine Lerntheorie

    Richard Beckwith: Welche Beziehung besteht zwischen einerLerntheorie und dem, was sie effektiv leisten bzw. erklren kann?So vertreten ja einige Leute die Auffassung, da PiagetsLerntheorie den grammatischen Lernproze hinreichend erklrenkann, obwohl sie weder restriktiv noch klar definiert ist.

    Noam Chomsky: Nun, ich frage mich, wieso jemand das glaubt,weil ich nicht sehe, wie es im Rahmen von Piagets Lerntheoriemglich sein soll, berhaupt irgend etwas zu lernen. Sie funktio-niert nicht einmal bei den Dingen, von denen er spricht. Sie ist zuamorph. Es scheint leider auch nicht mglich, sie in eine Mengevon Prinzipien zu verwandeln, mit denen man Lernprozesseerklren knnte. Jede Art aussichtsreicher Theorie in diesemBereich mu eine Menge an eingebauter Struktur postulieren, undnur weil es diese eingebaute Struktur gibt, kann Lernen berhauptstattfinden. Und das ist genau das, was Piaget nicht anerkennenwollte. Tatschlich war Piagets Hauptpunkt, da man von dieserinneren Struktur, die letztlich die Form der resultierenden Theoriebestimmt, gerade nicht ausgehen soll, und das ist einer der Grnde,warum er keine Lerntheorie hat.

    Ich persnlich glaube nicht, da es jemals so etwas wie eineLerntheorie geben wird. Ich sehe das, was wir Lernen nennen,als bestimmte Art von Wachstum an. Es ist ja klar, da wir nicht

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    lernen, Arme zu bekommen. Aber wir lernen auch nicht in ir-gendeinem sehr interessanten Sinn, Sprache zu haben. Was pas-siert, ist, da Systeme, die in der ein oder anderen Weise vorge-formt oder von vornherein auf bestimmte Daten abgestimmt sind,dann mit der Umgebung dergestalt interagieren, da sie durch dasAuffllen von Leerstellen konturiert werden, und so entwik-keltsich die endgltige Form des Systems.

    In letzter Zeit haben sich einige Leute mit der Frage befat, wieeine erklrungskrftige Theorie auszusehen hat. So hat sich StevePinker mit den Annahmen beschftigt, die man in ein Systemeinbauen mu, um daraus eine Theorie wie die lexikalisch-funktionale Grammatik ableiten zu knnen. Bob Bervvick arbeitetean der Sorte von Annahmen, die eine Theorie enthalten mu, dieGrandlage der Rektions-Bindungs-Theorie sein kann. Ich vermute,da beide Anstze nicht sehr weit auseinanderliegen. Aber so oderso wird jede Lerntheorie" in Wirklichkeit eine Theorie derangeborenen Struktur sein. Tatschlich ist der einzige Vorschlaghinsichtlich einer allgemeinen Lerntheorie, den ich je gesehenhabe, Berwicks Teilmengenprinzip". Die anderen Dinge, dieLerntheorie genannt werden, bestehen in Wirklichkeit nur ausHypothesen ber die anfnglichen Zustnde von Systemen, die Artvon Optionen, aus denen diese Systeme auswhlen knnen undhnlichem mehr.

    Richard Beckwith: Das hrt sich so an, als ob sich Lernen auf dasreduzieren liee, was Eric Kandel bei seiner Arbeit mit derSchlange Aplysia fand. Glauben Sie, da Lernen sich letztlich aufrtliche Vernderungen der synoptischen Wirksamkeit an be-stimmten genetisch festgelegten Stellen reduziert?

    Noam Chomsky: Ja, das denke ich schon. Es mag paradox klin-gen, aber das, was wir Lernen nennen, ist wohl nicht wirklichLernen; damit meine ich, da die Eigenschaften, die wir meist mitdem Begriff Lernen" verbinden, vermutlich nicht Eigenschaftender Prozesse sind, die wir Lernen nennen. Wenn wir zum Beispielunter Lernen etwas verstehen, was auf Assoziation und Induktionberuht, dann sind viele Prozesse, die wir Lernen nennen, nichtLernen; sie passen nicht in diese Rubrik. Auerdem kommt mankaum an der Tatsache vorbei, da man sich seit siebzig oderachtzig Jahren um diese sogenannte Lerntheorie" bemht hat,aber nach all der Zeit kaum Resultate vorzuweisen hat - es ist sehrwenig dabei herausgekommen.

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    Richard Beckwith: Viele Lerntheoretiker scheinen sich ja jetzt indie Richtung Kandels zu bewegen.

    Noam Chomsky: Die Vernnftigeren von ihnen gehen allmhlichdazu ber, zu fragen, was fr innere Strukturen angenommenwerden mssen, um den Entwicklungsverlauf, dem ein Or-ganismus folgt, zu erklren. Aber wenn man darber nachdenkt,dann hat man, was Lernprinzipien betrifft, auer ein paar Beob-achtungen ber die Wirkung von Verstrkungen auf die Reakti-onsintensitt und hnlichem nichts gefunden, und diese Beob-achtungen scheinen mir wirklich nicht sehr bedeutend zu sein.

    Richard Beckwith: Wie sollten denn Ihres ErachtensLemprinzipien aussehen?

    Noam Chomsky: Ich glaube ebenso wenig daran, da wir allge-meingltige Lemprinzipien finden werden wie daran, da wirPrinzipien des Wachstums etablieren knnen. Stellen wir uns vor,irgend jemand kme an und wrde sagen: Schauen Sie, ich httegern eine Theorie der Wachstumsprinzipien, die begrndet, warumdas visuelle System zu dem wird, was es dann ist, warum die Leberzu dem wird, was sie ist, warum das Herz zu dem wird, was es ist."Es wird keine Gruppe solcher Prinzipien geben. Die einzige Ebene,auf der solche Prinzipien formuliert werden knnen, ist die derZellbiologie, die fr smtliche der genannten Bereiche relevant ist.Aber die Organe entwickeln sich so, wie sie es tatschlich tun, weiles genetische Anweisungen gibt, die sie in bestimmte Richtungenlenken, und wegen der Art, in der die interne Struktur sichgegenber dem durch die Umwelt gegebenen Kontext verhlt.

    Richard Beckwith: Sie scheinen der Ansicht zu sein, da viele derProbleme bei der Ausarbeitung von Theorien der Psychologie undder Entwicklung erst gelst werden knnen, sobald wir mehr berdie Physiologie des Gehirns wissen. Die eliministi-schenMaterialisten wie zum Beispiel Rorty sagen, da unsereaugenblicklichen Theorien, die nichts seien als Amateurtheorien,mit dem Fortschritt unserer physiologischen Kenntnisse TheorienPlatz machen werden, die sich mit der Beschreibung der Phy-siologie befassen. Empfinden Sie eine Verwandtschaft zu den eli-ministischen Materialisten?

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    Noam Chomsky: Wir hoffen, da das Studium der Physiologieauf die Mechanismen stoen wird, die die von unseren abstrakterenTheorien des Geistes postulierten und entwickelten Eigenschaftenaufweisen, vielleicht analog zu der Art, wie es der Physik gelang,nicht nur die Mechanismen zu finden, die den in der Chemie des19. Jahrhunderts postulierten Gebilden und Krften -wie Valenzund hnlichem - entsprachen, sondern auch zu erklren, warumdiese eine Rolle spielen. Was die Lerntheorie angeht, vermute ich,da wir auf der Ebene der Zellbiologie auf allgemeine Prinzipienstoen werden, die fr smtliche Systeme gelten, aber wenn wirdann wissen wollen, welche besonderen Systeme sich im Geistoder dem restlichen Krper entwickeln, werden wir uns immernoch die fr jedes System spezifischen, von unserer biologischenAusstattung festgelegten Instruktionen ansehen mssen. DieLerntheorie wrde aus den Prinzipien bestehen, die dasWechselspiel regieren, das zwischen komplex strukturiertenSystemen und der Umgebung, in der diese wachsen, sichentwickeln und reifen, stattfindet.

    Richard Beckwith: Eine Theorie des Lernens wrde eine kausaleKette vom Input zur mentalen Reprsentation enthllen?

    Noam Chomsky: Genau. Ich mchte an dieser Stelle noch einmalauf einige interessante Resultate der formalen Theorie des Lernenshinweisen. Diese Theorie abstrahiert von einer Reihe im einzelnenauftauchender Komplexitten und fragt: Unter welchenBedingungen kann sich ein System so entwickeln, da es einenstabilen Endzustand erreicht?" Es liegen jetzt einige nochunverffentlichte Ergebnisse vor, die zeigen, da eine Theorie desSpracherwerbs, die von vernnftigen Voraussetzungen ausgeht,nur dann das gewnschte Resultat liefern kann, wenn die Anzahlder mglichen Sprachen begrenzt ist. Wenn man von trivialenAspekten absieht und nur die Struktur ins Auge fat, gbe esdemnach nur eine begrenzte Anzahl verschiedener Sprachen.Wenn diese Bedingung nicht gegeben und die Zahl der mglichenSprachen unbegrenzt wre, knnten wir der erwhnten Theoriezufolge gar nichts lernen. Das Lernsystem knnte niemals einenstabilen Zustand erreichen.

    Das ist interessant, weil es mit dem Unterschied zwischen un-seren frheren Vorstellungen von der Sprache und den aktuelle-ren, die wir gerade diskutiert haben, in Zusammenhang steht.Einer der Unterschiede zwischen dem Bild der frhen sechziger

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    Jahre und unserer von mir hier skizzierten gegenwrtigen Vor-stellung besteht darin, da es dem gegenwrtigen Bild zufolge nureine begrenzte Zahl von Sprachen, das heit, von strukturellunterschiedlichen Sprachen gibt. Es gibt eine endliche Anzahl vonSchaltern mit einer jeweils sehr kleinen Anzahl von Schalt-zustnden, und aus jeder Gesamtheit von Schaltereinstellungenresultiert (wenn man sich an die Struktur hlt und von der Wahlder lexikalischen Elemente absieht) eine mgliche Sprache. Diefrhere Konzeption besagte dagegen, da es eine unendliche An-zahl von Grammatiken gibt und man sich dann die einfachsteaneignet. Nun, diese neueren formalen Theorien gehen von rechtvernnftigen Voraussetzungen in Bezug auf das Lernen aus, zumBeispiel davon, da man sich an einzelne Dinge nicht allzu langerinnern kann. Unter solchen Bedingungen ist das Erlernen einesstabilen Systems - nmlich der Sprache, wie man sie beherrscht,wenn man volle Kompetenz erlangt hat - nur mglich, wenn dieMenge der grundstzlich verschiedenen Sprachen - der Sprachen,die in einem przis definierten Sinn strukturell verschieden sind -nur endlich viele Mitglieder hat. Das gibt uns einen Hinweisdarauf, wie die Struktur der Universalgrammatik aussehen sollte.Sie sollte nur eine begrenzte Zahl verschiedener Grammatikenerlauben. Zur Integration von linguistischen und formalenTheorien gibt es eine wichtige Arbeit von Wexler und Culicover,in der sie versuchen, einige Probleme der formalen Lerntheorie mitgrundlegenden Fragen der Struktur der menschlichen Sprache inVerbindung zu bringen. Sie legten einige von der formalenLerntheorie motivierte Prinzipien vor, von denen sich herausstellte,da sie einsichtige empirische Gegenstcke haben. Das ist einesehr interessante Arbeit. Man knnte all das als einen Beitrag zurLerntheorie betrachten, aber ich wrde es lieber einfach als einenTeil der Theorie des Wachstums bezeichnen.

    Menschliche Intelligenz und Psychologie als Wissenschaft

    Richard Beckwith: Wodurch wre Ihrer Ansicht nach eine an-gemessene Theorie der Psychologie charakterisiert?

    Noam Chomsky: Ich glaube gar nicht, da es je so etwas wie eineTheorie der Psychologie geben wird. Ich denke, da es Theorieninnerhalb der Psychologie geben wird, die sich jeweils mitbesonderen Themen befassen. Was sie angemessen machen wird,ist dasselbe, was jede Art von Theorie angemessen macht: da sie

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    uns Einblick in einen bestimmten Bereich von Phnomenen gibt,eine Erklrung fr rtselhafte Dinge liefert, oder Prinzipien darlegt,die einerseits von der Erfahrung gesttzt werden, andererseits abernicht einfach offensichtlich sind. Das ist es, was eine Theoriebefriedigend macht. Auerhalb eines kleinen Kerns vonNaturwissenschaften ist es sehr schwer, so etwas zustande zubringen. Ich wei nicht, ob es in der Psychologie einmal derartigeTheorien geben wird. Vielleicht ja.

    Richard Beckwith: Bitte spekulieren Sie ein wenig, welche Gebieteinnerhalb der Psychologie aussichtsreiche Kandidaten seinknnten.

    Noam Chomsky: Es gibt gewisse Gebiete in der Psychologie, indenen wir die Probleme und Fragen in hnlichen Begriffen for-mulieren knnen wie in den wenigen anderen - in erster Linie denNaturwissenschaften zugehrigen - Bereichen, wo es wissen-schaftliche Fortschritte gegeben hat. Das sind vor allem die Ge-biete, wo ein Problem im Rahmen von Input/Output-Systemenformuliert werden kann, wo uns eine Charakterisierung sowohl desInputs als auch des Outputs mglich ist. Der Output kann einementale Reprsentation sein, fr die wir indirekte Belege findenknnen; so knnte der Output zum Beispiel der Output einesWahrnehmungssystems sein. Dann wird es mglich, die Prozesseoder Prinzipien zu untersuchen, die Stimulus und Reprsentation inBeziehung setzen. In der Erforschung des Sehens oder im Fall derSprache ist es zum Beispiel mglich gewesen, Theorien zuentwickeln, die einen gewissen Grad an Tiefe aufweisen. Es gibtjedoch viele Fragen, von denen wir nicht wissen, wie wir sieberhaupt ernsthaft angehen sollen, wie zum Beispiel Fragen, diemit der Willens- und Entscheidungsfreiheit zu tun haben.

    In Wirklichkeit ist das ja eine klassische Beobachtung. VielePhilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts waren der Auffassung,der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Maschine -so die Terminologie jener Zeit - bestehe darin, da Maschinengezwungen seien, auf bestimmte Art zu agieren, whrend Men-schen dazu nur angeregt oder geneigt, nicht aber gezwungensind. Diese Unterscheidung berhrt einen sehr wesentlichenPunkt. Wenn wir nmlich anfangen, ber Dinge zu sprechen wiedie Frage, warum wir letztlich so handeln, wie wir es tun, oderwie die Tatsache, da wir zu unseren Handlungen nur angeregtoder geneigt, aber nicht gezwungen sind, begeben wir uns meines

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    Erachtens in einen Bereich, wo ich nicht glaube, da es irgend-welche Kandidaten fr eine Theorie oder eine Erklrung gibt. Obwir auch nur die richtige Art von Intelligenz haben, um dieseFragen zu erforschen oder ob ein solches Projekt fr uns einfach zuschwierig ist oder was sonst, wei ich nicht. Aber so oder soscheint es mir hier heute genauso wenig sinnvolle Antworten zugeben wie im Verlauf der letzten paar tausend Jahre.

    Richard Beckwith: Knnte es bei einem System, das wir mittelsder Input/Output-Relation und mentaler Reprsentationen charak-terisieren, nicht verschiedene mentale Reprsentationen geben, dieals Zwischenstation zwischen Input und Output fungieren?

    Noam Chomsky: Nun, die interessanten Theorien sprechen mitt-lerweile von vielen Reprsentations- und Verarbeitungsebenen.Das gilt unter anderem fr David Marrs Theorie des Sehens, diemeines Erachtens ein sehr erfolgreiches Beispiel fr eine nichttri-viale psychologische Theorie ist. Eine reprsentationale Theorieder Sprache zieht ebenfalls eine Anzahl verschiedener Kandidatenals mgliche eigenstndige Reprsentationsebenen in Betracht, umdann die zwischen diesen Ebenen stattfindenden Interaktionen zuerforschen. Es ist brigens zu einfach und fhrt in die Irre, das einInput/Output-Systeme zu nennen. Ein Groteil der Erforschung derSprache besteht im Studium der Organisation einesWissenssystems, und dieses Wissenssystem als solches ist keinInput/Output-System. Aber es spielt eine Rolle bei In-put/Output-Systemen wie der Sprachverarbeitung. Auerdem behandelt dieErforschung der Universalgrammatik die Daten, die dem Kind zurVerfgung stehen als Input und die aufgrund der Datenkonstruierten Wissenssysteme als Output, wobei sie versucht, dieBeziehung zu bestimmen, die zwischen beidem besteht.Tatschlich scheinen wir nur insoweit, wie man Probleme inBegriffen von In- und Output formulieren kann, zu wissen, wieman sie auf eine Weise behandeln kann, die halbwegs einerwissenschaftlichen Methodik entspricht.

    Richard Beckwith: Eine angemessene Psychologie wrde dem-nach nicht versuchen, einen mglichst weiten Bereich abzudek-ken, sondern sie wrde eher nach Erklrungen auf eng um-schriebenen Gebieten suchen, fr die sie spezielle Forschungs-strategien entwickeln wrde.

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    Noam Chomsky: So habe ich das vorhin nicht gemeint. Ichvermute, da Sie, wenn Sie von einer angemessenen Psychologiesprechen, wissenschaftliche Psychologie im Auge haben. Esknnte jedoch durchaus sein, da man sich, was die Psychologiebetrifft, besser an die Literatur hielte. Wenn man etwas ber diePersnlichkeiten und Beweggrnde der Menschen lernen mchte,sind dazu Romane wahrscheinlich besser geeignet als Psycholo-giebcher. Vielleicht gelangt man so am besten zu einem Ver-stndnis menschlicher Wesen und der Art, wie sie handeln undfhlen, aber das ist nicht Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht daseinzige auf der Welt, sie ist was sie ist. Wenn wir uns fragen, wieeine angemessene wissenschaftliche Psychologie aussehen wrde,dann wre die Antwort: nicht anders als eine angemessenewissenschaftliche Physik. Es wre eine Theorie, die eine be-stimmte innere Strenge hat und Erklrungen fr empirische Ph-nomene und Einsichten in die fr diese Phnomene verantwortli-chen Prinzipien bietet, Prinzipien, die nicht offen auf der Handliegen und daher geeignet sind, rtselhafte Phnomene zu erklren.Aber Wissenschaft ist nicht der einzige Weg, zu einem Verstndnisvon Dingen zu kommen.

    Richard Beckwith: Also besteht mglicherweise ein groer Un-terschied zwischen einer erkenntnistheoretisch geleiteten Wis-senschaft und dem, was wir vielleicht als geeignete Form vonPsychologie bezeichnen wrden.

    Noam Chomsky: Ja. Wenn wir unter einer geeigneten Form vonPsychologie etwas verstehen, das uns hilft zu begreifen, wasMenschen tun, wie sie fhlen, und wie sie sich fr ihre Handlun-gen entscheiden, kann es sein, da die Psychologie, die das allesam genauesten beschreiben kann, nicht die wissenschaftlichePsychologie ist. Tatschlich hat die Psychologie als Wissenschaftber diese Themen sehr wenig zu sagen. Aber es gibt andere Mittelund Wege, die ein wenig Einblick in diese Fragen vermittelnknnen, zum Beispiel die Literatur. Wolfgang Khler behaupteteeinmal, einer der Grnde dafr, da es so schwer ist, derPsychologie einen wissenschaftlichen Charakter zu verleihen,bestehe darin, da die Menschen schon so viel intuitives Wissenber diesen Gegenstand haben, da all die Dinge, die eine wis-senschaftliche Psychologie entdecken kann, bereits offensichtlichsind, whrend man im Fall der Physik diese Art von Wissen ebennicht hat und daher selbst an sich einfache Resultate schon ber-

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    raschend sind. Er vertrat die Auffassung, einer der Grnde dafr,da es der Psychologie kaum einmal gelingt, irgend etwas Inter-essantes zu sagen, sei darin zu suchen, da sie lediglich Dingerekonstruiert, die wir die ganze Zeit gewut haben, obwohl wir unsihrer vielleicht nicht in den Begriffen wohlformulierter Prinzipienbewut waren. Damit wollte er darauf hinweisen, da diePsychologie, um eine Wissenschaft mit berraschenden Ergeb-nissen zu werden, betrchtlich ber die Tiefe von anderen Wis-senschaften hinausgehen mu.Ich vermute, da das stimmt, obwohl ich gleichzeitig denke, da eseinige Bereiche gibt, in denen wir mit den uns zur Verfgungstehenden Methoden der wissenschaftlichen UntersuchungResultate erzielen knnen. Ich denke, wir sollten uns demgegen-ber eine offene Einstellung bewahren. Aber unser gegenwrtigerErkenntnisstand legt zumindest nahe, da der menschliche Intellektfr die Lsung bestimmter Fragen einfach nicht ausgerstet ist,und dazu gehren sehr wahrscheinlich auch viele Fragenhinsichtlich des menschlichen Verhaltens. Das wre ja schlielichnicht allzu berraschend. Wenn wir die Menschen lediglich alseinen Organismus unter anderen betrachten, die es in der Weltnoch gibt, dann mssen wir auch sehen, da unsere geistigen undphysischen Fhigkeiten genau wie die jedes anderen Organismusbeschrnkt sind. Organismen knnen einige Dinge gut, andereschlecht - diese beiden Seiten sind untrennbar miteinanderverbunden. Ein Organismus von endlicher Gre kann nicht allesgleich gut knnen - dann wrde er berhaupt nichts knnen. Ermu gut an bestimmte Arten von Aufgaben und Problemenangepat sein, wenn er etwas erreichen soll, was ber gnzlichtriviale Dinge hinausgeht. Genau diese Anpassung wird dannandere Dinge ausschlieen. Wenn ein Organismus gut zumSchwimmen geeignet ist, wird er dafr nicht gut fliegen knnen.Dasselbe gilt fr das mentale Leben. Wenn man fhig ist, in be-stimmten Bereichen Probleme zu lsen, dann liegt das an spezifi-schen Anpassungen, hochspezifischen genetischen Anweisungen,die dafr aber den Zugang zu anderen Bereichen blockieren. Wenndie Menschen Teil der physikalischen Welt sind, wovon wir jawohl ausgehen knnen, und wenn Menschen ganz bestimmteAufgaben sehr gut lsen knnen, wie es im Bereich desSpracherwerbs oder (auf einer anderen Ebene der Untersuchung)der Konstruktion von Theorien wie etwa der Quantentheorie derFall ist, dann werden genau die Strukturen, die sie in diesen Be-reichen erfolgreich machen, dazu fhren, da sie auf Gebieten,

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    die nun einmal nicht so geordnet oder aufgebaut sind, da sie ihrerIntelligenz entsprechen, fortwhrend versagen. Wir knnenvernnftigerweise davon ausgehen, da die Geschichte erfolgrei-cher Wissenschaft irgendwie die Natur der menschlichen Intelli-genz widerspiegelt. Innerhalb des groen Bereichs all der Fragen,ber die wir gerne etwas wten, gibt es hier und da Gebiete, wodie Menschen in der Lage sind, Antworten zu finden, wo sie fhigsind, die Probleme so zu formulieren, da sie sie untersuchen undmanchmal auch Antworten finden knnen. Ich gehe davon aus, dadas Bild, das sich dann ergibt, den besonderen Charakter derStruktur der menschlichen Intelligenz widerspiegelt. MancheFragen kann man lsen, und dann gibt es wieder andere Fragen,die vielleicht gar nicht so weit davon entfernt sind und die vomStandpunkt irgendeines anderen Organismus oder einer anderenIntelligenz genauso leicht aussehen wrden -aber wir werdeneinfach nicht mit ihnen fertig.

    Richard Beckwith: Meinen Sie denn auch, da die Geschichte derIdeen innerhalb einer bestimmten Wissenschaft die Natur unsererIntelligenz -widerspiegelt?

    Noam Chomsky: Ich glaube, da das sogar in hohem Ma zu-trifft. So finden Sie in jedem Fach, das berhaupt gewisse Fort-schritte vorzuweisen hat, da es bestimmte Zeiten gibt, wo sichdie Entwicklungen berschlagen. Man hat dann ein bestimmtesNiveau des Verstndnisses erreicht und steht vor einem gewissenBereich brennender und herausfordernder Probleme, und pltz-lich kommen dann viele Leute auf dieselbe Idee oder hnlicheIdeen darber, wie die Sichtweise gendert werden mu, um dasVerstndnis auf eine neue Ebene zu heben. Das ist gelegentlichals wissenschaftliche Revolution bezeichnet worden. Das Auffal-lende daran ist, da hinterher sehr weitgehend anerkannt wird,da es der richtige Schritt war, obwohl keineswegs jeder einzelneForscher in der Lage wre, so einen Schritt durchzufhren. Wirsind uns vollkommen klar darber, da Theorien vom Datenma-terial sehr stark unterbestimmt sind. Aber dennoch finden wir,da bestimmte Schritte von den Daten zur Theorie als vernnftigbetrachtet werden, whrend man andere Schritte als lcherlichansieht. Offenbar legt die spezifische Struktur unseres Geistesfest, da wir die jeweiligen Problemsituationen, vor denen wirstehen, in eine scharf begrenzte Unterklasse mglicher Theorienabbilden. Die ganze Geschichte der Wissenschaft deutet darauf

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    hin, da es so ist. Aber natrlich ist genau dieselbe Beschrnkung,die zur Auswahl bestimmter Theorien und zur Ablehnung vonanderen fhrt, auch eine von vornherein gegebene Beschrnkungdessen, was unsere Intelligenz leisten kann. Und es ist mglich,da diese Beschrnktheit uns in die falsche Richtung fhrt. Es gibtkeine Garantie, da die Welt so aufgebaut ist, da sie mit derStruktur unserer Intelligenz bereinstimmt. Es ist eine Art Wunder,wenn das berhaupt je der Fall ist.

    Richard Beckwith: Wrden Sie also sagen, da wir so strukturiertsind, da wir zu zutreffenden Charakterisierungen einigerMerkmale unserer Umgebung in der Lage sind?

    Noam Chomsky: Wir sind fhig, einige der in mglichen Weltenvorkommenden Strukturen zu erfassen. Wenn wir Glck haben,entspricht die wirkliche Welt in mancher Hinsicht unserenEntdeckungen. Es ist einfach purer Zufall, wenn die Struktur un-serer Intelligenz und die Natur der Welt auf irgendeinem Gebietungefhr bereinstimmen. Charles Sanders Peirce schlug vor etwaeinem Jahrhundert einen deus ex machina vor, der das Problemlsen sollte: die Evolution. Er argumentierte, wir htten uns ebenso entwickelt, da wir an die reale Struktur der Welt angepatseien. Aber dieses Argument funktioniert berhaupt nicht. Wirhaben die Fhigkeit, Fragen der Zahlentheorie zu lsen und dieQuantentheorie zu entdecken, aber diese Fhigkeiten waren keinFaktor in der Evolution. Die Evolution fhrte zu einer Anpassungan den Umgang mit Problemen, bei denen es um mittelgroeGegenstnde unter normalen Bedingungen geht. Wenn Menschenzum Beispiel nicht fhig wren, die Flugbahn eines Gegenstandeszu berechnen, der auf sie zukommt, wrden sie in Schwierigkeitenkommen. Solche Arten von Fhigkeiten haben einfach keinenBezug zu den Problemen, vor denen wir im Bereich derWissenschaft stehen. Demnach liefert auch die Evolution keinemagische Lsung fr die Frage, weshalb wir die Fhigkeitenbesitzen, die fr uns spezifisch sind. Es ist einfach so, da nurdann, wenn ein Aspekt der Welt zuflligerweise mit der Strukturunserer Intelligenz, so wie diese sich entwickelt hat,bereinstimmt, eine Wissenschaft das Ergebnis sein wird; wennnicht, dann haben unsere Aussagen darber nichts mit Wissen-schaft zu tun.

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    Die instinktive Basis der Moral

    Richard Beckwith: Wenn wir an Peirces Ideen hinsichtlich einereins-zu-eins Abbildung der Welt auf unsere Erfahrung von ihrfesthielten, wrden wir Kants Unterscheidung zwischen der Welt,wie wir sie wahrnehmen und der Welt, so wie sie ist, verlieren.Dem Kantschen Idealismus wird oft eine zentrale Stellung in KantsAuffassungen ber moralische Urteile eingerumt. Sie selbst habeneinmal davon gesprochen, da das Konzept der vorgeformtenStruktur und der Modularitt des menschlichen Geistes auf einebestimmte Sichtweise der Moral verweisen. Knnten Sie das einwenig ausfhren?

    Noam Chomsky. Ich mchte gleich feststellen, da vieles vondem, was ich gerade sagte, in Kantsche Begriffe umformuliertwerden knnte. Man knnte sagen, da die Struktur unserer Er-fahrung und unser Verstndnis der Erfahrung eine Widerspie-gelung der Natur unseres Geistes sind, und da wir zu dem, wasdie Welt wirklich ist, nicht vordringen knnen. Wir knnen le-diglich versuchen, Erklrungen zu entwickeln, und wenn sie dannmanchmal mehr oder weniger funktionieren und zu einem Resultatfhren, das wir als Erkenntnisgewinn und Verstndnis ansehenknnten, sind wir zufrieden mit ihnen.

    Was moralische Urteile angeht, denke ich, da wir uns aufziemlich schwankendem Boden befinden. Wenn man sich jedochvon den Fingerzeigen leiten lt, die uns von Anthropologie, Ge-schichte, eigener Intuition und hnlichem mehr geliefert werden,scheint mir, da es Grund fr die Annahme gibt, da es biologischverwurzelte Prinzipien gibt, die in moralische Urteile eingehen.Wir wissen nicht genau, was diese Prinzipien sind; nur durchErfahrung knnen wir mehr ber sie lernen. Unsere moralischenund ethischen Urteile erwachsen zum Teil aus diesen Prinzipien,obwohl sie natrlich auch stark von unterschiedlichen, inGesellschaft und Geschichte verankerten ideologischen Systemenund den Entscheidungsmglichkeiten und Interpretationsmustern,die dem Bewutsein der innerhalb einer bestimmtengesellschaftlichen und historischen Situation Handelnden zurVerfgung stehen, geprgt werden. Ohne eine solche Annahmewre es ziemlich schwierig, all das, was wir tatschlich tun,berhaupt zu verstehen. Ich denke, es ist ganz natrlich, da dieGeschichte von einer Zeit, wo Sklaverei als legitim betrachtetwird, zu einer Zeit fortschreitet, wo das nicht mehr so ist. ber-

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    raschend fnde ich dagegen, wenn sich die Geschichte ber langeZeit hinweg in die andere Richtung bewegen wrde. Wir knnendoch im Verlauf der gesamten Geschichte Dinge finden, die frhereinmal als vollkommen vernnftig, ethisch und akzeptabelbetrachtet wurden, spter aber mit heftiger Verachtung und Wi-derwillen bedacht wurden. Das gilt auch sehr stark fr unsere ei-genen Traditionen. Wenn Sie zum Beispiel die Bibel lesen, findenSie, da sie einer der bluttriefendsten Texte unserer Literatur ist.Gott selbst ist es, der seinem auserwhlten Volk befiehlt, dieAmalekiten noch bis auf das allerletzte Kind auszurotten. Heutigereligise Texte wrden Menschen nicht mehr dazu auffordern, soetwas zu tun; heutzutage wrden Menschen so etwas nicht mehrbereitwillig als die Worte ihres Gottes akzeptieren. Das ist einZeichen fr einen gewissen moralischen Fortschritt. Auf deranderen Seite kann man an den Nazismus denken,'der nicht geradeein Anzeichen fr moralischen Fortschritt ist, um es gelindeauszudrcken.

    Richard Beckwith: Wie sieht demnach die Beziehung zwischen derModularittsthese und moralischen Urteilen aus?

    Noam Chomsky: Ich mchte noch einmal betonen, da sie nichtoffensichtlich ist. Die Beweise dafr sind dnn und beruhengroenteils auf Intuition. Dennoch neige ich zu der Annahme,da es eine Komponente unseres intellektuellen Systems gibt, diefr moralische Urteile zustndig ist - Urteile darber, was richtigund falsch ist, oder ber die Art, wie Menschen behandelt wer-den sollten, ber das, was anstndig und gerecht ist. Ich wrdeannehmen oder zumindest hoffen, da es in irgend einer Formdas gibt, was Bakunin einmal den Freiheitsinstinkt" nannte, dasheit, ein Bestreben, frei von den Einschrnkungen uerer Au-toritt zu sein, auer insoweit diese im jeweiligen Stadium derGeschichte irgendwie fr das berleben erforderlich sind. Alsosollten wir im Verlauf der gesamten Geschichte bestndige An-strengungen finden, autoritre Strukturen zu berwinden und denBereich der Freiheit zu erweitern. Wenn das zutrifft, und ichdenke, in bestimmten Ma tut e