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Seit Noam Chomsky Mitte der sechziger Jahre …...Seit Noam Chomsky Mitte der sechziger Jahre seinen Elfenbeinturm als Linguist am Massachussetts Institute of Technologie (MIT) verließ,

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Seit Noam Chomsky Mitte der sechziger Jahre seinen Elfenbeinturm alsLinguist am Massachussetts Institute of Technologie (MIT) verließ, umgegen den Vietnamkrieg Stellung zu beziehen, hat er eine Vielzahl vonBüchern und Artikeln publiziert, unzählige Vorträge gehalten. In diesemBuch, das zum vielgerühmten Dokumentarfilm »Manufacturing Consent«entstand, wird zum erstenmal ein Überblick über das Denken und denWerdegang dieses faszinierenden Menschen gegeben. BesonderesAugenmerk gilt dabei Noam Chomskys luzider Medienanalyse, derenmanipulative Methoden er aufgezeigt hat. Dieses auch an Bildmaterial rei-che Buch ermuntert den Leser, sich der Desinformation im Alltag zu ent-ziehen, kritisch und selbständig zu denken sowie Widerstand zu leisten.

Ein biografischer Edelstein. The Sunday Times

Ein funkelndes, provozierendes Porträt. The Guardian

Eine faszinierende Einführung in das Denkeneines der anregendsten Köpfe Amerikas. The New York Times

ISBN 3 927527 72 6

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Noam Chomsky -Wege zur intellektuellen

Selbstverteidigung

Medien, Demokratie unddie Fabrikation von Konsens

Herausgegeben von Mark Achbar

Aus dem Englischen vonHelmut Richter

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Für Marjorie, Ben und Francine Achbar

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Noam Chomsky - Wege zur intellektuellen Selbstverteidigung :Medien, Demokratie und die Fabrikation von Konsens / hrsg. vonMark Achbar. Aus dem Engl. von Helmut Richter. - Dt.-sprachigeErstausg. - München : Marino-Verl. ; Grafenau : Trotzdem Verl.., 1996

Einheitssacht.: Manufacturing consent - Noam Chomsky and themedia <dt,>ISBN 3-927527-72-6

NE: Achbar, Mark [Hrsg.]; Chomsky, Noam; EST

ISBN 3 927527 72 6 (Marino Verlag)und 3 922209 88 2 (Trotzdem Verlag)

Der Originaltitel lautetManufacturing ConsentNoam Chomsky and the Mediaund ist 1994 bei Black Rose BooksMontreal, Kanada, erschienen© Necessary Illusions, 1994

Aus dem Englischen von Helmut Richter

© der deutschsprachigen Erstausgabe 1996Marino VerlagTheresienstr. 40D-80333 MünchenTel. 089/2802096

In Zusammenarbeit mit dem Trotzdem Verlag, Grafenau

Gesamtherstellung dm druckmedien, MünchenPrinted in ItalyScan, OCR und digitale Nachbearbeitung by Cats&Paws Prod.

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Inhalt Einführung 7

Projektablauf 10

Der Mensch Noam Chomsky

Frühe Einflüsse 42-48, 62-63

Wendepunkt Vietnam 32, 63-68

Seine Rolle 19, 192-193, 206-208

Die Medien

Gedankenkontrolle 16, 18, 40-42, 49-51

Das Propagandamodell 51 -61, 78

Der Golfkrieg 69-77

Fallstudie Kambodscha/Osttimor 91-115

Kürze als strukturelle Einschränkung 147-160

»Noam Chomskys Sport-Rap« 88-90

Die Kabale der Verschwörungsgegner 58-60, 131

Die Medien in Media 80-82, 132-133

Alternativ-Medien 198-203

Der Linguist Noam Chomsky

Grundannahmen 21, 23, 27

Der Schimpanse Nim Chimpsky 20

Der (Nicht-)Zusammenhang mit der Politik 28-29

Die Gesellschaftsordnung

Bildungswesen 157-158

Anarchismus und Libertärer Sozialismus 33-34, 215-217

Widerstand und kritische Analyse 192-196

Kritik aus den Medien

William F. Buckley (TV, »Firing Line«) 66-67

David Frum (Washington Post) 116

Jeff Greenfield (TV, »Nightline«) 146-149

Karl E. Meyer (New York Times) 54-55, 85, 106, 108-111

Peter Worthington (Ottawa Sun) 162

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Sonstige Kritik aus der Eliteschicht

Frits Bolkestein (Verteidigungsminister) 128-131, 175, 178, 180

Michel Foucault (Philosoph) 29-31

Yossi Olmert (Professor) 186-188

John Silber (Universitätspräsident) 139-144

Tom Wolfe (Schriftsteller) 59

N. N. (Student) 134

L'affaire Faurisson, eine zählebige Kampagne 175-191

Der Nahe Osten

Die Rechte der Palästinenser 117, 119-120

Nach dem Abkommen von Oslo 121-123

Mittelamerika

Die Invasion Panamas 74-75

Nicaragua 150

El Salvador 119, 139-144

Der Film und das Buch

Chomskys Reaktionen 9, 86

Widmung für Emile de Antonio 229-231

Chronologie der Entstehung des Films 232-233

Die Macher des Films und des Buchs 234

Dank 235

Eine Medienauswahl 236-238

Auswahlbibliografie 239

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Einführung Anfang der 80er Jahre war ich in der Frie-dens- und Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv.Daher erweckte 1985 eine Vortragsankündi-gung über den »Weg zum globalen Krieg«meine Aufmerksamkeit. Der Redner hießNoam Chomsky; mir war zwar der Namegeläufig, nicht aber die von ihm vertretenenAnsichten.Der langgestreckte, eichenvertäfelte Vor-tragssaal der Universität Toronto war über-füllt. Ich hatte kaum mein Aufnahmegerätneben dem Rednerpult gestartet, als derVortragende auch schon mit einer mäch-tigen Laudatio eingeführt wurde. Beifall,Chomsky ging ans Pult, und jetzt wurde esernst. Alle 45 Minuten wendete ich hastigdie Kassette oder legte eine neue ein - nurkein Wort verpassen!An diesem Abend wurde meine politischeHaltung von Grund auf und unabänderlichneu fixiert, von diesem Mann mit der unauf-geregten Stimme, einer etwas düsteren Iro-nie und einem Faktenwissen, wie ich esnoch bei niemandem erlebt hatte. Als er fer-tig und der wohl minutenlang anhaltendeApplaus verklungen war, versuchte ich et-was schüchtern, an den freundlich wirken-den Redner heranzukommen, zusammenmit einigen anderen, die an den zweiein-halb Stunden noch nicht genug hatten.Einen Augenblick lang sprach keiner auchnur ein Wort. Ich brach das ehrfürchtigeSchweigen und drängte mich mit meinemMikrofon in seine persönliche Sphäre. Eswar das erstemal, und wie viele Male solltennoch folgen! Ich fand mich einem toleran-ten, einfühlsamen Menschen gegenüber,der sich geduldig dazu bereit erklärte, seineSpur in der Magnetschicht meiner Kassette- und in meinem Verständnis des Macht-mißbrauchs in der Welt - zu hinterlassen.Meine Frage war nicht gerade elegant for-muliert, aber Chomsky erfaßte sofort, wasich meinte, und seine Antwort bewegte sich- aber das wurde mir erst später klar - aufeinem Niveau, als ob ihn ein Geschichtswis-

senschaftler für die BBC interviewt hätte.Was mich sofort beeindruckte, war das völ-lige Fehlen jeglicher Art von Herablassung.In diesem Augenblick zeigte sich mir zumerstenmal überdeutlich, was ich noch häu-fig erleben und im Film dokumentierensollte: Chomskys Glaube an die sogenann-ten einfachen Menschen und an ihre Fähig-keit, zu verstehen, wovon er spricht, und da-nach zu handeln. Er predigt seine egalitäreWeltanschauung nicht nur, er sucht siewirklich zu leben.Zwei Jahre lang hörte ich mir die Kassettenvon jenem Abend wieder und wieder an. Ichsuchte nach Chomsky in den Medien - je-doch vergeblich. Zwar konnte man seineBücher auftreiben, wenigstens in den »rich-tigen« Buchhandlungen, aber präsent warer eigentlich nirgends.Endlich, im Jahre 1987, folgte Chomskyeiner Einladung von Dimitrios Roussopou-los (Verleger des »Black Rose Books»-Ver-lags), einen Vortrag an der Concordia-Uni-versität in Montreal, wo ich damals lebte, zuhalten. Auch dieses Mal war der Saal zumBersten voll. Neben mir saß Terri Nash, derdamals gerade mit seinem Film If You LoveThis Planet (nach einem Vortragstext derAnti-Atom-Aktivistin Helen Caldicott), ei-nen Oscar gewonnen hatte und in Schulenund TV-Programmen sehr erfolgreich war.»Vielleicht kann ich ja für Noam das tun,was Terri für Helen geschafft hat«, ging esmir durch den Sinn.Wie der dazugehörige Film, so soll auch die-ses Buch zu den entsprechenden Werkenvon Chomsky, Edward S. Herman und ande-ren hinführen sowie auf diverse Organisa-tionen aufmerksam machen. Es enthältzunächst die vollständige Abschrift des Ton-teils des Films, ergänzt um einige zum jewei-ligen Thema passende Passagen aus weite-ren Quellen; meistens handelt es sich dabeium andere Texte, Vorträge oder Interviewsvon Chomsky, die dem Leser zusätzliche Er-kenntnisse vermitteln und in ihm oder ihr

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vielleicht Neugier auf die Quelle selbst er-wecken.Als wir Chomsky baten, unseren ersten Ent-wurf zu beurteilen, brachte er Bedenkengegen die vorgesehene Darstellungsforman. Obgleich doch schon mehrere Vortrags-sammlungen, Interviews usw. von ihm ge-druckt vorlagen, bezweifelte er zu meinerÜberraschung, daß die Wiedergabe gespro-chener Rede einen Gedankengang ebensogut vermitteln könne wie schriftlich konzi-pierte Artikel oder Bücher. »Veröffentlichtwerden üblicherweise sehr sorgfältig formu-lierte Textversionen, und dies ist bei weitemvorzuziehen«, schrieb er uns. Beigefügt wa-ren acht eng getippte Seiten mit - durchauswertvollen - Verbesserungsvorschlägen fürdas Buch, von denen wir einige wörtlich ab-gedruckt haben.Natürlich sind Chomskys Schriften präziserund detaillierter als die improvisierte Rededies sein kann, aber sie sind gleichzeitigauch viel komplexer, voller Verweise, selbstgrammatisch sehr kompliziert aufgebaut,und sie setzen häufig ein umfangreichesVorwissen voraus. Chomsky kann seineIdeen einfach und dennoch mit beeindruk-kender Klarheit formulieren, so daß vieleMenschen gerade beim Nachlesen seinermündlichen Äußerungen Zugang zu sei-nem Denken gewinnen. Davon zeugt auchder Erfolg seiner bislang publizierten Vor-trags- und Interviewtexte. Ich meine, beideAusdrucksformen haben ihren eigenenWert und verstärken sich gegenseitig.Chomsky hatte auch ein ungutes Gefühlüber die »Personalisierung«, wie etwa dernachfolgend wiedergegebene Auszug auseinem Interview mit ihm zeigt. Hieraus er-wuchs den Filmemachern - also Peter Win-tonick und mir - ein Dilemma, vor dem wirdann auch bei dem Buch standen. Es er-schien uns unmöglich, in dem Film eineTrennlinie zwischen dem Menschen Chom-sky und seinen Ideen einerseits und seinerpersönlichen Lebensgeschichte, aus der

sich diese Ideen herausbildeten, anderer-seits zu ziehen. Wir wollten das auch garnicht. Unser Kriterium war stets: Ist ein bio-graphisches Ereignis von Belang für Chom-skys politischen Werdegang?Wir suchten eine Lösung für dieses Problemvermittels des selbstreferentiellen Stils desFilms - wozu auch Chomskys eigene Vor-behalte, die Irrelevanz des Persönlichenbetreffend, zählen. Als er 1970 im nieder-ländischen Fernsehen auftrat, erklärte er, ersei »eigentlich ein Gegner dieses Hochstili-sierens von Menschen in der Öffentlichkeit,die dann geradezu wie Stars behandelt wer-den und deren rein persönliche Züge mitBedeutungen befrachtet werden.« Anderer-seits zeigt der Film, daß ein Vortrag vor Mas-senpublikum das Persönliche nicht unab-dingbar ausschließen muß. Wie ernst je-mand seine Werte nimmt, zeigt sich in sei-nen Taten, und im Falle Chomskys kannman aus seinem Vorbild sehr viel lernen.Und deshalb haben wir sein Handeln in denFilm, und also in das Buch, übernommen.Seine persönlichen Erlebnisse sind bedeut-sam - nicht weil es seine sind, sondern weilwir sie sozusagen metaphorisch auf unsereeigenen Erfahrungen übertragen können.Der Film untersucht nicht nur ChomskysÜberlegungen die Medien betreffend, son-dern auch sein Verhältnis zu ihnen, wobeisich zwischen den USA und dem Auslandgroße Unterschiede zeigen. Man kann inseinen Erfahrungen eine Fallstudie dafürerblicken, wie in einer Gesellschaft die Me-dien mit abweichenden Stimmen umgehen.Auch wenn wir ihn nicht gewählt haben, sospricht er doch für die vielen unter uns, diedas Gefühl nicht loswerden: Wenn nichteinmal er sich Gehör verschaffen kann, wiesoll es dann uns gelingen?Der Film nutzt mehrere simultane Kom-munikationskanäle. Die verschiedenen op-tischen, akustischen und musikalischenTricks und Techniken sollen dem Betrach-ter die gerade stattfindende Manipulation

bewußt machen, einschließlich einer Perso-nalisierung, die die Konventionen der kom-merziellen Medien und der herkömm-lichen Dokumentarfilme ironisch verletzt.Chomsky nimmt in seinen Schriften gele-gentlich sarkastisch den Tonfall seiner Geg-ner an; wir haben versucht, es ihm in dervielschichtigen Sprache des Films gleich-zutun. Wer den Film schon kennt, sollte sichdessen bewußt sein - und die anderen soll-ten nach Mitteln und Wegen suchen, ihnanzusehen.Mark Achbar

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Eleanor LevineWie Sie sagten, haben Sie sich diesen Doku-mentarfilm über Sie, mit dem Titel Manu-facturing Consent, nicht angesehen. Warumnicht? Wollen Sie das noch nachholen?

ChomskyIch habe ihn nicht gesehen, und ich will'sauch nicht. Dafür gibt es mehrere Gründe,auch persönliche. Ich mag mich einfachnicht selbst hören oder sehen, weil ich dannsofort darüber nachsinne, was ich alles hätteanders machen sollen. Aber es gibt auchnoch tieferliegende Gründe. Ich habe diegrößten Probleme, mit dem ganzen Projektzurechtzukommen. Nehmen wir nur dieseSache mit der Personalisierung von Sach-fragen. Ich weiß, sie haben sich viel Mühegegeben; und doch hinterläßt der Film die-sen Eindruck - die Rezensionen haben esmir gezeigt. Das ist aber genau die falscheZielrichtung.Schon dieser Filmtitel - Manufacturing Con-sent. Er ist dem Titel eines Buches entlehnt,das Edward Herman und ich geschriebenhaben. Wenn Sie das Buch nun in die Handnehmen, dann werden Sie sehen, daß seinName an erster Stelle genannt ist. Daraufhatte ich ausdrücklich bestanden. Wirgeben sonst bei unseren gemeinsamenBüchern unsere Namen in alphabetischerFolge an, und da kommt meiner mit C vorseinem mit H. Aber in diesem speziellenFall wollte ich seinen Namen vorn sehen,ganz einfach deshalb, weil das Buch über-wiegend von ihm stammt. Ja, und was nunüber den Film geschrieben wird, beziehtsich auch zum größten Teil auf sein Werk.Hier steckt schon der Haken: Wir habenalles in Kooperation geschaffen, und dasollte man nichts personalisieren und miteinem Einzelnen verbinden.Warum nun der Film überhaupt - na ja, ichvermute es mal, ich hab' ihn ja nicht gese-hen ... also ich hielt damals an verschiede-nen Orten Vorträge. Aber warum tue ichdas? Weil überall im Land, ja überall auf derWelt viele, viele Menschen sich jeden Tagdamit abmühen, sich weiterzubilden, sichzu engagieren, Basisstrukturen aufzubauen.Sie sind es, die etwas bewirken. Sie brau-chen aber eine Stimme, die für sie spricht,

und diese Aufgabe übernehme ich gern.Gut, mir macht's Spaß und für sie ist es auchnicht schlecht. Aber sie stehen an der Front,sie tun die Arbeit, nicht ich. Bloß, der Filmhinterläßt so einen Eindruck - wissen Sie,ich erhalte dann so Briefe von Leuten, diemich fragen: Wie kann ich Ihrer Bewegungbeitreten? Ich weiß ja, die Filmemacherwollten diesen Eindruck nicht vermitteln,aber irgendwie ergibt sich das automatischaus dem Medium. (...)Wenn nun aber der Eindruck entsteht, esgäbe da einen Anführer oder Sprecher odersonst jemanden, der die Sache organisiertund vorantreibt, dann ist das die absolut fal-sche Botschaft. Man glaubt zu hören: Folgteurem Führer. Was man wirklich verneh-men sollte, ist: Nehmt euer Leben selbst indie Hand.Movie Guide, 16.04.1993

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DER PROJEKTABLAUF

Zu Beginn des Films äußert Chomsky dieVermutung, wir müßten wohl »500 StundenFilm« aufgenommen haben, bis Manufactu-ring Consent endlich fertig war. Was ihm wie500 Stunden voller Lampen, Kameras undMikrofonen erschien, waren etwa 120 Stun-den Film. Wir verwendeten überwiegenddas 16-mm-Format, aber da unsere ästheti-sche Medienregel lautete: Schieß mit allein,was du gerade zur Hand hast, machten wirauch Aufnahmen mit Betacam, 3/4", 1/2"und 8mm Videoband. Einmal verwertetenwir sogar eine Kassette aus einer Überwa-chungskamera. Etwa ein Drittel der 120Stunden sind Archivbild- und Tondoku-mente aus ca. 185 verschiedenen Quellen.Die ersten Aufnahmen den Film entstandenam 25. September 1987 vor der Convoca-tion Hall der Universität Toronto, in derChomsky einen Vortrag halten sollte. Es gabdort eine Gegendemonstration von Vietna-mesen, die Band 1 des Buches von Chomskyund Herman aus Protest verbrannten - einflammendes Zeugnis für die Durchschlags-kraft dieses Werkes und für die Mittel, zudenen manche Leute greifen, um es zu un-terdrücken. Unsere Kameras haben dannChomskys Vorträge, Diskussionen und Be-gegnungen mit Medienvertretern vier Jahrelang begleitet. Ich sage ausdrücklich »un-sere Kameras« und nicht »wir«, denn es kamvor, daß sie die Reise ohne uns machten. Sowaren wir beispielsweise nicht in Japan, alsChomsky dort den angesehenen Kyoto-Preis verliehen bekam. Der Verzicht fiel unsschwer, aber wir konnten uns den Trip nichtleisten und mußten am Ende eine Truppevor Ort per Fax dirigieren. In einem ande-ren Fall erhielten Freunde aus Washington,die über Videotechnik verfügten, die Mög-lichkeit, die Amtseinführung von GeorgeBush aus erster Hand einzulangen und unsdie Aufnahmen dann zukommen zu lassen.

Aber wir kamen doch ziemlich viel herum inunserem Bemühen, mit Chomskys aufrei-benden Terminverpflichtungen einiger-maßen Schritt zu halten; wir besuchten 23Städte in 7 Ländern. Wir brachten ihnschließlich so weit, daß er, sobald unseresurrenden Kameras ihn einmal nicht aufirgendeinem Flughafen begrüßten, sich amfalschen Ort wähnte. Alles in allem benötig-ten wir fünf Jahre für den Film. Die Listederer, denen wir Dank schulden, umfaßtmehr als 300 Personen und Organisationen.Sehr bald verwarfen wir den Gedanken, dieZuschauer durch einen Kommentator andie Hand nehmen zu lassen. Chomsky, someinten wir, könne für sich selbst sprechen,und indem wir ihn seine Argumente in sei-nen eigenen Worten vortragen ließen, wür-de die Subjektivität des Films stärker her-vortreten. Ein Extrakt aus Interviews, Vor-trägen und Medienbegegnungen bildet dastheoretische und informatorische Rückgratdes Films und dient als auditives Sprung-brett zu visuellen Expeditionen in die Me-dien und ihre Mechanismen. Fragen, dieChomsky von Interviewern oder aus demPublikum gestellt wurden, setzten wir ein,um die Wendungen des Films zu neuenThemenkreisen einzuleiten. Einige State-ments stammen von anderen Aktivisten so-wie von Kritikern und Kommentatoren.Bei der Vorbereitung wie auch bei der Rea-lisierung von Manufacturing Consent streb-ten wir ein demokratisches Vorgehen unterEinbezug anderer Beteiligter an. Schnittund Montage waren mit zahlreichen Probe-vorführungen vor Publikum verbunden, sodaß nicht weniger als 600 Menschen dazubeitrugen, dem Film seine endgültige Formzu verleihen. Jeder von ihnen konnte sichdadurch motiviert fühlen, daß es auch aufseine Meinung ankommen würde.Obgleich das Material einen Zeitraum von25 Jahren abdeckt, brauchten wir es nicht inzeitlicher Folge anzuordnen - dank Chom-skys konsistenter Gedankenweh und Vor-

tragstechnik. So ließen wir uns weniger vonvisueller Kontinuität leiten als vielmehr vonIdeenlinien, Themen, Übergängen sowievom Gefühls- und Erzählzusammenhangbei der Verknüpfung einzelner Szenen.Menschen können Informationen am be-sten aufnehmen, wenn sie ihnen durch un-terschiedliche Kanäle angeboten werden:durch das Auge, das Ohr, durch Texte, Be-richte, metaphorisches Material usw. DurchSynthese vieler verschiedener Filmstile ver-suchten wir, dem Film eine Wirkung auf alldiesen Ebenen zu verschaffen, dabei aberstets einen gewissen humoristischen Geistdurchscheinen zu lassen.Manufacturing Consent ist ein selbstreflek-tierender Film über die Medienwelt, der dasBewußtsein, hier finde eine nur indirekteVermittlung statt, durch den Einsatz di-verser audiovisueller Techniken verstärkenmöchte. Dabei brachten wir nicht nur dastechnische Personal und die Ausrüstung insBild, sondern wir verwendeten auch Anima-tion, Dramatisierung und Kontextverschie-bung. Einige Szenen projizieren wir aufdem riesigen Schirm einer scheinbar einemScience Fiction-Alptraum entstammendenMedien»landschaft«, auf dem normalerwei-se radikale Experimentalfilme vor dem Hin-tergrund eines hypermodernen Einkaufspa-radieses laufen. Dieser Schirm, »die größtefest in einem Einkaufszentrum installierteVideowand«, dient uns als Elektronenge-hirn, das den Ablauf des Films steuert.WasChomsky explizit in Worte faßt - die Frage,wie Menschen mit unkonventionellenIdeen ankommen oder wie sie marginali-siert werden - versuchen wir zu vermitteln,indem wir ihn im Kontext einer ungewöhn-lichen Umgebung auftreten lassen.Durch die Perspektive des Mediums imMedium suchen wir die Prozesse der me-dialen Konstruktion sichtbar zu machen,immer in der Hoffnung, beim Betrachterden Sinn für das kritische Engagement zuschärfen.

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TEIL 1

Denkverbotein der

demokratischenGesellschaft

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Die den Menschendie Augen ausstachen

zeihen sie jetztder Blindheit

John Milton (1642)

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ERIN MILLS TOWN CENTRE,ERIN MILLS, ONTARIO, KANADA

Kelvin FlookDrei - zwei - eins: Die zweite. GutenMorgen. Willkommen im Erin MillsTown Centre, dem Haus mit der welt-weit größten, fest in einem Einkaufs-

zentrum installierten Videowand. MeinName ist Kelvin Flook und ich werdeheute den ganzen Tag lang Ihr Gast-geber hier auf EMTV sein. Ganz beson-ders herzlich begrüßen möchte ich beidieser Gelegenheit das Aufnahmeteamvon »Necessary Illusions«. Wir habenheute eine erstklassige Folge von Fern-sehprogrammen für Sie vorbereitet, alsosteigen wir gleich mal ein.

Kelvin Flook ist Schauspieler und Modera-tor bei Erin Mills Television (EMTV), einernonstop laufenden Videoinstallation aus264 Bildschirmen. Diese bedeckt 4 Wändeund ist das Herz des Einkaufszentrums»Erin Mills Town Centre« westlich vonToronto. Wenn Flook nicht gerade Aus-schnitte aus Manufacturing Consent abspielt,bringt er gewöhnlich Werbespots fürGeschäfte im Einkaufszentrum, Sportbe-richte, am Ort aufgenommene Modeschau-en, samstags vormittags auch Zeichentrick-filme für die Kleinen, um sie während derEinkäufe ihrer Eltern zu beschäftigen.

NECESSARY ILLUSIONS

Mark Achbar und Peter Wintonick warenzusammengenommen schon mehr als drei-ßig Jahre als Medienproduzenten tätig ge-wesen, als sie sich 1985 kennenlernten undihre geistige Übereinstimmung konstatier-ten, vor allem in ihrer Sorge über Militaris-mus und Umweltzerstörung sowie über dieRolle der großen Medien bei der Aufrecht-erhaltung der einschlägigen Mythen. Da sieeinen Bedarf an Alternativmedien zur Ver-besserung dieser Situation erkannten, grün-deten sie eine Organisation, deren Zielesich aus dieser Sorge ableiteten. Im Jahre1989 stieß Francis Miquet dazu.

ZIELE

• In der Öffentlichkeit den kritischen Sinnfür die Macht und die Rolle der großenMedien und ein Gefühl für die Möglich-keiten alternativer Medien, dem entgegen-zuwirken, entwickeln.

• Freie und kreative Ausdrucksmöglichkei-ten auf allen Medientypen fördern undsichern.

• Einzelpersonen und Gruppen bei der Her-stellung von Medienprodukten zur Förde-rung des gesellschaftlichen Fortschrittsunterstützen.

• Strategien zur Vermehrung unabhängigerProduktionen entwickeln und anwenden.

• Durch neuartige alternative Verbreitungs-und Vorführmethoden neue Hörer- bzw.Zuschauerschichten erschließen.

• In der eigenen Tätigkeit einen demokrati-schen, kooperativen, egalitären und hier-archiefreien Arbeitsprozeß entwickeln.

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VIDEOWAND DES EINKAUFS-ZENTRUMS

Marci Randall Miller interviewt NoamChomsky im Radiosender KUWR, Laramie,Wyoming, USA

Marci Randall MillerWie lange haben die beiden eigentlichan diesem Dokumentarfilm gearbeitet?

ChomskyOh Gott, wie lange die daran gearbeitethaben - also ich weiß es nicht, aberwenn ich irgendwo hinkomme, sind sieimmer schon da.

Marci Randall MillerSie sind mit dabei, oder wie?

ChomskySie waren in England, sie waren inJapan - wirklich überall. Sie müssenwohl mittlerweile 500 Stunden Filmhaben.

Marci Randall MillerWow! Wetten daß sie am Ende miteinem echten Knaller herauskommen?

ChomskyIch kann mir nicht vorstellen, werjemanden eine Stunde lang redenhören möchte, aber ich denke, diewerden schon wissen, was sie tun.

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VOR DEM WEISSEN HAUS,WASHINGTON

Peter Wintonick geht mit einem riesigen Stiel-mikrofon auf eine Gruppe von Schülern zu

Peter WintonickNa, wo kommt ihr denn her?

Die SchülerFlorida.

Peter WintonickFlorida?

Die SchülerJa, von der Golfküste.

Peter WintonickIhr redet ja wie im Chor.

Die Schüler(Kichern)

Peter WintonickWir drehen hier einen Film über NoamChomsky. Weiß irgend jemand, werNoam Chomsky ist?

Die SchülerNeee ...

Groß ist die Zahl der Autoren, die sich fra-gen, ob irgendjemand zur Kenntnis nimmt,was sie schreiben.Dieses Problem hat Professor Noam Chom-sky, die führende linguistische Autorität desMIT, nicht. Aus einer kürzlich durchgeführ-ten Auswertung von drei verschiedenen Zi-tat-Indices ergab sich, daß Professor Chom-sky in den Veröffentlichungen der letzten20 fahre zu den am häufigsten zitierten Per-sonen gehört.Im Arts and Humanities Citation Index ist ermit seinen 3874 Zitaten zwischen 1980 und1992 der meistzitierte lebende Autor undsteht insgesamt an achter Stelle, direkt hin-ter dem berühmten Psychologen SigmundFreud und noch vor dem Philosophen Ge-org Wilhelm Friedrich Hegel.Er befindet sich dort wirklich in bester Ge-sellschaft. Die zehn im genannten Zeitraummeistzitierten Autoren waren: Marx, Lenin,Shakespeare, Aristoteles, die Bibel, Platon,Freud, Chomsky, Hegel, Cicero.Und das ist noch nicht alles. Im Social ScienceCitation Index der Jahre 1972-1992 wird Pro-fessor Chomsky 7449 mal zitiert - auch hierwahrscheinlich der meistzitierte Lebende,allerdings ist diese Auswertung noch nichtabgeschlossen. [Theresa Tobin hat die Sta-tistiken für 40 der wichtigsten Autoren inden Sozialwissenschaften ausgewertet, siekönnte aber nach eigener Aussage noch je-manden übersehen haben. Bislang hat aberniemand ihr Ergebnis korrigiert]. Außer-dem weist er im Science Index der Jahre 1974-1992 insgesamt 1619 Zitate auf.

»Das bedeutet, quer über die Fachgebietewird er sehr stark gelesen und werden seineArbeiten in den Forschungen verwendet,«resümiert Theresa A. Tobin, Bibliothekarinim Humanities-Bereich, die die Zahlen er-mittelt hat, und fügt hinzu: »Man konntefast meinen, niemand könne einen Fach-aufsatz schreiben, ohne Noam Chomsky zuzitieren.«Aus Tech Talk, Bd. 36, Nr.27, MIT,15.04.1992

Im Eingangsraum seines Büros hat Chom-sky ein Poster von Bertrand Russell aufge-hängt, das ein Zitat trägt: »Mein Leben wur-de von drei ganz einfachen, aber unbe-zähmbaren Leidenschaften beherrscht: Vondem Verlangen nach Liebe, der Suche nachWissen und einem unerträglich starken Mit-gefühl mit der leidenden Menschheit.«

Nach Aussage seiner Sekretärin hat Chom-sky bis zum Jahre 1993 insgesamt 72 Büchergeschrieben. Die letzte Auflage seiner Bi-bliographie (die dritte, die gebunden er-schienen ist) enthält über 700 Eintragungen.Etwas mehr als die Hälfte behandeln poli-tische Themen.Noam Chomsky, A Personal Bibliography 1951-1986, zusammengestellt von E. F. KonradKoerner und Matsuji Tajima unter Mitarbeitvon Carlos P. Otero (John Benjamins, 1986)

Ich bezweifle, daß sie [die Zitatindizes] auch nur annähernd stimmen können. Und falls sie stimmen,wären sie ohne Bedeutung (Man stelle sich vor, was es bedeutet, daß Marx, Lenin, Mao und Castro inZitatindizes der westlichen Literatur hohe Ränge einnehmen). Und falb sie stimmen und etwas aussa-gen, dann wären sie für jedes hier behandelte Thema irrelevant. Nehmen wir eine wirklich wichtige Per-sönlichkeit des 20. Jahrhunderts: Bertrand Russell, der sicher zu den Meistzitierten gehören müßte, wenndiese Ränge etwas aussagten. Sind seine Ansichten über die nukleare Abrüstung nur dann wichtig, wenner oben rangiert? Hier werden genau die falschen Schlußfolgerungen suggeriert. — NC

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RADIO KUWR, LARAMIE,WYOMING, USA

Marci Randall MillerGuten Tag allerseits und willkommenbei «Wyoming Talk». Unser heutigerGast ist der bekannte IntellektuelleNoam Chomsky, den ich hiermit beiuns begrüße.

ChomskyIch freue mich, hier zu sein.

Marci Randall MillerIch glaube, Sie sind vor allem nachWyoming gekommen, um über »Denk-verbote in einer demokratischen Gesell-schaft« zu diskutieren. Nehmen wir malan, ich bin Lieschen Müller und sage:»Also, wir haben doch eine demokrati-sche Gesellschaft, was meinen Sie dennmit Kontrolle, mit. >Denkverboten<? Ichbilde mir meine Meinung doch selbst.Ich entscheide doch über mein eigenesSchicksal.« Was würden Sie antworten?

ChomskyJa nun, ich würde ihr raten, sich dochmal genauer anzuschauen, wie dieMedien arbeiten, wie die PR-Branchearbeitet, daß man schon seit einer Ewig-keit darüber nachsinnt, wie sich diedemokratische Öffentlichkeit an denRand drängen und unter Kontrollehalten läßt. Aber vor allem sollte siedarauf achten, was schon alles an Bele-gen darüber vorliegt, wie die großenMedien die die nationalen Themenbestimmen - also die überregionalePresse, das Fernsehen usw. - wie die alsobestimmen, welche Meinungen geäu-ßert werden, welche Informationen andie Öffentlichkeit kommen, welcherQuellen sie sich bedienen, usw. WennLieschen das tut, dann wird sie in Bezugauf unser demokratisches System einigeÜberraschungen erleben.

Die Public-Relations-Branche setzt gewal-tige Geldmittel ein, um »dem amerikani-schen Volk die wirtschaftlichen facts of lifebeizubringen« und so ein für die Geschäfts-welt günstiges Klima zu schaffen. Ihr obliegtes, das »allgemeine Denken« zu steuern, die»einzige ernsthafte Gefahr, der sich unser,Unternehmen gegenübersieht«, wie es be-reits vor 80 Jahren ein AT&T-Manager for-mulierte.Necessary Illusions S. 16. Siehe auch den Hin-weis auf The Clinton Vision auf S. 162 diesesBuches.

Eine Studie der Trilateral Commission überdie »Regierbarkeit der Demokratien« von1975 kommt zu dem Ergebnis, daß dieMedien zu einer »nicht unwichtigen neuenMachtquelle« geworden sind, was auch ei-nen »Überschuß an Demokratie« bedeutet,der im Inland »die Autorität der Regierungbeeinträchtigt« und folglich »im Auslandden Einfluß der Demokratie sinken läßt«.Nach Ansicht der Kommission rührt dieseallgemeine »Demokratiekrise« daher, daßbislang marginalisierte Bevölkerungsschich-ten sich organisieren und ihre Forderungenenergischer vorbringen und daß die ent-sprechende Überlastung des Demokratie-prozesses dessen Funktionieren gefährdet.Die Studie spricht sich daher für mehr»Mäßigung in der Demokratie« aus, um denDemokratieüberschuß abzubauen und sodie Krise zu meistern.Die obigen Zitate stammen aus The Crisis ofDemocracy: Report on the Governability ofDemocracies to the Trilateral Commission, vonM. P. Crozier, S. J. Huntington und J. Wata-nuki (New York Unversity 1975); NecessaryIllusions S. 2-3.

HINWEIS: Zur Vermeidung von Wiederholungen sind alle bibliographischen Daten überdie von Noam Chomsky und Edward S. Herman verfaßten Bücher nur in der Literatur-übersicht aufgeführt.

Die Trilateral Commission wurde 1973 einge-setzt und erhielt die Aufgabe,1) die Zusammenarbeit zwischen Nordame-

rika, Westeuropa und Japan (also densogenannten höchstentwickelten Regio-nen) durch den Kontakt zwischen promi-nenten Privatpersonen zu fördern;

2) für ihre Mitgliedsländer eine Innen- undAußenpolitik zu entwickeln;

3) »das internationale System zu erneuern«,um die nach dem Zweiten Weltkrieg ent-standene globale Machtstruktur gerech-ter zu machen.

Den Anstoß zur Bildung der Kommissionlieferte David Rockefeller, der damit dieHoffnung verband, in ihr würden »die größ-ten Geister der Menschheit sich den Proble-men der Zukunft zuwenden«. Die Kommis-sion umfaßte ursprünglich 180 Mitglieder,war aber bis 1980 bereits auf 300 Köpfeangewachsen.

Quelle: Trilateralism; The Trilateral Commis-sion and Elite Planning for World Management,Hrsg. Holly Sklar (Black Rose Books 1980)

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MALASPINA COLLEGE, NANAIMO,BRITISH COLUMBIA, KANADA

Gary Bauslaugh(Studienleiter des Malaspina College)

Ich begrüße euch alle zu unserer heuti-gen Vortragsveranstaltung. Vor einigenJahren schrieb die New York Times BookReview über Professor Chomsky:»Gemessen an der Kraft, der Spann-weite, der Originalität und dem Einflußseiner Gedanken könnte man NoamChomsky als den bedeutendsten Intel-lektuellen der Gegenwart bezeichnen.«Professor Noam Chomsky bitte.

ChomskyIch kann zwar nur eine schwarze Wandsehen, aber ich denke doch, daß dahin-ter einige Leute sitzen. Ich kann euchleider nicht in die Augen sehen, ichsehe euch halt nicht, bloß etwas Schwar-zes. Vielleicht sollte ich zuerst mal etwasklarstellen, was man nie liest: Diese Pas-sage über «der Welt bedeutendstenIntellektuellen» usw. stammt aus einemKlappentext eines meiner Verlage. Manmuß bei solchen Sachen auch immerganz genau hinsehen (Gelächter), dennwenn man die betreffende Stelle malnachliest, dann findet man zwar diesenSatz tatsächlich in der New York Times,aber es geht dann weiter: «Wenn dasstimmt, wie kann er dann so schlimmeSachen über die amerikanische Außen-politik schreiben?» - und dieser Satzwird nie zitiert. Wenn es allerdings die-sen zweiten Satz nicht gäbe, müßte ichmich fragen, ob ich irgend etwas falschmache. Das ist kein Witz. Es stimmtschon, daß der Kaiser keine Kleideranhat, nur mag der Kaiser das über-haupt nicht gern hören, und seineSchoßhunde, z. B. die New York Times,finden es auch nicht so gut, wenn manden Mund aufmacht.

»Gemessen an der Kraft, der Spannweite, derInnovation und dem Einfluß seiner Gedankenkönnte man Noam Chomsky als den bedeu-tendsten Intellektuellen der Gegenwartbezeichnen. Er ist allerdings auch ein unan-genehm zwiespältiger Intellektueller. Auf dereinen Seite findet sich ein umfangreichesOpus voller umwälzend neuer und extremspezialisierter linguistischer Erkenntnisse,wovon vieles nur dem professionellen Lingui-sten oder Philosophen zugänglich ist; auf deranderen Seite steht eine ebenso reichhaltigeSammlung politischer Schriften, die vonjedem, der des Lesens mächtig ist, verstandenwerden können, aber oftmals ärgerliche Ver-einfachungen bieten. Das >Chomsky-Problem<besteht darin, zu erklären, wie diese beidenBereiche zueinander passen.«The New York Times Book Review, 25.02.1979

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AUS »A WORLD OF IDEAS«, PBS TV,USA (1988)

Bill MoyersGuten Abend. Ich bin Bill Moyers. Wasist gefährlicher - der dicke Knüppeloder die dicke Lüge? Beide sind schonvon der einen oder anderen Regierunggegen das eigene Volk eingesetzt wor-den. Heute abend will ich mich miteinem Mann unterhalten, der darübernachgedacht hat, wie man die Entste-hung der Lüge verfolgen kann. In sei-nen Augen ist die Propaganda in einerDemokratie das, was in einer Diktaturdie Gewalt ist. Aber er hat den Glaubenan die Kraft des gemeinen Volkes, fürdie Wahrheit einzutreten, noch nichtverloren.Sie haben gesagt, wir seien in einemSpinnennetz unablässiger Täuschunggefangen und lebten in einer indoktri-nierten Gesellschaft, in der die elemen-tarsten Wahrheiten problemlos unterden Teppich gekehrt werden können.Was wären denn zum Beispiel solcheelementaren Wahrheiten?

ChomskyNun, zum Beispiel die Tatsache, daß wirin Südvietnam eingefallen sind. Oderdie Tatsache, daß wir es sind, die Fort-schritte in der Abrüstung verhindernoder jedenfalls jahrelang verhinderthaben. Oder die Tatsache, daß unserMilitär - also nicht ausschließlich, aberdoch weitgehend - einen Mechanismusdarstellt, durch den die Allgemeinheitunfreiwillig die Hochtechnologiebran-che subventioniert. Wenn man die Men-schen direkt darum bitten würde, wür-den sie es ablehnen; also muß man siedurch Täuschung dazu bringen. Es gibtnoch viele derartige Wahrheiten, aberwir machen sie uns nicht klar.

Die Frage nach der Legitimität der amerika-nischen Intervention ist zum einen einegrundsätzliche Frage, zum andern betrifftsie den Charakter des amerikanischen Krie-ges. Im Grundsatz erscheint es mir völligklar, daß wir weder das Recht noch dieFähigkeit besitzen, uns mit militärischenMitteln in die inneren AngelegenheitenIndochinas einzumischen. Dieser Grund-satz hat sogar Gesetzeskraft. Das »obersteGesetz des Landes« (in diesem Fall reprä-sentiert durch die Charta der VereintenNationen, also einen gültigen Vertrag) läßtin dieser Hinsicht keine Zweideutigkeitenzu. Es legt fest, daß eine gewaltsame Inter-vention nur mit Zustimmung des Sicher-heitsrats oder in »kollektiver Selbstverteidi-gung« gegen einen bewaffneten Angriffzulässig ist.Wer also argumentiert, daß die amerikani-sche Intervention nicht im technischenSinne kriminell ist, muß beweisen, daß wirin einer kollektiven Selbstverteidigung Süd-vietnams gegen einen bewaffneten Angriffaus dem Norden agieren. Nun zeigen aberdie Akten eindeutig, daß die amerikanischeIntervention zeitlich lange vor jeglicher Ein-mischung Nordvietnams erfolgte und stetsein weit größeres Ausmaß als diese hatte,wie sogar das Pentagon zugibt (...)Es gibt zahlreiche Dokumente, die unbe-stritten und meines Erachtens schlagendbelegen, daß die USA hier nicht etwa in kol-lektiver Selbstverteidigung gegen einen be-waffneten Angriff handeln, sondern daß sieAnfang 1965 ihre schon länger andauerndegewaltsame Intervention in Vietnam zu ei-ner regelrechten Invasion Südvietnams aus-weiteten; der Grund war der Sieg der Natio-nalen Befreiungsfront im internen Bürger-krieg, errungen trotz kräftiger (illegaler)direkter amerikanischer Einmischung.Die Fürsprecher der amerikanischen Politikbringen häufig vor, juristische Fragen seienzu komplex für Laien und sollten besserden Experten überlassen bleiben. Wer je-

doch hier die Argumente pro und contragenau studiert, findet nur wenige Divergen-zen juristischer Art. Was zur Debatte steht,sind historische Fakten, insbesondere dieFrage: Stehen die USA in kollektiver Selbst-verteidigung gegen einen bewaffneten An-griff Nordvietnams? In dieser Sache kannsich auch der Laie ein Urteil bilden, undkein verantwortungsbewußter Bürger wirddavor zurückscheuen, nur weil irgend je-mand befürchtet, die Angelegenheit sei fürsein Verständnis zu esoterisch. Es sind genü-gend Dokumente verfügbar, die - wie ichglaube - klarmachen, daß der amerikani-sche Krieg auch im streng technischen Sin-ne ein Verbrechen ist.Aus Chomskys Essay On the Limits of Civil Dis-obedience, enthalten in der EssaysammlungThe Berrigans, Hrsg. William Van Etten Ca-sey SJ und Philip Nobile, S. 39-41 (AvonBooks 1971) (siehe hier Seite 152)

Das Militär der USA ist im wesentlichen einvon der Regierung garantierter Absatz-markt für Hochtechnologieprodukte (...)Es ist kein konservatives Programm, ganz imGegenteil. Reagans Programm bestand dar-in, den Staatsanteil am staatskapitalistischenSystem mit klassischen Mitteln auszuweiten(...) Praktisch bedeutet dies, daß durch In-terventionen der Regierung die Nachfragenach Waffen und Hochtechnologie steigt,wodurch ein Schub ausgelöst wird (...)Wirtschaftlich gesehen ist dies eine äußerstschädliches Verfahren; zwar wird die Pro-duktion angeregt, aber um den Preis einergroßen Verschwendung. Also müssen wirdafür sorgen, daß auch unsere Konkurren-ten ihre Wirtschaft etwa ebenso stark schädi-gen wie wir unsere, denn andernfalls würdees schwierig für uns (...) Japan ist so einRivale, Europa gleichfalls. Wir können nichtzulassen, weiterhin diese Art von kostspieli-ger Ankurbelung der Wirtschaft zu betrei-ben, wenn wir gleichzeitig im Welthandel

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Bill MoyersGlauben Sie an die Vernunft der Men-schen? Ich meine damit, sind Sie ein ...

ChomskyAber klar glaube ich an die CartesischeVernunft. Ich glaube, daß die Menschendie Fähigkeit besitzen, den sie umge-benden Betrug zu durchschauen, abersie müssen sich schon darum bemühen.

Bill MoyersEs scheint irgendwie nicht zusammen-zupassen, wenn man einen Mann ausdem Elfenbeinturm des MIT, einenGelehrten, einen angesehenen Lingui-sten, so verständnisvoll über dasgemeine Volk reden hört.

ChomskyIch meine aber, daß die Wissenschaft -jedenfalls auf meinem Gebiet - geradezu den entgegengesetzten Schlußfolge-rungen führt. Aus meinen eigenen For-schungen über die Sprache und diemenschliche Erkenntnisfähigkeit ergibtsich als allererstes, daß die einfachenMenschen über eine beachtliche Kreati-vität verfügen. Allein daß die Menschenmiteinander sprechen können - ganzalltäglich, nichts irgendwie Komplizier-tes - deutet auf sehr tiefliegende krea-tive Züge im Menschen hin, die ihn vorallen anderen, uns bekannten biologi-schen Systemen auszeichnen.

konkurrenzfähig sein wollen (...) Wir stek-ken unsere Ressourcen in die Waffenpro-duktion, und diese Ressourcen fehlen dannbei den Dingen, die man verkaufen kannund mit denen Konsumnachfrage befrie-digt werden kann (...) Wenn unsere Inge-niere an einer neuen Technik arbeiten, umeine Rakete 3 Millimeter näher ans Ziel zubringen, und gleichzeitig die japanischenIngenieure an besseren Kleincomputernund ähnlichen Sachen arbeiten, dann kön-nen Sie sich ja denken, wie das ausgeht (...)Das japanische System ist auf den kommer-ziellen Markt ausgerichtet (...) Unser Sy-stem hingegen arbeitet ganz anders, es ist jadas Pentagon-System. Einen kommerziellenNutzen hat es bestenfalls zufällig (...) Ent-scheidend ist, daß es hier überhaupt nichtum eine militärische Bedrohung geht - inkeiner Weise.Aus einem Interview mit Stephen W. Whiteund Elaine Smoot in National Forum, nach-gedruckt in Language and Politics S. 350-353.Siehe auch Deterring Democracy S. 91

Nach Angaben der Produzentin, Gail Pel-lett, liefen nach der ersten Ausstrahlung die-ses Interviews mehr Bitten um den gedruck-ten Text ein als bei jeder anderen der über50 Folgen der Serie »A World of Ideas«.

Als mir das US-Fernsehen einmal wirklich etwasZeit zum Reden ließ (in der Hill Moyers Show),gab es eine Flut von Zuschauerpost, an die 1000Briefe, wie es hieß, jedenfalls wohl mehr als manirgendwann sonst bekommen hatte. Von Freun-den, die häufig in der Öffentlichkeit auftreten,höre ich dasselbe (vor allem von Alex Cockburnund Howard Zinn). Offensichtlich hungern dieMenschen geradezu nach allem, was von demimmer stärker doktrinär eingezwängten ideologi-schen Gerüst abweicht und die Fragen aufgreift,von denen sie sich wirklich betroffen fühlen, dieaber aus der öffentlichen Diskussion weitgehendausgeschlossen bleiben.Unglücklicherweise sind wir nur wenige, die dieseWünsche erfüllen können, und diese wenigen wer-den mit Einladungen überhäuft. Ich selbst kannnicht mal einen Bruchteil davon annehmen undbin gewöhnlich schon Jahre im voraus ausge-bucht. Die «Linksintellektuellen« (oder wie mansie bezeichnen soll) sind entweder in unverständ-liche postmoderne Exerzitien versponnen (meinerMeinung nach überwiegend unsinnige) oder siereden nur gegenseitig aufeinander ein. Und na-türlich steht der größte Teil der »Intellektuellenge-meinde« auf die eine oder andere Weise im Dien-ste der Macht. So ist hier eine gähnende Lückeaufgerissen, was sich meines Erachtens geradeheute besonders bemerkbar macht.Noam Chomsky am 09.12.92 in einem Briefan John Schoeffel

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AUS »THE JOURNAL«, CBC TV,KANADA (1975)

AnsagerHeute abend: Wissenschaftler sprechenzu Tieren - aber antworten die auch?»The Journal« mit Barbara Frum undMary Lou Findley.

Barbara Frum (Moderatorin)

Die Wissenschaft unternimmt ernsthafteVersuche, mit Tieren zu kommunizie-ren.

ReporterHier sehen Sie Nim Chimpsky. Nim, deretwas ironisch nach dem großen Lingui-sten Noam Chomsky benannt wurde,war in den siebziger Jahren die großeHoffnung der Tier-Kommunikatoren.Vier Jahre lang unterrichteten Petittound andere ihn in der Zeichensprache,doch am Ende kamen sie zu demSchluß, es hätte keinen Zweck. Nimkonnte zwar um Dinge bitten, aber daswar auch schon fast alles.

Laura Ann PetittoIch hätte mich ja liebend gern mit Nimunterhalten, um herauszufinden, wie erdie Welt sieht. Er hat es mir aber nichtverraten. Dabei haben wir ihm jedeMöglichkeit dazu gegeben.

Laura Ann Petitto ist Associate Professor ander McGill University in Montreal. Als siemit Nim zusammenzog, war sie 18; sie bliebdreieinhalb Jahre bei ihm. Das Projekt Nimwurde von der Regierung mit mehrerenMillionen Dollar gefördert.Nim stellte die Wissenschaftler vor eine Her-ausforderung: Einerseits verfügen Schim-pansen über beeindruckende kommunika-tive und kognitive Fähigkeiten. Andererseitsgelingt es ihnen nicht, bestimmte Schlüssel-funktionen der menschlichen Sprache zumeistern, selbst wenn man es ihnen ermög-licht, ihre Unfähigkeit zum Hervorbringenvon Sprachlauten zu umgehen - etwa in-dem man ihnen eine Art natürlicher Zei-chensprache beibringt. Petitto leitete ausdieser Unstimmigkeit die Hypothese ab, dieMenschen verfügten vielleicht über etwasBesonderes, und zwar zusätzlich zum Sprech-und Hörmechanismus an sich und zusätzlichzu unserer allgemeinen Fähigkeit zur kogni-tiven Symbolverarbeitung. Aufgrund derErkenntnisse, die sie an Nim gewonnenhatte, stellte Petitto die verbreiteten Hypo-thesen über den menschlichen Spracher-werb in Frage, vor allem die, nach denen immenschlichen Gehirn keine Veranlagungfür Sprache existieren sollte. Petitto ent-deckte, daß gehörlose Kleinstkinder, auf diemittels Zeichensprache »eingeredet« wird,mit ihren Händen »lallen« wie normalhörende Kinder dies während des Spra-cherwerbs verbal tun - eine überraschendeErkenntnis, ist doch das Steuerzentrum fürdie (zeichensprechenden) Hände in einemanderen Bereich des Gehirns lokalisiert alsdas Zentrum für die (verbal sprechende)Zunge. Weiterhin fand sie heraus, daß nor-mal hörende Kinder, die man im Alter zwi-schen 6 und 24 Monaten sowohl mit verba-ler als auch mit Zeichensprache konfron-tierte, keine Bevorzugung des Sprechenserkennen ließen, sondern beide Sprachfor-men so lernten, als ob sie zwei Sprachen par-allel lernten. Petitto zu der Studentenzei-

tung McGill News. »Warum zogen diese Kin-der, die sowohl der Zeichensprache als auchder Wortsprache ausgesetzt waren, nicht dieWortsprache vor? Das läßt darauf schließen,daß sie nicht nach der Sprache an sich such-ten, sondern nach der Struktur, die inner-halb der Sprache verschlüsselt war.« Petittosweitere Untersuchungen konzentriertensich darauf, die grundlegenden Gehirnme-chanismen sowie die Umweltfaktoren zuidentifizieren, durch die der Spracherwerbausgelöst wird. Kürzlich hat sie eine Theorieformuliert, derzufolge dem menschlichenGehirn ein biologischer »Strukturerken-nungsmechanismus« angeboren ist, wo-durch Kleinstkinder eher für bestimmteAspekte der Struktur natürlicher Sprachenempfänglich sind als für das verbale Spre-chen an sich. Nach dem Auslaufen des Pro-jekt Nim wurde Nim Chimpsky und drei sei-ner Brüder zu einer Primatenkolonie inNorman, Oklahoma, geschickt, wo er denRest seiner Erdentage verbringen sollte.Entgegen der Vereinbarung lieferte die Pri-matenkolonie die vier Schimpansen an dasKrebsforschungsinstitut in New York, woman sie für Tierversuche einsetzte. Petittound ihre Kollegen hatten keine Ahnungdavon, bis ihnen ein Journalist aus Normaneinen Tip gab. Sofort erwirkten sie eingerichtliches Verbot weiterer Versuche. Die-ses kam jedoch zu spät für Nims Brüder, diebereits zu krank waren und starben.Nim selbst fand eine neue Heimat bei Cle-veland Amory, einem Tierrechtler in Texas.Mehr über die Arbeit von Laura Ann Petittoin Science März 1991.

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AUS »THIRD EAR«, RADIO BBC-3,LONDON

Jonathan Steinberg (Historiker an derUniversität Cambridge)Noam Chomsky, Sprachtheoretiker undpolitischer Aktivist, hat eine ungewöhn-liche Karriere hinter sich. Ich kennenichts Vergleichbares in der jüngerenamerikanischen Geschichte, und wenigeBeispiele aus anderen Zeiten oder Län-dern. Er hat das Gebiet der Linguistikbuchstäblich umgepflügt Und gleich-zeitig ist er zu einem der konsequente-sten Kritiker der Machtpolitik in allihren proteusartigen Verkleidungengeworden. Es scheint, daß diese beidenKarrieren - die des Gelehrten und diedes Propagandisten - einander wechsel-seitig befördern. Im Jahre 1957 veröf-fentlichte er Syntactic Structures und initi-ierte damit das, was viele als die Chom-skysche Revolution der Linguistikbezeichnen. Gleich einem Kopernikusunserer Tage zeigte Chomsky eine radi-kal neue Sichtweise auf die Theorie derGrammatiken auf. Chomsky erarbeitetedie formalen Gesetze einer universellenGrammatik, aus denen die speziellenRegeln der lebenden und überhauptaller natürlichen Sprachen sich abgelei-tet haben. Dies führte ihn später zu derAuffassung, diese Systeme seien demMenschen angeboren und gehörten zuden charakteristischen Zügen seinerbiologischen Art; sie seien letztlich demmenschlichen Geist genetisch so einpro-grammiert wie eine Maschinenspracheeinem Computer.

Sprache - was ist das? Wie erlernen und wiebenutzen wir sie?Die herkömmliche Erklärung der Sprache,wie überhaupt allen menschlichen Wissens,wurde vor 300 Jahren von den Empiristenpräsentiert. Demnach entspringt alles Wis-sen der Erfahrung. Philosophen des 17. und18. Jahrhunderts haben es formuliert, etwaJohn Locke, der den Geist als ein »leeresZimmer« bezeichnete, oder David Hume,der mit Nachdruck feststellte, daß »alle Na-turgesetze und alle körperlichen Aktivitätenuns ausnahmslos nur durch Erfahrung zu-gänglich« seien. Mit dem Wort »Erfahrung«wollte er ausdrücken, daß unser gesamtesWissen uns nur durch unsere Sinne zu-wächst, also durch das, was wir hören, sehenoder berühren.Ein Kind - so würde ein Empirist sagen -lernt die Sprache wie eine Gewohnheit. Sei-ne Eltern wiederholen ein Wort wieder undwieder, und schließlich spricht das Kind esihnen nach. Ist die Nachahmung richtig,lächeln die Eltern; bei einem Fehler run-zeln sie die Stirn und sprechen den Satznoch einmal vor. Und so beginnt das Kindzu sprechen - sagen die Empiristen.Chomsky wendet sich leidenschaftlich ge-gen diese Ansicht: »Diese empiristischeSichtweise auf das menschliche Denken istbei uns so tief verwurzelt, daß sie geradezueinem Aberglauben gleicht.« In seinerTheorie geht er so weit, für jede der rund4000 bekannten Sprachen dieselben, gene-tisch determinierten Grundeigenschaftenzu postulieren; er nennt sie »invariante Ei-genschaften«, »linguistische Universalele-mente« oder »universelle Grammatik«. Siegelten für alte und neue Sprachen, unab-hängig von den Personen oder den Umstän-den des Sprachgebrauchs.Nach Chomskys Meinung »kennt« ein Kinddie Grundelemente der Sprache, bevor daserste Wort über seine Lippen kommt; mitHilfe dieser Grundstrukturen lernt es dieGrammatik seiner eigenen Sprache. Natür-

lich ist dem Kind nicht die Beherrschungeiner bestimmten Sprache angeboren. Esmuß zunächst sehr viel lernen und kann alleFeinheiten der Sprache erst erfassen, wennes physisch und emotional gereift ist. WieChomsky betont, bildet sich »die Kenntniseiner Sprache aus dem Zusammenspiel vonangeborenen Strukturen des Geistes mitReifungsprozessen und in Wechselwirkungmit der Umgebung«.Zwei Beobachtungen auf sprachlichem Ge-biet liegen Chomskys Theorien zugrunde.Die erste besagt, daß eine Grammatik einGrundwissen darstellt, über das alle Benut-zer der Sprache verfügen. Die zweite hältfest, daß unser Sprachgebrauch im Grundekreativ ist. Zwar können uns jederzeit Fehlerunterlaufen - vielleicht sind wir müde, ver-wirrt oder in Hast - aber jeder normaleMensch besitzt dieses gemeinsame Wissen;Chomsky nennt es »Spachkompetenz«. Dasheißt, wir können einen noch nie zuvor ge-hörten Satz hören, seinen Sinn erfassen undauch beurteilen, ob er grammatisch korrektist oder nicht.Diejenigen, die ein Kind das Sprechen »leh-ren«, liefern ihm relativ spärliche sprachli-che »Informationen« dieser Art, und dochentwickelt das Kind in kürzester Zeit be-trächtliche linguistische Fähigkeiten. Hier-bei wird ein weiterer Aspekt der Kreativitätsichtbar: Wir können - theoretisch - eineunendliche Anzahl von Sätzen hervorbrin-gen, die noch nie gesprochen wurden. Undwenn wir sprechen, dann in der Regelzusammenhängend und situationsgemäß.»Diese Kreativität«, bemerkt Chomsky,»zeigt sich in dem Reichtum, der Komple-xität und der enormen Spannweite dessen,was man aussprechen kann. Also: Wir habendie Freiheit, zu sagen, was wir wollen; wirkönnen sagen, was wir denken; und wir kön-nen denken, was wir wollen.«Aus »The Chomskyan Revolution« vonDaniel Yergin, The New York Times Magazine,3.12.1972

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ROYAUMONT, FRANKREICH (1975)

Aus einer Debatte zwischen Chomsky undJean Piaget während einer mehrtägigenVeranstaltung unter Beteiligung andererPsychologen und Philosophen

ChomskyMein Ansatz scheint mir im allgemeinenziemlich einfach und unkompliziert zusein - und doch richtig. Ich will viel-leicht mal die Tafel benutzen.Natürlich muß sich niemand für dieseFrage interessieren. Mich jedenfallsinteressiert sie. Unter diesem Blickwin-kel ist die interessante Frage: Wie siehtder Anfangszustand aus? Das heißt, wieist in dieser Hinsicht die Natur des Men-schen beschaffen?

Die Diskussion mit Piaget und anderenwurde zwar nicht gefilmt, aber glücklicher-weise auf Video aufgenommen. Dies ist derorganisatorischen Arbeit von Rhonda Ham-mer zu verdanken, die an der University ofWindsor Kommunikationswissenschaft un-terrichtet. Die insgesamt 24 Stunden umfas-sende Videoaufnahme wird an der Laval-Universität in Quebec aufbewahrt.

Wenn ich es richtig verstanden habe, gehtPiaget davon aus, daß die kognitive Ent-wicklung eine Reihe von Stadien durchläuft,von denen jedes einzelne einen weitgehendeinheitlichen Charakter besitzt. Auf jederStufe sind also die Prinzipien, die in einembestimmten Bereich (etwa dem sprachli-chen) herrschen, dieselben wie in einemanderen Bereich (etwa dem des Problemlö-sens). Es stellen sich nun zwei Fragen: 1)Trifft dies zu? 2) Wie gelangt ein Kind voneiner Stufe zur nächsten? Was nun (1)angeht, so scheinen die wissenschaftlichenBeobachtungen diese Annahme zu widerle-gen. Wenn wir die Grundlagen des Spre-chens nehmen, so ist uns kein Analogemdazu in anderen kognitiven Bereichenbekannt; dennoch und trotz allem, was wirwissen, darauf zu bestehen, daß die Sprach-entwicklung ein Spiegelbild der sensomoto-rischen Fähigkeiten darstelle, ist purer Dog-matismus (...) Im Hinblick auf (2) meineich, die Genfer Schule steht - selbst wennman eine Reihe von »kognitiven Stadien«für möglich hielte -vor dem selbstgestelltenDilemma, wie sich denn die Übergänge voll-ziehen. Ein Übergang ereignet sich entwe-der infolge neuer Informationen (was manbestreitet) oder aus einem inneren Reife-prozeß heraus (was man ebenfalls bestrei-tet). Eine andere Möglichkeit sieht aberauch niemand (...)Was wir bis jetzt wissen, scheint mir daraufhinzudeuten, daß das Sprechen sich aufeinem intern determinierten Pfad ent-wickelt und daß dabei interne Mechanis-men des Sprachsystems ins Spiel kommen,welches also in dieser Hinsicht Analogien zueinem physischen Organ aufweist. Wie beimvisuellen und bei anderen Systemen, soerfolgt auch hier die Entwicklung in Wech-selwirkung mit der umgebenden Welt. Wir

müssen uns das Detailwissen erarbeiten unddie Grundregeln herausfinden und natür-lich dies alles mit den physischen Gehirn-mechanismen verknüpfen.Aus einer schriftlichen Antwort auf Fragenvon Dr. Celia Jacubowicz, abgedruckt inLanguage and Politics S. 384-385

Diese »Debatte« über Piaget ist irrelevant. Erstensist sie nicht filmisch dokumentiert und zweitenswar es überhaupt keine »Debatte«. Vielmehr hatHarvard University Press das so zusammenge-stückelt, sehr zum Ärger (und unter heftigstemWiderspruch) der Konferenzteilnehmer, auch vonmir - nur um den Verkauf des Buches zu fördern.-NCGemeint ist hier das Buch Language andLearning: The Debate Between Jean Piaget andNoam Chomsky, Hrsg. Massimo Piatelli-Pal-maroni (Harvard University Press 1979)

Jean Piaget (1896-1980), ein Schweizer Psy-chologe, wurde durch seine Beiträge zurKinderpsychologie bekannt, vor allemdurch seine Theorie der kognitiven und derIntelligenzentwicklung. Demnach läuft dieEntwicklung in genetisch determiniertenSchritten in immer derselben Reihenfolgeab. Wie Piaget gezeigt hat, denken Kinderanders als Erwachsene und sind häufignicht in der Lage, logische Begründungenzu verstehen. Er schrieb auch über dieAnwendung der Dialektik und des Struktu-ralismus auf die Verhaltensforschung undbemühte sich um eine Synthese von Physik,Biologie, Psychologie und Epistemologie.Unter seinen Büchern finden sich. Das Erwa-chen der Intelligenz beim Kinde, und Die Ent-wicklung der physikalischen Mengenbegriffe beimKinde.Quelle: The Concise Columbia Encyclopedia,1983

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AUF EINEM SCHULHOFIN MONTREAL, KANADA

Mira Burt-Wintonick, die sechsjährige Toch-ter von Christine Burt und Peter Wintonick,liest ihrem Vater vor

Mira Burt-WintonickHieraus nun erklärt sich ... die ...

Peter Wintonick... erstaunliche ... Versuch mal das näch-ste Wort.

Mira Burt-Wintonickf.e.r.t.i.g.k.ee.i.tee

Peter Wintonick... Fertigkeit...

AUS »THIRD EAR«

Jonathan Steinberg (im Off)Hieraus nun erklärt sich die erstaunli-che Fertigkeit, mit der Kinder dieRegeln der natürlichen Sprache, soschwierig sie auch sein mögen, unglaub-lich schnell lernen, und zwar aufgrundvon unvollkommenen und häufig sogarfehlerhaften Beispielen.

Mira Burt-Wintonick... schwer ...

Peter Wintonick... schwierig ...

Mira Burt-Wintonick... schwierig ...

Peter WintonickDas ist ein schwieriges Wort. Du weißtdoch, was »schwierig« heißt? Daß etwasschwierig ist.

Was weiß unser Geist, wenn er eine Sprachekennt, und wie kommt er an dieses Wissen?In Verfolgung dieser Frage entwickelteChomsky ein Regelsystem zur Generierunggrammatischer Sätze. Das hatten schon an-dere Linguisten getan, auch Zelig Harris,Chomskys Lehrer. Chomsky jedoch bedien-te sich der Mathematik und der formalenLogik; seine sogenannte generative Gram-matik übertraf an Strenge und Spannweitealle Vorläufer.Durch den Einsatz dieses Instrumentariumskonnte Chomsky zeigen, daß die Spracheweit komplexer ist, als man bisher vermutethatte - seiner Meinung nach zu komplex,um vollständig gelernt zu werden. Um bei-spielsweise den Satz »Der Mann ist hier« ineinen Ja-Nein-Fragesatz zu verwandeln, setztman einfach das Verb vor das Subjekt: »Istder Mann hier?« Wie steht es aber mit demetwas komplizierteren Satz »Der Mann, dergroß ist und humpelt, ist hier«? Man könnteja vermuten, daß ein Kind, welches geradedas einfachere Muster gelernt hat, nun daserste »ist« nach vorn ziehen und sagenwürde: »Ist der Mann, der groß und hum-pelt, ist hier?« Chomsky zufolge machenaber Kinder niemals diesen Fehler, sondernverlegen stets das Hauptverb, nicht das ersteVerb, an den Satzanfang.Wie Chomsky betont, ist diese Regel ziem-lich subtil und auch schwierig als linguisti-sche Formel oder als Computerprogrammauszudrücken. Und doch können Kindersie anwenden, ohne jemals explizit darüberunterrichtet worden zu sein.John Horgan: »Free Radical: A Word (orTwo) about Linguist Noam Chomsky«, Sci-entific American Mai 1990

In Chomskys jüngstem Modell (...) figurierteine universelle Grammatik als eine Mengeeinfacher Prinzipien, aus deren Wechselwir-kung miteinander und mit den Eigenschaf-ten von Wörtern die gesamte Komplexitätder Sprache entsteht. Der Theorie liegtauch ein noch mächtigeres Lexikon oderWörterverzeichnis zugrunde. Nach Chom-sky bestimmt der Eintrag eines Wortes imLexikon nicht nur seinen Klang und seinesyntaktische Rolle (Verb, Nomen, Präposi-tion usw.), sondern auch gewisse Kernele-mente seiner Bedeutung. So verlangt etwadas Wort »schlagen« die Angabe sowohl desHandelnden wie dessen, der die Handlungempfängt. Chomsky geht sogar so weit zubehaupten, das Kernwissen über die mei-sten Worte existiere vor aller Erfahrung. Erschreibt: »Der Begriff >klettern< stellt nureinen Teil davon dar, wie wir eine uns zu-gängliche Erfahrung bereits interpretierenkönnen, bevor wir diese Erfahrung real ge-macht haben.«Nach Chomsky besteht die allen Sprachenzugrundeliegende universelle Grammatikaus derartigen Prinzipien. Er vergleicht dieSprache mit einem kompliziert verdrahte-ten Schaltkasten - die Wurzelbegriffe (»rootconcepts«) und die grammatikalischenGrundregeln - wobei die Einstellung derSchalter durch die Erfahrung vorgenom-men wird. Im Chinesischen nehmen sie be-stimmte Stellungen ein, im Englischen ebenandere. Aber die Grundlage dessen, wie Be-griffe und Syntax ineinandergreifen, ist inbeiden Fällen dieselbe.Aus David Berrebys Rezension des BuchesThe Linguistic Wars von Randy Allen Harris(Oxford University Press 1994) in The Scien-ces Jan/Feb 1994

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AUS »ENGLISH STREET«, KBS TV,KYOTO, JAPAN

ChomskyDenn falls unser Geist wirklich eineleere Schiefertafel wäre, die nur von derErfahrung beschrieben würde, dannwären wir allerdings arm dran. Alsodrängt sich die Hypothese auf, daßunsere Sprache das Ergebnis eines auto-matisch ablaufenden genetischen Pro-gramms ist. Gut, es gibt natürlich dieverschiedenen Sprachen; aber diescheinbare Variationsbreite unter ihnenist nur oberflächlich.Wenn eines feststeht, dann doch dies:Die Menschen sind nicht genetisch füreine bestimmte Sprache vorprogram-miert. Lassen Sie ein japanisches Babyin Boston aufwachsen - es wird Bosto-ner Englisch sprechen. Wenn Sie meinKind hier in Japan erziehen, spricht esJapanisch. Da ist es doch nur logisch,daß alle Sprachen im wesentlichen die-selbe Grundstruktur aufweisen müssen.

Die erste Kritik der Schwachstellen derbehavioristischen Psychologie findet sich inChomskys umfangreicher Besprechung vonSkinners Verbal Behavior in Language (Bd. 351959, S. 26-58). Diese wurde auch vielfachnachgedruckt, so etwa in The Structure ofLanguage: Readings in the Philosophy of Lan-guage, Hrsg. J. A. Fodor und J. J. Katz (Pren-tice-Hall 1964) oder - mit einer lesenswer-ten Vorbemerkung aus Chomsky Feder - inReadings in the Psychology of Language, Hrsg.L. A. Jakobovits and M. S. Mirion (Prentice-Hall 1967). Diese Rezension sollte eineerhebliche Wirkung entfalten (für mancheläutete sie dem Behaviorismus das Toten-glöcklein).Carlos P. Otero in Noam Chomsky: CriticalAssessments (Routledge 1993).

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Wir Wissenschaftler müssen versuchenherauszufinden, was genau diese Grund-lagen sind, auf denen die Sprachbeherr-schung sich unter bestimmten Bedin-gungen so entwickelt, wie es geschieht.Ich bin übrigens sicher, daß dies auchfür andere Aspekte der menschlichenIntelligenz gilt, für Erkenntnis- undInterpretationsmechanismen, für dieethische und ästhetische Urteilsfähig-keit usw.

Falls die Menschen wirklich unbeschränktformbare plastische Wesen sind, ohne inne-re geistige Strukturen und ohne angebo-rene kulturelle oder soziale Bedürfnisse,dann sind sie auch ein geeignetes Ziel füreine »Verhaltensformung« seitens staatli-cher Autoritäten, Konzernmanagern, Tech-nokraten oder Zentralkomitees. Alle, diesich noch einen Rest von Vertrauen in dieMenschheit bewahrt haben, werden hoffen,daß dies nicht zutrifft; sie werden diejenigendem Menschen innewohnenden Züge zubestimmen suchen, die den Entwicklungs-rahmen für die Intelligenz, das ethischeBewußtsein, die kulturelle Potenz und dasTeilhaben an einer freien Gemeinschaftbieten (...) Ich denke, ein besseres Ver-ständnis dieser Dinge können wir nur errei-chen, wenn wir einen einschneidenden undradikalen Bruch mit einem Großteil unsererheutigen Sozial- und Verhaltenswissenschaf-ten vollziehen (...)

Aus den Grundlagen der Skinnerschen»Wissenschaft« erfahren wir nichts darüber,wie sich eine Kultur aufbaut (wir erfahrendort ohnehin so gut wie nichts) - womitnicht gesagt sein soll, daß uns Skinner überseine Absichten völlig im Dunkeln ließe. Sei-ner Meinung nach muß nämlich »die Steue-rung einer Gesamtbevölkerung an Speziali-sten übertragen werden - also an Polizisten,Priester, Eigentümer, Lehrer, Therapeutenusw. nebst den entsprechenden Durchset-zungsinstrumenten und Gesetzestafeln.«(Beyond Freedom and Dignity S. 155).(...) Nehmen wir die Redefreiheit. GemäßSkinners Methode sollte zwar eine Beein-flussung des gesprochenen Wortes durchdirekte Bestrafung vermieden werden, esdarf aber ohne weiteres dadurch beeinflußtwerden, daß man beispielsweise die gutenJobs für diejenigen reserviert, die genau dasäußern, was die Kulturbestimmer für ange-bracht halten (...) Indem wir den Men-schen genaue Regeln für das liefern, was siesagen müssen, um durch Beförderung »ver-stärkt« zu werden, machen wir sogar »dieWelt sicherer« und dienen so dem Ziel derbehavioristischen Technik (Beyond Freedomand Dignity S. 74 u. 81).Aus »Psychology and Ideology«, ChomskyReader S. 154, einer erweiterten Fassung vonChomskys Besprechung von B. F. SkinnersBeyond Freedom and Dignity (Alfred A. Knopf1971), die ursprünglich in The New YorkReview of Books vom 30.12.71 erschien.

Denken wir noch einmal an das Menschen-kind: In seinem Kopf beherbergt es irgend-einen Mechanismus, von dem abhängt, wel-che Art von Sprache es erlernen kann. Esmacht einige Erfahrungen und kennt dannsehr rasch die Sprache, die sich mit denErfahrungen verknüpft. Dies ist nun einvöllig normaler Vorgang, also ein Beweisnormaler Intelligenz - und ist doch eineäußerst kreative Handlung.Sollte einmal ein Marsbewohner diesen Pro-zeß verfolgen, in dem — aufbauend auf einerlächerlich geringen Datenmenge - diesesriesige, komplexe, ausgeklügelte Wissenssy-stem erworben wird, er müßte darin einenungeheuren Erfindungs- und Schöpfungs-akt erblicken. Ich bin sicher, er würde die-ser Leistung denselben Rang zuweisen wieetwa dem Aufstellen eines Lehrsatzes dertheoretischen Physik aufgrund der einemPhysiker zugänglichen Daten. Da nun aberunser hypothetischer Marsbewohner feststel-len würde, daß jedes normale Kind diesenschöpferischen Akt meistert, und alle aufdieselbe problemlose Weise, wohingegenunsere Genies Jahrhunderte benötigt ha-ben, um den kreativen Schritt von der Beob-achtung zur wissenschaftlichen Theorie zutun - so würde dieser Marsmensch denrationalen Schluß ziehen, daß die Strukturdes mit der Sprache erworbenen Wissenseine innere Eigenschaft des menschlichenGeistes sein muß, im Gegensatz zur Strukturder Physik, die im Denken des Menschennicht so direkt angelegt ist. Unser Gehirn istnicht so konstruiert, daß daraus beimBetrachten der Erscheinungen in der Weltum uns herum die theoretische Physik her-vorquillt, die wir dann nur noch nieder-schreiben müssen. So ist unser Geist nichtgestaltet.Aus Reflexive Water: The Basic Concerns ofMankind, Hrsg. Fons Elders (Souvenir Press1974) S. 155

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AUS «THIRD EAR»

Jonathan SteinbergDie Auswirkungen dieser Lehren sindwie eine Flutwelle über die Psychologie,die Erziehungswissenschaften, die Sozio-logie und Philosophie, über die Litera-turkritik und die Logik hinweggefegt.

Chomsky

Und so ist aus einem einzigen linguistischenBeispiel, nämlich dem Satz »Colorless greenideas sleep furiously« fast eine Industrie her-vorgegangen; er hat den Anstoß für Ge-dichte, Musik, Debatten usw. geliefert.

Howard Lesnik

Dies ist ein hochinteressanter Satz - zeigt erdoch, daß sich Syntax und Semantik, daßsich Form und Bedeutung voneinandertrennen lassen. »Colorless green ideas sleepfuriously.« Scheinbar ohne Sinn und Zu-sammenhang, und hört sich doch an wie einenglischer Satz. Liest man ihn rückwärts -furiously sleep ideas green colorless - dannklingt es überhaupt nicht englisch.

Chomsky

Ja, und daran sehen wir, daß die Struktureines Satzes nicht nur davon bestimmt wird,ob er eine Bedeutung hat oder nicht (...)

Howard Lesnik

Damit ein Satz, strukturell gesehen, ein eng-lischer Satz ist, scheint es nicht besondersdarauf anzukommen, was die Worte bedeu-ten oder ob sie zusammen einen Sinn erge-ben, sondern nur darauf, daß ihre Anord-nung den Regeln der Syntax gehorcht.

Aus The Human Language, einer Reihe voneinstündigen Filmen über »The menschli-che Sprache: Was sie ist und wie sie funktio-niert«

Die Struktur eines Satzes wird nicht nurdavon bestimmt, ob er eine Bedeutung hatoder nicht.

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VERLAG »SERPENT'S TAIL«LONDON

Chomsky wird von Mitarbeitern der Zeit-schrift Radical Philosophy interviewt

Jonathan RéeIn den fünfziger und sechziger Jahrenbestand die Brücke von Ihrer theoreti-schen zu Ihrer politischen Arbeit wohlim Angriff auf den Behaviorismus. Aberder ist doch inzwischen out - jedenfallssieht es so aus. Wo ist denn nun derZusammenhang zwischen Linguistikund Politik bei Ihnen geblieben?

ChomskyHm, diesen Zusammenhang habe ichimmer ... also um die Wahrheit zusagen, ich hab' da eigentlich nie einenbesonderen Zusammenhang gesehen.

NOS TV, NIEDERLANDE (1971)

ChomskyIch wäre auch sehr froh, wenn es mirgelänge, zwischen meinen eigenen anar-chistischen Überzeugungen auf dereinen Seite und andererseits dem, wasich - wie ich glaube - über das Wesender menschlichen Intelligenz aufzeigenoder zumindest erahnen kann, intellek-tuell befriedigende Verbindungen zuentdecken. Aber ich schaffe es einfachnicht, überzeugende Querverbindun-gen zwischen diesen beiden Bereichenherauszufinden. Allenfalls lassen sicheinige schwache Berührungspunktefinden.

David BarsamianSie werden bei Vorträgen und Interviewsimmer wieder gebeten, eine Brücke vonIhrer Linguistik zu Ihrer Politik zu schlagen.Ich werde Ihnen diese Frage jetzt nicht stel-len. Mich interessiert eher, warum dieseFrage jedesmal kommt.

ChomskyDas ist eine interessante Frage. Es gibt wohlzwei Gründe dafür. Der eine beruht auf derAnnahme, man könne nicht einfach nur einMensch sein wollen. Man kann sich nichtbloß deshalb bei einem Völkermord enga-gieren, weil man Völkermord ablehnt; esmuß noch was anderes dahinterstecken.Und dann wird unterstellt, man könne übereine Sache nur reden, wenn man ein Ex-perte dafür ist. So kommt es zu zahlreichenRezensionen, gerade auch positiven, vonlinken Aktivisten, die ein Buch von mir mitden Worten kommentieren: Herrgott, wasfür eine phantastische Propagandaanalyse,wie er da mittels der Linguistik die Ideolo-gie dekonstruiert, oder so ähnlich. Ich weißnicht mal, was »dekonstruieren« bedeutet,und anwenden kann ich dieses Wort erstrecht nicht.Chronicles of Dissent S. 269

StudentProfessor Chomsky, was erwidern Sie IhrenKritikern, die Ihre Sozialkritik in Frage stel-len, weil Sie ja ein Linguist sind?

ChomskySie sollten nicht darauf achten, ob ich etwasals Linguist sage oder in einer anderenEigenschaft. Sie sollten sich fragen, ob essinnvoll ist. Sie könnten mich ebensogut alsLinguisten anzweifeln, weil ich kein ausge-bildeter Linguist sei - was sogar stimmt. Ichhabe keine professionelle Ausbildung inder Linguistik; ich habe nicht die üblichenVorlesungen besucht. Deshalb lehre ich jaam MIT; an einer normalen Universitätwäre ich nie angekommen. Das ist gar nichtso witzig. Ich habe keine ordentliche Fach-ausbildung genossen. Dem MIT war dasegal; dort kam es nur darauf an, ob ich rechtoder unrecht hatte. Denn das ist eine natur-wissenschaftliche Hochschule. Was auf demDiplom steht, interessiert die Leute dortnicht. Ich habe wirklich eine sehr unge-wöhnliche Laufbahn hinter mir. Ich habekeine offiziellen Examina durchlaufen.Und doch sind meine Arbeiten überall ver-breitet.Es ist schon eine merkwürdige Frage. Als obes einen Beruf »Gesellschaftskritiker« gäbe,und um einer sein zu dürfen, müsse manerst die entsprechenden Vorbedingungenerfüllen.Aus einer öffentlichen Diskussion im An-schluß an eine Podiumsdiskussion an derUniversität von Wyoming

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Michel FoucaultKreativität ist nur innerhalb eines Regel-Systems möglich. Ich habe nun ein Pro-blem - und da stimme ich mit. Chomskynicht ganz überein - wenn er dieseBeschränkungen irgendwo im Geistoder in der Natur des Menschen ver-ortet. Ich frage mich, ob sich dieseseinschränkende Regelsystem, das eineWissenschaft erst ermöglicht, nichtvielmehr außerhalb des menschlichenGeistes finden ließe, in gesellschaftli-chen Strukturen, in Produktionsbedin-gungen, im Klassenkampf usw.

ChomskyWenn es, wie ich glaube, zutrifft, daßder Drang nach schöpferischem Arbei-ten oder schöpferischem Forschen,überhaupt nach schöpferischer Freiheitohne die einschränkende Willkür insti-tutioneller Zwänge, ein grundlegendesElement der menschlichen Natur ist,dann folgt daraus selbstverständlich,daß eine anständige Gesellschaft diesemmenschlichen Grundzug ein Maximuman Betätigungsmöglichkeiten eröffnenmüßte. Unter dem Anarchosyndikalis-mus verstehe ich ein föderiertes, dezen-trales System freier Assoziationeneinschließlich ökonomischer und gesell-schaftlicher Institutionen. Und ein der-artiges System ist meiner Meinung nachdie richtige Organisationsform für einetechnisch fortgeschrittene Gesellschaft,in der die Menschen nicht in die Rollevon Werkzeugen oder von Rädchen imGetriebe gepreßt werden müssen.

Ich glaube, in der gegenwärtigen Epochebietet unser technisches Niveau uns enormeMöglichkeiten zur Abschaffung repressiverInstitutionen (...) Man hört oft die Mei-nung, aufgrund des technischen Fort-schritts müßten wir die Herrschaft über dieInstitutionen zwangsläufig einer kleinenManagergruppe übertragen. Das ist völligerBlödsinn. Die Automatisierung kann zuallererst mal die Menschen von einem Bergstupider Arbeit entlasten und ihnen so dieFreiheit für anderes verschaffen. Computerermöglichen einen extrem schnellen Infor-mationsfluß. Alle könnten über weitausmehr relevante Informationen als bisherverfügen. Demokratische Entscheidungenkönnten unmittelbar von allen Betroffenenherbeigeführt werden (...) Natürlich wirddiese Technik in Wirklichkeit nicht hierfüreingesetzt, sondern für destruktive Ziele.Aus einem Interview mit der New LeftReview, abgedruckt in Language and Politics,S. 147.

Der französische Philosoph Michel Fou-cault (1926-1984) erforschte mit einem »ge-nealogischen« und »archäologischen« An-satz die Geschichte der Sexualität sowie dieInstitutionen Gefängnis, Irrenanstalt undKrankenhaus. In den im Zuge der »Aufklä-rung« entstandenen neuen Wissenschaftenund Institutionen erblickte er den Wissens-aspekt der Macht und in der modernenGefängnisaufsicht vermittels des »Panopti-con« die gleiche Technik, mit welcher dermoderne Staat die gesamte Gesellschaft be-herrscht. Im Gegensatz zum monarchischenStaat, der seine Untertanen mit brutalerGewalt kontrolliert, bedarf seiner Meinungnach der noch relativ junge »demokrati-sche« Staat eines sublimierten, verinnerlich-ten Zwangs, um diese Aufgabe zu erfüllen.James McGillivray

Siehe auch Reflexive Water: The Basic Con-cerns of Mankind, Hrsg. Fons Elders (Souve-nir Press 1974) S. 193-194

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Chomsky

(...) Es besteht keine gesellschaftliche Not-wendigkeit mehr dazu, Menschen im Pro-duktionsprozeß als mechanische Glieder zubehandeln. Dieser Zustand kann und mußüberwunden werden, durch eine Gesell-schaft der Freiheit und des freien Zusam-menschlusses, und dort wird der Schöpfer-drang, der meiner Meinung nach in dermenschlichen Natur angelegt ist, sich aufvielfache Weise verwirklichen können (...)

Fan Elders (Moderator)

Herr Foucault, wenn Sie diese Worte vonHerrn Chomsky hören, glauben Sie dann,man könne unsere Gesellschaft überhauptals demokratisch bezeichnen?

Michel Foucault

Nein, ich glaube nicht im geringsten, daßman unsere Gesellschaft als demokratischansehen kann (lacht). Wenn man unterDemokratie die tatsächliche Ausübung derMacht durch eine Bevölkerung versteht, dieweder in sich gespalten noch hierarchischin Klassen gegliedert ist, dann sind wir kla-rerweise noch weit von der Demokratie ent-fernt. Es ist doch überdeutlich, wir lebenunter einer Klassendiktatur, also in derMacht einer Klasse, die sich unter Einsatzvon Gewalt durchsetzt, mögen sich dieseGewaltinstrumente auch in Verfassungenund Institutionen verkörpern. Insoweitkann von einer Demokratie bei uns keineRede sein (...) Zugegeben, ich kann nichtdefinieren - und schon garnicht konkreti-sieren - wie ein ideales Funktionsmodellunserer wissenschaftlich-technischen Ge-sellschaft aussehen soll (...) In einer Gesell-schaft wie der unsrigen sehe ich die eigent-liche politische Aufgabe darin, das Wirkenvon Institutionen zu kritisieren, die nurscheinbar neutral und unabhängig sind -sie derart zu kritisieren und anzugreifen,daß die politische Gewalt, die sich in ihnenseit jeher im Verborgenen betätigt hat, ihre

Tarnkappe einbüßt. Und dann kann mansie bekämpfen.Diese Kritik und dieser Kampf sind für michvon zentraler Bedeutung, und dafür gibt esmehrere Gründe. Zunächst deswegen, weildie politische Macht viel weiter reicht alsman allgemein vermutet. Es gibt Zentren,aber es gibt auch unsichtbare, kaum be-kannte Stützpunkte; und wirkliche Aus-dauer und Härte beweist sie vielleichtgerade dort, wo man es nicht erwartet hätte.Vielleicht genügt es nicht, einfach festzu-stellen, daß hinter der Regierung oder demStaatsapparat eine herrschende Klassesteht; man muß vielmehr die Ansatzpunkte,die Orte und Formen der Herrschaftsaus-übung identifizieren. Diese Herrschaft istnicht einfach nur der politische Ausdruckder ökonomischen Ausbeutung - sie ist dasInstrument und weitgehend auch die Vor-bedingung dafür. Das eine läßt sich nurbeseitigen, indem das andere vollständigaufgedeckt wird. Wenn man diese Stütz-punkte der Klassenmacht nicht erkennt,dann läuft man Gefahr, sie fortdauern zulassen, und dann kann es uns passieren, daßsich diese Klassenmacht auch nach einemscheinbar revolutionären Vorgang vonneuem etabliert.

Chomsky

Ja, da stimme ich sofort zu, nicht nur in derTheorie, sondern auch in der Praxis. Es gibtalso zwei intellektuelle Aufgaben. Die eine,über die ich gerade sprach, liegt darin, dieVision einer kommenden gerechten Gesell-schaft zu erschaffen, eine - wenn Sie wollen- humanistische Gesellschaftstheorie, diemöglichst in einem tragfähigen und huma-nistischen Begriff vom Wesen oder von derNatur des Menschen gründet. Das ist alsodie eine Aufgabe.Die andere besteht darin, ganz klar denCharakter von Macht, Unterdrückung, Ter-ror und Zerstörung in unserer eigenen Ge-sellschaft verstehen zu lernen. Das schließt

natürlich auch die von Ihnen erwähntenInstitutionen ein und ebenso die zentralenInstitutionen jeder Industriegesellschaft,also die Wirtschafts-, Handels- und Finan-zinstitutionen und seit neuestem vor allemdie großen multinationalen Konzerne, de-nen wir übrigens in diesem Moment geradesehr nahe sind [gemeint ist der Philips-Kon-zern in Eindhoven].Dies sind im Grunde die Institutionen derUnterdrückung, des Zwangs und der auto-kratischen Herrschaft, und sie sind nichtneutral, ganz gleich was sie sagen. Gut, wirleben in einer Demokratie des Marktes; dasmuß man aber im Licht ihrer autokrati-schen Macht sehen, und dazu gehört auchdie spezielle Form der autokratischen Kon-trolle, die in einer egalitären Gesellschaftaus der Herrschaft über die Kräfte desMarktes resultiert.Genau diese Fakten müssen wir also verste-hen - mehr noch, wir müssen sie bekämp-fen. Ja, ich glaube, unser politisches Enga-gement, in das wir den Hauptteil unsererEnergie investieren, muß in jedem Fall aufdiesem Feld liegen. Ich möchte hier gar-nicht persönlich werden, aber meine eige-nen Aktivitäten liegen jedenfalls dort, unddas gilt wohl auch für alle anderen.Und doch wäre es jammerschade, wenn wirdarüber eine etwas abstraktere philoso-phische Aufgabe beiseiteschieben würden,nämlich einen Zusammenhang zwischeneinem Menschenbild der Freiheit, Würdeund Kreativität und anderen menschlichenGrundzügen herzustellen sowie diesen mitdem Modell einer Gesellschaftsstruktur inBeziehung zu setzen, in der diese Grund-züge sich entfalten und in der die Men-schen ein sinnerfülltes Leben führen kön-nen.Und wenn wir dann wirklich an eine sozialeTransformation oder Umwälzung denken,dann wäre es natürlich absurd, wenn wir dasZiel, das wir anstreben, im einzelnen dar-stellen wollten; aber über die Richtung, die

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wir einschlagen, sollten wir doch einigeswissen, und das erfahren wir vielleicht auseiner solchen Theorie.

FoucaultJa, aber lauert hier nicht eine Gefahr? Siesagen doch, es gibt eine bestimmte Naturdes Menschen, und dieser werden von derheutigen Gesellschaftsordnung das Rechtund die Möglichkeit verweigert, sich zu ent-falten (...) Das sagten Sie doch wohl.

Chomsky

Ja.

FoucaultDoch wenn man so vorgeht, riskiert mandann nicht, diese Natur des Menschen - diegleichzeitig ideal und real ist und die bis-lang unterdrückt und verborgen war - nurunter Rückgriff auf unsere Gesellschafts-ordnung, auf unsere Zivilisation, auf unsereKultur zu definieren? (...) Wie die Naturdes Menschen beschaffen ist, kann man nurschwer sagen. Besteht hier nicht die Gefahr,in die Irre geführt zu werden? (...)

Chomsky

(...) Sicherlich ist unser Menschenbildbegrenzt, ist zum Teil gesellschaftlich be-dingt, ist durch unsere charakterlichenSchwächen und durch die Schranken unse-rer Geisteskultur beeinträchtigt. Und dochist es von entscheidender Bedeutung, zuwissen, welche unerreichbaren Ziele wir da-durch verfolgen, daß wir einige der erreich-baren anstreben. Wir müssen also die Kühn-heit besitzen, zu spekulieren und Gesell-schaftstheorien auf bruchstückhaftes Wis-sen zu bauen und gleichzeitig für dieMöglichkeit, ja die erdrückende Wahr-scheinlichkeit offen zu sein, in mancherHinsicht weit daneben zu liegen (...)

Foucault(...) Ich will hier mal etwas den Nietzsche-

aner spielen. Ich denke also, schon die Ideeder Gerechtigkeit ist in Wirklichkeit eineerfundene und wurde in den verschiedenenGesellschaftsformen als Instrument einerbestimmten politischen und ökonomischenMacht eingesetzt, oder auch als Walle gegendiese Macht. Aber ich meine jedenfalls, derBegriff der Gerechtigkeit an sich dient ineiner Klassengesellschaft der unterdrücktenKlasse als Anspruch und als Begründung füreben diese.

Chomsky

Da bin ich anderer Meinung.

Foucault

Und ich bin auch nicht sicher, ob wir uns ineiner klassenlosen Gesellschaft noch diesesGerechtigkeitsbegriffs bedienen würden.

Chomsky

Hier möchte ich nun wirklich widerspre-chen. Meiner Meinung nach gibt es so etwaswie ein absolutes Fundament - also wennSie jetzt zu sehr nachbohren würden, kämeich in Schwierigkeiten, denn beschreibenkann ich es nicht - das im letzten aus grund-legenden Eigenschaften des Menschenbesteht, und hierin gründet auch der»wahre« Gerechtigkeitsbegriff. Ich halte esfür voreilig, all unsere Rechtssysteme alsbloße Systeme der Klassenunterdrückungzu charakterisieren. Zwar glaube auch ich,daß sie Klassenunterdrückungssysteme undandere Unterdrückungselemente enthal-ten; aber ihnen wohnt auch ein tastendesSuchen nach wahrhaft menschlichen, wert-vollen Vorstellungen von Gerechtigkeit,Anstand, Liebe, Freundschaft und Sympa-thie inne, und diese halte ich für real (...)

Foucault

Hab' ich Zeit für eine Antwort?

Elders

Ja.

FoucaultWieviel? Denn ...

EldersZwei Minuten [Foucault lacht]

FoucaultAlso ich muß sagen, das ist jetzt ungerecht[ allgemeines Gelächter].

ChomskyAbsolut richtig.

FoucaultNein, in dieser kurzen Zeit will ich nichtanworten. Ich möchte nur sagen, über die-ses Problem der menschlichen Natur - aufdie Theorie reduziert - liegen wir nicht imStreit.Vielmehr entstanden die Meinungsver-schiedenheiten bei der Diskussion der Pro-bleme von Menschenbild und Politik. Auchwenn Sie anderer Meinung sind, niemandkann mich daran hindern, zu glauben, daßall diese Begriffe von menschlicher Natur,von Gerechtigkeit, von der innersten Selbst-verwirklichung der Menschen - daß sie alleim Rahmen unserer Zivilisation aufgestelltwurden, nach der Art unseres Wissens undunserer Philosophie, und daß sie demzu-folge einen Bestandteil unseres Klassensy-stems darstellen. Und so bedauerlich dasauch sein mag: Man kann nicht mit diesenBegriffen einen Kampf beschreiben oderrechtfertigen, der im Prinzip die Funda-mente unserer Gesellschaft umstürzenmuß. Für diese Extrapolation kann ich ein-fach keine historische Rechtfertigung se-hen. Genau das ist der Punkt.

ChomskyGanz klar.

Reflexive Water: The Basic Concerns of Man-kind, Hrsg. Fons Elders (Souvenir Press1974) S. 170-187

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AUS »THIRD EAR«

Jonathan SteinbergSeit den sechziger Jahren vertritt NoamChomsky eine ausgeprägt rationalisti-sche und libertäre Richtung des Sozialis-mus. Wo immer er den Mißbrauch derMacht entdeckt, kritisiert er ihn. SeineKritik, durch die er sich äußerst unbe-liebt gemacht hat, richtete sich ebensogegen die amerikanische Politik, gegendie Unterwürfigkeit der Intellektuellenund gegen die Fehlentwicklungen imZionismus wie gegen die Verzerrungenin den Medien und die Selbsttäuschun-gen in den herrschenden Ideologien.

AUS »MIT PROGRESSIONS« (1969)

Chomsky spricht auf den Stufen des MIT inCambridge (USA) zu einer Gruppe von Stu-denten, unter ihnen Michael Albert, der Her-ausgeber des Z Magazine

ChomskyUnter den liberal-progressiven Regie-rungen der sechziger Jahre war es derClub der akademischen Intelligenz, derden Krieg in Vietnam und andere, aller-dings kleinere Aktionen plante und indie Tat umsetzte. Diese spezielleGemeinschaft sollten wir gerade hier imMIT ins Auge fassen. Denn euch allensteht es natürlich frei, dieser Gemein-schaft beizutreten - ja, ihr werdet gera-dezu dazu gedrängt und eingeladen. Esexistiert ein starker Anreiz, euch dieserGemeinschaft aus technischer Intelli-genz, Waffenkonstrukteuren, Aufstands-bekämpfungs-Experten und anderenpraktischen Planern des amerikani-schen Weltreichs anzuschließen. DieVerführung ist wirklich sehr stark.

Mir fällt ein Buch ein von Norman Podho-retz, einem rechtsstehenden Publizisten.Darin beschuldigt er uns Akademiker inner-halb der Friedensbewegung der Undank-barkeit, weil wir gegen die Regierung arbei-ten, obwohl wir doch ihre Geldmittelannehmen. Hierin spiegelt sich ein äußerstaufschlußreiches Bild vom Staat, praktischein faschistisches Staatsverständnis. DerStaat ist euer Herr und Meister, heißt es,und wenn der Staat etwas für euch tut, dannmüßt ihr auch nett zu ihm ein. Dieses Prin-zip liegt dem zugrunde. Der Staat bestimmtalso über dich, du bist sein Sklave; und sollteer mal nett zu dir sein und dir etwas zukom-men lassen, dann mußt du aber auch nett zuihm sein, andernfalls bist du undankbar.Man muß festhalten, daß dies die genaueGegenposition zur Theorie der Demokratieist, derzufolge wir die Herren sind und derStaat unser Diener ist. Nicht der Staat ist es,der uns etwas zukommenläßt, sondern dasVolk; der Staat ist nur ein Instrument. Aberdieses eigentliche Demokratieverständnisist so weit von unseren Vorstellungen ent-fernt, daß wir häufig dazu neigen, auf solchefaschistischen Ideen hereinzufallen (...)Aus einem Interview mit David Barsamian,Language and Politics S. 747

Eine andere Frage ist, wie ich das MIT ertra-gen kann. Manche behaupten, jeder Radi-kale solle sich von repressiven Institutionenfernhalten — eine Logik, die ich noch nieverstanden habe. Nach dieser Logik hätteKarl Marx seine Studien nicht im BritischenMuseum betreiben dürfen, in diesem Sym-bol des bösartigsten Imperialismus auf derWelt; dort, wo alle Schätze aufgehäuft lagen,die das Weltreich seinen Kolonien entrissenhatte. Ich meine, Karl Marx tat völlig rechtdaran, dort zu arbeiten. Es war richtig, daßer die Hilfsmittel, überhaupt die liberalenWerte derselben Zivilisation, die er zu über-winden trachtete, gegen diese nutzte. Unddas gilt auch in diesem Fall, denke ich.Reflexive Water: The Basic Concerns of Man-kind, S. 195

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BÜRO IM MIT, CAMBRIDGE,MASSACHUSETTS, USA

ChomskyJamie, das hier ist mit der Postgekommen.

(zu einem wartenden Studenten)Komme sofort.

(betritt das Büro, bemerkt, daß das Filmteam,die Scheinwerfer usw. immer noch da sind)Mein Gott, die sind ja immer noch mitihren Kameras ...

David Barsamian(Chef einer unabhängigen Radiostation)OK? Dann wollen wir anfangen. InIhrem Essay Language and Freedomschreiben Sie: »Jede gesellschaftlicheHandlung muß von einer Vision derzukünftigen Gesellschaft beflügelt wer-den.« Ich habe mich gefragt: WelcheVision der zukünftigen Gesellschaftbeflügelt denn Sie?

ChomskyNun, ich habe meine eigenen Vorstel-lungen davon, wie eine Gesellschaft derZukunft aussehen sollte; ich habe dasauch veröffentlicht. Ganz allgemeingesprochen denke ich, wir sollten nachErscheinungsformen der Herrschaftund der Autorität suchen und dannderen Legitimität hinterfragen. Sicher,manchmal sind sie legitim, etwa wenn esums Überleben geht. Ich will zum Bei-spiel nicht sagen, daß die Herrschafts-formen, die hier während des zweitenWeltkriegs ... also wir hatten doch imGrunde ein totalitäres System, undunter Kriegsbedingungen hielt ich dasschon zu einem gewissen Grade fürgerechtfertigt. Es gibt auch einigeandere Arten [von Zwängen]. Zum Bei-

Hierdurch würde ein Angriff auf die Grund-struktur des Staatskapitalismus geführt. Ichdenke, das geht in Ordnung. Das wird nichtmehr lange auf sich warten lassen.

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spiel die Beziehungen zwischen Elternund Kindern - die erfordern aucheinen gewissen Druck, der sich zuweilenrechtfertigen läßt.Aber jede Art von Zwang und Kontrollebedarf eben der Rechtfertigung. Unddie meisten sind überhaupt nicht zurechtfertigen. In der Geschichte dermenschlichen Zivilisation ist es zu man-chen Zeiten möglich gewesen, einigeZwänge in Frage zu stellen, andere wie-derum nicht. Die letzteren sind viel-leicht zu tief verwurzelt, oder man wirdsie gar nicht gewahr, usw. Also versuchtman, wenn es dazu kommt, diejenigenAutoritäts- und Herrschaftsformen zuidentifizieren, die verändert werdenkönnen, die keine Legitimation besit-zen, die häufig sogar den fundamenta-len Menschenrechten entgegenstehenoder jedenfalls dem, was man darunterund unter den Grundsätzen dermenschlichen Natur verstehen möchte.Schön. Und was ist z.B. heutzutage dasWichtigste? Einiges wird ja schon ange-gangen - etwa von der feministischenBewegung. Anderes von der Bürger-rechtsbewegung. Aber eine ganz wich-tige Sache nimmt niemand ernsthaft insVisier, und die bildet gerade den Kerndes Herrschaftssystems: Das ist die pri-vate Verfügungsgewalt über die Ressour-cen. Hierdurch würde ein Angriff aufdie Grundstruktur des Staatskapitalis-mus geführt. Ich denke, das geht inOrdnung. Das wird nicht mehr langeauf sich warten lassen.Fortsetzung dieses Interviews rechts

Ausgehend von dem, was wir heute er-blicken, wünsche ich mir für die Zukunfteine Gesellschaft, in der sich dieser Prozeßfortsetzt, in der es immer mehr Freiheit undGerechtigkeit gibt, immer weniger Fremd-bestimmung und immer mehr Mitwirkungaller.Die Revolutionen des 18. Jahrhunderts sindnoch nicht vollendet. Schon die Texte desklassischen Liberalismus sprechen von derLohnsklaverei, davon, daß die Menschennur unter Zwang arbeiten dürfen anstatt auseigenem Antrieb und daß sie den Arbeits-prozeß nicht bestimmen können. Hier liegtder Kern des klassischen Liberalismus. Aberdas ist alles vergessen; es muß wieder zumLeben erweckt werden. Das ist ganz reali-stisch. Hierdurch würde ein Angriff auf dieGrundstruktur des Staatskapitalismus ge-führt. Ich denke, das geht in Ordnung. Daswird nicht mehr lange auf sich warten las-sen. Wir müssen nicht einmal besondersneuartige Ideen dazu entwickeln. VieleGedanken wurden schon im 18. Jahrhun-dert geäußert, selbst in den klassischen libe-ralen Werken und später dann zumindest inden libertären Flügeln der sozialistischenund der anarchistischen Bewegung. Hiergeht es um äußerst aktuelle Fragen, unddenen sollten wir uns stellen. Unter diesemBlickwinkel sieht die Vision der künftigenGesellschaft so aus, daß wir über die Produk-tion, die Investitionsentscheidungen usw.bestimmen. Wir: Das meint die Wohnge-meinden, die Betriebe, die Personalräte derBetriebe, der Hochschulen oder der sonsti-gen Organisationen - föderative Struktu-ren, die die Dinge innerhalb eines weiterenRahmens integrieren. Diese Vorstellungensind sämtlich umsetzbar, vor allem in einerindustriell fortgeschrittenen Gesellschaft.Die kulturelle Basis dafür ist noch seinbegrenzt, aber sie kann geschaffen werden.Dieses Bild zeigt allerdings nur einen Teilder Zukunftsgesellschaft; auch andere Hier-archie- und Autoritätsformen müssen abge-

schafft werden. Bisher gab es entweder denStaatskapitalismus, wie wir ihn ja gut ken-nen, oder den Staatsbürokratismus à la Sow-jetunion mit einer bürokratisch-militäri-schen Managerelite, die ganz totalitär vonoben herab die Wirtschaft kontrolliert. Die-ses System bricht nun zum Glück gerade zu-sammen. Unser eigenes System wird derzeitvon innen heraus nicht infragegestellt; diesmüßte aber geschehen. Ein Bild der zukünf-tigen Gesellschaft, die daraus entsteht, läßtsich immer zeichnen.

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AUS „JOURNALISM« (1940)

SprecherDas Alphabet hat nur 26 Buchstaben.Doch mit diesen 26 magischen Symbo-len werden Tag für Tag Millionen vonWörtern geschrieben.

AUS »DEMOCRACY'S DIARY« (1948)

SprecherNirgendwo sonst sind die Menschen soabhängig vom gedruckten Wort, um anInformationen zu gelangen. Nichtsbleibt dem amerikanischen Zeitungsle-ser lange verborgen. Zwar kommt unsertägliches Morgenblatt unauffällig daher;aber bis es auf der Türschwelle liegt, wiees überhaupt dort h inkommt- dahinterverbirgt sich eine der wichtigsten Seitendes Journalismus.

GEORGETOWN UNIVERSITY, USA

ChomskyZur Rolle der Medien in der Demokra-tie gibt es eine Lehrmeinung. Sie hattez. B. der Oberste Bundesrichter Powellim Sinn, als er feststellte, die Medienseien unverzichtbar dafür, daß dieMedien die Politik wirksam kontrollie-ren kann. Damit kommt zum Ausdruck,daß in einer Demokratie freier Zugangzu Informationen, Medien und Gedan-ken herrschen muß - das gilt für dasgesamte Geistesleben.

AUS »DEMOCRACY'S DIARY« (1948)

Eine gesunde Demokratie ist daraufangewiesen, daß keine einzige Phase derRegierungstätigkeit dem scharfen Augeder Presse entgeht. Unsere Reporterwerden auf Sachen angesetzt, die vonschicksalhafter Bedeutung für manch-mal alle Länder sind. Im Ersten Verfas-sungszusatz heißt es, daß der Kongreß

»Journalism« wurde als Teil der Serie »YourLife Work« von Vocational Guidance FilmsInc. hergestellt. Die American Archives of theFactual Film haben hunderte solcher Filmegesammelt

»Democracy's Diary« entstand im Auftragder New York Times. Im Innenbereich derNew York Times wurden bisher nur ganzwenige Filme gedreht, denn man trifft dortbei der Zulassung von Filmteams anschei-nend eine besonders strenge Auswahl. Beiöffentlichen Führungen sind Kameras ver-boten. Wir konnten unseren Zuschauerneinige seltene Einblicke in die Festung NewYork Times verschaffen. Wie wir dort Zutritterhielten, steht auf S. 85

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kein Gesetz verabschieden darf, das dieFreiheit der Presse beeinträchtigenwürde. Und der Oberste Amtsinhaberöffnet persönlich die Türen des WeißenHauses für die Journalisten.

UNIVERSITY OF WYOMING,LARAMIE

ChomskyMan sollte aber nicht vergessen, daß esauch die gegenteilige Meinung gibt.Diese gegenteilige Meinung ist sogar inunserer Kultur weit verbreitet und tiefverwurzelt. Sie führt auf die Ursprüngeder modernen Demokratie zurück,nämlich zur Englischen Revolution im17. Jahrhundert, die - wie fast alle Revo-lutionen - eine komplizierte Sache war.Es gab einen Machtkampf zwischen demParlament, das vor allem den Landadelund die Kaufmannschaft vertrat, undden Royalisten, hinter denen andereTeile der Eliten standen. Und dieserKampf wurde ausgefochten. Aber wie esin vielen Revolutionen so geht, andenen das Volk beteiligt ist, gab es auchhier viel Unruhe im Volk, die sich gegenalle derartigen Gruppen richtete. Man-che Volksbewegungen stellten alles inFrage - das Verhältnis zwischen Herrenund Knechten, überhaupt das Recht aufHerrschaft, alles mögliche. Viele radi-kale Ideen wurden veröffentlicht, es gabja seit kurzem die Druckerpresse. Diesnun war für die Eliten beider Parteienbeunruhigend. Ein zeitgenössischerHistoriker hat sich 1660 dazu geäußert.Er kritisierte die radikalen Demokraten,die das forderten, was wir als Demokra-tie bezeichnen würden, weil sie dieMenschen so neugierig und so arrogantgemacht hätten, daß diese nie mehr dieDemut zeigen würden, sich unter einbürgerliches Regiment zu beugen.

In seiner Verurteilung der Radikaldemokra-ten, die während der Englischen Revolutionim 17. Jahrhundert damit gedroht hatten,»in der Welt das unterste zuoberst zu keh-ren«, beklagt sich im Jahre 1661 der Histo-riker Clement Walker:

Sie haben alle Mysterien und Geheimnisse der

Regierung (...) vor die Plebs hingeworfen (wie

Perlen vor die Säue), und haben die Soldaten und

das Volk gelehrt, genau hineinzuschauen und jeg-

liche Regierungsmacht auf die Grundsätze der

Natur zurückzuführen. Dadurch haben sie die

Menschen so neugierig und so arrogant gemacht,

daß diese nie mehr die Demut zeigen werden, sich

unter ein Bürgerliches Regiment zu beugen.

Necessary Illusions S. 131-132.Siehe auch »The Bewildered Herd and itsShepherds« in Deterring Democracy S. 357

In Zuge der Englischen Revolution [des 17.Jahrhunderts] kam es zu Diskussionen undKämpfen über einige politische Grundsatz-fragen. Dies führte dazu, daß diejenigen,die das Feudalsystem niedergehalten hatte,nun die offene Bühne betraten (...)Wenn wir über mehr als drei Jahrhundertehinweg auf die Vorgänge jener Zeit zurück-schauen, stellen wir mit Erstaunen - undmit tiefer Befriedigung - fest, daß viele dergrundlegenden Fragen, über die wir heutenoch debattieren, schon damals von einerGruppe von Männern und Frauen aufge-worfen und streitbar vertreten wurden, diesich Levellers nannten. Ihnen gelang diestrukturierte Formulierung von Verfas-sungsprinzipien, auf die sich später die fran-zösischen und amerikanischen Revolu-tionäre berufen sollten (...) Noch beachtli-cher waren die Diggers, oder »Wahren«Levellers, die in klaren Umrissen einendemokratischen Sozialismus entwarfen, ein-geschlossen die Forderung nach gemein-schaftlichem Eigentum an Grund undBoden, nach Gleichberechtigung der Frau,nach einem dem Volk verantwortlichen Par-lament und nach öffentlicher Versorgungim Gesundheits- und im Schulwesen.Aus Britain 's First Socialists: The Levellers, Agi-tators and Diggers of the English Revolution vonFenner Brockway (Quartet Books 1980)S. ix-x

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Die Levellers forderten Demokratie nichtnur für die Gesellschaft, sie wandten sieauch auf ihre eigene Organisation an —abermals ungewöhnlich im fernen 17. Jahr-hundert, einer Zeit, da das tägliche Lebenautoritär und bürokratisch geprägt war (...)Erstaunlich war das Tempo, das jederBereich der Partei bei seiner Tätigkeit vor-legte. Da wurden Petitionen im Untergrundgedruckt, dann 10.000 Unterschriften in-nerhalb von zwei Tagen gesammelt und amdritten Tag im Parlament vorgelegt; da wur-den laufend Streitschriften der Anführeraus den Gefängnissen geschmuggelt, heim-lich gedruckt und weitgestreut verteilt (...);da mobilisierte man zu aktuellen Anlässenbinnen weniger Stunden gewaltige Demon-strationszüge (...)Die Diggers vertraten ihre sozialistischenPrinzipien nicht nur, sie setzten sie auch indie Tat um (...) Nach jeder Landbesetzungwurden egalitäre Gemeinschaften gebildet;jeder arbeitete, alles wurde geteilt. Tapfertrotzten sie den Überfällen durch Gangster,die die Grundbesitzer gedungen hatten,weil diese erbost darüber waren, daß dasGemeindeland, das sie für ihre Viehzuchtan sich gerissen hatten, für alle dasein sollte(...) Am Ende unterlagen sie dem Staat undden Gerichten.Britain 's First Socialists S. 145-151

Die Radikaldemokraten der EnglischenRevolution des 17. Jahrhunderts vertratendie Ansicht; »Die Welt wird niemals gut sein,solange unsere Gesetze von Rittern undEdelleuten gemacht werden, die ihrenRang allein der Furcht verdanken; die unsnur unterdrücken, aber die Sorgen desVolkes nicht kennen. Es wird erst dann gutum uns stehen, wenn wir ein Parlament vonLandleuten wie wir haben, die unsereBedürfnisse kennen.« Doch das Parlamentund die Prediger hatten eine ganz andereVision: »Wenn wir vom Volke sprechen,dann meinen wir nicht die verwirrte und sit-tenlose Volksmasse.« Nach der entscheiden-den Niederlage der Demokraten stellte sich,wie eine Flugschrift der Levellers es aus-drückte, nur noch die Frage, »wessen Skla-ven die Armen sein werden«, die des Königsoder die des Parlaments.Necessary Illusions S. 23; Zitate aus The WorldTurned Upside Down von Christopher Hill(Penguin 1984) S. 60, 71

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GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyNun liegt dieser weitverbreiteten Dok-trin ein ganz bestimmter Demokratie-begriff zugrunde. Demokratie ist einSpiel für die Eliten, aber nicht für dieignorante Masse; die muß man margina-lisieren, ablenken und unter Kontrollehalten - selbstverständlich zu ihremeigenen Besten.Dieselben Grundsätze galten auch inden nordamerikanischen Kolonien.Das Diktum der Gründerväter der ame-rikanischen Demokratie lautete, in denWorten John Jays: »Das Volk, dem dasLand gehört, sollte es auch regieren.«Ich denke, heutzutage ist bei den Elitendie gegenteilige Auffassung vom geisti-gen Leben, von den Medien usw. dieherrschende Norm; alles andere sindrhetorische Phrasen.

STUDENTENRADIO »AMERICANFOCUS«, WASHINGTON

Elizabeth SikorovskyHier ist Washington, und dies ist derIntellektuelle, Buchautor und LinguistNoam Chomsky. Was will denn dieserBuchtitel besagen: ManufacturingConsent?

ChomskyAlso der Titel ist einem Buch von WalterLippmann entlehnt, das er so um 1921geschrieben hat. Er beschreibt dortetwas, das er die »Fabrikation eines Konsenses« nennt, und erblickt darin eine»Revolution der demokratischen Pra-xis«. Es läuft auf eine Steuerungstechnikhinaus. Seiner Meinung nach ist diesauch nützlich und notwendig, weil näm-

Niemand wird wohl bestreiten können, daßdie Konsensproduktion ziemlich weit ent-wickelt werden kann. Wie die ÖffentlicheMeinung eigentlich entsteht - dieser Vor-gang ist sicherlich noch komplexer, als eshier erscheinen mag, und die manipulati-ven Möglichkeiten, die jedem, der dieSache einmal verstanden hat, offenstehen,liegen auf der Hand.Das Herbeiführen von Konsens ist keines-wegs eine junge Kunst. Sie ist schon sehr altund galt eigentlich mit dem Aufkommender Demokratie als ausgestorben. Sie istaber nicht ausgestorben. Sie ist vielmehrtechnisch sehr verbessert worden, stützt siesich doch heute auf Analysen statt auf Faust-regeln. Und so hat die psychologische For-schung, im Verein mit der modernen Kom-munikationstechnik, der Demokratie eineneue Wendung gegeben. Hier findet eineRevolution statt, die viel bedeutsamer ist alsjede ökonomische Machtverschiebung.Die Generation, die heute an den Schalthe-beln sitzt, hat es erlebt, daß aus der Überre-dung eine bewußte Kunst und ein aner-kanntes Organ der Volksregierung gewor-den ist. Auch wenn niemand von uns auchnur im geringsten die Konsequenzen dar-aus abschätzen kann, so kann man wohlohne Risiko prophezeien, daß das Wissen,wie man Konsens schafft, jede politischeÜberlegung verändern und jede politischePrämisse beeinflussen wird (...) Es zeigtsich, daß dann, wenn es um die Welt außer-halb unserer direkten Einflußmöglichkeitgeht, wir uns nicht auf Intuition, Gewissenoder zufällig gerade vorzufindende Mei-nungen verlassen können.Public Opinion von Walter Lippmann (FreePress 1965; erstmals erschienen 1922) S. 158

Ich denke, die Lehren, die wir daraus ziehensollten, sind einigermaßen klar geworden.Da es an den Institutionen und an der Bil-dung fehlt, durch die uns die Welt um uns

herum so gut vermittelt werden könnte, daßdie Wirklichkeit der Gesellschaft sich über-deutlich gegen die ichbezogenen Meinun-gen abzeichnen würde, entgeht dasGemeinwohl der Öffentlichen Meinung fastvollständig; es kann infolgedessen nur einerKlasse von Spezialisten anvertraut werden,deren persönliche Interessen über den Tel-lerrand hinausreichen. Diese Klasse ist barjeder Verantwortung, denn sie handelt aufder Grundlage von Informationen, über diedie Allgemeinheit nicht verfügt, und inSituationen, deren sich diese garnichtbewußt wird, und sie ist nur für die erzieltenErgebnisse rechenschaftspflichtig.Public Opinion S. 195

Walter Lippmann (1889-1974) war politi-scher Philosoph und Journalist. SeineSchriften begleiteten fast 6 Jahrzehnte langununterbrochen und scharfsichtig dasöffentliche Leben in den USA. Ein solchesMaß an Gelehrsamkeit, wie er es in die Dis-kussion und Analyse der gesellschaftlichenund politischen Probleme einbrachte, hattees bis dahin im amerikanischen Journalis-mus noch nicht gegeben. Während seinesgesamten Berufslebens bewahrte er sichseine unabhängige und kritische Hallungzu den Vorgängen im In- und Ausland,wobei er, obwohl kompromißlos denGrundsätzen der Demokratie verpflichtet,doch ein feines Gespür für die pragmati-schen Grenzen realer politischer Situatio-nen besaß. Er war zweifellos einer der tief-gründigsten und kultiviertesten Zeitungs-leute, die es je gab (...)In den zwanziger Jahren kreiste LippmannsDenken um das Verhältnis von Wissen und

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lich »das Gemeinwohl« - also die Dinge.die alle betreffen - von der Allgemein-heit »nicht begriffen« werden können.Die Allgemeinheit kann eben nicht mitihnen umgehen. Sie müssen dahereiner, wie er es nannte, »Klasse von Spe-zialisten vorbehalten bleiben.

Meinen in der Massengesellschaft. Als einerder ersten Gesellschaftswissenschaftler er-kannte er die zunehmende Kluft zwischenden Stereotypen, mit denen die Menschenihre politische Umgebung wahrnehmen,und den komplexen Realitäten der moder-nen Gesellschaft. Die Nachrichtenmedien -so Lippmann - reißen diese Kluft noch wei-ter auf, indem sie lieber vorgefilterte, ver-einfachte und überzeichnete politische Epi-soden verbreiten, als die Fakten und Quer-verbindungen zu erklären, die hinter diesenEreignissen stehen. Lippmann entwickelteZweifel, ob man dem Bürger überhaupt inausreichendem Maße die objektiven Kennt-nisse vermitteln könne, deren es für eineSelbstregierung im Sinne Jeffersons bedarf.Lippmann schlug ein systematisches Zusam-menwirken zwischen Beamten, politischenEntscheidungsträgern und Detailexpertenvor. Die Aufgabe der Bürger bestünde dar-in, die Entscheidungsprozesse dieser gutin-formierten Herrscher zu überwachen. Inseinen Büchern Liberty and the News, PublicOpinion und The Phantom Public demon-striert Lippmann seinen Pessimismus be-züglich der Vereinbarkeit der Demokratiemit den sozialen Bedingungen der moder-nen Gesellschaft. In An Enquiry into the Prin-ciples of the Good Society stellt er das Prinzipdes von Eigeninteressen freien Staatsmannsvor, als Heilmittel gegen die Auswüchse derMehrheitsherrschaft und als Gegengift zuden Gefahren des Elitarismus.Alan Waters in Thinkers of the Twentieth Cen-tury (St. James Press 1987)

DAS INGENIEURMÄSSIGE VORGEHEN

Hierunter soll einfach nur verstanden wer-den, daß man an die Aufgabe, die Menschenzur Unterstützung von Ideen und Plänen zubewegen, wie ein Ingenieur herangeht -indem man sich nämlich ausschließlich aufeine gründliche Kenntnis der Situation undauf die Anwendung wissenschaftlicherGrundsätze und bewährter Verfahren ver-läßt. Jeder Einzelne, jede Organisation istim Grunde auf Zustimmung durch die All-gemeinheit angewiesen, sieht sich also vordas Problem gestellt, diese Zustimmung zueinem Plan oder Ziel systematisch aufzu-bauen (...) Der systematische Aufbau vonKonsens ist das Herzstück des demokrati-schen Prozesses - die Freiheit, Vorschlägeüberzeugend präsentieren zu können. DieRede-, Presse-, Petitions- und Versamm-lungfreiheit, also die Freiheiten, die denKonsensaufbau ermöglichen, gehören zuden wertvollsten Verfassungsrechten derVereinigten Staaten (...)Man kann heute die Bedeutung des syste-

matischen Konsensaufbaus gar nicht hochgenug veranschlagen, betrifft er doch prak-tisch jeden Lebensbereich. Für gesellschaft-liche Belange eingesetzt, zählt er zu denwertvollsten Mitteln, um das effizienteFunktionieren der modernen Gesellschaftsicherzustellen (...) Jeder verantwortungs-bewußte politische Führer, der seine gesell-schaftlichen Ziele erreichen will, muß daherunablässig die Möglichkeit subversiverGegenaktionen im Auge behalten. Er mußseine Kraft dafür einsetzen, das operatio-nelle Knowhow des Konsensaufbaus zuerlangen, um im Interesse aller seine Geg-ner auszumanövrieren.Aus »The Engineering of Consent« vonEdward Bernays, in Annals of the AmericanAcademy of Political and Social Science, März1947, S. 114-115. Siehe auch Necessary Illusi-ons S. 16-17

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GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyBeachten Sie bitte, daß dies dem übli-chen Demokratieverständnis diametralentgegensteht. Eine Version verdankenwir dem hoch angesehenen Ethiker undTheologen Reinhold Niebuhr, dergroßen Einfluß auf die maßgebendenPolitiker seiner Zeit ausübte.In seinen Augen »liegt die Rationalitätbei den kühlen Beobachtern«, währendder »beschränkte Durchschnitts-mensch« nicht der Vernunft folgt, son-dern dem Glauben. Dieser naive Glau-ben wiederum verlangt nach »notwendi-gen Illusionen und gefühlsbetont über-triebenen Vereinfachungen«; derMythenschöpfer liefert sie und hältdamit den gemeinen Mann bei derStange.

Bei gesellschaftlichen Auseinandersetzun-gen benötigt jede Seite Kampfmoral.Kampfmoral aber erwächst aus den richti-gen Dogmen und Symbolen sowie aus emo-tional aufreizenden Vereinfachungen.Diese sind mindestens so wichtig wie wissen-schaftliche Genauigkeit. Eine Arbeiter-klasse, die sich restlos auf die »experimen-tellen Methoden« unserer heutigen Lehrerverließe, könnte sich niemals die Freiheitvon den herrschenden Klassen erkämpfen.Ihr Glaube an die gerechte Sache und denabsehbaren Sieg muß stärker sein, als einewertfreie Wissenschaft ihr zugestehen wür-de - nur so kann sie der Macht der Starkenenergisch genug die Stirn bieten.Reinhold Niebuhr, Moral Man and ImmoralSociety: A Study in Ethics and Politics (CharlesScribner's Sons 1960; zuerst 1932 erschie-nen) S. xv-xvi

Reinhold Niebuhr hielt Vorlesungen überTheologie. Sein Verdienst um eine gesundeWeltkirche lag vor allem darin, daß er dieTheologiestudenten auf ihre gesellschaftli-che Verantwortung vorbereitete. Vier Jahr-zehnte lang lehrte er Christliche Sozialphi-losophie am Union Theological Seminary inNew York (...) Er bestand zwar unverändertauf der traditionellen Trennung von Staatund Kirche in den USA, erwartete jedochvon seinen Studenten, daß sie sich im Rah-men ihres kirchlichen oder weltlichenBerufs aktiv dafür engagieren würden, ansoziale Probleme mit dem christlichen Blickfür den Menschen und seine Geschichteheranzugehen (...)Nach dem Zweiten Weltkrieg waren seineGedanken zu internationalen Fragen, vorallem zur Außenpolitik der USA, unter denMenschen, die über Außenpolitik nach-dachten, weit verbreitet. George Kennanbemerkte dazu in einer Betrachtung dersogenannten »realistischen« Richtung in derAußenpolitik: »Er war unser aller Vater.« Erkritisierte die Allmachts- und Unschulds-phantasien der USA und drängte darauf,daß die USA stattdessen ihre Macht in derNachkriegswelt verantwortungsbewußt ge-brauchen sollten.Ronald Stone in Thinkers of the TwentiethCentury (a. a. O.)

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AMERICAN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyEs wäre naiv anzunehmen, Indoktrinie-rung vertrage sich nicht mit Demokra-tie. Sie ist vielmehr - nach Meinung die-ser ganzen Denkschule - ein Wesenszugder Demokratie.Die Sache ist doch so: In einem Militär-staat, einem Feudalstaat oder einem, wiewir das heute nennen, totalitären Staatkommt es nicht darauf an, was die Leutedenken. Man kann ihnen eins mit demKnüppel über den Kopf geben, man hatihr gesamtes Tun unter Kontrolle.Wenn aber ein Staat über keine Knüp-pel mehr verfügt, wenn man das Han-deln der Menschen nicht mehr gewalt-sam beeinflussen kann und wenn ihreStimme vernehmbar ist, dann hat manein Problem. Unter diesen Umständenkönnen sie so neugierig und so arrogantwerden, daß sie nicht mehr so demütigsind, sich unter eine bürgerliche Herr-schaft zu beugen - also muß die Kon- .trolle sich auf das Denken der Men-schen erstrecken.Den Ausweg, der hierzu gewöhnlicheingeschlagen wird, pflegte man in ehr-licheren Zeiten Propaganda zu nennen.Fabrikation eines Konsenses. Schaffungnotwendiger Illusionen. Es ist immerdasselbe - entweder man marginalisiertdie Allgemeinheit, oder man versetztsie auf die eine oder andere Weise inApathie.

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KYOTO-PREIS FÜR GRUNDLAGEN-WISSENSCHAFT, JAPAN (1988)

Prestige und Volumen ($350.000) des Kyoto-

Preises sind mit dem Nobelpreis verglichen wor-

den. Die Inamori-Stiftung vergibt nur drei der-

artige Preise. Chomsky wurde für seine Lei-

stungen in der Grundlagenxuissenschaft geehrt.

Japanischer Übersetzer (kommentiert die

Diaschau zur Preisverleihung)

Avram Noam Chomsky wurde 1928 alsÄltester von 2 Brüdern in Philadelphia,USA, geboren. Als jüdisches Kind be-kam er den Antisemitismus seiner Zeitzu spüren. Beide Eltern lehrten Hebrä-isch; ihn selbst faszinierte die Literaturschon in jungen Jahren, er las amerika-nische und englische Literatur sowieÜbersetzungen französischer und russi-scher Klassiker. Besonders interessierteihn ein Buch seines Vaters über dieGrammatik des mittelalterlichen Hebrä-isch. Wenn er sich an seine Kindheiterinnert, sieht er sich auf dem Sofazusammengerollt und im Lesen versun-ken, neben sich bis zu 12 Bücher ausder Leihbibliothek. Seine Frau heißtCarol; sie haben 3 Kinder.

NOS TV (1971)

ChomskyIch möchte meiner Frau und meinenKindern ungern einen Lebensstil auf-zwingen, den sie sich selbst nicht aus-gesucht haben, nämlich im Licht derÖffentlichkeit und des Medieninteresseszu stehen. Wirklich, ich will sie davorbewahren. Der zweite, eher grund-sätzliche Punkt liegt darin, daß ich einGegner dieses Hochstilisierens von Men-schen in der Öffentlichkeit bin, diedann geradezu wie Stars behandelt wer-den und deren rein persönliche Zügemit Bedeutungen befrachtet werden.

Der Antisemitismus ist ein anderer gewor-den - jedenfalls seit meiner Jugend. In demViertel von Philadelphia, wo ich aufwuchs,waren wir praktisch die einzige jüdischeFamilie (...) in einem irisch und deutschgeprägten, überwiegend katholischenMilieu. Dort war der Antisemitismus äußerstreal. Wenn ich einkaufen gehen wollte,konnte ich nur bestimmte Wege nehmen,wenn ich nicht verprügelt werden wollte.Das war in den späten dreißiger fahren, unddie Leute in dem Viertel waren ganz offenfür die Nazis. Ich kann mich an Bierpartieserinnern, als Paris gefallen war - solcheSachen. Es war zwar nicht mit dem Lebenunter Hitler vergleichbar, aber doch unan-genehm genug. In dem Viertel, in dem ichaufwuchs, herrschte ein wirklich militanterAntisemitismus - auch später noch. Auch inHarvard war der Antisemitismus noch spür-bar, als ich Anfang der 50er Jahre dort hin-kam. Damals gab es dort nur ganz wenigejüdische Professoren. Sie tauchten hier undda auf, waren aber noch sehr dünn gesät.Die Eliteeinrichtungen erlebten noch dieNachwehen einer langen Periode des weiß-angelsächsisch-protestantischen Antisemi-tismus.All dies hat sich in den letzten dreißig Jah-ren radikal verändert. Zweifellos gibt esimmer noch Antisemitismus, aber wohlmehr so wie andere Vorurteile auch. Ichglaube nicht, daß er stärker ausgeprägt istals etwa die Ablehnung von Italienern oderIren. Das aber bedeutete einen Umschwungbinnen einer Generation, wie ich ihn ebenselbst erlebt habe und wie er quer durch dieGesellschaft sichtbar geworden ist.Aus »Israel, the Holocaust, and Anti-Semi-tism« in Chronicles of Dissent S. 96

James Peck

Sie haben mal irgendwo gesagt: »Es sprichtmanches dafür, daß wir über das, was einige>den vollwertigen Menschen< nennen,durch die Literatur aller Zeiten ein tieferesVerständnis gewinnen, als wissenschaftli-cher Forschergeist sich jemals erhoffenkonnte.«

Chomsky

Richtig, und ich glaube auch daran. Ichgehe sogar noch weiter: Es ist so gut wiesicher. Nur: Wenn ich zum Beispiel dasWesen Chinas und seiner Revolution verste-hen will, dann muß ich gegenüber literari-schen Darstellungen vorsichtig sein. SehenSie, als Kind habe ich zum Beispiel RickshawBoy gelesen, und das hat mich natürlichbeeinflußt, wirklich ungeheuer beein-druckt. Es liegt schon so weit zurück, daß ichmich an nichts mehr erinnern kann - nuran die Wirkung. Zweifellos haben sich beimir - wie bei jedem Menschen - durch dasviele Lesen die Einstellungen verändert undder Blick geschärft; da gab es die hebräischeLiteratur, die russische Literatur usw. Aberletzten Endes muß man die Welt doch imLicht anderer Quellen sehen - solcher, dieman beurteilen kann. Die Literatur kannmeine Phantasie anregen und mein Ver-ständnis vertiefen, aber die Fakten, ausdenen ich meine Schlußfolgerungen ziehenund erhärten kann, kann sie nicht liefern.

Aus einem Interview in The Chomsky ReaderS. 3-4, das noch weitere aufschlußreicheHintergrundgedanken Chomskys enthält.

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EMPFANGSRAUM IN LARAMIE

TontechnikerinEmpfangsraum die erste.

Junge FrauSie haben gesagt, Sie wären genausowie wir. Sie sind zur Schule gegangen,haben einen guten Abschluß gemachtund ... Wie kam es dann dazu, daß Sie,na ja, daß Sie kritisch wurden undUnterschiede bemerkten - wie kam eszu diesem Wandel?

ChomskyNun, jeder unterliegt ja in seinemLeben allen möglichen ganz persön-lichen Faktoren. Vor allem wuchs ichwährend der Weltwirtschaftskrise auf,das dürfen Sie nicht vergessen.

ROWE CONFERENCE CENTER,ROWE, MASSACHUSETTS, USA

ChomskyEs war nun so, daß meine Eltern beidenoch Arbeit hatten, was ziemlich un-gewöhnlich war. Sie lehrten Hebräischan der Schule und konnten zur unterenMittelklasse gerechnet werden. Beiihnen drehte sich alles um ihr Juden-tum. Ums Hebräische, um die damaligeLage in Palästina und so weiter. In die-sem Milieu bin ich aufgewachsen. Dasheißt also, ich lernte Hebräisch, ichging auf eine hebräische Schule, wurdeHebräischlehrer, ging auf ein hebräi-sches College; ich hatte Jugendgruppen,leitete hebräische Ferienlager, alles wases so gab. Ich gehörte zu dem Zweig derzionistischen Bewegung, der voll füreinen binationalen Sozialismus, diejüdisch-arabische Zusammenarbeit undandere schöne Ziele eintrat.

Ich kann mich erinnern - da kamen Leutean die Tür, die verkauften Lumpen. Ich sahdie Verzweiflung dieser Menschen, ihreErniedrigung. Als Kind habe ich Hitler imRadio gehört. Er zielte genau auf diese Un-derdogs ab.In Philadelphia mußte ich einmal mit anse-hen, wie die Polizei streikende Textilarbei-terinnen vor der Fabrik zusammenschlug.Ich sehe es noch vor mir, wie sich dieseFrauen ihre Kleider vom Leibe reißen in derHoffnung, die Polizisten würden Schamempfinden und von ihnen ablassen. Sie ha-ben aber weitergeprügelt.Also über Underdogs wußte ich sehr frühBescheid.Aus »Conversations« von Marian Christy imBoston Globe 31.05.89

Am Straßenrand stehen Männer mit Schil-dern »Biete Arbeit gegen Essen«. Das erin-nert mich an die dunkelsten Tage dergroßen Depression, und doch gibt es einenwichtigen Unterschied zu damals: Obwohldie jetzige Rezession lange nicht so schlimmist, scheint die Hoffnungslosigkeit viel tieferzu sein. Zum erstenmal in der Geschichteder Industriegesellschaft ist das Gefühl ver-breitet, daß keine Besserung zu erwarten istund daß es keinen Ausweg gibt.Year 501: The Conquest Continues S. 281

Chomsky veranstaltete im Rowe Confe-rence Center mit ca. 60 Personen ein dreitä-giges Frage-und-Antwort-Seminar. Dieseausgreifende Diskussion wurde von Winto-nick und Achbar festgehalten; die 7 Bänderumfassende Aufnahme ist bei AlternativeRadio erhältlich. Zu den Reaktionen einerTeilnehmerin siehe S. 223.

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BÜRO IM MIT

David BarsamianWas haben Ihre Eltern denn dazugesagt, als Sie sich in einen Zug gesetzthaben und nach New York gefahrensind, um sich dort in den anarchisti-schen Buchläden der Vierten Avenueherumzudrücken und sich mit IhrenVerwandten aus der Arbeiterklasse zuunterhalten?

ChomskyDie hatten nichts dagegen. Ich kannmich natürlich in meinen Kindheits-erinnerungen täuschen, aber - dieFamilie stiebte ja auseinander. Wie inso vielen jüdischen Familien gingen dieInteressen auch hier in ganz verschie-dene Richtungen. Da gab es die Ultra-Orthodoxen. Dann gab es Intellektu-elle, sehr radikal, assimiliert und an derArbeiterklasse orientiert. Und zu diesenfühlte ich mich natürlich hingezogen.Es war eine höchst lebendige intellektu-elle Kultur. Vor allem war es eine Kulturder Arbeiterklasse mit deren Wertvor-stellungen. Solidarität, Sozialismus, sol-che Dinge. Es herrschte, wenn auchunbestimmt, das Gefühl vor, es würdeschon irgendwann besser werden.Was ich damit meine, ist: Wir lebten ineiner Struktur, waren von Institutionenumgeben, wußten zu kämpfen, uns zuorganisieren, Dinge zu bewirken - allesirgendwie Hoffnungszeichen.

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UNIVERSITY OF WYOMING,LARAMIE

ChomskyUnd dann hatte ich das Glück, auf eineVersuchsschule zu gehen, so eine vomDewey-Typ, die wirklich gut war. Siewurde von der Universität betrieben.So etwas wie Konkurrenz gab's da garnicht, sowas wie gute oder schlechteSchüler. Also ich meine das ganz wört-lich - der ganze Begriff »Guter Schüler«blieb mir fremd, bis ich auf die HighSchool - in meinem Fall die akademi-sche High School - kam und plötzlichentdeckte, daß ich ein guter Schülerwar. Ich hab' die High School gehaßt,weil ich da alles tun mußte, was ebendort nötig war, um aufs College zu kom-men. Aber vorher war es eigentlich einfreies, recht offenes System. Naja, esgab noch 'ne Menge anderer Sachen -aber vielleicht war ich auch nur zukritisch.

Wenn ich mich zu erinnern suche, was ichdamals erlebt habe, so ist da nur ein dunklerFleck. Aber so ist es wohl immer mit derSchulzeit. Da wird reglementiert und befoh-len, teils sogar regelrecht indoktriniert, undim Ergebnis entstehen falsche Überzeugun-gen. Aber für noch schlimmer halte ich dieArt und Weise, wie unabhängiges, kreativesDenken unterdrückt und blockiert wird, wieman für Hierarchie und Konkurrenz sorgt,wie man Höchstleistungen fordert - d. h.man soll nicht so gut sein, wie man kann,sondern man soll besser sein als der andere.Natürlich sind nicht alle Schulen gleich,aber durchweg sieht es wohl so aus. Not-wendig ist das alles nicht, denn die Schule,die ich besuchte, war beispielsweise über-haupt nicht so.Meiner Meinung nach könnte man dieSchule ganz anders aufziehen. Wichtig wäredas schon, nur fürchte ich, eine auf auto-ritäre hierarchische Institutionen gegrün-dete Gesellschaft würde wohl kaum längereZeit ein derartiges Schulsystem tolerieren.Aus einem Interview mit James Peck in TheChomsky Reader S. 6

Das Erziehungsziel (...) kann doch nichtdarin liegen, die Entwicklung des Kindesauf ein vorbestimmtes Ziel hin zu steuern.Ein solches Ziel müßte ja willkürlich undautoritär festgelegt werden. Erziehungmüßte sich vielmehr vornehmen, dem sichentfaltenden Lebensprinzip seinen eigenenWeg zu öffnen; sie müßte diesen Prozeßdurch Empathie, Ermunterung und Her-ausforderung fördern, und sie müßte einevielseitige Umgebung dafür schaffen.Mit dieser humanistischen Erziehungsaul-fassung sind natürlich einige Annahmenüber die innere Natur des Menschen ver-bunden, vor allem über die zentrale Rolledes kreativen Antriebs. Sollten diese Annah-men, obwohl angemessen umgesetzt, sichals unzutreffend erweisen, dann wären die-

se speziellen Schlußfolgerungen zur päd-agogischen Theorie und Praxis eben nichtbewiesen. Sollten sie aber richtig sein, dannmüssen wir einen großen Teil unserer mo-dernen Bildimgspraxis in Frage stellen.Aus »Toward a Humanistic Conception ofEducation« in: Walter Feinberg u. HenryRosemont (Hrsg.), Work Technology and Edu-cation: Dissenting Essays in the IntellectualFoundations of American Education (Univer-sity of Illinois Press 1975)

John Dewey: Philosoph, der mit seinenpädagogischen Schriften im 19. und frühen20. Jahrhundert Neuland betrat. Er begrün-dete den philosophischen Pragmatismus.Seine Ideen beeinflußten das Erziehungswe-sen weltweit und sind auch heute noch wirk-sam, vor allem im Grundschulbereich.Seine Theorien legte er in seinen WerkenSchool and Society (1889), The Child and theCurriculum (1902) und Democracy and Educa-tion (1916; dt. Demokratie und Erziehung) dar.Quelle: Encyclopedia Britannica 1990

A. NOAM CHOMSKYDer unsterbliche 110. Jahrgang hätte keinenbesseren Schüler als »Chum« hervorbringenkönnen. Auf allen Wissensgebieten stand erin unserer Schule in vorderster Reihe. Vieleder Jüngeren werden bezeugen können,welch ausgezeichneter Tutor er war. AlsTutorenpräsident konnte er seine organisa-torischen Fähigkeiten unter Beweis stellen.Darüber hinaus war er auch in vielen Clubsaktiv. Seine gefällige Art hat ihn bei allen,die mit ihm zu tun hatten, beliebt gemacht.Wir gehen gewiß nicht fehl, wenn wir»Chum« eine brillante Forscherkarriere inder Chemie prophezeien.The Odyssey, Oak Lane Country Day School1945

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AUS »THIRD EAR«

Jonathan SteinbergMich als Historiker hat Ihre langeBesprechung des Buches Spanish CivilWar von Gabriel Jackson fasziniert. Dasist wirklich ein respektables StückGeschichtswissenschaft; da steckt einHaufen Arbeit drin, ich kann das beur-teilen. Wann finden Sie eigentlich die ...

ChomskySie wollen wissen, wann ich diesenArtikel geschrieben habe?

Jonathan SteinbergJa, wann war das?

ChomskyDen habe ich Anfang der vierziger Jahregeschrieben, da war ich so etwa zwölf.Meinen allerersten Artikel schrieb ichfür die Schülerzeitung, nachdem Barce-lona gefallen war. Ich beklagte darinden Aufstieg des Faschismus im Jahre1939.

Was mein frühes Interesse am Spanischen Bür-gerkrieg angeht, so muß da wohl irgendwasdurcheinandergeraten sein. Ich soll also in einemBBC-Interview gesagt haben, ich hätte die Grund-lagen dafür bereits in der Schülerzeitung gelegt.Habe ich das wirklich so gesagt ? Falls ja, würdees nicht stimmen; aber vielleicht ist ja auch imZuge des Interviews etwas verwechselt, worden.Soweit ich mich erinnern kann, war es so, daß ichnach dem Fall von Barcelona in der Klassenzei-tung einen Artikel schrieb, der heute wohl nur mitdem allergrößten Glück wieder aufzutreiben seindürfte. Das war also A nfang 1939. Etwa ab 1941fuhr ich regelmäßig nach Nerv York (mit der Bahnnatürlich) und trieb mich in den Antiquariatenauf der Vierten Avenue, herum oder im Büro derAnarchistenzeitschrift »Freie Arbeiterstimme,«,unter anderem. Dort stieß ich auf Veröffentli-chungen über alle möglichen Themen, so auchüber die Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg.Aber davon kann nichts in dem Schülerartikelvon 1939 zu finden sein; der behandelte die dro-hende Ausbreitung des Faschismus, wofür derFall von Barcelona nur das jüngste Beispiel dar-stellte. Zwar haben mich linkslibertäre, Ideenschon damals fasziniert, aber mehr erfuhr ich überden Anarchismus in Spanien erst Anfang dervierziger Jahre aus den entsprechenden Berichten.Chomsky in einem Brief vom 10.09.91 anMark Achbar

Gemeint ist die Besprechung »Objectivityand Liberal Scholarship« im Chomsky ReaderS. 83-120 (aus American Power and the NewMandarins)

Zu den sehr aufschlußreichen Vorurteilen,denen die offizielle Geschichtsschreibungüber den Spanischen Bürgerkrieg unter-liegt, vgl. auch »Objectivity and LiberalScholarship« im Chomsky Reader S. 83-120(aus American Power and the New Mandarins)

Chomsky schreibt: »Grand Camouflage vonBurnett Bolloten war ein wichtiges Werk,unverzichtbar für jeden, der sich mit demSpanischen Bürgerkrieg beschäftigt. Seineneueste Arbeit, The Spanish Revolution, istwomöglich noch bedeutender.«Zitiert in Radical Priorities S. 244

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ROWE CONFERENCE CENTER

ChomskyIch glaube übrigens, einer der Men-schen, die mich am meisten beeinflußthaben, war ein Onkel von mir, der esselbst nie weiter als bis zur vierten Klassegebracht hatte. Er hatte eine bewegteVergangenheit: erst kriminell, dann beider Linken politisch aktiv, alles mögli-che. Weil er nun aber einen Buckelhatte - es gab damals eine Art Hilfspro-gramm für Körperbehinderte - bekamer einen Zeitungsstand in New York.Einige hier sind doch bestimmt aus NewYork. Kennt jemand den Kiosk an der72. Straße?

FrauJa, ich!

ChomskySie kennen den also? Sehen Sie, dorthabe ich meine politische Bildungerhalten. 72. Straße - man kommt daaus der U-Bahn hoch, und alle laufen inRichtung 72. Straße. Und auf der Seitegab es zwei florierende Zeitlingsstände.Es gab aber noch zwei andere Stände ander Rückseite. Bloß, da hinten kommtnie jemand hoch, und genau dort lagsein Stand (Lachen). Und doch war daimmer viel los; er war ein heller Kopf, esgab viele Emigranten und so - das warja in den dreißiger Jahren. Also dorthing immer ein Haufen Leute herum.Besonders abends war es so eine Artliterarisch-politischer Salon. 'Ne MengeTypen stehen herum, reden, diskutie-ren, und dazwischen ich mit meinen11,12 Jahren, und mein größter Kickwar, im Zeitungsstand den Verkäuferzu spielen.

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KUOW (HÖRERRADIO), SEATTLE

Ross ReynoldsIn Manufacturing Consent schreiben Sie,die wichtigste Funktion der Massenme-dien in den USA sei es, die Öffentlich-keit zur Unterstützung derjenigen Son-derinteressen zu bewegen, welche dieRegierung und den privaten Sektorbeherrschen. Welche Interessen sinddenn das?

ChomskyAlso, wenn man verstehen will, wie einGesellschaftssystem funktioniert - unsereigenes oder jedes andere - dann mußman als erstes herausfinden, wer in wel-cher Position darüber entscheidenkann, wie es zu funktionieren hat.

UNIVERSITY OF WYOMING,LARAMIE

ChomskyDie einzelnen Gesellschaftssystemeunterscheiden sich voneinander, aber inunserer Gesellschaft liegen die wesentli-

chen Entscheidungen über das, was hierablaufen soll - Investitionen, Produk-tion, Distribution usw. - in den Händen

eines Netzwerks aus großen Konzernen,Multis und Finanzunternehmen. Diesestellen auch die Inhaber der wichtigstenRegierungsämter. Ihnen gehören dieMedien; sie können die eigentlichenEntscheidungen fällen. Sie besitzengeradezu übermächtige Gewalt über ,unser Leben — also über das, was in denGesellschaft passiert. Sie beherrschendas Wirtschaftsleben, schon prinzipiellund auch noch durch die Gesetze. Dasie alle Ressourcen kontrollieren undüberall ihre Interessen durchsetzen wol-len, unterliegt unser politisches undideologisches System äußerst scharfenBeschränkungen.

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BÜRO IM MIT

David BarsamianWir reden hier über die Fabrikationeines Konsenses. Wessen Konsens wirddenn da fabriziert?

ChomskyZunächst geht es da um zwei Gruppen.Wir können später mehr ins Detailgehen, aber grob besehen wendet sichdie Propaganda an zwei Zielgruppen.Da ist einmal das, was manche Leute alsdie politische Klasse bezeichnen. Dieseumfaßt die ca. 20 Prozent der Bevölke-rung, die gebildet sind, sich ausdrückenkönnen und einen gewissen Einfluß aufdie Entscheidungen ausüben. Vondenen wird erwartet, daß sie am Lebender Gesellschaft in irgendeiner Weisepartizipieren - sei es als Manager, sei esals Kulturschaffende wie z. B. Lehrer,Schriftsteller usw. Sie gehen vermutlichauch zur Wahl, sie spielen eine Rolle imWirtschaftsleben, in der Politik oder derKultur. So, und deren Beitritt zu demKonsens ist von entscheidender Bedeu-tung. Diese Gruppe muß also ganz hef-tig indoktriniert werden. Bleiben nochdie restlichen 80 Prozent der Bevölke-rung. Die sollen vor allem gehorchenund nicht nachdenken oder sich umirgend etwas kümmern — sie sind esallerdings, die meistens die Zechebezahlen müssen.

Bereits im Jahre 1947 stellte ein PR-Spezia-list des US-Außenministeriums fest, daß»clevere Öffentlichkeitsarbeit sich immerlohnt«. Die öffentliche Meinung »ist nichtvon allein nach rechts gedriftet, sondern siewurde - ganz geschickt - nach rechts bewegt(...) Die ganze Welt ist nach links gewan-dert, hat Arbeiterparteien an die Regierunggebracht und liberale Gesetze verabschie-det - einzig die USA sind zu einem Gegnerder Arbeiterbewegung und des sozialen undwirtschaftlichen Wandels geworden.«Necessary Illusions S. 31

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AUS »TV DINNER« (OFFENERKANAL), ROCHESTER, NEW YORK,USA

Ron LinvilleAlso, Professor Chomsky - Noam: Siehaben ein Modell skizziert, von den Fil-tern, die die Propaganda passierenmuß, ehe sie die Öffentlichkeit erreicht.Könnten Sie die mal kurz umreißen?

ChomskyEs ist im Grunde eine Institutions-analyse der wichtigsten Medien, aberwir nennen es ein Propagandamodell.Wir reden dabei in erster Linie von denüberregionalen Medien, also vondenen, die sozusagen die Themen set-zen, nach denen sich die übrigen mehroder weniger richten, soweit sie sichüberhaupt mal mit nationalen oderinternationalen Angelegenheitenbefassen.

Wer die Argumente, die das Propaganda-modell stützen, genauer kennenlernen will- jedenfalls besser, als dieses Buch oderder Film es vermitteln kann - der möge siein Manufacturing Consent und in NecessaryIllusions: Thought Control in DemocraticSocieties nachlesen. Zwar spiegeln alle poli-tischen Veröffentlichungen von Chomskyund Herman das Modell wider, doch wirdnicht immer so explizit Bezug daraufgenommen wie in den beiden genanntenBüchern.

Ein Propagandamodell

Die Massenmedien dienen als System zurÜbermittlung von Symbolen und Botschaf-ten an die breite Masse. Sie sollen amüsie-ren, unterhalten und informieren, und siesollen jedem diejenigen Werte, Glaubens-sätze und Verhaltensregeln einflößen, dieihn in die institutionellen Strukturen derGesellschaft integrieren. In einer Welt kon-zentrierten Reichtums und heftiger Klas-senkämpfe bedarf es zu dieser Rolle einersystematischen Propaganda.Solange die Macht über ein Land in derHand einer staatlichen Bürokratie liegt,wird schon durch die monopolistischeMedienkontrolle - häufig noch durch eineoffizielle Zensur verstärkt - deutlich, daßdie Medien den Zielen der herrschendenElite dienen. Wo aber die Medien sich inPrivatbesitz befinden und es keine formelleZensur gibt, da ist das Wirken eines Propa-gandasystems viel schwieriger zu verfolgen -ganz besonders, wenn die Medien mitein-ander konkurrieren, in regelmäßigen Ab-ständen Mißstände in der Regierung oderim Big Business anprangern, sich also mas-siv als Vorkämpfer für das Recht der freienRede und überhaupt für die Interessen derGemeinschaft in Szene setzen. Dabei bleibtverborgen (und wird in den Medien auchnie angesprochen), daß dieser Kritik engeGrenzen gezogen sind und daß die Mittel,durch deren Einsatz man Zugang zu denPrivatmedien gewinnen und ihr Verhaltenbeeinflussen kann, extrem ungleich verteiltsind.Ein Propagandamodell faßt diese ungleicheVerteilung von Macht und Reichtum insAuge und ebenfalls die vielfältigen Auswir-kungen dieser Ungleichheit auf die Interes-sengebiete und die Themenauswahl derMassenmedien. Das Modell zeichnet dieWege nach, über die Kapital und Macht indie Lage versetzt werden, das jeweils Druck-

bare herauszusieben, abweichende Meinun-gen an den Rand zu drängen und es der Re-gierung und den vorherrschenden Privat-interessen zu ermöglichen, ihre Botschaftan den Mann und an die Frau zu bringen.Die wichtigsten Komponenten unseres Pro-pagandamodells oder »Nachrichtenfilter«-Sets sind:(1) die Größe der wichtigsten Medien-

gesellschaften, die Konzentration unddas Vermögen ihrer Eigentümer, sowieihre Gewinnorientierung

(2) die Werbung als Haupteinnahmequelleder Massenmedien

(3) die Abhängigkeit der Medien von denInformationen, die ihnen von derRegierung, der Wirtschaft und den vondiesen Machtzentren alimentiertenund approbierten »Experten« geliefertwerden

(4) »Flak« als Mittel zur Disziplinierungder Medien

(5) »Antikommunismus« als nationale Reli-gion und als Kontrollmechanismus.

Diese Komponenten wirken zusammen undverstärken sich gegenseitig. Das primäreNachrichtenmaterial muß eine Folge vonFiltern durchlaufen, bis der gesäuberte, fürdruckbar erachtete Rest übrigbleibt. Es sinddiese Komponenten, die die Grundsätze fürDiskurs und Interpretation festlegen unddie definieren, was überhaupt einen Neuig-keitswert besitzen soll. Aus ihnen erklärensich auch die Gründe und die Abläufe regel-rechter Propagandafeldzüge.Aus »A Propaganda Model« in Manufactu-ring Consent S. 1-2*)

*) Mit der Literaturangabe ManufacturingConsent ist im folgenden stets das Buch Ma-nufacturing Consent: The Political Economy ofthe Mass Media von Herman und Chomskygemeint. Buch oder Film ManufacturingConsent: Noam Chomsky and the Media sindstets komplett angegeben.

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RADIO KUOW, SEATTLE

ChomskyAlso die Elitemedien, das sind die, diesozusagen die Themen setzen. Dasheißt, die New York Times, die WashingtonPost, die großen TV-Kanäle usw. Diebestimmen den allgemeinen Rahmen,und die lokalen Medien passen sichdann dieser Struktur mehr oder weni-ger an.

ABC TV NEWS, NEW YORK

Mann (spricht ins Telefon)Hier World News.

DirektorEs heißt in diesem kurzen Ausschnitt,daß es da einen Brückenkopf gibt. . .

RedakteurIch denk' schon, daß wir's schaffenkönnten; wir haben eine Minute ins-gesamt, also bei 35 ...

NachrichtenleiterHier ist der entscheidende Ausschnittfür uns - also unserer.

Peter JenningsIch liebe diesen Ausschnitt.

NachrichtenleiterAlso ich ... ich meine, Peter ...

Peter JenningsIch denke, 6:28 ist prima.

NachrichtenleiterJa, aber ich glaube ... ich glaube ... ichdenke, sechs ist ein guter Anfang.

Dieses Insidergespräch wurde aus demAbfall von Aufnahmen montiert, die beiABC News für The World Is Watching ge-macht wurden — einen außergewöhnlicheneinstündigen Film, der das Propagandamo-dell in Aktion zeigt.Die Filmemacher erhielten die einmaligeChance, innerhalb der ABC TV News unge-hindert filmen zu dürfen. Sie begleiteten einFilmteam in Nicaragua und dokumentiertengleichzeitig die redaktionelle Bearbeitungim ABC-Nachrichtenraum in New York.Vgl. auch: R. V. Ericson, P. M. Baranek, J. B.L. Chan, Visualizing Deviance: A Study of NewsOrganization (University of Toronto Press1987)Diese Untersuchung stützt sich auf ausge-dehnte Feldstudien in Radio- und Zeitungs-betrieben. Sie analysiert, wie die Journali-sten einer Meldung ihren Neuigkeitswertzuordnen und dadurch einen erheblichenEinfluß auf die gesamtgesellschaftlichenWerte ausüben. Nach Meinung der Au-tor/inn/en Hegt der Kern einer Nachricht inihrer Relevanz für die Kontrolle abweichen-den Verhaltens. Wie die Untersuchungzeigt, fällt für die Medien unter das Verdikt»Abweichung« auch jede Verletzung dessen,was der gesunde Menschenverstand glaubt,sowie jedes Verlassen der von der Bürokra-tie vorgegebenen Wege.

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SendeleiterNoch zweieinhalb Minuten bis zur Sen-dung; noch 45 Sekunden.

Chomsky (im Off)

Hierzu bedienen sie sich der verschie-densten Methoden: die Auswahl derThemen, die Nennung von Problem-punkten, das Hervorheben bestimmterGesichtspunkte, das Filtern von Infor-mationen, die Festlegung, bis zuwelchen Grenzen die Debatte sicherstrecken darf. Sie bestimmen, siewählen aus, sie gestalten, sie kontrollie-ren, sie beschränken - alles im Diensteder Interessen der herrschenden gesell-schaftlichen Eliten.

Peter Jennings (auf Sendung)Derzeit richten sich besonders aufmerk-same Blicke auf die fünf mittelamerika-nischen Staaten.

AUS »DEMOCRACY'S DIARY« (1948)

SprecherHier ist «Democracy's Diary». Hierkönnen wir aus Triumphen und Kata-strophen lernen, aus dem wechselndenWebmuster des Lebens. Hier ist dergroße Journalismus - Zeugnis der Ver-gangenheit, Führer durch die Gegen-wart und Schlüssel zur Zukunft.

AUS »PAPER TIGER TV« (OFFENERKANAL), NEW YORK (1978)

Chomsky

Die New York Times ist bestimmt diewichtigste Zeitung der USA, vielleichtsogar der ganzen Welt. Die New YorkTimes spielt eine enorme Rolle dabei,wie unsere Welt von den politisch akti-

ven, gebildeten Schichten wahrgenom-men wird. Aber die New York Times hatnoch eine spezielle Rolle, und ichdenke, ihre Redakteure empfinden daswohl auch als schwere Bürde, daß näm-lich die New York Times in einem gewis-sen Sinn Geschichte bewirkt.

Als der Film im New Yorker Film ForumPremiere hatte, druckte die New York Timesdiese Besprechung. Im Datenteil, wo Mit-wirkende, Spieldauer usw. aufgeführt sind,brachte die Zeitung es fertig, Noam Chom-skys Namen im Filmtitel wegzulassen, so daßdieser lautete »MANUFACTURING CON-SENT AND THE MEDIA«. Um 3 Uhr frühdes Erscheinungstags machte Mark Achbardas Blatt auf seinen Freudschen Ausrut-scher aufmerksam; der Nachtredakteur ver-suchte, den Fehler in den noch nichtgedruckten Exemplaren zu beheben. Nachmehreren Telefonanrufen der Vertriebs-firma Zeitgeist Films druckte die New YorkTimes am nächsten Tag eine Berichtigung.

Ob man ihm zustimmt oder nicht, Chom-skys Interpretation der Verhältnisse in denUSA hat einiges für sich: Die Regierungrichtet sich vor allem nach den Wünschender Minderheit von Bürgern, die zur Wahlgehen - übrigens auch eine der Kernaussa-gen in John Kenneth Galbraiths neuestemBuch The Culture of Contentment. Chomskybetrachtet es als seine Mission, das Wahlvolkaus dem Schlaf zu rütteln und zu aktivieren.Aus einer Rezension von ManufacturingConsent: Noam Chomsky and the Media vonVincent Conby in New York Times 17.03.93

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AUS »DEMOCRACYS DIARY« (1948)

SprecherWas vor Jahren passiert ist, hängt viel-leicht mit dem zusammen, was morgeneintritt. In der Bibliothek der Times wer-den Millionen Ausschnitte aufbewahrt,indexiert, verfügbar gehalten. Ein un-bezahlbares Archiv der Ereignisse undder Menschen, die sie ausgelöst haben.

PAPER TIGER TV

ChomskyGeschichte ist also das, was man in denArchiven der New York Times findet; werwissen will, was passiert ist, der geht zurNew York Times. Wenn also dieGeschichte passend zurechtgeformt wer-den soll, dann ist es ganz wichtig, daßbestimmte Sachen dort vorkommenund andere nicht, daß bestimmte Fra-gen gestellt und andere übergangenwerden, und daß die Dinge in einenganz bestimmten Rahmen gestellt wer-den. Na, und in wessen Interesse wirddie Geschichte in dieser Weise zurecht-geformt? Die Antwort dürfte wohl nichtallzu schwer fallen.

BEI DER NEW YORK TIMES

Karl E. Meyer (Leitartikler)

Wie die Menschen hierbei im einzelnenzu ihren Entscheidungen kommen, isterheblich geheimnisvoller als Sie glau-ben würden, wenn Sie nur Manufactu-ring Consent gelesen hätten. Sie kennendoch den Spruch über die Gesetzge-bung: Gesetzgebung ist wie Wurstma-chen -je weniger man darüber weiß,desto besser schmeckt sie einem. Undgenau so ist es in unserem Metier.

»DIE ZEITSCHRIFT FÜR WAHRHEITS-GEMÄSSE BERICHTERSTATTUNG«

Lies Of Our Times

Willkommen bei Lies Of Our Times, derMonatszeitschrift für Medienkritik. »OurTimes« - das ist die Zeit, in der wir leben, esist aber auch die New York Times, meistzitier-tes Nachrichtenmedium der USA, die Zei-tung, die Geschichte schreibt. Und »Lies«meint nicht nur die direkte Unwahrheit;dazu zählen Vernachlässigung von Themenund Heuchelei ebenso wie irreführendesHervorheben und unausgesprochene Vor-aussetzungen - also all die Einseitigkeiten,von denen die Berichterstattung geprägt ist.Unser kritisches Material stammt von überhundert Korrespondenten - darunterneben Medienkritikern auch Wissenschaft-ler, Journalisten, Literaten und politischeAktivisten. Wir haben auch einige der Grup-pen, die für Menschenrechte und Allge-meininteressen eintreten, um Unterstüt-zung gebeten; sie sollen uns von ihremUmgang mit den Medien berichten. Beson-ders aufmerksam werden wir verfolgen, wel-che Presseerklärungen, Artikel- und Kom-mentarentwürfe sowie Leserbriefe in denMassenmedien nicht zum Zuge gekommensind. Sie, unsere Leserinnen und Leser, bit-ten wir herzlich, uns an Ihren Erfahrungenmit den Medien teilhaben zu lassen -wobeiSie sich natürlich nicht nur auf die New YorkTimes beschränken sollten.Zweifellos können wir die Flut von Lügenund Verzerrungen in den Medien nurgerade ein wenig anzapfen. Wir hoffen aberdoch, daß Lies Of Our Times mit den Jahrenzu wesentlich mehr Wahrheit in derBerichterstattung beitragen wird.Lies Of Our Times Januar 1990

Karl E. Meyer stammt aus Wisconsin. SeineDoktorarbeit in Princeton behandelt diePolitik der Loyalität. Nach 15 Jahren bei derWashington Post wechselte er zur New YorkTimes. Er ist auch Autor mehrerer Bücher.

Meyer wurde gefragt, ob die Redaktionslei-tung der New York Times einer Diskussionmit Noam Chomsky zustimmen und dieseabdrucken würde; er lehnte jedoch vonvornherein ab. Eine leitende Redakteurinvon Newsweek wiederum meinte auf die-selbe Frage höflich, wir sollten es doch malbei Time versuchen.Ende der sechziger Jahre vermittelte Harri-son Salisbury einmal ein Treffen zwischenChomsky und einigen Redakteuren der NewYork Times. Wie Chomsky berichtet, »woll-ten diese Leute nur über Linguistik reden,aber es gelang mir doch, einige Fragen dar-über einzuschmuggeln, warum sie die Bom-bardements in Laos totschwiegen.«

Gesetzgebung ist wieWurstmachen — jeweniger man darüberweiß, desto besserschmeckt sie einem.Und genauso ist es inunserem Metier.

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Wenn Sie mal in so eine Konferenz hin-einhorchen könnten, wo festgelegt wird,was auf die Seite 1 kommt und wasnicht, dann hätten Sie bestimmt denEindruck, hier würde über ganz wich-tige Fragen leichtfertig und oberfläch-lich entschieden. In Wirklichkeit istder Zeitdruck so enorm - das Zeugmuß raus - daß man zu einer Art Steno-graphie greift. Man muß ja die Zeitungjeden Tag voll kriegen.

Karl E. MeyerMerkwürdigerweise gibt es da so eineArt Spiegelbild, indem Chomsky genaumit Reed Irvine vom rechten Rand desSpektrums übereinstimmt; der sagtnämlich haargenau dasselbe wie er überden suggestiven Einfluß der Presse, dar-über, wie die großen Medien die - ichzitiere - »Themen setzen«, auch so einebeliebte Wortblase unserer Tage. Natür-lich erblickt Reed Irvine darin einelinke Verschwörung, durch die demamerikanischen Volk liberale Ideen zunationalen und internationalen Fragenübergestülpt werden sollen. Und ichmeine, hier wie dort liegt darin wirklicheine Beleidigung der Intelligenz derMenschen, die solche Nachrichtenvernehmen.

Filter: Flak dient derDisziplinierung derMedien

Unter Flak versteht man negative Reaktio-nen auf Äußerungen oder Programme derMedien. Flak kann in Form von Briefenoder Telegrammen erfolgen, per Telefon,durch einstweilige Verfügungen, Prozesse,Parlamentsreden, Gesetzentwürfe, odersonstige Beschwerde-, Druck- oder Strafmit-tel (...)Flak - vor allem wenn sie Geld kostet und alsDrohung wirksam sein soll - können nur diepraktizieren, die über Macht verfügen (...)Die Flak der Mächtigen kann direkt oder in-direkt auftreten. Zur direkten Variante ge-hören Briefe oder Anrufe aus dem WeißenHaus an Dan Rather oder William Paley[CBS-Größen], ode r das FCC [Federal Commu-

nications Commission, US-Behörde für Funk und

Fernsehen], die den TV-Sender um Doku-mente ersuchen, die einer bestimmten Sen-dung zugrundeliegen, oder aufgebrachteWerbeagenten oder Sponsoren verlangenvon den Medienchefs Sendezeit für eine Ge-gendarstellung oder drohen Vergeltungsak-tionen an. Die Mächtigen können aberauch indirekt auf die Medien einwirken: Siekönnen sich in ihren Kreisen (etwa beiihren Aktionären oder Angestellten) überdie Medien beklagen, sie können entspre-chende Annoncen placieren, sie könnenrechtslastige Überwachungs- oder Analyse-operationen finanzieren, die sich gegen dieMedien richten. Schließlich können sieWahlkampagnen finanzieren und damit sol-chen konservativen Politikern zur Machtverhelfen, die ihrem Ziel, den Medien mög-lichst jeden Gedanken an Abweichung aus-zutreiben, direkt dienlich sein werden (...)Obgleich die Flakmechanismen die Medienpausenlos aufs Korn nehmen, werden sievon diesen stets gut behandelt. Sie erfahrenrespektvolle Aufmerksamkeit, während ihrePropagandarolle und ihre Verpflichtungauf die übergeordneten Zielvorstellungenihrer jeweiligen Organisation kaum jemalserwähnt oder analysiert werden.Manufacturing Consent S. 26-28

Der Medienkritiker Reed John Irvine (geb.1922) ist seit 1971 Präsident der konservati-ven Organisation »Accuracy in Media« undseit 1985 Chefredakteur des AIM Report. Erist Mitglied im Verband der Zeitungs- undRundfunkkommentatoren sowie Verfasserzweier Bücher - Media Mischief and Misdeeds(1984) und Profiles of Deception (1990,zusammen mit Cliff Kincaid).Von 1963 bis 1977 war Irvine internationalerFinanzberater, von 1951 bis 1963 als Wirt-schaftswissenschaftler Mitglied im Zentral-bankrat des Federal Reserve System in Wash-ington.Quelle: Who's Who in America 47. Auflage1992

AIM wurde 1969 gegründet und erlebte inden 70er Jahren einen spektakulären Auf-stieg. Die Einnahmen stiegen von 5.000Dollar im Jahre 1971 auf 1,5 Mio Dollar An-fang der 80er Jahre; sie stammen hauptsäch-lich von Großunternehmen, Firmenstiftun-gen und reichen Erben. Mindestens achtÖlgesellschaften unterstützten AIM in denfrühen 80ern, und es ist beeindruckend,wieviele Bereiche der Wirtschaft unter denSponsoren vertreten sind. AIM dient dazu,den Medien Dampf zu machen und Druckauf sie auszuüben, damit sie den Vorgabender Wirtschaft folgen und für eine knall-harte rechte Außenpolitik eintreten. AIMdrängt die Medien, sich für Kommunisten-jagden zu begeistern, und prangert ihreangeblichen Unterlassungssünden an,sobald sie sich einmal nicht an die außen-politische Linie halten. So werden sie dar-auf konditioniert, bei jeglichem Verstoßgegen die Normen der rechten Vorurteilemit Ärger (und mit Kosten) zu rechnen (...)Manufacturing Consent S. 27-28

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GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyDamit keine Verwirrung entsteht: Alldies hat nichts mit der jeweiligen libera-len oder konservativen Grundeinstel-lung zu tun. Das Propagandamodellbesagt, daß bei den Medien sowohl derliberale als auch der konservative Flügel- was immer das besagen mag - inner-halb desselben Systems von Annahmenagiert.

AMERICAN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyUm gut zu funktionieren, sollte dasSystem sogar eine liberale Färbunghaben oder wenigstens diesen Eindruckerwecken. Denn gerade wenn es schein-bar eine liberale Färbung hat, konditio-niert es das Denken nur um so wir-kungsvoller.In anderen Worten, wenn die Pressewirklich so aufsässig, so progressiv, alsoso schlimm ist - wie kann ich denn danoch weiter gehen wollen? Sie sinddoch schon so extrem kritisch gegen-über der Macht, daß jeder, der nochdarüber hinausgehen wollte, den Bodenunter den Füßen verlieren müßte. Dar-aus folgt, daß die Grundannahmen, diebei den liberalen Medien gelten, sakro-sankt sind - weiter geht's nicht. Und andieser Stelle wäre dann das gut funktio-nierende System auch nicht unpartei-isch. Die Medien wären dann praktischdas Sprachrohr für die Botschaft: Bishierher und nicht weiter.

In beiden Wahlkämpfen, 1980 und 1984,bezeichnete die Reagan-Regierung dieDemokraten als »die Partei der Sonderin-teressen«, was ja etwas Schlechtes sein muß,sind wir doch alle gegen Sonderinteressen.Schaute man aber genauer hin und erkun-digte sich, um wessen Sonderinteressen esdabei ginge, dann wurden sie aufgezählt:Frauen, Arme, Werktätige, Jugendliche,Alte, ethnische Minderheiten - strengge-nommen die gesamte Bevölkerung. EineGruppe fehlte allerdings bei den Sonderin-teressen: die Konzerne. Den Wahlreden zu-folge lag hier selbstverständlich kein Son-derinteresse vor, vertreten diese doch nachihren eigenen Maßstäben das Gesamtinter-esse der Nation. Denkt man es also zu Ende,dann vertritt das Volk Sonderinteressen, dieKonzerne aber das Gesamtinteresse; undweil jeder für das Gesamtinteresse und ge-gen Sonderinteressen ist, werden diejeni-gen unterstützt und gewählt, die gegen dasVolk eingestellt sind und für die Konzernearbeiten.Hier haben wir ein typisches Beispiel dafür,wie das Denken durch eine ganz bewußteAuswahl und Uminterpretation von Begrif-fen manipuliert wird - nur damit es denMenschen schwer wird zu verstehen, was inder Welt vorgeht.Chronicles of Dissent S. 48

Hier eine nützliche Faustregel: Wer etwasüber das Propagandasystem erfahren will,der schaue sich die Kritiker und ihre still-schweigenden Annahmen genau an. Beinaheimmer finden sich hier die Lehren derStaatsreligion.Aus »The Manufacture of Consent«, abge-druckt im Chomsky Reader S. 126

Einige grundlegende Aussagen des außen-politischen Diskurses:• Die Außenpolitik der USA wird von der»Sehnsucht nach Demokratie« und über-haupt den besten Absichten geleitet (...)

• Gewalt kann nur zur Selbstverteidigungangewendet werden (...) Folglich ist, werWiderstand leistet, ein Aggressor, selbstim eigenen Land.

• Kein Land hat gegen die USA ein Rechtauf Selbstverteidigung (...)

• Die USA haben das natürliche Recht dar-auf, ihren Willen durchzusetzen - fallsmöglich und nötig auch mit Gewalt.

Man muß diese Lehrsätze nicht eigens ver-künden; es genügt, in regelmäßigen Abstän-den den bewundernswerten Edelmut unse-rer Ziele zu preisen. Nein, man geht einfachstillschweigend davon aus, daß sie gelten.Sie umreißen die Grenzen des Diskurses —für diejenigen, die die richtige Ausbildunggenossen haben, sogar die Grenzen dessen,was überhaupt gedacht werden kann.Necessary Illusions S. 59

Der Vortrag vom 16.04.89 an der AmericanUniversity wurde auch über den Sender C-Span ausgestrahlt. C-Span ist ein Info-Kanal,der für ungekürzte politische Berichterstat-tung bekannt ist.

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AUS »TV DINNER«

ChomskyWir fragen nun: Was würde man vondiesen Medien erwarten, wenn manrelativ einleuchtende Marktverhältnisseohne Fremdeinflüsse annimmt? Schautman auf ihre Produkte, dann findetman einige besonders wichtige Ein-flußfaktoren. Und diese bezeichnen wirals Filter. Ein Beispiel hierfür sind dieBesitzverhältnisse. Wem gehören diesegroßen Medien, die die Themen setzen- was sind sie letztlich? Was für gesell-schaftliche Institutionen? Also in ersterLinie sind es Großbetriebe, wirklich rie-sige Unternehmen. Darüber hinaus sindsie in noch größeren Konzernen bis hinzu Multis eingebunden oder gehörendenen ganz - z. B. Westinghouse, Gene-ral Electric usw.

Filter: die Größe undGewinnorientierungder maßgeblichenMedien sowie dieKonzentration unddas Vermögen ihrerEigentümer

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IN NANAIMO

StudentIch würde gern mal wissen, wie die Eli-ten das machen, daß sie die Medienkontrollieren ... ich meine ...

ChomskyDas ist so, als ob man fragt: Wie kontrol-lieren die Eliten General Motors?Warum wird diese Frage nicht gestellt?Nun, General Motors ist eine Institutionder Eliten. Sie brauchen sie gar nicht zukontrollieren - sie gehört ihnen ja.

StudentBloß, ich meine, auf anderer Ebene, sowie ... wissen Sie, ich arbeite in der Stu-dentenzeitung mit. Ich meine, dieReporter und so.

ChomskyDie Eliten kontrollieren nicht die Stu-dentenzeitungen. Aber ich kann direines sagen: Ihr braucht in eurer Stu-dentenzeitung nur einmal irgend etwasUnkonventionelles zu riskieren, dannhabt ihr sofort die ganze hiesigeGeschäftswelt auf dem Hals, und dieUniversität erhält Drohungen. Gut, viel-leicht nimmt überhaupt niemand Notizvon euch, das kann auch passieren.Aber sobald ihr an einen Punkt kommt,wo man doch von euch Notiz nimmt,kommt der Druck. Denn es gibt nunmal Menschen, die Macht haben. Esgibt Menschen, denen das Land gehört,und die sorgen dafür, daß sie die Kon-trolle darüber nicht verlieren.

Es gibt Menschen, die Macht haben. Es gibtMenschen, denen das Land gehört, und diesorgen dafür, daß sie die Kontrolle darübernicht verlieren.

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AUS »A WORLD OF IDEAS« (1988)

Bill MoyersWas sagen Sie dazu?

Tom Wolfe (Schriftsteller)Das ist wieder die ... na ja, die alte Ver-schwörungstheorie. Da steht in einemRaum so ein Tisch mit einem großenTuch drauf und drum herum sitzt einHaufen Kapitalisten und zieht dieFäden. Solche Räume gibt es nicht - ichsag's nicht gern, Noam Chomsky.

Bill MoyersSie selbst gl... - also Sie sind andererMeinung, oder?

Tom WolfeIch halte das für den größten Quatsch,den ich je gehört habe. An den Univer-sitäten ist das ja jetzt die große Mode. Esist wirklich absoluter Blödsinn undsicher nur eine Mode. In gewisser Weisedenken die Intellektuellen hier wie diePfarrer - ich meine damit, sie glaubenan den Bösen irgendwo.

Am 22. und 27. Juli 1993 war Chomsky eineStunde lang Studiogast in der Reihe. »Posner &Donahue« des Senders CNBC. Nachdem ihm dernebenstehende Ausschnitt aus einem Gesprächzwischen Tom Wolfe und Bill Moyers vorgespieltworden war, sagte er:

ChomskyJa, dem stimme ich zu. Sehen Sie, es wärewirklich idiotisch zu glauben, wir hätten inden Vereinigten Staaten ganz oben eineKabale, die die Fäden in der Hand hält. Dashieße ja, es ginge da zu wie in der Sowjet-union. Die Sache liegt völlig anders, unddeshalb sage ich ja das genaue Gegenteildavon (...) Wie kann Wolfe oder sonst je-mand meinen, ich hätte von Verschwörung

gesprochen? In Wirklichkeit fühlt sich dieKlasse der Kommissare durch jede analyti-sche Bemerkung über die Struktur unsererInstitutionen derartig bedroht, daß sie nichteinmal mehr die Worte richtig aufnimmt.

PosnerGehört Tom Wolfe auch zur Klasse derKommissare?

ChomskyJa natürlich. Auch er versteht ja nicht ein-mal mehr die Worte. Wenn ich also sage, esgibt da oben keine Kabale, dann versteht er,daß es eine gibt.

PosnerAber meinen Sie nicht auch, daß er dieWorte nur deshalb nicht hören kann, weiler so fest an das glaubt, was ihm beigebrachtworden ist? Weil dies hier für ihn Demokra-tie und Freiheit ist? Genauso war es doch beiden vielen Menschen, die wie ich in derKommunistischen Partei waren und die zu-tiefst an die Lehre geglaubt haben und sichnur unter Schmerzen davon freimachenkonnten (...) Meinen Sie nicht, es gibt vieleehrliche Menschen, darunter auch TomWolfe, die fest daran glauben, daß ...

ChomskyNein, ich stelle doch nicht in Frage ...

Posner... daß er nicht zur Klasse der Kommissaregehört. Daß er eben doch seine Ideale hat.

ChomskyMoment mal - Wissen Sie, Sie be ...

PosnerUnd Sie gefährden diese Ideale.

ChomskyStimmt. Wissen Sie, Sie beschreiben das, wasich in der Sowjetunion als die Kommissars-

klasse bezeichnen würde. Also die Leute,die ganz fest daran geglaubt haben (...) bishinauf zu den Redakteuren der Prawda. An-genommen, Sie könnten denen in die Seeleschauen - wie viele absolute Zyniker wärenwohl darunter?

PosnerNicht sehr viele.

ChomskyJa sehen Sie. Die meisten haben wirklich analles geglaubt. Genau so arbeiten eben dieseSysteme. Wenn Sie mal wirklich darübernachdenken, wie solche Glaubenssystemeentstehen - jeder kennt es ja bei sich selbst.Da beschließen Sie, aus diesem oder jenemGrunde etwas Bestimmtes zu tun. Undanschließend legen Sie sich ein Glaubenssy-stem zurecht, aus dem sich Ihre Handlun-gen begründen lassen, so daß Sie sich sagenkönnen: »Ich habe recht gehabt.« So, undam Ende stehen dann die Menschen, dieinnerhalb eines Macht- und Autoritäts-systems funktionieren - sei es als Prawda-Redakteur, als Gastkommentator der NewYork Times oder als KZ-Wächter (...) Jedervon ihnen ist völlig von seiner Sache über-zeugt. Jeder hat sich seine Glaubensweltzurechtgelegt, die ihm sagt: »Jawohl, dies istalles richtig und gerecht, und ich selbst bindabei völlig frei und unabhängig.« Wärensie nicht im Besitz dieses Glaubenssystems,sie könnten nicht weitermachen wie bisher(...) Ich stimme Ihnen darin zu, daß es sichum ein geschlossenes Glaubenssystem han-delt. Es ist so eine Art Fundamentalismus,wo man kritische Analysen einfach nichtmehr zur Kenntnis nehmen kann. Und daist es schon interessant zu sehen, welcheDinge man in den USA nicht mehr zurKenntnis nehmen kann.Posner & Donahue Transcripts. Mehr über dieVerschwörungstheorien auf S. 131.

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In Nordamerika gibt es:

7 große Filmgesellschaften

sowie jeweils mehr als

1.800 Tageszeitungen

11.000 Zeitschriften11.000 Rundfunksender

2.000 Fernsehsender2.500 Buchverlage

23 Großunternehmen kontrollieren jedendieser Bereiche mindestens zu 50 Prozent;

in einigen halten sie praktisch einMonopol.

Es sind dies:

BertelsmannBuena Vista Films (Disney)

Capital Cities/ABCCBS

Cox CommunicationsDow JonesGannett

General ElectricHarcourt Brace Jovanovich

HearstIngersoll

International ThomsonKnight Ridder

Media News Group (Singleton)Newhouse

News Corporation Ltd. (Murdoch)New York Times

Paramount CommunicationsReader's Digest Association

Scripps-HowardTimes MirrorTime Warner

Tribune Company

Kritik an Institutionen, wie wir sie in demBuch [Manufacturing Consent: The PoliticalEconomy of the Mass Media] vorbringen, wirdgewöhnlich von den etablierten Kommen-tatoren als »Verschwörungstheorie« abge-tan. Aber das ist nur eine Ausrede. In unse-rer Erklärung der Rolle der Massenmedienbenutzen wir keinerlei »Verschwörungs-Hypothese«. Vielmehr beruht unsere Ana-lyse eher auf der Prämisse »Freier Markt«,d. h. alles ergibt sich weitgehend aus demWirken der Marktkräfte. Die meisten derVorurteile, denen die Medien unterliegen,folgen aus der Vorauswahl der Personen mitdem richtigen Denken und aus der Verin-nerlichung von Grundbegriffen; außerdemhaben sich die Medienleute an die Schran-ken angepaßt, die ihnen durch die Eigen-tumsverhältnisse, die Organisation, denMarkt und die politischen Machtverhält-nisse gesetzt sind.Wenn fast immer (...) alle Medienführersich gleichartig verhalten, so liegt das daran,daß sie die Welt durch die gleiche Brillebetrachten und von denselben Einflüssenmotiviert oder gebremst werden. Also han-deln sie auch unausgesprochen als Kollektivoder folgen ihrem Anführer, wenn sie ihreArtikel schreiben oder sich geschlossen aus-schweigen.Übrigens stellen die Massenmedien nicht injeder Frage einen monolithischen Blockdar. Wo es unter den Mächtigen selbst Dif-ferenzen gibt, da werden auch im Kampfder Medien die taktischen Meinungen dar-über auseinandergehen, wie die immernoch gemeinsamen Ziele am besten zu ver-folgen seien.Manufacturing Consent S. xii

Alljährlich versammelt Carl Jensen eineGruppe von Medienkritikern um sich undläßt sie »die 10 am stärksten zensiertenTexte des Jahres« auswählen. Im Jahre 1987ging der erste Preis an Ben Bagdikian füreine Untersuchung über diese Dinge, wobeies natürlich nicht um direkte staatliche Zen-sur ging, sondern darum, wie die Medienbei umstrittenen Themen verzerrt berichtenoder ganz kneifen.Necessary Illusions S. 358

Die Statistik auf dieser Seite beruht auf denAngaben in: Ben Bagdikian, The MediaMonopoly (Beacon Press, 4. Aufl. 1992). Wirhaben die auf die USA beschränkte Analyseauf ganz Nordamerika ausgedehnt.

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Die folgenden Aufnahmen stammen aus derUniversity of Washington in Seattle, ausRadio KUWR in Laramie und aus demAuditorium der University of Wyoming inLaramie. Einige Abschnitte wurden auf derVideowand des Erin Mills Einkaufszentrumserneut aufgenommen. Im Interesse der besse-ren Lesbarkeit wurde die Tonspur hierzusammengefaßt.

ChomskyWir haben hier also vor allem einigeGroßunternehmen, die ihrerseits zunoch größeren Konzernen gehören.Wie alle anderen Unternehmen bietenauch sie ein Produkt auf dem Markt an.Der Markt, das sind die Werbekunden,also andere Firmen. Was die Medien amLaufen hält, sind nicht die Leser, Höreroder Zuschauer. Geld verdienen sie ein-zig und allein mit ihren Werbekunden.Nun bedenken Sie aber, wir reden hiervon den Elitemedien. Man will ein Qua-litätsprodukt verkaufen, eines, das dieWerbepreise hochtreibt - fragen Sie nurmal Ihre Freunde in der Werbebranche.Man will also seine Zielgruppe in Rich-tung auf Elite und Wohlstand verän-dern, denn dann steigen auch die Preisefür Werbung. Was wir also am Endehaben, sind Institutionen, Unterneh-men und Konzerne, die anderen Unter-nehmen privilegierte Zielgruppen ver-kaufen.Welche Weltsicht wird sich also hierausergeben? Ich kann wohl ohne weitereZusatzannahmen vorhersagen, daß dieAuffassungen und die Weltanschauung,die daraus entstehen, mit den Bedürf-nissen, Interessen und Sichtweisen derVerkäufer, der Käufer und des Produktsübereinstimmen werden.Es gibt aber noch mehr Faktoren, diesich alle in dieselbe Richtung auswirken.Menschen, die in das System hineinwol-

len, aber nicht über diese Sichtweiseverfügen, fallen höchstwahrscheinlichbald wieder heraus. Schließlich wirdsich keine Institution frohen Muteseinen Mechanismus zur Selbstzer-störung bauen. So funktionieren Institu-tionen nicht. Sie tun vielmehr alles, umAbweichler, Alternativmeinungen unddergleichen auszuschließen, an denRand zu drängen oder zu eliminieren,denn diese stören die Funktion, siemachen die Institution als ganze funk-tionsunfähig.

Manchmal üben die Werbekunden einenviel direkteren Einfluß aus. »Ein Programm,das nicht auf Förderung durch die Wirt-schaft hoffen kann, stirbt im allgemeinenschon kurz nach der Geburt«, notiert derLondoner Economist am 5.12.87, und weiter:»Die Sender reagieren inzwischen äußerstsensibel auf die empfindlichen Gefühle derKonzerne.« Das Blatt erwähnt dann den Falldes TV-Senders WNET, der »seine Unter-stützung durch Gulf & Western einbüßte,nachdem er in einem Dokumentarfilm mitdem Titel >Profithunger< gezeigt hatte, wiedie Multis in der Dritten Welt riesige Län-dereien aufkaufen.« »Ein Freund tut so et-was nicht«, bescheinigte der Gulf-Präsidentdem Sender; dieser Film sei »massiv wirt-schaftsfeindlich, um nicht zu sagen anti-amerikanisch.« Schlußfolgerung des Econo-mist »Es ist kaum anzunehmen, daß WNETdenselben Lapsus heute noch einmal bege-hen würde.« Andere ebenso wenig - dieimplizite Warnung genügt.

Aber es gibt noch zahlreiche andere Fakto-ren, die dazu beitragen, daß die Mediensich den Wünschen der verbündeten Staats-und Wirtschaftskreise beugen. Sich gegendie Machtzentren zu stellen, ist anstrengendund kostspielig; alle Belege und Argumentemüssen gänzlich abgesichert sein; jede krit-ische Analyse wird Mißfallen bei denenerwecken, die in der Lage sind, heftig zureagieren, zu belohnen oder zu strafen. Werlieber billig davonkommen will, hält sich andas »patriotische Schema«. Denn Ausfällegegen den offiziellen Feind müssen wederbesonders begründet werden noch irgend-welche Gegendarstellungen fürchten, kannman letztere doch als Fürsprache für Ver-brecher abtun, die den Wald vor Bäumennicht sieht.Necessary Illusions S. 8

Im Jahre 1989 mußte ein im Besitz von Tur-ner Broadcasting System befindlicher Kabel-sender ein TV-Feature, das die NationalAudubon Society produziert hatte, ohne eineneinzigen dazwischengeschalteten Werbe-spot ausstrahlen. Der Grund: Auf Druck derHolzindustrie hatten acht Werbekundenihre Aufrage storniert. Den Holzfällerfir-men erschien dieser Film, Ancient Forests:Rage Over Trees, zu radikal. Die FirmaDomino's Pizza entzog der NBC-Sendung»Saturday Night Live« ihr Werbebudget mitder Begründung, die Sendung verkündeangeblich eine antichristliche Botschaft.M. A. Lee, N. Salomon, Unreliable Sources: AGuide to Detecting Bias in News Media (CarolPublishing Group 1990) S. 60

Filter: Werbung als Haupteinnahmequelleder Massenmedien

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»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

Karine KleinhausWas glauben Sie: Sind Sie persönlichder ideologischen Indoktrinierungdurch die Medien und durch die Gesell-schaft, in der Sie aufgewachsen sind,entkommen?

ChomskyIch selbst?Karine KleinhausJa.

ChomskyHäufig nicht. Ich meine, daß ich ... alsowenn ich so zurückschaue und anSachen denke, die ich hätte tun sollen,aber nicht getan habe, dann ist dasziemlich ... na ja, keine angenehmeErfahrung.

BÜRO IM MIT

David BarsamianAlso wie war das mit dem kleinen Noamauf dem Schulhof?

ChomskyDas sehe ich als Privatsache an. Dasinteressiert doch niemanden. Aber ichkann mich daran erinnern.

David BarsamianSie haben daraus aber auch gewisseSchlüsse gezogen.

ChomskyOh ja, das hat mich sehr beeinflußt. Ichglaube, ich war sechs, in der erstenKlasse. Da gab es das übliche Dicker-chen, über den sich alle lustig machten.Ich weiß noch, auf dem Schulhof, da

Seinen Ruf als Dissident begründete Chom-sky mit seinem berühmten, vielfach über-setzten Essay »The Responsibility ofIntellectuals«, der im Frühjahr 1966 in derNew York Review of Books erschien. EinigeMonate später war er einer der Unterstützerdes ersten »Aufrufs zum Widerstand gegenillegitime Herrschaft«, der am 12. Oktoberin der New York Review of Books erschien undvon Tausenden unterschrieben wurde.Diese Initiative führte zur Gründung vonRESIST - einer landesweiten Organisation[übrigens immer noch im Widerstand aktiv,siehe Quellenverzeichnis], die ihren Blickauf den außenpolitischen Imperialismusund die innenpolitische Repression rich-tete. Sie spielte auch eine wichtige Rolle indem Prozeß gegen Dr. Spock und die übri-gen »5 Bostoner« wegen Verschwörung,wobei Chomsky als (noch) nicht angeklag-ter Mitverschwörer galt. Er stand auch inder vordersten Reihe, als mit der Demon-stration vom 19. bis 21.10.1967 vor dem Pen-

tagon eine Wendemarke überschritten wur-de - diese Demonstration, die als »unge-wöhnliches und unvergeßliches Bekenntnisder Opposition gegen den Krieg« bezeich-net wurde, an der »nach manchen Schät-zungen Hunderte von Menschen beteiligt«waren. Norman Mailer, an diesem AbendChomskys Zellengenosse, hat in seinemBuch The Armies of the Night (1968) »denGeist und das Wesen dieser Demonstratio-nen mit großartigem Scharfblick eingefan-gen«. Von Chomsky heißt es dort, er sei »injeder Hinsicht mit Leib und Seele Lehrer«und gelte »im MIT wegen seiner Ent-deckungen auf dem Gebiet der Linguistikals Genie«. Mailer beschreibt ihn treffendals einen »schlanken Mann mit scharfen,asketisch wirkenden Gesichtszügen, diegleichzeitig Sanftmut und moralische Inte-grität austrahlen«. (Zitate aus American Po-wer and the New Mandarins S. 367 bzw. ausMailers Roman S. 203 (»Geschichte alsRoman, der Roman als Geschichte«). Eben-

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stand er direkt vor der Klassenraum undein Haufen Kinder hänselte ihn, undeiner brachte sogar seinen älteren Bru-der an, vielleicht aus der drillen Klasse,nicht aus der ersten, also für uns einganz Großer, und der wollte ihn verprü-geln oder so. Und ich weiß noch, wieich mich neben ihm aufgebaut undgedacht habe, irgendjemand muß ihmdoch helfen, und dann blieb ich eineWeile dort. Dann kriegte ich aber Angstund verzog mich, und dann habe ichmich sehr geschämt deswegen und mirgedacht: Also das passiert mir nicht wie-der. Seitdem sitzt das in mir drin - demSchwächeren beistehen. Und die Schamist immer noch da ... daß ich hätte aus-harren sollen.

AUS »THIRD EAR«

Jonathan SteinbergSie standen ja schon ganz gut da; Siewaren Professor am MIT, hatten sicheinen Namen gemacht und eine tolleKarriere vor sich - und dann beschlos-sen Sie, politischer Aktivist zu werden.Das ist doch nun der klassische Falleines, den die Institution anscheinendnicht ausgesiebt hat - heißt das also, Siewaren bis dahin immer brav gewesen?Oder waren Sie schon von jeher soetwas wie ein Rebell?

ChomskyDoch, ziemlich. Ich hab' eher außen vorgestanden.

Jonathan SteinbergSie fühlten sich isoliert. Sie fühltenkeine Sympathie für die vorherrschen-den Strömungen in den USA. Aber dasgeht vielen anderen auch so. Und dannPlötzlich, 1964, faßten Sie den Ent-

so genau trifft die Formulierung von den»dichtgepackten Begriffswindungen desChomskyschen Erkenntnisprozesses«. (Vgl.auch Oteros Einführung zu Language andPolitics).

»The Responsibility of Intellectuals« wurdeim folgenden Jahr in dem Buch The Dissen-ting Academy von Theodore Roszak abge-druckt, kurz darauf auch in Chomskyserstem »Nicht-Fachbuch«, nämlich in Ameri-can Power and the New Mandarins (»den muti-gen jungen Männern gewidmet, die denDienst in einem verbrecherischen Krieg ver-weigern«). Dieses Buch, eine Sammlung hi-storischer und politischer Essays, erschien1969 und stellt wohl die schärfste je erschie-nene Anklage der US-Invasion Indochinasdar. The Nation begrüßte damals das Buchmit den Worten, es sei »das erste überra-gende Produkt des gesellschaftlichen undpolitischen Denkens in der Folge der Viet-nam-Katastrophe« und »der erste Entwurfzu einer Unabhängigkeitserklärung derIntellektuellen«. Daß das Buch auf Anhiebeinschlug, verdankt es zum Teil der gera-dezu ehrfurchtgebietenden Diskutierstärkeseines Autors (in Wort und Schrift) sowieseiner fast übermenschlichen Fähigkeit, dieArgumente seiner Gegner logisch zu zer-pflücken, von seiner eigenen Brillianz garnicht zu reden. Noch ehe das Jahrzehnt zuEnde ging, genoß er internationale Bewun-derung und einen Ruf als eloquenter Spre-cher der Antikriegsbewegung, als Gesell-schaftskritiker und als Kämpfer; manchewollten in ihm sogar einen Helden oderGuru der Neuen Linken erblicken. (Bevoram 4. März 1969 sein Arbeitsprogramm amMIT eingestellt wurde, sah man »seine Prä-senz dort als so wichtig an, daß er einmalwöchentlich von Oxford« - wo er die LockeLectures gab - »zum MIT fliegen mußte«).Aus der Einleitung zu Noam Chomsky: Criti-cal Assessments Bd. 3 (a. a. O.)

Zum Indochinakrieg vgl. auch The PoliticalEconomy of Human Rights Bd. 2, The ChomskyReader S. 223-302, Manufacturing ConsentS. 169-296

Chomsky

Am 15. Oktober 1965 kam es zum erstenmaldazu, daß ich auf einer öffentlichen Kund-gebung unter freiem Himmel das Wortergriff; das war auf dem Boston Common.Es waren wohl 200-300 Polizisten da, undich muß sagen, wir waren sehr froh darüber,denn sie waren unser einziger Schutz gegeneinen gewaltsamen Tod. Die Menge warüberaus feindselig eingestellt. Es waren mei-stens Studenten, die von der Universitätherüber kamen und drauf und dran waren,uns umzubringen. Dabei waren unsere For-derungen wirklich sehr zahm - man ge-nierte sich beinahe, sie auszusprechen. Wirsagten nämlich nur: »Stoppt die Bombar-dierung von Nordvietnam.« Denn was warmit den dreimal so intensiven Bombarde-ments in Südvietnam? Davon durfte mannicht einmal sprechen.Aus »The MIT Interviews « Febr. 1990

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schluß: Ich muß was tun. Was hat Siedazu gebracht?

ChomskyDas war eine sehr bewußte Entschei-dung, die mir keineswegs leicht gefallenist. Ich wußte nämlich, was danach pas-sieren würde.Ich hatte eine sehr begünstigte Stellung.Meine Arbeit machte mir Spaß, unserInstitut quirlte vor Leben, das Arbeitsge-biet war ein Erfolg, im Privatleben liefalles bestens, ich hatte eine schöneWohnung, meine Kinder wuchsenheran. Alles erschien perfekt. Und mirwar klar, all dies würde ich aufgeben.Bitte, damals ging es nicht nur um einpaar Vorträge. Ich stieg direkt in denWiderstand ein, ich machte mich aufJahre im Gefängnis gefaßt, und fast wärees auch dazu gekommen. Meine Frauging sogar wieder als Lehrerin arbeiten,weil wir dachten, sie müsse demnächstdie Kinder ernähren. So sahen damalsunsere Erwartungen aus.Mir war auch klar, wenn ich mich wie-der diesen Interessen zuwenden würde- die ja meine eigene Jugend geprägthatten - dann würde es ziemlichungemütlich werden. Natürlich wirdman hier in den USA nicht in eine psy-chiatrische Anstalt gesteckt oder einemTodeskommando ausgeliefert, wennman die Spielregeln verletzt, aber klareStrafen gibt es doch dafür. Das war alsoschon eine echte Entscheidung, aberein Zurückschrecken wäre mir damalseinfach als hoffnungslos unmoralischerschienen.

Jeder von uns, die wir noch eine gewisseFreiheit in der Wahl unserer Mittel habenund nicht buchstäblich in der Schußliniestehen, sieht sich aufgerufen, in voller Ver-antwortung für die Opfer des Machtge-brauchs durch die USA einzutreten. Wannimmer wir über eine Widerstands- oder Pro-testtaktik nachdenken, müssen wir uns dieFrage nach den zu erwartenden Folgen fürdie Menschen in Vietnam, in Guatemalaoder Harlem vorlegen, müssen wir den Auf-bau der Bewegung gegen Krieg und Unter-drückung im Auge behalten, an deren Endeeine Gesellschaft ohne Furcht und Schandesteht. Wir müssen nach Wegen suchen, wiewir weite Kreise unseres Volkes von diesemZiel überzeugen und diese Überzeugung inAktionen umsetzen können. Dies alles magein ferner Wunschtraum sein, aber wenn esuns ernst damit ist, bleibt uns nichts anderesübrig. Zur Überzeugungsarbeit zählen Ta-ten so sehr wie Worte, und wir müssen wahr-scheinlich gesellschaftliche oder institutio-nelle Einheiten schaffen, und seien sie nochso klein, mit denen wir diesen Konkurrenz-geist und diese engstirnige Selbstsuchtüberwinden können, durch die uns dieGesellschaft fester an der Kandare hat alsirgendein totalitärer Staat. Die Alternativen,die wir diesen ideologischen und sozialenStrukturen gegenüberstellen wollen, müs-sen ein so starkes geistig-moralisches Poten-tial entwickeln, daß breite Schichten darinihre menschlichen Grundbedürfnisse er-füllt sehen - wozu nicht zuletzt das natürli-che Streben zählt, Mitgefühl zu zeigen unddenjenigen Ermunterung und tätige Hilfezu erweisen, die unsere hiesige Gesellschaftin Not und Elend gestürzt hat und nieder-halten will und die sich aus diesem Elend zubefreien suchen.American Power and the New MandarinsS. 397-398

Ich selbst stand auch auf Nixons SchwarzerListe, aber das hatte nicht viel zu bedeuten(...) Ich sollte für 5 Jahre ins Gefängnis undnur die Tet-Offensive hat mich davor be-wahrt. Ich war Mitverschwörer, stand abernoch nicht unter Anklage. Als Repressionwürde ich das nicht bezeichnen; schließlichverstießen wir ganz offen gegen die Gesetze- oder was man so nennt. So etwas kannman nicht Repression nennen. Nur: Werprivilegiert ist, hat kaum unter Repressionzu leiden. Wir haben an den gesellschaftli-chen Privilegien teil und genießen derenVorrechte.Aus einem Gespräch an der McMaster Uni-versity, Hamilton, Kanada (1988)

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AUS »THE NEWSREEL« (1968)

ChomskyIch heiße Noam Chomsky und binDozent am MIT. Seit einigen Jahrenbeteilige ich mich immer stärker ander Antikriegs-Bewegung.Zuerst habe ich Artikel geschrieben,Reden gehalten, mit Abgeordnetengesprochen usw., aber dann bin ichnach und nach immer mehr in verschie-dene Widerstandshandlungen rein-gerutscht. Ich glaube inzwischen, dieeffektivste politische Aktionsform, dieeinem verantwortungsbewußten undengagierten Bürger jetzt noch offen-steht, ist der direkte Widerstand: Alsoman kann sich weigern, an Kriegsver-brechen teilzunehmen (für mich sindes jedenfalls welche), man kann denPreis der amerikanischen Aggression inÜbersee erhöhen, indem man sich nichtbeteiligt, und man kann diejenigenunterstützen, die die Teilnahme ableh-nen. Vor allem die landesweite Kriegs-dienstverweigerung.Ich meine, wir erkennen doch jetzt ganzdeutlich einige sehr, sehr ernste Fehlerund Schwächen unserer Gesellschafts-ordnung, unserer Kultur und unsererInstitutionen. Und um die zu korrigie-ren, müssen wir uns außerhalb des all-gemein akzeptierten Rahmens stellen.Ich denke, wir müssen zu neuen politi-schen Aktionsformen finden.

Ziviler Ungehorsam läßt sich nur dort recht-fertigen, wo ein unerträgliches Übel vor-liegt. Nach Dachau und Auschwitz weißjeder, der seinem Gewissen verpflichtet ist,daß Befehle von oben nicht immer befolgtwerden müssen. Es gibt eine Grenze, undgenau dort beginnt der zivile Ungehorsam.Das kann ganz passiv ablaufen (...) Zuwei-len ist es nur eine symbolische Konfronta-tion mit der Kriegsmaschinerie (...) Eskann aber auch erheblich darüber hinaus-gehen (...)Wie weit man mit dem zivilen Ungehorsamgeht, hängt vor allem von der Schwere desMißstands ab, gegen den man sich wendenwill. Aber auch die erzielbare Wirkung unddie moralischen Überzeugungen spieleneine Rolle, und deshalb bin ich dafür, imzivilen Ungehorsam uneingeschränkt ge-waltlos zu bleiben (...)Ich muß hier nicht mehr beschreiben, wasdoch allgemein bekannt ist. Worte reichennicht aus, um wiederzugeben, was wir an-richten; wir würden damit die Opfer unse-rer Gewalt und unserer moralischen Feig-heit nur beleidigen. Jawohl - wenn wir dasschändlichste Kapitel in der Geschichte derVereinigten Staaten endlich beenden wol-len, dann ist ziviler Ungehorsam in der Tatmehr als gerechtfertigt.Aus Chomskys Beitrag zu einem Artikelunter dem Titel »Views on disobedience inthe light of its being increasingly urged bycritics of the Vietnam war«, New York Times26.11.67

Auch wenn jedermann das Recht haben soll-te, aus dem Weg auszuscheren, den seineGemeinschaft eingeschlagen hat, so muß esdoch der Gemeinschaft - und nicht demAbweichler - überlassen bleiben, über dieSanktionen zu entscheiden. In einer auf-geklärten Gesellschaft sollten diese Sank-tionen je nach Art der Widersetzlichkeitgewählt werden, sowie danach, ob diese er-

kennbar aus tiefen philosophischen Über-zeugungen erwächst (...) Ich denke, essollte klar sein, welche Konsequenz bei vor-bedachtem schweren zivilen Ungehorsamangezeigt ist: die Deportation.Aus dem Beitrag von William F. Buckley zudem oben zitierten Artikel der New YorkTimes

Das Völkerrecht ist in vieler Hinsicht einInstrument der Mächtigen, ist es doch eineSchöpfung der Staaten und ihrer Vertreter.Ländliche Massenbewegungen waren je-denfalls nicht beteiligt, als im Lauf der Zeitder jetzt gültige Korpus des Völkerrechtsentstand (...)[Dennoch finden sich] im Völkerrecht in-teressante Elemente, so etwa in den Grund-sätzen von Nürnberg und in der Charta derVereinten Nationen. Meines Erachtens ver-langen diese Elemente von jedem Bürger,derart gegen seinen eigenen Staat zu han-deln, daß dieser ihn fälschlicherweise als kri-minell einstuft. Gleichwohl wäre sein Han-deln legal. So verbietet das Völkerrecht etwadie Anwendung von Gewalt unter Staaten,ja selbst die Drohung damit. Ausnahmensind nur unter sehr eingeschränkten Vor-aussetzungen zulässig, die beispielsweise aufden Vietnamkrieg nicht zutreffen. Darausfolgt, daß speziell im Vietnamkrieg - undum den geht es mir hier vor allem - die USAwie ein Verbrecher handeln. Einen Verbre-cher darf man aber an einem Mord hin-dern, und wenn er dann den Versuch, ihmEinhalt zu gebieten, illegal nennt, so trifftdas Gegenteil zu (...)Aus »Human Nature: Justice versus Power«in Reflexive Water (a. a. O.)

Mehr zu den Grundsätzen von Nürnbergauf S. 154.Vgl. auch »On the Limits of Civil Disobe-dience« in For Reasons of State S. 285-297

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AUS »FIRING LINE«, USA (1969)

William F. BuckleyDa bin ich aber froh, daß Sie hier überdie Vietnamfrage diskutieren wollen,vor allem wenn ich sehe, wieviel Über-windung Sie das kostet.

ChomskyDas stimmt ...

BuckleyKlar...

ChomskyDas stimmt, und eine Sache wie diese ...

Buckley... und Ihnen geht's gut, Ihnen geht'sprima.

ChomskyAlso manchmal werde ich wütend. Abervielleicht nicht gerade heute abend.

BuckleyHeute vielleicht nicht, sonst würde ichIhnen nämlich eins in die Fresse geben.

ChomskyDas ist ein guter Grund, mich zu beherr-schen.

BuckleySie nennen den Krieg einfach obszön -eine verkommene Tat elender Schwäch-linge.

ChomskyUns alle eingeschlossen - mich selbstnicht ausgenommen.

BuckleyUnd weiter ...

Es mag eine Zeit gegeben haben, da manüber die Vietnam-Politik der USA nochgeteilter Meinung sein konnte. Aber das istlange vorbei. Man kann das inzwischenebensowenig wie über den Krieg der Italie-ner in Abessinien oder über die Unter-drückung der Ungarn durch die Russen.Dieser Krieg ist einfach obszön, er ist eineverderbte Tat, verübt von schwachen, ver-ächtlichen Männern. Auch wir zählen dazu,

denn wir haben es zugelassen, daß dieseGeißel der Zerstörung endlos weiterwütet.Auch wir hätten geschwiegen, wenn alleinRuhe und Ordnung geherrscht hätten. Esfällt mir schwer, das auszusprechen, aber esmuß sein - um der Wahrheit willen.American Power and the New Mandarins S. 9

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ChomskyEinschließlich aller ... das steht imnächsten Satz ...

BuckleyJa doch ...

Chomsky... also in diesem Satz ...

Ed TurnerJa ja ja - klar doch. Sie halten jeden fürschuldig.

ChomskyIn diesem Fall stimmt das, glaube ich ...

BuckleyHm, ja, aber ...

Chomsky... also was ich unter anderem damitsagen wollte ...

BuckleyDas ist gewissermaßen eine theologischeAussage, oder?

ChomskyNein, das glaube ich nicht ...

Buckley... denn wenn jemand sagt, alle sind anallem schuld, dann ist niemand anirgend etwas schuld.

Chomsky

Nein, also ich meine ... na ja, also dasglaube ich nun nicht. Wissen Sie, wasich damit aufzeigen will, ist der eigentli-che ... also mir erscheint es jedenfallsso, ich sage das an anderer Stelle in demBuch [American Power and the New Man-darins] ... für mich ist gewissermaßender erschreckendste Aspekt unserer

Ärger, Wut, das Bekennen einer erdrücken-den Schuld: Dies alles mag ja einen gewissentherapeutischen Wert besitzen. Es kannjedoch auch ein Hemmschuh für wirksamesHandeln sein - dann nämlich, wenn diesesangesichts der Schwere des Verbrechensheruntergeredet wird. Es ist ungeheuerleicht, in eine Selbstbezogenheit andererArt zu verfallen, die uns nicht wenigerschwächt als die Apathie von einst. Hierliegt wirklich eine Gefahr. Daß die Men-schen über ritualisierte Schuldbekenntnissegeradezu daran gehindert werden könnenzu tun, was getan werden muß - dieserGedanke ist ja nicht neu. Man kann sogar,indem man über das Böse in sich nachsinnt,eine gewisse Befriedigung empfinden. Undebenso trügerisch ist der Schrei nach der»Revolution«, wenn er zu einer Zeit ertönt,da neue Institutionen nicht einmal im Keimexistieren, um wieviel weniger das morali-sche und politische Bewußtsein, mit dem

sich der Alltag einer Gesellschaft grundle-gend verändern ließe. Sollte es in den USAderzeit überhaupt so etwas wie eine »Revo-lution« geben, dann könnte das nur einSchritt in Richtung auf eine Art Faschismussein. Wir müssen uns vor jener revolutio-nären Rhetorik hüten, die einen Karl Marxdas Britische Museum hätte anzünden las-sen, weil dieses ja auch nur ein Element derRepressionsgesellschaft war. Die gravieren-den Mißstände und Schwachstellen inner-halb unserer Institutionen dürfen wir kei-nesfalls übersehen; aber ebenso unverzeih-lich wäre es, wenn wir die erheblichen Spiel-räume, die den meisten von uns selbst indiesen unvollkommmenen Institutionenoffenstehen, nicht dazu nutzen würden, uman diesen zu arbeiten oder sie sogar gänz-lich durch eine bessere Gesellschaftsord-nung zu ersetzen.American Power and the New MandarinsS. 17-18

Niemand, der sich auch nur ein wenigmit Geschichte beschäftigt, wird über-rascht sein, wenn die Leute, die amlautesten »Schlagt alles kaputt!«schreien, später selbst an den Schalt-hebeln eines neuen Repressions-apparats sitzen.

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Gesellschaft - anderer übrigens auch -die distanzierte Gleichgültigkeit, mit dergeistig gesunde, vernünftige Menschensolche Vorgänge anschauen. Ich haltedas für schlimmer, als wenn mal gele-gentlich ein Hitler oder LeMay [CurtisLeMay: General der US Air Force währenddes Vietnamkriegs] oder so jemand auf-taucht. Solche Leute könnten über-haupt nichts bewirken ohne diese Apa-thie und Gleichgültigkeit. Und deshalbglaube ich, daß es in einem gewissenSinne gerade die vernünftigen, einsich-tigen, toleranten Menschen sind, dieeigentlich - also die zu einem erhebli-chen Teil mitschuldig sind; sie ladennämlich alles viel zu schnell auf denSchultern einiger Extremisten undGewalttäter ab.

Was nun die Verantwortung der Intellektu-ellen angeht, so stellen sich dort nochandere, nicht minder beunruhigende Fra-gen. Die Intellektuellen sind in der Lage,die Lügen der Regierung aufzudecken undderen Handlungen im Hinblick auf Auslö-ser, Motive und - häufig verborgene -Absichten zu erforschen. Auch verfügen sie,zumindest im Westen, über eine gewisseMacht, die sie der politischen Freiheit ver-danken, dem Zugang zu Informationenund dem freien Wort. Ihnen als privilegier-ter Minderheit verschafft die westlicheDemokratie immerhin die Muße, das Instru-mentarium und die Ausbildung, um hinterdem Schleier von Propaganda und Verzer-rung, von Ideologie und Klasseninteressen- durch den allein wir die Dinge der Zeitwahrnehmen dürfen - nach der Wahrheitzu suchen. Da die Intellektuellen diese Vor-

rechte genießen dürfen, reicht ihre Verant-wortung viel weiter als das, was [Dwight]Macdonald die »Verantwortung der Völ-ker« nennt (...) Den Intellektuellen obliegtes, die Wahrheit zu benennen und die Lügezu demaskieren.Aus »The Responsibility of Intellectuals«,The Chomsky Reader S. 60 (abgedruckt ausAmerican Power and the New Mandarins)

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AUS »PULSE NEWS«, CFCF TV,MONTREAL, KANADA (10.06.91)

Lynn DesjardinsZwölf Millionen Pfund Konfetti wurdenin der sogenannten »Heldenschlucht«in New York verstreut. Die Amerikanerbegrüßten ihre Truppen bei der Heim-kehr aus dem Krieg am Persischen Golf.

KONFETTIPARADE IN NEW YORK

Mann rechtsJa, das ist prima gelaufen. Ich meine, dasieht man doch, daß wir eine mächtigeNation sind, und das bleibt auch so,egal was passiert. Ich meine, wir sind dasstärkste Land der Welt, da muß mandoch froh sein, daß man hier lebt.

Katherine Asals (Reporterin)Und was sagen Sie dazu, wie die Medienüber den Krieg berichtet haben?

Mann linksDas fand ich gut. Nach einiger Zeitwurde es einem etwas zuviel, aber es wardoch ganz gut, über alles Bescheid zuwissen. Wissen Sie, in Vietnam damals,da gab es so vieles, von dem man nichtswußte, aber hier war man über alles soziemlich auf dem laufenden, man warinformiert und das finde ich gut.

Im Rückblick bleibt unklar, welche positi-ven Auswirkungen der Golfkrieg überhaupthatte. In Kuweit wurde - nach Milliarden-schäden und ohne daß es zu nennenswer-ten Reformen gekommen wäre — wieder dasalte autoritäre Regime eingesetzt. Im Irakliegt infolge des Krieges die wirtschaftlicheInfrastruktur darnieder, und die Verlustean Menschenleben werden auf 243.000 ge-schätzt. (Als Folge der amerikanischen Poli-tik des »Jetzt bomben, später sterben« hattedas irakische Volk unter Cholera- undTyphusepidemien sowie anderen tödlichenKrankheiten zu leiden; der Mangel an Medi-kamenten und Ausrüstung verhinderteselbst die einfachste medizinische Hilfe;Kinder starben an Hunger und Krankhei-ten. Dennoch bestand Bush unvermindertauf dem Wirtschaftsboykott des Irak. S. 420)Die Kurden und andere Volksgruppen, dieden Sturz Saddam Husseins anstrebten, hatman im Stich gelassen. Der Irak selbst mußweiter die Diktatur der Baathpartei ertra-gen. Millionen Menschen hat der Krieg zuFlüchtlingen gemacht und um ihre berufli-che Existenz gebracht; ihre Aussichten sind

ungewiß. Die ganze Region wurde ökolo-gisch verwüstet; die Ölquellen lodertenmonatelang, während ausströmendes Roh-öl den Persischen Golf verseuchte. Die poli-tische Stabilität im Nahen Osten ist bedroh-ter als je zuvor; anstatt die Probleme derRegion zu lösen, hat der Golfkrieg nur neueZwietracht und Spannung gebracht.Doug Kellner, The Persian Gulf TV War(Westview Press 1992) S. 1

Chomsky beurteilt The Persian Gulf TV Warso: »In seiner sorgfältigen Analyse der Rea-litäten des Golfkriegs und der Vorstellun-gen, die man uns davon vermittelt hatte,zeichnet Kellner ein Bild unserer Gesell-schaft und unserer Institutionen, an demniemand, dem unser Land am Herzen liegt,vorbeikommt. Eine beeindruckend starkeUntersuchung, die zu vielfältigen Überle-gungen Anlaß gibt.«Vgl. auch: »What We Say Goes« in: C. Peters(Hrsg.), Collateral Damage (South End Press1992) S. 49-92, sowie Chronicles of DissentKap. 12-15

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CNN TV, ATLANTA, GEORGIA, USA

Ed Turner (Präsident von CNN)

Dank des technischen Fortschritts warenwir zum erstenmal in der Lage, an vie-len Stellen der Erde live dabei zu sein.Weil wir ein Nachrichtensender sind,können wir den nötigen Zeitaufwandtreiben, um dem Zuschauer den ganzenKontext bieten zu können. Darunterverstehe ich das institutionelle Gedächt-nis, ohne das man das Wie und Warumnicht verstehen kann.

StimmeGib dem letzten Ding 'ne ID, dem vonITN - Israel nach dem Krieg.

Ed TurnerDavid Brinkley hat einmal gesagt, wirstünden jetzt vor der Kamera und wärenkein Nachrichtendienst mehr, sondernShowbusiness. Aber das muß guten Jour-nalismus nicht beeinträchtigen.

Redakteur 1Bleib dran, ich geb' mal 'nen Einstiegzu Salinger. OK? Ah, Präsident Bushund Premierminister Major haben, äh,verschließen sich, oder haben die sow-jetischen Friedensvorschläge, äh, Frie-densbemühungen praktisch zurückge-wiesen. OK. In Saudi-Arabien steht nochein Türchen offen. Hier ist Rick Salin-ger live aus Riyadh mit dem Neuesten.

Redakteur 2... verschließen sich praktisch ...

Redakteur 1Ja ... verschließen sich praktisch ...genau.

Ed TurnerGenauigkeit, Schnelle, Fairness, Ehrlich-keit und Beharrlichkeit - das brauchtder Reporter, wenn er die Wahrheit ver-mitteln will. Egal welche Wahrheit.

Vom ersten Tag der Entsendung der ameri-kanischen Truppen an wurde der Presse derdirekte Kontakt mit den Soldaten verwehrt.Stattdessen organisierten die Militärs Grup-penreisen für die Journalisten zu eigens aus-gewählten Orten, und auch dort durftenInterviews mit Soldaten nur in Gegenwartvon »Aufpassern« geführt werden (...) Daaußerdem alle Berichte und Filmdoku-mente der Zensur unterlagen, hatten dieStreitkräfte die Berichterstattung über dieEntsendung der Truppen und die nachfol-genden Militäroperationen praktisch völligin der Hand.Reporter, die sich auf eigene Faust hinaus-wagten, wurden entweder festgenommenoder bei ihrer Rückkehr aufgefordert, zuverschwinden; einige wurden sogar verprü-gelt. Wer sich während des Krieges nicht derDisziplin der Reisegruppen unterwarf, ver-lor seinen Presseausweis (...) Kein Reporterdurfte sein Material nach Hause übermit-teln, bevor es nicht einer »Sicherheitsüber-prüfung« - also einer Militärzensur - unter-zogen worden war.Nie zuvor ist die Berichterstattung über dieamerikanische Kriegführung so massiv ein-geschränkt worden. Sonst hatten die Jour-nalisten sich stets frei unter den Fronttrup-pen bewegen können, und im Zweiten Welt-krieg wie auch in Vietnam stand unsereKriegsberichterstattung auf hohem Niveau.Wenn das Militär nun zum Mittel der Grup-penfahrten griff, so gerade deshalb, weil ausVietnam zu negativ berichtet worden warund man der Presse die Schuld dafür gab,daß dieser Krieg unpopulär wurde (...)Dies führte dazu, daß die heftigen Debat-ten, die unter den in Saudi-Arabien statio-nierten Soldaten um den Sinn und Zweckihres Einsatzes kreisten, der Öffentlichkeitin den USA vorenthalten blieben. Jede Mel-dung, die vielleicht Fragen bezüglich derPolitik der Bush-Regierung provozierenkönnte, galt als unerwünscht. Reporter, diegegen den Truppeneinsatz eingestellt wa-

ren, erhielten weder Zugang zur Militärfüh-rung noch zu den Pressegruppen. Wer sichaber geneigt zeigte, der wurde mit Rundrei-sen und Interviews belohnt.The Persian Gulf TV War (a. a. O.) S. 80-83

Die Medien haben sich selbst auf die Schul-ter geklopft und Umfrageergebnisse ver-kündet, nach denen ca. 70 Prozent der Be-völkerung mit der Kriegsberichterstattungsehr zufrieden waren. Mißt man hingegendie Qualität der Medien daran, wie gut siedie Öffentlichkeit informieren, dann er-weist sich ihr völliges Versagen.Das Center for Studies in Communication derUniversität von Massachusetts fand kürzlichheraus, daß die Menschen um so wenigerüber die Hintergründe des Golfkrieges wuß-ten, je häufiger sie während der Krise vordem Fernseher gesessen hatten, und daß sieauch den Krieg um so entschiedener bejah-ten. Bei der Frage nach Grundkenntnissenüber die Region, die Politik der USA unddie Ereignisse, die zu dem Krieg geführt hat-ten, stellte das Forscherteam fest, daß »dieauffälligsten Wissenslücken bei den Men-schen solche Informationen betrafen, diedie Regierungspolitik in einem ungünsti-gen Licht hätten erscheinen lassen können«(...)So fiel es der überwiegenden Mehrzahl derBefragten schwer, allgemeine Fragen zumNahen Osten und zur Außenpolitik derUSA zu beantworten; hingegen konnten 81Prozent den Flugkörper, mit dem wir dieirakischen Scud-Raketen abschießen konn-ten, richtig benennen: die Patriot. Die Tat-sache, daß die Medienkonsumenten zwarüber amerikanische Erfolgswaffen Bescheidwußten, nicht aber über unsere außenpoli-tischen Widersprüche, läßt es für die For-schergruppe »als naheliegend erscheinen,daß die breite Öffentlichkeit nicht etwaunwissend ist, sondern selektiv fehlinfor-miert wird.«

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Die Untersuchung kommt zu dem Schluß,man könne »der Bush-Regierung und demPentagon nicht den Vorwurf machen, siehätten nur solche Fakten veröffentlicht, diezu ihren Gunsten sprechen - schließlichzählt die Verbreitung ausgewogener Infor-mationen nicht zu ihren Aufgaben. Dies istallein den Medien anzulasten, vor allemdem Fernsehen, denn ihnen obliegt es, dieÖffentlichkeit mit allen relevanten Faktenzu versorgen.«Extra!-Sonderausgabe Bd. 4 Nr. 3 Mai 1991

Der Logik der Situation folgend, bestündeder erste, der UNO-spezifische Ansatz zurAbwehr der Aggression in Sanktionen. Indiesem Fall wäre es allerdings denkbar, daßdie Sanktionen ihre - durchaus zu erwar-tende - Wirksamkeit erst nach und nachentfalten. Eine Invasionstruppe anderer-seits kann nicht beliebig lange einsatzbereitgehalten werden - um so weniger, je stärkersie zahlenmäßig ist. Eine größere Invasions-streitmacht in der arabischen Wüste zuunterhalten, ist schon schwierig genug undwäre allenfalls für einige Monate möglich.Man wird also vor die Wahl gestellt: Abzie-hen oder einsetzen. Ein Abzug ist aber poli-tisch so gut wie ausgeschlossen; schließlichist diese ganze Geschichte hochmoralischaufgeladen und als Auftrag von geradezukosmischer Bedeutung zu verstehen: Sad-dam Hussein muß gewaltsam aus Kuwaitverjagt werden. Da die Sache nun so hochaufgehängt ist, können wir uns unmöglichnoch zurückziehen. Also werden die Trup-pen eingesetzt werden; also wird es einenKrieg geben. Das erfordert die Logik derSituation, und das liegt seit Anfang Augustpraktisch auf der Hand.Noam Chomsky on U. S. Gulf Policy, HarvardUniversity 19.11.90 (Open Magazine Pam-phlet Series) S. 1

Diejenigen, die sich für eine militärischeLösung der Kuwaitkrise einsetzen, behaup-ten immer wieder, es gäbe keine Beweisefür die Wirksamkeit von Sanktionen. Nurdurch einen Krieg könne sichergestellt wer-den, daß die Iraker Kuwait räumen. Dabeigibt es zahllose Beispiele für Sanktionen,die von Erfolg gekrönt waren, und vielesspricht dafür, daß dies auch hier in maximal12 Monaten der Fall sein könnte.Wir haben in einer umfangreichen Studie115 Fallbeispiele bis zurück zum ErstenWeltkrieg untersucht und sind zu demErgebnis gekommen, daß in 34 Prozent derFälle Wirtschaftssanktionen dazu beitrugen,die jeweils zwischenstaatlich damit verfolg-ten Ziele zu erreichen. Da im Fall des Irakunter den Staaten, welche die umfassendenSanktionen betreiben, seltene Einmütigkeitherrscht, sind hier die Erfolgschancen weit-aus größer.Um unsere Schlußfolgerungen auch strengformal zu testen, benutzten wir Erkennt-nisse eines Harvard-Ökonomen, San LingLam, für die Entwicklung eines Computer-modells zur Analyse der Faktoren, die einenBeitrag zum Erfolg von Sanktionen liefern.Der geschätzte Schaden, der dem Irak ent-stehen würde - 48 Prozent des Bruttosozial-produkts - übersteigt bei weitem alles bisherDagewesene. Somit lag die erwartete Er-folgswahrscheinlichkeit ursprünglich prak-tisch bei 100 Prozent. Auch als wir dasModell (im Hinblick auf den extrem tyran-nischen Charakter des Saddam-Regimes)modifizierten und die Kostenschätzung auf24 Prozent halbierten, betrug die Erfolgs-chance immer noch mehr als 85 Prozent. Esgab 12 Fälle, bei denen das Modell ebenfallseine Erfolgswahrscheinlichkeit von mehrals 80 Prozent ermittelte. Der durchschnitt-liche Rückgang des Handelsvolumens hattedabei nicht mehr als 36 Prozent betragen,und der Durchschnittswert für den erzieltenSchaden lag bei mageren 3,8 Prozent desBSP.

Im Gegensatz hierzu blockieren die Sank-tionen gegen den Irak die Handels- undKapitalbeziehungen des Landes praktischzu 100 Prozent. Der Einbruch im irakischenBruttosozialprodukt - 48 Prozent - ist zwan-zigmal größer als der entsprechende Durch-schnittswert von allen erfolgreichen Sankti-onsfällen und immerhin noch dreimal sohoch wie der höchste bislang in einem Landbewirkte wirtschaftliche Schaden.Dem wird nun von Kritikern entgegenge-halten, Sanktionen könnten nichts gegeneinen rücksichtslosen Diktator ausrichten,der sein Volk jeden Preis zahlen läßt. Es sindaber Sanktionen mit Erfolg gegen Diktato-ren aller Schattierungen angewandt worden- sei es, daß sie sich zu einer Änderung ihrePolitik genötigt sahen, sei es, daß siegestürzt wurden (...)Da der Irak über weitaus geringere Reser-ven verfügt als die Sowjetunion, würde sichin erfolgreichen Sanktionen ein viel attrak-tiveres Modell für eine globale Zusammen-arbeit anbieten, wenn es künftig darumgeht, die Sündenfälle kleinerer Länder aus-zubügeln. Leider wird dieses Modell ver-worfen, ohne je eine echte Chance gehabtzu haben. Wie oft noch wollen die USA, nurum einen regionalen Tyrannen zu diszipli-nieren, im Alleingang vorgehen und dabeiselbst eine militärische Konfrontation ris-kieren?Aus »Sanctions Will Work - and Soon« vonG. C. Hufbauer und K. A. Elliott, Globe AndMail 15.01.91 S.A15Vgl. auch: G. C. Hufbauer, K. A. Elliott, J. J.Schott, Economic Sanctions Reconsidered (In-stitute for International Economics, Wash-ington)

Ed Turner, der Präsident von CNN, ist nichtverwandt mit Ted Turner, Präsident vonTurner Broadcasting System, der Mutterge-sellschaft von CNN

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IM MIT

ChomskyNun ist ein Kriegseintritt eine ernsteSache. In einer totalitären Gesellschaftbraucht der Diktator nur zu verkünden,wir ziehen jetzt in den Krieg, und allesmarschiert los.

AUS »THE WAR FOR MEN'S MINDS«(KANADISCHE NATIONALE FILM-BEHÖRDE 1943)

Sprecher (Lome Greene)Und da wir nun über die Waffe dermenschlichen Brüderlichkeit verfügen,sehen wir in dem Kampf um die Köpfeder Menschen nicht so sehr eineSchlacht zwischen Wahrheit und Lüge,sondern vielmehr ein immerwährendesBündnisversprechen mit den Aber-millionen, die für die wahre neueOrdnung voranstürmen. Eine Welt-ordnung mit den Menschen an ersterStelle. Die Menschen über alles.

IM MIT

ChomskyRein theoretisch ist es in einer demo-kratischen Gesellschaft so, daß die poli-tische Führung - wenn sie zum Kriegentschlossen ist - Gründe dafür liefernmuß und eine verdammt schwereBeweislast tragen muß; denn ein Kriegist eine katastrophale Sache, wie sichbeim letzten Mal gezeigt hat. An diesemPunkt nun müssen die Medien esermöglichen - müssen sie den passen-den Hintergrund ausbreiten. Sie müs-sen z. B. die Chance einer friedlichenLösung, wenn es eine gibt, darlegen,und dann müssen sie - na ja, ein Forum

Nur ganz selten einmal behandelten dieNachrichtensendungen die Lage untereinem regierungskritischen Blickwinkel.Die Faustregel der Medien lautete: Wer denKrieg unterstützt, ist objektiv - alle anderensind voreingenommen (...)Aus einer von FAIR [Gruppe für kritischeMedienbeobachtung] vorgenommenen Ana-lyse der Abendnachrichten von ABC, CBSund NBC geht hervor, daß unter den 878direkt gesendeten Äußerungen nur eineeinzige von einem Vertreter der Friedens-bewegung stammte: Bill Monning von derOrganisation »Ärzte gegen den Atom-krieg«. Aber allein 7 Super-Bowl-Football-spieler durften den Krieg vor der Kamerakommentieren (...)Wenn überhaupt einmal kritische Stimmenzu Wort kamen, so geschah dies jedenfallsso gut wie nie im Rahmen fundierter Studio-diskussionen. Stattdessen wurde über dieFriedensbewegung wie über den Natur-schutz berichtet - aus dem »Habitat« derDemonstranten unter freiem Himmel (...)Wer - wie die großen Fernsehsender - dieArgumente der Friedensbewegung alleinaus dem Mund zufällig herausgegriffenerProtestler vernehmen läßt, der bringt dieBewegung um ihre klügsten und ausdrucks-stärksten Sprecher.Extra!-Sonderausgabe Bd. 4 Nr. 3 Mai 1991

Die demokratische Opposition des Irak lebtim Exil [seit Saddam Hussein an der Machtist]. Es gibt diese Opposition; es sind ange-sehene Persönlichkeiten, Architekten, Lon-doner Bankiers, alles Menschen, die wissen,was sie sagen. Aber in den Medien kommensie niemals zu Wort, und man versteht auch,warum: Sie waren immer gegen die Politikder USA eingestellt. Mehr noch, ihre Ein-stellung ähnelt der der Friedensbewegung.Vor August 1990 waren sie gegen die Unter-stützung, die Saddam Hussein von GeorgeBush erfuhr - was in Washington sehr un-gnädig aufgenommen wurde. Sie kamenhierher, um Unterstützung für eine parla-mentarische Demokratie im Irak zu gewin-nen - man redete nicht einmal mit ihnen.In den Medien wurden sie geschnitten. Alsdann zwischen August 1990 und Februar1991 die Kriegsvorbereitungen liefen, spra-chen sie sich dagegen aus, denn sie wolltennicht, daß ihr Land zerstört würde. Sie for-derten eine politische Lösung, sogar einenTruppenrückzug. Doch zu lesen war darü-ber nur in deutschen oder britischen Zei-tungen, oder im Z Magazine, wogegen in derUS-Presse Blackout herrschte. Wirklich, ichglaube nicht, daß über sie auch nur ein ein-ziges Wort gedruckt wurde -jedenfalls habeich nichts finden können.Chronicles of Dissent S. 338

Chomskys Vorträge über »The New WorldOrder«, »US Gulf Policy« und »Media Con-trol: The Spectacular Achievements of Pro-paganda« erschienen in einer Schriften-reihe des Open Magazine und fanden mehrals 40.000 Käufer. 13 dieser Schriften vonChomsky und anderen Autoren wurden,versehen mit einer Einführung von HowardZinn, unter dem Titel Open Fire: An Antho-logy zusammengefaßt (New Press 1993).

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bieten, also ein Diskussionsforum überdiesen furchtbaren Entschluß zumKrieg ermöglichen, der Hundert-tausende das Leben kosten und zweiLänder verwüsten kann usw. Dazu ist esaber nie gekommen. Man hat niemals... na ja, also wenn ich »niemals« sage,dann meine ich, daß in neunundneun-zigkommaneun Prozent der Fälle vonder Option einer friedlichen Beilegungnicht die Rede war.

AUS »THE WAR FOR MEN'S MINDS«(1943)

Sprecher (Lome Greene)Eine der wichtigsten und konstruktiv-sten Aufgaben in diesem Krieg wird vomOffice of War Information in Washingtonwahrgenommen.

Elmer DavisDies ist ein Volkskrieg, und um ihn zugewinnen, sollte das Volk so viel wiemöglich darüber wissen. Unser Bürowird sein Bestes tun, um - im In- undAusland - die Wahrheit und nichts alsdie Wahrheit zu verkünden.

Sprecher (Lome Greene)Die erste Waffe dieser weltweiten Wahr-heitsstrategie ist die große Informations-maschine, wie sie die freie Presse dar-stellt - verfügt sie doch über die Macht,das Denken der Öffentlichkeit zu for-men und ihre Handlungen zu steuern,und über die Kanäle, um neuartigeIdeen unter den kämpfenden Nationenrund um den Erdball zu verbreiten.

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IM MIT

ChomskySehen Sie, jedesmal wenn George Bushmit den Worten auftrat: »Es wird keineVerhandlungen geben«, dann gab es amnächsten Tag in Hunderten von Kom-mentaren großes Lob dafür, wie er sichfür die Diplomatie ins Zeug gelegthätte. Wenn er sagte, man dürfe einenAggressor nicht belohnen, dann gab esnicht etwa brüllendes Gelächter wie inzivilisierten Weltgegenden, z. B. in derganzen Dritten Welt, sondern dieMedien nannten ihn »einen Mann mitphantastischen Grundsätzen« - ihn, derin Panama eingefallen ist, das einzigeStaatsoberhaupt, das einer Aggressionschuldig gesprochen wurde. Dieser Typwar CIA-Boss während der Aggression inTimor, wissen Sie, und dann sagt er,Aggressionen dürften nicht belohntwerden, und die Medien klatschen nurBeifall.

Hier wird Bezug auf die Verhandlung vor demInternationalen Gerichtshof genommen, wo danndie Reagan-Bush-Regierung der »ungesetzlichenGewaltanwendung« für schuldig erklärt wurde.Das Wort »Aggression« taucht dort nicht auf; esist auch im Völkerrecht nicht genau definiert.-NC

In einem Punkt kommt der amerikanischenInvasion in Panama historische Bedeutungzu. Sie wurde nämlich nicht wie üblichdamit begründet, daß eine unmittelbaresowjetische Bedrohung gegeben sei (...)Kaum war das Weiße Haus zu der Ansichtgelangt, Freund Noriega würde wohl lang-sam zu groß für seinen Laufstall und müssedaher verschwinden, als die Medien denHinweis auch schon aufgriffen und eineKampagne starteten, die ihn plötzlich alsden teuflischsten Verbrecher seit dem Hun-nenkönig Attila erscheinen ließ (...)Noriegas Aufstieg und Fall verlief nach demüblichen Schema. Immer wenn die USAeinem gewalttätigen Gangster Rücken-deckung bieten, wird dieser von einembestimmten Zeitpunkt an zu selbständigund zu raffgierig - und kann uns somitnicht mehr von Nutzen sein. Statt sich dar-auf zu beschränken, die Armen auszuplün-dern und für ein sicheres Wirtschaftsklimazu sorgen, beginnt er, sich mit der örtlichenOligarchie und der gehobenen Geschäfts-welt anzulegen, also mit Washingtons natür-lichen Verbündeten, oder tritt sogar denInteressen der USA zu nahe. Jetzt ist derMoment gekommen, da man in Washing-ton zu schwanken beginnt. Plötzlich hörenwir von Menschenrechtsverletzungen, überdie man zuvor großzügig hinweggegangenwar, und gelegentlich wird die US-Regie-rung sogar aktiv, um Abhilfe zu schaffen(...) Warum haßten die Amerikaner Nori-ega im Jahre 1989, nicht aber 1985? Warummüssen wir ihn gerade jetzt stürzen, warumnicht schon damals? (...)Es fällt nicht schwer, die wahren Gründe für

die Invasion auszumachen. Schon seit denfünfziger Jahren arbeitete Manuel Noriegaaufs beste mit dem US-Geheimdienstzusammen (...) Etwa 1985/86 war es soweit,daß die USA seine Rolle in einem neuenLicht sahen, also beschlossen sie, ihn abzu-setzen. (...)Einer der Flecken auf Noriegas Weste war,daß er den - von den USA erbittert be-kämpften - Contadora-Prozeß zur Befrie-dung Mittelamerikas befürwortete. Wie weiter sich noch bei den Kämpfen in Nicaraguaengagierte, erschien ebenfalls fraglich; undals dann schließlich die Iran-Contra-Affäreplatzte, war er vollends unnütz geworden.Nun war aber im Vertrag über den Panama-kanal festgelegt, daß die Herrschaft über dieWasserstraße am Neujahrstag 1990 zu gro-ßen Teilen, und wenige Jahre später voll-ständig, in panamaische Hände übergehensollte (...) Man mußte natürlich die tradi-tionellen Klienten der USA wieder an dieMacht bringen, und da war keine Zeit zuverlieren.In einem Bericht der CODEHUCA (Mittel-amerikanische Menschenrechtskommissi-on) wird behauptet, die US-Truppen hätten»hochentwickelte, teilweise noch nie unterKampfbedingungen erprobte Waffensy-steme gegen eine unbewaffnete Zivilbevöl-kerung eingesetzt« (...)Tarnkappenjäger vom Typ F-117A flogenzum erstenmal Kampfeinsätze. In der Zeit-schrift Aviation Week and Space Technology[konnte man die Vermutung lesen]: »Wenndie Air Force jetzt gezeigt hat, daß die F-117A - abgesehen von ihrem eigentlichenDaseinszweck, dem Angriff auf stark vertei-digte sowjetische Ziele - auch in low-inten-sity-Konflikten operieren kann, dann läßtsich die ganze Aktion dazu nutzen, vor denzu nehmend skeptischen Kongreßabgeord-neten die immensen Ausgaben für die Tarn-kappentechnik zu rechtfertigen.«Deterring Democracy S. 144-166Vgl. auch Chronicles of Dissent Kap. 10-12

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AUS »THE WAR FOR MEN'S MINDS«(1943)

Sprecher (Lorne Greene)Dann ist da die Filmindustrie mit ihrenWochenschau-Aufnahmetrupps in derganzen Welt - ganz unersetzlich, um dasDrama und die Gesichtspunkte im Hin-tergrund ins Blickfeld zu rücken. In die-sen entscheidenden Kampf um dieKöpfe der Menschen haben sich auchdie Radiosender eingereiht. Sie bringenihre Erfahrung mit schneller Bericht-erstattung über große Ereignisse mit;ihre Reporter finden wir in allen strate-gischen Zentren und Stützpunkten, undsie unterrichten uns über ihre Erfahrun-gen mit neuen Taktiken und Methodender Kriegsführung.

IM MIT

Chomsky

Im Ergebnis haben wir einen Medien-krieg. Das heißt, es wird überall riesiggefälscht. Endlich erfüllt die UNO ihrenAuftrag, nicht wahr, oder wie es in derNew York Times heißt, »die wunderbareWendung«. Die einzige wunderbareWendung war, daß die USA eine Sicher-heitsratsresolution gegen eine Aggres-sion ausnahmsweise mal nicht mitihrem Veto gestoppt haben.Die Menschen wollen keinen Krieg,wenn es nicht sein muß. Hier standensie kurz vor der Erkenntnis, daß es nichtsein mußte. Das haben die Medien ver-hindert - und das bedeutet, wir sindregelrecht wie ein totalitärer Staat indiesen Krieg gezogen. Und alles dankder Unterwürfigkeit der Medien. Hierliegt für mich der Hund begraben.

Beim Einlegen von Vetos im Sicherheitsratund beim Ablehnen von UNO-Resolutionenin wichtigen Fragen nehmen die USA seit1970 mit großem Abstand den ersten Platzein. An zweiter Stelle steht Großbritannien,hauptsächlich weil es das rassistische Regi-me in Südafrika stützt. Die Vetos wurdenmit verbissenem Gesicht, aber in perfektemEnglisch ausgesprochen; hingegen stimmtedie UdSSR in der Regel so ab wie die großeMehrheit. Die Isolation der USA hätte sogarnoch stärker sichtbar werden können, dochmit ihrem gewaltigen Einfluß gelang esihnen, einige schwerwiegende Problemegar nicht erst auf der Tagesordnung er-scheinen zu lassen. Während die sowjeti-sche Invasion Afghanistans mehrfach scharfverurteilt wurde, ließ sich die UNO nie dar-auf ein, den Indochinakrieg zu behandeln.Ein vielsagendes Beispiel liefern die UNO-Sitzungen vom Winter 1990, unmittelbarvor der »wunderbaren Wendung«. Gegendrei Sicherheitsratsentschließungen wur-den Vetos eingelegt. Es handelte sich dabeium Verurteilungen a) des amerikanischenAngriffs auf die nicaraguanische Botschaftin Panama (US-Veto und Enthaltung Eng-lands) ; b) der US-Invasion in Panama (Vetoder USA, Englands und Frankreichs); c)von israelischen Übergriffen in den besetz-ten Gebieten (US-Veto). Die Vollversamm-lung verabschiedete zwei Resolutionen, indenen alle Staaten zur Beachtung des Völ-kerrechts aufgerufen und die USA wegendes illegalen Embargos gegen Nicaraguaund wegen ihrer Unterstützung der Contraskritisiert wurden. In beiden Fällen gab eszwei Gegenstimmen: von den USA und vonIsrael. Eine weitere Entschließung richtetesich gegen erzwungenen Landerwerb: Stim-menverhältnis 151 zu 3 (USA, Israel, Domi-nikanische Republik). In dieser Resolutionwurde - unter Einbeziehung der Resolution242 - einmal mehr eine Lösung des ara-bisch-israelischen Konflikts mit diplomati-schen Mitteln gefordert, einschließlich ver-

schiedener Grenz- und Sicherheitsgaran-tien, sowie Selbstbestimmung für die Palä-stinenser, implizit also deren Eigenstaatlich-keit. Eine solche Lösung wurde von Syrien,Jordanien und Ägypten vorgeschlagen undvon der PLO mitgetragen; die USA legtenim Januar 1976 ihr Veto dagegen ein undblockieren sie seitdem ununterbrochen,womit sie, wie sich jüngst wieder erwiesenhat, praktisch allein dastehen. Ob es umAggressionen oder Annexionen geht, umMenschenrechtsverletzungen oder Terro-rismus, um Abrüstung oder um die Einhal-tung völkerrechtlicher Prinzipien: Wiederund wieder haben die USA Resolutionendes Sicherheitsrats und der Vollversamm-lung und UNO-Initiativen blockiert.Deterring Democracy S. 199

Mehr über die Rolle der UNO und das dor-tige Abstimmungsverhalten in »UN = US«und »Riding Moynihan's Hobby Horse«, inLetters from Lexington: Reflections on Propa-ganda S. 51-66, und The New World Order,erschienen in der Schriftenreihe des OpenMagazine.

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Die vielleicht übelste Propagandalüge derBush-Administration und der kuwaitischenRegierung bediente sich gefälschter Be-richte über irakische Greueltaten in Kuwait.Es war Oktober 1990, als ein junges Mäd-chen tränenüberströmt vor dem Menschen-rechtsausschuß des Abgeordnetenhausesbezeugte, irakische Soldaten hätten in ei-nem Krankenhaus 15 Säuglinge aus ihrenBrutkästen genommen und auf den Fußbo-den geworfen, wo sie starben. Der Name desMädchens wurde nicht genannt; es hieß,ihre Familie habe andernfalls Repressalienvon den Irakern zu befürchten. Diese Ge-schichte vom Babymord trug dazu bei, einmilitärisches Eingreifen der USA populärzu machen (...) Im Verlaufeines ein/igenMonats erwähnte Bush sie sechsmal (...)Doch in einem Gastkommentar der NewYork Times vom 6. Januar 1992 enthüllte derHerausgeber der Zeitschrift Harper's, JohnMacArthur, daß es sich bei der anonymenZeugin um die Tochter des kuwaitischenBotschafters in den Vereinigten Staaten ge-handelt hatte. Die PR-Agentur Hill & Kno-wlton hatte die Anhörungen im Ausschußorganisiert, nachdem sie zuvor das Mäd-chen als Zeugin aufgebaut hatte. Präsidentvon Hill & Knowlton war Craig Fuller, Bush-Anhänger und während dessen Vizepräsi-den tschaft sein Stabschef; auch er hatte dieFinger in dieser PR-Kampagne (...) Sehrwahrscheinlich haben also die RegierungenKuwaits und der USA gemeinsam einenManipulations- und Propagandafeldzug ge-startet mit dem Ziel, das amerikanische Volkfür den Golfkrieg einzunehmen. Wie manhört, war dies eine der kostspieligsten PR-Kampagnen, die je geführt worden sind(...) Die Schätzungen sprechen von 11 Mil-lionen Dollar (...)Am 17. Januar 1992 wurde in der ABC-Sen-dung »20/20« enthüllt, daß ein angeblicher»Arzt«, der bezeugt hatte, er habe »14 Neu-geborene beerdigt, die von Soldaten ausden Brutkästen gerissen worden waren«,

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ebenfalls gelogen hatte. Der Arzt, der inWirklichkeil Zahnarzt war. gab später zu,daß er die Babies überhaupt nicht unter-sucht hatte und daher auch nicht wissenkonnte, wie sie zu Tode gekommen waren(...) (Nach dem Krieg fand man die Brut-kästen in den kuwaitischen Krankenhäu-sern noch an ihrem Ort vor; das medizini-sche Klinikpersonal bestritt, daß die IrakerFrühgeburten umgebracht hätten) (...)Wie ABC ebenfalls enthüllte, hatte Hill &Knowlton eine Umfrage mit Focusgruppendurchgeführt; dabei werden Menschengruppenweise zusammengebracht, um her-auszufinden, was sie besonders bewegt oderaufbringt. Besonders heftig reagierte die be-treffende Gruppe auf die Baby-Greuel, undso baute die Agentur diese Geschichte in dieKampagne ein, die sie im Auftrag der Ku-wait-Befreiungs-Initiative durchführte (...)Zu Beginn des Kuwait-Propagandafeldzugsvon Hill & Knowlton stand die amerikani-sche Öffentlichkeit einer Militärinterven-tion im Nahen Osten mehrheitlich ableh-nend gegenüber, und auch der Kongreßwar einer militärischen Option eher abge-neigt. Die PR-Kampagne trug jedoch zueinem Meinungsumschwung bei und mobi-lisierte die Öffentlichkeit zugunsten mili-tärischer Gewaltanwendung gegen Irak.Somit stellt das Greuelmärchen von dentoten Babies einen klassischen Fall von Pro-paganda zur Fabrikation eines Konsensesdar - hier also des Konsenses über die Poli-tik der Bush-Regierung. Es gehörte zu je-nem feingesponnenen Netz aus Täuschung,Desinformation und groben Lügen, mitdenen man der Öffentlichkeit den Kriegschmackhaft machte.The Persian Gulf TV War (a. a. O.) S. 67-71

Wer möchte schon gegen die AmerikanischeIdee sein? Oder wer gegen Harmonie? Undwie hieß es im Golfkrieg: »Unterstützt un-sere Truppen«. Wer könnte wohl dagegensein? Oder wer wäre gegen die gelbenSchleifchen? Lauter absolut nichtssagendeSachen. Denn was bedeutet es, wenn michjemand fragt: Unterstützen Sie die Leute inIowa? Kann ich mit Ja antworten, oder sollich Nein sagen? Es liegt kein Sinn darin -und das ist genau der Punkt: Werbesprüchewie »Unterstützt unsere Truppen« sindohne jeden Sinn. Sie sind genau so sinnvollwie die Frage, ob man die Leute in Iowaunterstützt. Natürlich ging es dabei um einewichtige Sache, nämlich um die Frage:Stehst du hinter unserer Politik? Aber manmöchte nicht, daß die Menschen anfangen,über diese Frage nachzudenken. Gute Pro-paganda zielt immer nur auf eines ab: Mansucht nach einem Slogan, wo alle dafür sindund niemand dagegen ist. Niemand weiß,was er bedeutet - er ist ja sinnlos. Er ist inerster Linie dazu gedacht, die Aufmerksam-keit von der wirklich bedeutsamen Frageabzulenken: Stehst du hinter unserer Poli-tik? Denn zu dieser Frage darf man sichnatürlich nicht äußern.Aus Media Control: The Spectacular Achieve-ments of Propaganda, erschienen in derSchriftenreihe des Open Magazine

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RADIO KUWR, LARAMIE

ChomskyAlso nochmal, ich rede hier nicht voneiner kleinen Radiostation in Laramie;ich spreche von den nationalen Medien,die die Themen setzen. Wenn Sie hierin Laramie eine Nachrichtensendungmachen, dann ist es ziemlich sicher, daßSie in der neuesten New York Times nach-sehen und sich sagen, das ist das Wich-tigste. Mehr noch, lesen Sie mal dieNachmittags-Telexe von AP, da findenSie die erste Seite der New York Timesvom nächsten Morgen. Auf diese Weiseweiß jeder, was die wichtigen Nachrich-ten sind. Und so übertragen sich dieBlickwinkel und die Ansichten von obennach unten, nicht in jedem Detail, aberdas allgemeine Bild wird ziemlichflächendeckend verbreitet.

Wir fragten die Montreal Gazette, ob sie die-sen Dienst auch in Anspruch nimmt. Undin der Tat läuft auch hier täglich die Titel-seite der New York Times für den Folgetagein. An diesem Tag begann die Vorabmel-dung wie folgt:

Anfang:! Achtung: S:A:9775:TAF - Z:U:V:DC31:BC:BC -NYT - FRONTPAGE - BC - NYT FRONTPAGE <Es folgen die Beiträge, die die Redaktion derNew York Times für Freitag, 27. Sept., für Seite1 vorsieht. Nachtredakteur des NYT-Nachrich-tendienstes ist Pat Ryan (Tel. 212-556-1927).

VON OBEN:Aufmacher:MILITÄR/IRAK (Vereinte Nationen)Die Regierung setzt ihre Gespräche mit dersaudischen Führung über eine Verstärkung derUS-Truppen fort (...)

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AUS »ON THE SPOT« (NFB-1954)

Lloyd BochnerDie Auslandsmeldungen landen aufdiesem Auslandsschreibtisch. DerRedakteur hier ist Bob Hanley. Ichnehme doch an, Bob, du bekommstviel mehr Auslandsmeldungen, als dujemals in der Zeitung verwerten kannst.

Bob HanleyAllerdings, wir kriegen viel mehr, als wiran einem Tag unterbringen können.

Lloyd BochnerUnd du mußt es dann vermutlich aus-sieben.

Bob HanleyWir haben hier sozusagen ein »Auslese-zentrum«. Was übrigbleibt, gebe ichweiter an einen der anderen Redak-teure. Von da kommt es wieder zu mir,und auf diesem Plan hier setze ich danndie Seite zusammen - also Seite 1 und 2.

Lloyd BochnerSchön, Bob, vielen Dank auch.

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GERICHTSGEBÄUDE, MEDIA,PENNSYLVANIA, USA

MannUnd warum wollen Sie einen Film überMedia drehen?

Peter WintonickAlso...

MannIst ein nettes, ruhiges Städtchen.

Peter WintonickEs ist ein schönes Städtchen. Wissen Sie,wir drehen gerade einen Film über dieMassenmedien, und da dachten wir,dies sei ein hübscher Ort für uns.

MannAch, Sie möchten wissen, wo die denNamen herhaben.

GEWERBEAMT IN MEDIA

Peter WintonickVielleicht stellen Sie sich zunächst vor.

Bodhan SenkowJa, also ich heiße Bodhan Senkow. Ichleite hier die Hauptstraßen-Initiativeund unser Gewerbeamt, und wir sindhier in Media, im County Delaware, imSüdosten von Pennsylvania. Media wirdauch »Jedermanns Heimat« genannt.Das wurde als Werbespruch für dieGemeinde erfunden, wir halten hierbewußte Promotion für sehr wichtig.Wenn Sie in Media durch die Straßengehen, wird man Ihnen überall freund-lich begegnen und Sie werden sehen,daß die Menschen sich den Anspruch,in jedermanns Heimat zu leben, wirk-lich zu eigen gemacht haben.

Wir entdeckten Media auf der Landkarte,als wir gerade von Washington nach Hausefuhren. Da war unser Thema - und es lag amWeg. Sowas durften wir nicht auslassen. Wirhatten ohnehin auch »den Mann und dieFrau auf der Straße« einbeziehen wollenund trafen nun auf einige Ortsansässige, diekluge und offenherzige Ansichten über dieMedien äußerten.

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BAHNHOF IN MEDIA

Peter WintonickHier gibt's doch dieses Lokalblatt, Talkof the Town ...

FrauTown Talk

Peter WintonickLesen Sie das?

FrauJa, ich lese den Town Talk.

Peter WintonickWie unterscheidet sich denn Ihrer Mei-nung nach der Town Talk vom Wall StreetJournal?

Frau

Oh je ... na ja, im Town Talk gibt es nurlokale Meldungen, und dann macht esauch mehr Spaß - also er liest sich leich-ter, er ist interessant. Man liest was überdie Nachbarn, was in der Schule los istund solche Sachen.

CHEFBÜRO DES TOWN TALK, MEDIA

Ed Berman (Herausgeber des »Town Talk«)Wir sind im Geschäft, um Geld zu ver-dienen, genau wie die großen Tages-zeitungen und die großen Radiosender,und wir stehen ganz gut da. Zu Recht,denn wir arbeiten auch hart genug.Hier zeige ich Ihnen mal ein Exemplar;so sieht das in dieser Woche aus. Es istwasserdicht in Kunststoff eingeschweißtund wird an jede Haustür gehängt. Eskommt sehr oft vor, daß wir in einerWoche mehr als 100 Seiten haben.Diese Ausgabe hier - Sie müssen beden-ken, es gibt fünf verschiedene Ausgaben

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- ist die für das Central DelawareCounty, da finden Sie die Meldungenaus Media.Und hier sehen Sie die Anzeigenabtei-lung und den Satz. He Jungs, sagt malHallo!

Drei AngestellteHi allerseits!

Ed BermanWir haben hier einen Stadtplan, undda kleben wir farbige Punkte drauf- rote, grüne oder gelbe - überall woein Laden ist. Die roten Punkte kom-men auf die Läden, die überhaupt niebei uns inserieren. Die grünen kommenauf die, die jede Woche was drin haben,und die gelben kriegen die Läden, dieab und zu mal eine Anzeige schalten.Und dann haben wir Computerlistenvon allen Läden und sehen uns die mitden roten Punkten an, also die Bösen,und aus diesen roten Punkten versu-chen wir gelbe und später dann grünezu machen. Wenn erst mal alle Punktegrün sind, dann würden 100 Prozentder Läden, der Kaufleute und Dienst-leister jede Woche bei uns inserieren.Dann hätten wir keine roten Punktemehr. Ein paar rote Punkte werdenwohl noch bleiben, aber ich hoffe dochstark, daß wir am Ende viel mehr grüneals rote haben werden.

Übrigens stehen, so Mr. Berman, An-zeigen und redaktioneller Text beimTown Talk im Verhältnis 65:35, was beider Anzeigenabteilung der New YorkTimes durchaus Neidgefühle erweckenkönnte. Mehr über die Probleme derNew York Times auf der nächsten Seite.

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VOR DEM GEBÄUDE DERNEW YORK TIMES

Jim Morgan spricht in die Kamera

Jim MorganHi, ich heiße Jim Morgan und arbeite inder PR-Abteilung der New York Times.Ich werde Sie jetzt durch die New YorkTimes führen. So, dann wollen wir mal.

Morgan bedeutet dem Filmteam, ihm zufolgen, und geht durch eine Drehtür insGebäude der New York Times. Das Bildwird SCHWARZ.

Zwar hat die Auflage der New York Times1992 die Rekordhöhe von 1.181.500 er-reicht, aber der Umfang der Werbung istseit 1987 um 40 Prozent zurückgegangen.Denn während das Blatt vor 5 Jahren noch123 Mio Werbezeilen drucken konnte,waren es im vergangenen Jahr nur noch 77Millionen; allerdings hat sich das Tempodes Rückgangs inzwischen verlangsamt. Fürdas Jahr 1992 mußte die Muttergesellschaftder New York Times einen Verlust von 44,7Mio Dollar vermelden, was teils auf die ört-liche Wirtschaftsflaute, teils auf Verschie-bungen bei den Werbeetats und Anzeigen-preislisten zurückgeführt wurde.Derzeit besitzt die Gesellschaft 5 Fernseh-sender, 31 Regionalzeitungen, den Boston

Globe (für den sie 1,1 Mrd Dollar bezahlthat), einen Mittelwellen- und einen UKW-Sender, 20 Zeitschriften, zwei Zeitungsver-triebe, einen Holzverarbeitungsbetrieb undeinen Informationsdienst.Aus einem Artikel von Ken Auletta über dieNew York Times und ihren Herausgeber,Arthur Sulzberger, betitelt »Opening up theTimes«, in The New Yorker, 28.06.92

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Mark AchbarWie ist das Verhältnis Text zu Anzeigen?

Jim Morgan60 Prozent Anzeigen. Das hört sich vielan ist aber normal, genau genommensogar unterm Durchschnitt. Es gibtTage, da sind vielleicht unter den 60Prozent allein 20 Seiten nur Kleinanzei-gen und in der übrigen Zeitung dannnatürlich ein viel höherer Anteil anText; aber wenn man die Zeitung ins-gesamt und über viele Tage hinwegnimmt, ob dünn oder dick, dann hat sie60:40 Anzeigen zu Text.

(Jim Morgan kommt wieder durch dieDrehtür und spricht in die Kamera)

So, damit ist unser Rundgang durch dieNew York Times zu Ende. Ich hoffe, Siefanden es informativ und lesen ab heutejeden Tag für den Rest Ihres Lebens dieNew York Times.

Aufmerksame Leserinnen und Leser wer-den bemerkt haben, daß uns der Zugang zurNew York Times doch noch gelungen ist. Wirführten dort ja das oben wiedergegebeneInterview mit Karl F. Meyer, und im Filmwerden mehrere Redaktionsbüros gezeigt.Als wir nämlich nach dem Interview aufdem Weg zum Ausgang waren, steckten wirden Kopf durch verschiedene Türen undfragten, ob wir mal filmen dürften. Da nie-mand etwas dagegen hatte, schwenkten wirmit unseren Kameras durch die Räume. EinRedaktionsmitglied hatte in seinem Büroeine kleine Bowlingbahn aufgebaut, mitSpielzeugpinguinen als Kegel; die solltenwir aber nicht aufnehmen.Auf der Besichtigungstour mit Jim Morganwaren uns Kameras untersagt, weshalb wirkeine Bilder aus dem Saal der Nachrichten-redaktion oder aus anderen Betriebsberei-chen zeigen konnten. Aber da Mr. Morgannichts dagegen hatte, daß sein Rundgangauf Tonband mitgeschnitten wurde, habenwir eben genommen, was wir kriegen konn-ten. Unsere Bilder zeigen ihn am Beginnund am Ende der Tour, denn außerhalb derFestung New York Times hatte er keine Ein-wände dagegen.

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ERIN MILLS TOWN CENTRE

Auf der Videowand sieht man Chomskyzuerst mit Marci Randall Miller von RadioKUWR aus Laramie und dann an der Uni-versity of Washington

ChomskyDann gibt es auch noch Medien, dieeine ganz andere Rolle in der Gesell-schaft spielen: die der Ablenkung.Das sind die wahren Massenmedien,die - na ja, die haben Otto Normal-verbraucher im Auge. Diese Mediensollen nichts weiter tun, als den Leutendas Gehirn verkleistern.

Kürzlich trug jemand in der TV-Sendung»Saturday Night Live« ein deutlich erkenn-bares Exemplar des Chomsky Reader mit sichherum - eine gute Werbung. Michael Albert[vom Z Magazine] rief sofort Chomsky an:»Hey, du bist im Fernsehen!«, mußte ihmallerdings erstmal erklären, was für eineSendung »Saturday Night Live« eigentlichist [seit 25 Jahren die populärste Samstagabend-

Unterhaltungsshow in den USA]. Chomsky hatnämlich keine Ahnung von der Popkultur.Er sieht nie fern; er hört keinen Rock'n'roll;ins Kino geht er vielleicht einmal im Jahr. Erhat eben kaum Zeit für private Vergnügen.Aus der Einführung zu »A Rolling StoneInterview with Noam Chomsky« von C. M.Young, Rolling Stone 28.05.92

ChomskyEs gab eine Zeit, wenn ich da an irgendei-nem Ort der Welt ankam und aus dem Flug-

zeug stieg, dann erblickte ich wieder diesebeiden freundlichen Gesichter. Aber michbedrückte das; ich kam mir ein wenig vorwie in der ersten Szene von La dolce vita.

Dowell

Was - Noam Chomsky im Kino? In einemFellini-Film?

Chomsky

Doch doch, ich bin der Populärkultur nichtganz so entrückt, wie ich manchmal vor-gebe.

Dowell

Allerdings durften Achbar und Wintonickihm auch nicht überallhin folgen.

Chomsky

Vor allem meine Frau hatte es zur eisernenRegel gemacht, daß keiner der beiden auchnur in die Nähe unseres Hauses oder derKinder, überhaupt unseres Privatlebenskommen durfte, und ich fand das auch rich-tig. Schließlich geht es hier nicht um diePerson, sondern um Gedanken und Prinzi-pien. Es ist schon o. k. , die Person als Trä-ger und Übermittler einzusetzen; aber wieund wo ich lebe, was meine Kinder machenusw. , dies alles hat damit nichts zu tun.

Dowell

Woraus sich vielleicht auch erklärt, warumNoam Chomsky Manufacturing Consent:Noam Chomsky and the Media weder gesehenhat noch sich ansehen wird.

Chomsky

Zunächst gibt es dafür einige eher unwich-tige und rein persönliche Gründe, so etwa,daß ich mich ungern selbst sprechen höreund auch immer gleich darüber nachsinne,wie ich etwas hätte besser machen können.Die Gründe sind aber auch noch allgemei-nerer Natur. Die Filmemacher konnten sichnoch soviel Mühe geben - und haben es

sicher auch getan - bei diesem Mediumwird einfach unausweichlich alles personali-siert, so daß jeder den Eindruck gewinnenmuß, da ist ein bestimmter Mensch - in die-sem Fall also ich - und das ist der Anführereiner Massenbewegung, oder er will einerwerden, oder so.

Dowell

Chomsky bestreitet, diese Rolle zu spielen.Wenn eine soziale Reformbewegung erfolg-reich ist, dann verdanke sie das nicht einemAnführer, sondern den vielen, die sich anvorderster Front abmühen und die kaumeiner kennt. Er gesteht allerdings zu, daßman die Menschen dann besonders gutüber ein Medium erreichen kann, wenn siedarin die Ideen, die der offiziellen Lesartwidersprechen, mit einem Gesicht verbin-den können.

Chomsky

Es gibt doch nur ganz wenige Organisa-tionsformen, bei denen der Durchschnitts-mensch sich überhaupt sinnvoll in die Poli-tik einbringen kann. Viel eher sehen sichdie Menschen als Opfer; jeder von ihnen istzunächst mal isoliertes Opfer einer Propa-ganda. Wenn dann aber mal jemand kommtund etwas in Worten ausdrückt, was sieeigentlich irgendwie schon lange geglaubtoder im Bauch gespürt haben, dann fühlensie sich angesprochen, dann leben sie auf,dann stehen sie nicht mehr allein.

DowellDa hat Chomsky wohl recht. An dem Wo-chenende, als Manufacturing Consent: NoamChomsky and the Media in San Francisco Pre-miere hatte, gingen mehr Leute in den Filmals in irgendeinen anderen, wenn man malvon Ein unmoralisches Angebot absieht.

Interview mit Pat Dowell in der Sendung»Morning Edition« des US-Senders NationalPublic Radio am 24.05.93

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Vermutlich hatte Chomsky nicht die wirkli-che Auftaktszene aus La dolce vita vor Augen(dort schwebt eine Christusstatue an einemSeil unter einem Hubschrauber bei Romüber die Landschaft), sondern folgende:

3. Szene: VIA VENETO BEI NACHTVia Veneto - hier trifft sich, auf einem knappenKilometer, eine internationale Cafeclique von Ari-stokraten und Prominenten, von Millionärenund Päderasten, in schicken Nachtclubs undStraßencafes, zwischen Airline-Agenturen undteuren Läden, um zu trinken, zu tratschen unddem eigenen Überdruß zu entfliehen. Hier istMarcellos Jagdrevier, wo er seine Nächte damitzubringt, all die schlüpfrigen Kleinigkeiten zuerhaschen, die er dann - mit Fotos garniert - densensationslüsternen Lesern seines Boulevardblatts

serviert. Hier trotten die Touristen entlang undstarren alles an, hier streichen die Fotoreporter wie

Schakale umher - hier ist das Zentrum der »dolce

vita«, des Süßen Lebens.Als Maddalena und Marcello den Nachtclub ver-lassen, werden sie von den Fotografen erkanntund umringt.

EINE STIMMEHallo.

MARCELLOHallo.

MADDALENAAha, deine Freunde stehen schon zumAngriff bereit.

CERUSICOHey Marcell' - wofür hast du dich denn soschick gemacht? Ach, Signorina Madda-lena ...

PAPARAZZOMaddalena - Maddalena ...Alle wimmeln aufgeregt herum und fotografie-ren.

MADDALENANein. Bitte! Lassen Sie mich in Ruhe.

CERUSICOSie ist wieder da! Da geht sie! Seht nur, sieist fotogener als jeder Filmstar.

Maddalena eilt wütend an ihnen vorbei.

MADDELENAJeden Abend dasselbe. Können die dennnie genug kriegen?

MARCELLOLos, Paparazzo, verschwinde.

DORIASchnell, schnell! Wohin gehst du, Marcell'?

PARADISIWas denkst du denn, von was wir leben sol-len? Wir verlieren unsern Job.

Maddalena öffnet die Tür ihres Autos, einesoffenen weißen Cadillac. Marcello gleitet nebensie. Die Fotografen schießen Bilder von demWagen, von Maddalena, von Marcello und ihr.

MARCELLOInzwischen müßtest du doch darangewöhnt sein. Du stehst nun mal im Ram-penlicht.

CERUSICOMarcell', wo willst du hin? Verrat' mirdoch, wohin du mit ihr willst.

Der weiße Cadillac schießt die Via Veneto hinun-ter, während die Fotografen immer noch wie wildknipsen.

Aus Fellinis La Dolce Vita (1961)

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UNIVERSITY OF WASHINGTON,SEATTLE, WASHINGTON, USA

ChomskyIch vereinfache mal stark, aber dieseca. 80 Prozent sollen nur auf andereGedanken gebracht werden. Sie sollendie Football-Bundesliga sehen, sie sollendie »Mutter mit sechsköpfigem Kind«bedauern oder erfahren, was es imSupermarkt gibt. Oder ins Horoskopgucken. Oder irgendwelchen Bibel-gläubigen nachlaufen oder so. Haupt-sache, sie sind aus dem Weg und küm-mern sich nicht um die Sachen, auf diees ankommt. Und da ist erstmal wichtig,daß sie nicht mehr so viel nachdenkenkönnen.

AUS »JOURNALISM« (1940)

SprecherinFür den Sport gibt es eine eigene Abtei-lung. Ein Sportreporter muß ein Spezia-list auf seinem Gebiet sein. Seine Storyholt er sich direkt vor Ort; oft schickt ersie nach jedem einzelnen Spiel an seineZeitung.

Nicht, daß der Öffentlichkeit unklar wäre,was da vorgeht - doch je erfolgreicher dieIsolationsstrategie ist und je weiter der Zu-sammenbruch der organisatorischen Struk-turen voranschreitet, um so desorientierterund selbstmörderischer sind die Reaktio-nen: Man himmelt lächerliche Messiasfigu-ren aus der Milliardärsschicht an, manpflegt den Mythos von edelmütigen Anfüh-rern aus einer unbelasteten Vergangenheit,man baut Verschwörungstheorien auf, oderman verfällt enttäuscht in einen diffusenSkeptizismus. Das aber ist eine Mixtur, dieuns bisher nicht gerade viel Glück gebrachthat.Year 501: The Conquest Continues S. 64

Um aus einer Vortrags-Anekdote ein filmi-sches Ereignis zu machen, entschlossen wiruns, Chomskys Video »Sports Rap« von derriesigen Videowand des Olympiastadionsvon Montreal abzufilmen. Wir erhielten fürzwei Stunden Zutritt zum Stadion und muß-ten nur für den elektrischen Strom bezah-len. Das Licht im »Großen O« der Montrea-ler wurde eingeschaltet und 400 Dollarwaren fällig - nicht viel für eine 2-Millionen-Kubikmeter-Kulisse! - MA

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MCMASTER UNIVERSITY,HAMILTON, ONTARIO, KANADA

ChomskyNehmen wir mal den Sport - ich denke,das ist auch so ein Kernstück des Indok-trinierungssystems. Zum einen des-wegen, weil - na ja, es lenkt die Auf-merksamkeit der Menschen auf eineabsolut unwichtige Sache.Hält sie davon ab, mal darüber nachzu-denken ... also mal darüber nachzu-denken, was wirklich wichtig für sie istund wie sie vielleicht dazu etwas beitra-gen könnten. Es ist doch echt beein-druckend, wieviel Intelligenz die Leutebeim Sport entwickeln. Ihr müßt bloßmal die Anrufer im Radio hören - diehaben die ausgefallensten Kenntnisseund den Durchblick bei den abgelegen-sten Gebieten. Und da trägt die Pressezweifellos viel zu bei.

Ich erinnere mich an die High-School-Zeit. Da hab' ich mich eines Tagesgefragt, wieso macht es mir eigentlichwas aus, ob die Footballmannschaft mei-ner Schule gewinnt oder nicht? Ichmeine, ich kenne doch niemanden ausder Mannschaft, die haben nichts mitmir zu tun, wieso juble ich denen zu?Die Sache ist die: Es gibt eben docheinen Sinn. Auf diese Weise entwickeltsich nämlich eine irrationale Unterwer-fung unter eine Autorität, ein Korps-geist unter einer Führung. Kurz gesagt,hier wird ein irrationaler Hurrapatriotis-mus antrainiert. Auch das gehört zumWettkampfsport. Ich denke, wenn manbei diesen Sachen mal genauer hinsieht,dann verbindet sich meist ein Zweckdamit. Und deshalb wird so ein Auf-wand betrieben, die Sache zu unterstüt-zen und aufrechtzuerhalten, deshalbzahlen die Werbesponsoren dafür, usw.

Unamerikanische Jammerlappen, die kei-nen Ball treffen. Trauerweiden, Verliererty-pen. Bücherwürmer, die beim Aufstellender Basketballmannschaft noch länger alsJanis Ian [in ihrem Song »At seventeen«] wartenmußten, bis man sie endlich nahm. Dochgerade viele Linke sind gern sportlich aktiv,schon um es den »normalen Jungs und Mä-dels« gleichzutun und somit derartige Vor-urteile zu widerlegen.Nicht so Noam Chomsky. Seit im Frühjahrder Film Manufacturing Consent: Noam Chom-sky and the Media herauskam, hat dieserIntellektuelle und Friedenskämpfer schoneinige Spitzen über seine unsportlichenKommentare, die in dem Film kurz zurSprache kommen, einstecken müssen.Außer National Public Radio hat ihn auchPhil Donahue gefragt, ob er mit unseremnationalen Zeitvertreib nicht etwas zuharsch ins Gericht geht (...) Manche, diesonst nichts von ihm wissen, sagen dochjetzt: »Chomsky - ist das nicht der Typ, derwas gegen Sport hat?«Das ist so nicht ganz richtig. Zwar hält er inder Tat den Sport für geeignet, »eine irra-tionale Unterwerfungshaltung gegenüberden Autoritäten zu fördern.« Er erwähntauch, daß er sich schon mal ein Basketball-spiel (im Fernsehen) ansehe und es ihnnicht störe, »wenn die Leute ihren Spaß imStadion haben.« Was ihm aber auffällt - ersagt das in dem Film und in einem Buch-auszug in Harper's Magazine - ist das Denk-niveau in anderen Gebieten, vor allem aufdem der Politik, »(...) die erschreckendeDiskrepanz zwischen der Unsicherheit, derUnwissenheit und dem Gefühl von Hilflo-sigkeit und Frustration auf Gebieten wie derPolitik, die ja in das Leben des Einzelneneingreifen, auf der einen Seite, und ande-rerseits der Kompetenz, dem fachlichenWissen und dem Selbstvertrauen auf demGebiet des Sports. Ich bin wirklich beein-druckt davon, wieviel Gehirnschmalz hiereingesetzt wird. Denn die Menschen haben

nun mal Gehirne und wollen sie auchbenutzen. Und wenn ihnen keine konstruk-tiven Möglichkeiten dafür geboten werden,dann erhitzen sie sich eben darüber, wer aufder dritten few« spielen soll.«Seiner Meinung nach wird dieses überstei-gerte Interesse am Sport systematisch geför-dert, um Otto Normalverbraucher dort zuhalten, wo er hingehört. Wäre es Otto alsoegal, wer auf der dritten spielt, wenn ihmdas keiner vorbeten würde? »Wenn dieMenschen ein sinnerfülltes Leben führenkönnen, wenn sie eine gewisse Freiheit spü-ren, wenn sie mit über die Schule und dieGesundheit ihrer Kinder bestimmen kön-nen (...) - auch dann werden sie sich viel-leicht für Sport interessieren, aber sie wer-den dabei nicht zu Fanatikern. Wenn derSport sich ihrer total bemächtigt - ihresDenkens, ihrer Gefühle, ihres ganzen Le-bens - dann zeigt das an, daß irgend etwasschiefgegangen ist.« Aber falls man sich nunvornähme, Otto vom Sport zu entwöhnenund ihn stattdessen für die Krankenversi-cherung der Alleinerziehenden zu begei-stern, »dann wäre das so, als ob man sagt:>Verbietet das Bier, vielleicht werden dieLeute dann seriös.< Wenn die Menschensich betrinken, liegt das wirkliche Problemwoanders.« Andererseits brütet der Sportfa-natismus, der die Menschen von dem ab-lenkt, »worauf es wirklich ankommt«, auchsein ganz eigenes Virus aus. »Dieses Macho-Image, dieser ganz offene Chauvinismus: Esmag ja o. k. sein, die eigene Mannschaft an-zufeuern, aber oft wird es schon patholo-gisch. Da legen in Italien die Liverpool-Fanslos und schlagen alle anderen zusammen.Der Mann aus der Mittelklasse hat andereMöglichkeiten, der tut sowas nicht. Gut, erfeuert die lokale Mannschaft an, aber danngeht er nach Hause und denkt nicht weiterdaran.«Wie alle anderen Teenager hatte sich auchChomsky für Sport interessiert, selbst wenner die meiste Zeit auf dem Sofa zusammen-

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gerollt saß und las. Dies zeigte sich sogar inseinem Artikel in der Schulzeitung überden Aufstieg des Faschismus: »Die jungenjüdischen Immigranten der ersten Genera-tion sahen einen Teil ihrer Amerikanisie-rung darin, besser als jeder andere überBaseball Bescheid zu wissen.« Wenn er spä-ter Vorbehalte gegen den Sport entwickelte,so hatte das vielleicht damit zu tun, daß aus-gerechnet in seiner Jugend die beiden wich-tigsten Vereine in Philadelphia am Bodenherumkrebsten. »Damals, in den dreißigerJahren, bildete Philadelphia das Schlußlicht- im Baseball, im Football, überall. Ich wer-de das Gefühl nicht los, daß alle Jungen mei-ner Altersgruppe, die dort aufwachsen muß-ten, einen Minderwertigkeitskomplex ent-wickelten. Diese Yankees verließen aberauch jedes Spiel als Sieger. Ich kann michlebhaft an mein erstes Baseballspiel erin-nern. Da sitze ich in der Mitte, direkt hinterJoe DiMaggio, und dann sehe ich, wie dieYankees von hinten aus dem siebten Inningkommen, sieben runs machen und uns 10zu 7 schlagen. Schrecklich.«Als »Jockbeat« ihn einlud, sich anzusehen,wie die Yankees sein jetziges Heimteam ein-machen, lehnte Chomsky höflich ab. Er warseit 1950 in keinem Baseballspiel mehr ge-wesen. Daher war er sehr überrascht zuhören, daß es inzwischen in den Stadien An-zeigetafeln gibt, auf denen dem Publikumsignalisiert wird, wann es Beifall brüllen soll- und mit welchen Worten. »Du spinnstwohl. Ich hab' ja gar nicht gewußt, welcherTiefstand da schon erreicht ist.«Aus »Out in Leftist Field« von Mark Schonein seiner »Jockbeat«-Kolumne in The VillageVoice 13.07.93

Da die Menschen ihren Sport so furchtbarernst nehmen, war uns schon bei der Ent-scheidung, diesen Passus in den Film aufzu-nehmen, unmittelbar klar, daß wir damitbei einigen Zuschauern einen Nerv treffenwürden. Unser erster Preis geht dabei anCraig Mclnnis, Filmkritiker beim TorontoStar.»(...) Um die wohlbekannte Abneigung desSozialwissenschaftlers gegen den Berufs-sport zu dokumentieren, lassen die Filme-macher sein Gesicht auf dem Jumbotroneines Stadions erscheinen, wie er geradeüber die Sünden des bezahlten Sports her-zieht. Das Stadion ist zu diesem Zeitpunktleer, was aber mehr ist als nur ein guter Gag.Sollte nämlich jemand Chomsky währendeines ausverkauften Footballspiels auf demJumbotron über Sport reden lassen, dannwürde dieser kleine dürre Trottel wohlkaum lebend die Straße erreichen.Es mag ja sein, daß unsere Footballfansnützliche Idioten des militärisch-industriel-len Komplexes sind - aber jedenfalls wisseneinige von ihnen sehr genau, wie man hoch-näsige Intellektuelle beim Kragen packtund geradewegs ins MIT zurückschleu-dert.«Mclnnis entschuldigt sich dann dafür, daßsein Artikel so spät erscheint, wobei er ein-räumt: »Wenn nun diese Rezension erst inder Montagsausgabe erschienen ist, wo dieVerbreitung schwächer ist als am Freitag,Samstag oder Sonntag, dann ziehen dasvielleicht manche Leute als erneuten Be-weis dafür heran, wie die großen Mediendie Theorien des Außenseiter-SoziologenNoam Chomsky >marginalisieren<.«Schon möglich. Der Film war vier Tage zu-vor in Toronto angelaufen, am Donnerstagder Vorwoche. Eine Rezension am Montagkann aber für die Besucherzahlen des ver-gangenen Wochenendes nicht mehr viel be-wirken.Als Erklärung für dieses Versäumnis ge-genüber seinen Lesern hatte er nur zu sa-

gen: »Byng, mein Hund, hatte meine Notiz-blätter gefressen.« Diese Sache, wie alsoMclnnis' Hund seine Notizen fraß, nahmein volles Drittel des Artikels ein, dessenÜberschrift dann auch noch lautete: »BöserHund, Byng! Du böser böser Hund! Sorry,Noam.« Er beruft sich auch noch auf zweiZeugen - den Hund nicht gerechnet, derzwar kein Geständnis ablegte, aber sichschuldzerknirscht aufgeführt haben soll.Immerhin enthielt die Rezension von Mcln-nis eine Formulierung, die wir als Werbe-spruch zitieren konnten, beschrieb er dochManufacturing Consent: Noam Chomsky andthe Media als eine »intelligente, blendendgestaltete und wirklich abgerundete Doku-mentation.«

Am Schluß dieser Szene setzten wir auf diegroße Anzeigetafel an der Außenseite desStadions die Worte: TODAY'S TOPIC:TRAINING IN IRRATIONAL JINGOISM[HEUTE: KURSUS IN IRRATIONALEMCHAUVINISMUS]. Wir verstießen damitkurzzeitig gegen die altertümliche (und zumTeil immer noch geltende) Sprachgesetzge-bung in Quebec, derzufolge in der Außen-werbung die Verwendung des Englischennicht erlaubt ist. In Kanada dürfen die Pro-vinzregierungen verbriefte Bürgerrechtemittels der sogenannten »Ungeachtet-Klau-sel« suspendieren, was im Kern bedeutet:Ungeachtet deines Rechts auf freie Mei-nungsäußerung (oder eines anderen ver-brieften Rechts) werden wir jetzt ein verfas-sungswidriges Gesetz beschließen, durchwelches dein Recht auf freie Meinungs-äußerung (oder ein anderes verbrieftesRecht) suspendiert wird.Mehr über die freie Meinungsäußerung abS.173

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F A L L S T U D I E

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IM MIT

Peter WintonickIch möchte Sie vor allem nach derUntersuchungsmethode zum Propagan-damodell fragen. Wie geht man da vor?

ChomskyNun, das kann auf verschiedene Weisegeschehen. Besonders naheliegendwäre es, ungefähr passende Vergleichs-beispiele zu finden. Es gibt in derGeschichte keine kontrollierten Experi-mente, aber manchmal fehlt nicht vieldaran. So lassen sich Fälle finden, indenen Grausamkeiten oder andereExzesse auf beiden Seiten begangenwerden - sowohl vom amtlichen Feindals auch von Verbündeten oder Freun-den oder von dem von uns bevorzugtenStaat selbst, hier also von den USA. DieFrage ist dann: Schlucken die Mediendie Konstruktion der Regierung, odergehen sie in derselben Weise, mitdenselben Fragen und Kriterien an dieFälle auf beiden Seiten heran, wie esjeder ehrliche unbeteiligte Beobachtertun würde.

FERNSEHWERBUNG

Aufgenommen auf einem Fernseher imSchaufenster

AnsagerWenn Sie denken, Amerikas militäri-sches Engagement in Südostasien sei zuEnde, dann täuschen Sie sich.

Anonyme StimmeDie Roten Khmer sind die schlimmstenMassenmörder der Welt.

AnsagerPeter Jennings berichtet von den Fel-dern des Todes - nächsten Donnerstag.

Vgl. »The Propaganda Model: Some Metho-dological Considerations«, Necessary Illusi-ons, Anh. 1, S. 137-180. Enthält (auf S. 148-151) auch eine Erwiderung auf Walter La-Febers Kritik des Propagandamodells in TheNew Republic 9.01.89, eine Kritik, derChomsky bescheinigt, sie sei »einer der ganzseltenen Versuche, auf das Propagandamo-dell mit echten Argumenten und nicht nurmit Beschimpfungen zu reagieren« undbelege »die Geisteskraft eines hervorragen-den und ungebunden denkenden Histori-kers«.

Das Gespräch im Fernsehstudio des MITwar das einzige formelle Interview, das wirmit Chomsky für den Film führten. Es ent-hält auch seine oben wiedergegebenenAnsichten zum Golfkrieg. Zwar besaßen wirschon einige Aufzeichnungen aus Vorträgenund Diskussionen über Osttimor und Kam-bodscha. Wir wollten aber lieber eine durch-gehend zusammenhängende und auch aku-stisch befriedigende Darstellung gewinnen;daher machten wir zwei 30-Minuten-Ter-mine aus und fingen bei Adam und Eva an.

Eine weiter ausgreifende Kritik findet sichunter dem Titel »Knowledge, Morality andHope: Chomsky's Social Thought« in NewLeft Review 1992, abgedruckt in Noam Chom-sky: Critical Assessments (a. a. O.)

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IM MIT

ChomskyNehmen wir den Genozid der jüngstenVergangenheit - Pol Pots Regime von1975 bis 1978 und seine Brutalitäten;ich glaube, es läßt sich kein vergleichbarentsetzliches Beispiel finden, bei demdie Entrüstung so getobt hat usw. Hierhaben wir also ein solches Verbrechen.Und in diesem Fall hat der geschichtli-che Zufall tatsächlich ein kontrolliertesExperiment durchgeführt.

«OPERATION WELCOME HOME»KONFETTIPARADE NACH DEMGOLFKRIEG, NEW YORK

Katherine AsalsHaben Sie schon mal von einer Gegendnamens Osttimor gehört?

Mann rechtsKönnt' ich nicht sagen.

Mann linksWo?

Katherine AsalsOsttimor.

Mann linksNee.

Haben Sie schon mal von einer Gegendnamens Osttimor gehört?

IM MIT

Chomsky

Wie nämlich der Zufall so spielt, trugsich genau zur gleichen Zeit ein anderesVerbrechen zu - ganz ähnlich, miteinem einzigen Unterschied: Wir warendafür verantwortlich - nicht Pol Pot.

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CBC RADIO, MONTREAL

Louise PenneyHallo, hier ist das «Mittagsradio» mitLouise Penney. Wenn Sie uns in denletzten Monaten regelmäßiger zugehörthaben, dann wissen Sie ja, daß die Spra-che mehrfach auf Osttimor gekommenist, vor allem wenn es um Auslandshilfeund um Krieg ging und um eine neueWeltordnung. Die Menschen haben sichgefragt, warum die UNO - wenn sie esmit der neuen Weltordnung ernst meint- nichts tut, um Osttimor zu helfen.1975 sind die Indonesier in dieses Landeingefallen; es gab Berichte über Ver-brechen am Volk von Timor. Und den-noch hat Kanada, zusammen mit ande-ren Ländern, immer wieder gegenUNO-Resolutionen zur Beendigung derBesetzung gestimmt. Heute wollen wiruns Osttimor genauer ansehen. Wollensehen, was dort passiert ist und warumdie internationale Gemeinschaft dieHilfe verweigert. Eine der eifrigstenAktivistinnen ist Elaine Brière, Bildjour-nalistin aus Britisch Columbia. Sie hatdie Osttimor-Alarmkette gegründet,und ich begrüße sie bei mir im Studio.

Elaine BrièreHi.

Louise PenneyDie Tragödie ist besonders tragisch, dadie meisten Menschen nichts über Ost-timor wissen. Wo liegt es überhaupt?

Elaine BrièreOsttimor liegt hart nördlich von Austra-lien, etwa 420 km entfernt, zwischendem Indischen Ozean und dem Pazifik.Direkt südlich von Osttimor verläuft einTiefseegraben und bildet einen idealenDurchschlupf für amerikanische U-Boote. Und dann gibt es da noch riesigeErdöllagerstätten. Was das Besondere

Elaine Brière ist Mitbegründerin des EastTimor Alert Network. Dieses entstand 1986und sollte sich gegen die indonesische Inva-sion und Repression in Osttimor stellen. ImJahre 1974 hatte Frau Brière Osttimorbereist, und auch die Invasion von 1975 warihr nicht entgangen. Doch sie fühlte sichhilflos - bis sie Chomskys Essay »Genocideon the Sly« in Towards a New Cold War las.»Mir war überhaupt nicht bewußt, daß das,was in Osttimor geschah, auch andere Men-schen betroffen machte und daß wir durch-aus etwas dagegen tun konnten.« Ihr wurdeauch klar, wie wertvoll die Fotos vom Dorf-leben auf Timor waren, die sie noch vor derInvasion gemacht hatte, konnte man dochdamit die Tragödie augenfällig machen.Also schrieb sie an Noam Chomsky undsprach auch mit ihm; dann machte sie sichan die praktische Arbeit.Dreimal trat sie vor dem UNO-Entkolonisie-rungsausschuß auf, um für das Selbstbe-stimmungsrecht des Volkes von Osttimor zuwerben. Für die UNO-Menschenrechtskom-mission schrieb sie Jahresberichte. Nachdem Massaker von Dili im Jahre 1991 unter-stützte das East Timor Alert Network die Grün-dung des East Timor Action Network in denUSA.

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an Osttimor ist: Dort hat eine der letz-ten urzeitlichen Kulturen dieser Regionüberlebt. Es waren 700.000 Menschen,und sie sprachen 30 verschiedeneSprachen und Dialekte.Heute lebt nicht einmal mehr fünfProzent der Weltbevölkerung so wie dieMenschen von Osttimor, praktisch alsSelbstversorger. Sie existieren außerhalbdes Weltwirtschaftssystems.Solche kleinen Gesellschaften wie dieauf Osttimor sind viel demokratischer,viel egalitärer, viel mehr auf die Auf-teilung von Macht und Wohlstandbedacht. Vor der indonesischen Inva-sion lebten die meisten Menschen dortin kleinen Dörfern.Die alten Leute spielten die Rolle derUniversität. Sie gaben das Stammes-wissen von einer Generation zur ande-ren weiter. Die Kinder wuchsen in einergesunden, stimulierenden und nähren-den Umgebung auf.Ich war entsetzt, als ich - ein Jahr, nach-dem ich die Insel verlassen hatte -erfuhr, daß die Indonesier dort einge-fallen waren. Sie waren dagegen, daßein kleines unabhängiges Land derRegion zum Vorbild werden könnte.

IM MIT

ChomskyOsttimor war eine portugiesische Kolo-nie. Indonesien konnte keineAnsprüche darauf geltend machen undhat das auch offen zugegeben. Währendder Kolonialzeit wurden die Menschendort ziemlich politisiert, und es entstan-den verschiedene Gruppierungen. ImAugust 1975 brach ein Bürgerkrieg aus,der mit dem Sieg der FRETILIN endete.Das war eine dieser Gruppen, sie galt alsPopulistisch und katholisch und führteeine ziemlich linke Propaganda imMunde. Sofort griff Indonesien ein.

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AUF OSTTIMOR (OKTOBER 1975)

InterviewerWie ist die Lage? Wann sind dieseSchiffe gekommen?

José Ramos-HortaDie kommen seit Montag. Sechs, siebenSchiffe gleichzeitig, dicht an unsererGrenze. Wissen Sie, die sind nicht nurzum Spaß da. Die bereiten eine großeAktion vor.

UNBEKANNTES DORF AUF TIMOR

Filmdokument von Greg Shackleton des Sen-ders Channel 7, Melbourne, Australien,vom 15. Oktober 1975

Greg ShackletonHier ist etwas passiert, das uns tief aufge-wühlt hat. Das war so fremd, so absolutneuartig für uns Australier, daß wir esIhnen kaum vermitteln können. Wirwollen es aber versuchen.Wir saßen also auf Bastmatten untereinem Blätterdach in einer Hütte ohneWände, und auf uns prasselten die Fra-gen herab - Fragen von Menschen, diewissen, daß sie vielleicht schon morgensterben müssen, und die nicht begreifenkönnen, warum die übrige Welt sichnicht um sie kümmert. Denn mehr wol-len sie gar nicht: Die UNO soll Notizvon dem nehmen, was hier vorgeht. DieGefühle hier waren so intensiv gesternabend, daß wir drei geradezu meinten,sie in der wannen Nacht mit Händengreifen zu können.Greg Shackleton auf PortugiesischTimor in einem unbekannten Dorf, daswir nie vergessen werden.

GREG SHACKLETONGARY CUNNINGHAMMALCOLM RENNIE

BRIAN PETERSTONY STEWART

Journalisten, am 16. Oktober 1975 vonindonesischen Truppen ermordet.

Ich kenne drei Männer, die mir erzählten,wie sie die australischen Journalisten inBalibo ermordet haben. Ich erfuhr es in Dili- von jedem separat. Zuerst waren die Ein-wohner von Balibo geflohen, als der Ortbombardiert wurde. Meine Freunde kehr-ten dann aus Atambua dorthin zurück,begleitet von indonesischen Soldaten. Sieselbst waren Zivilisten, hatten aber indone-sische Waffen. Die Befehle gaben die Solda-ten. Die Journalisten schrien: »Australier,Australier!« Ein indonesischer Anführerließ die Journalisten fesseln und befahldann, sie mit dem Messer umzubringen.Diese Messer werden am Gürtel getragen,sie sind wie Dolche. Danach hat man sie ver-brannt. Sie wurden in einem Haus mit Mes-sern umgebracht und dann mit Benzin ver-brannt. Genaueres weiß ich nicht, denn ichmochte keine Fragen stellen. Ich konnte janicht wissen, daß ich einmal in Australiensein würde oder daß mich jemand danachfragen würde. So weiß ich nur das, was siemir erzählt haben. Ich schenkte ihnen Glau-ben, denn diese Sache schien sie ziemlichzu bedrücken. Ich glaube ihnen auch des-wegen, weil wir in Dili schon Erfahrungenmit dieser Art von Grausamkeit hattenmachen müssen.

Zeugnis von »Leong« in Telling: East Timor,Personal Testimonies 1942-1992 S. 96

Am 8.12.75 wurde ein weiterer australischerJournalist, Roger East, in Dili umgebracht.An jenem Tag wurden auch zahlreicheTimoresen hingerichtet; es gibt dafür einenAugenzeugen: »Mr. Siong«. Indonesische

Soldaten zwangen ihn, die Leichen mitEisenrohren zu beschweren und ins Meer zuwerfen:»Wir hatten gerade diese Leichen versenkt,da kam eine Gruppe timoresischer Chine-sen aus Colmera, so 17 oder 18 Menschen.Ich kannte sie alle, es waren Freunde oderNachbarn. Sie hatten so viel Angst, daß sievöllig stumm blieben; man hörte kein Wei-nen, nichts. Sie wurden zu zweit, zu drittoder zu viert an die Kaimauer geführt unddort erschossen. Sie kamen, eine Gruppenach der anderen, wurden erschossen undins Meer geworfen. Unter ihnen zwei Ehe-paare, eines mit kleinen Kindern, die dannvon Verwandten aufgenommen wurden, dasandere schon älter; die übrigen waren Män-ner. Außerhalb des Piers standen viele Men-schen, die aber die Erschießungen nichtdirekt beobachten konnten; sie vernahmenzwar die Geräusche, wußten aber nicht, wasvorging. Einige der Todeskandidaten muß-ten uns - wir waren zu sechst - helfen, an-dere zu fesseln, ehe sie selbst umgebrachtwurden. Manche fallen ins Wasser, andereauf den Boden, an die müssen wir dann einRohr binden. Wir zittern, wir verlieren fastden Verstand, aber was sollen wir machen,wir tun, was die Indonesier verlangen. Unterden Leuten aus Colmera, die dort ermordetwurden, war auch ein Australier. Die Solda-ten stießen ihn herum. Er redete auf sie ein:»Nicht Fretilin - Australier.« Er sprach Eng-lisch; ich konnte ihn verstehen, denn gele-gentlich kamen Australier in den Laden, woich arbeitete. Er trug braune Shorts und eincremefarbenes Oberhemd sowie eine Son-nenbrille. Ob er Schuhe anhatte, habe ichnicht gesehen. Er hat kurzgeschnittene,leicht ergraute Haare. Er sieht kräftig aus.Sie stoßen ihn nach vorn, befehlen ihm, sichzum Meer zu wenden - er weigert sich. Dannknallen die Indonesier ihn einfach ab, under fällt ins Wasser.«

Telling: East Timor, Personal Testimonies 1942-1992 S. 104

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Die Menschenrechtserklärung der Verein-ten Nationen garantiert das Recht, »sichdurch alle Medien und über alle Grenzenhinweg um Informationen zu bemühen, siezu empfangen und weiterzugeben.«Im Widerspruch hierzu sind Regierungenüberall in der Welt darauf aus, die journali-stische Berichterstattung zu verhindern.Während des Golfkriegs von 1991 schränk-ten die USA den Zugang von Reporternzum Frontgebiet ein und verhängten überderen Berichte eine Vorzensur. Natürlichwaren die Umstände ungewöhnlich. Auchin Friedenszeiten suchen viele Regierungenden freien Informationsfluß zu behindern,sei es um öffentliche Entrüstung oder einenSkandal zu vermeiden, sei es um sich über-haupt an der Macht zu halten. Aber auchprivate Gruppen oder Einzelpersonen -Drogenhändler, Untergrundkämpfer, kor-rupte Geschäftsleute - wenden Gewalt oderEinschüchterung gegen Journalisten an,um den freien Informationsfluß zu beein-trächtigen (...)Bestätigt wird dies vom »Komitee zumSchutz der Journalisten«. Zu Beginn derneunziger Jahre kamen innerhalb von 18Monaten 54 Journalisten in Ausübung ihresBerufs ums Leben; gleichzeitig mußtenüber 1000 von ihnen sich Angriffen derunterschiedlichsten Art erwehren, von juri-stischen Klagen bis hin zu physischen At-tacken (...)Jeder Journalist muß damit rechnen, sichplötzlich schwerbewaffneten Soldaten,mächtigen Politikern oder auch den aufge-brachten Zielpersonen seiner Recherchengegenüberzusehen. Die obengenannte Sta-tistik belegt, wozu die Regierungen undauch manche Bürger fähig sind, wenn esdarum geht, die Wahrheit vor anderen zuverbergen.Aus Dangerous Assignments: A Study Guide S.iv. vom Committee to Protect Journalists. DasCPJ wurde 1981 mit dem Ziel gegründet, die

Beachtung der Pressefreiheit weltweit zu

überwachen und zu fördern. Ehrenvorsit-zender ist Walter Cronkite [der Altmeister deramerikanischen TV-Nachrichtenmoderatoren].

DER HINTERGRUND DER INVASION

Kaum hatte Portugal seine Absicht verkün-det, im April 1974 seine Kolonien in dieUnabhängigkeil zu entlassen, als sich inner-halb der winzigen, vielleicht 3000 Köpfezählenden Elite Timors neben einigen klei-neren Gruppierungen drei politische Par-teien formierten: Die UDT, die FRETILINund die APODETI (...) »An der Spitze derUDT standen hauptsächlich Katholiken,meist kleine Grundbesitzer oder Beamte.«(Jolliffe S. 62). Anfänglich galt sie als dieeinflußreichste der drei Parteien, aber »dasie kaum konkrete Pläne vorlegte, mit demancien régime in Verbindung gebracht wurdeund überhaupt dem Endziel der völligenUnabhängigkeit zunächst zurückhaltendgegenüberstand, wandten sich viele Anhän-ger der FRETILIN zu, mit der Folge, daßdiese schon Anfang 1975 als größte Parteiangesehen wurde (...)«. Ursächlich fürdiese Verschiebung war nicht nur das Ver-sagen der UDT, sondern auch der Erfolgder FRETILIN (...) Die FRETILIN war einegemäßigt reformorientierte nationaleFront, in der sich zu Anfang vor allem diestädtische Intelligenz engagierte und derenVorsitzender aus einem katholischen Prie-sterseminar kam (...)APODETI, die dritte Partei, »fand offen-sichtlich nur wenig Unterstützung. Von dendrei politischen Parteien, die im Mai 1974existierten, galt sie als die kleinste.« Als ein-zige sprach sie sich für die Vereinigung mitIndonesien aus.UDT und FRETILIN bildeten im Januar1975 eine Koalition, die allerdings im Maiinfolge des Austritts der UDT wiederplatzte. Im August versuchte die UDT dann,die Macht im Handstreich an sich zu reißen;

die darauffolgenden blutigen Auseinander-setzungen endeten wenige Wochen spätermit dem vollständigen Sieg der FRETILIN(...)In die internationale Presse gelangte überall diese Vorgänge nur das, was den Indo-nesiern genehm war, die »in diesem Gebietdas Informationsmonopol besaßen« (Hill S.12). Wie ausländische Besucher später fest-stellten, »hatten sich erheblich wenigerKämpfe ereignet, als berichtet worden war,und es waren auch weniger Menschen um-gekommen« (Hill S. 12) (...)Die Anhängerschaft der UDT war seit An-fang 1975 ständig geschrumpft, und hier istwohl auch der Hauptgrund für den Auf-stand im August zu suchen (...)Unmittelbar vor dem Putsch hatte ein Tref-fen auf höchster Ebene [zwischen Vertre-tern Indonesiens und der UDT] staltgefun-den (...) Der UDT-Vorsitzende Lopes daCruz stellte nach dem Treffen von Kupangfest: »Wir sind Realisten. Wir können nurunabhängig sein, wenn wir uns an die poli-tische Linie Indonesiens halten. Falls nicht,wird die Unabhängigkeit nur eine Wocheoder einen Monat andauern (...).« Bene-dict Anderson sagte vor dem US-Kongreßaus, daß seiner Meinung nach »der Bürger-krieg in Osttimor durch einen Putsch derUDT ausgelöst wurde, der seinerseits vomindonesischen Geheimdienst eingefädeltworden war« - womit er den Augustaufstandmeinte (...)Einen sehr positiven Bericht über das kurzeZwischenspiel der Fast-Unabhängigkeit,vom September 1975 bis zur indonesischenInvasion am 7. Dezember, lieferten die Aus-tralier, die sich in Osttimor aufhielten.James Dunn, im Oktober Leiter des austra-lischen Hilfskorps, schrieb über seine Erfah-rungen:»Es gelang der FRETILIN-Regierung über-raschend schnell, Ruhe und Ordnung wie-derherzustellen und die Grundversorgungder größeren Städte zu sichern. In Dili hatte

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IM MIT

ChomskyFord und Kissinger besuchten Djakarta- ich glaube, am 5. Dezember. Wie wirwissen, hatten sie die Indonesierersucht, die Invasion so lange aufzu-schieben, bis sie das Land wieder verlas-sen hätten, weil es ihnen sonst zu pein-lich gewesen wäre. Wenige Stunden,nachdem sie wieder weg waren, erfolgtedann am 7. Dezember die Invasion.

DUNKELKAMMER

Elaine BrièreWas sich am 7. Dezember abspielte, isteinfach eine der größten Untaten in derGeschichte.Seit dem frühen Morgen fielen Bombenauf Dili [die Hauptstadt von Osttimor].Dann marschierten mehr Soldaten ein,als die Stadt Einwohner hat.Und dann gab es zwei, drei Wochenlang nichts als ... sie brachten die Men-schen einfach um.

sich das Leben schon Mitte Oktober mehroder weniger normalisiert (...) Obgleichdie FRETILIN-Regierung viele Schwach-punkte hatte, war ihr Rückhalt in der Bevöl-kerung offensichtlich sehr stark, und zwarauch bei früheren Anhängern der UDT(...)«.

Kaum hatte der Bürgerkrieg mit dem Siegder FRETILIN geendet, als Indonesienauch schon die bewaffnete Intervention ein-leitete - unter dem Vorwand, den Gegnernder FRETILIN in Timor Beistand leisten zuwollen. Soweit wir es beurteilen können,war dies völlig aus der Luft gegriffen; den-noch wurde es, wie wir noch sehen werden,im Westen allgemein geglaubt. Die erstenGrenzverletzungen durch die Indonesiererfolgten am 14. September (...) Durch denganzen Oktober und November zogen sichheftige Nahkämpfe zwischen Militäreinhei-ten Indonesiens und der FRETILIN hin(...)Inzwischen rechnete man allgemein miteiner massiven indonesischen Invasion (...)Das indonesische Militär drohte damit, allenoch in Dili verbliebenen Australier umzu-bringen - eine Nachricht, von der Austra-lien umgehend das Internationale Rote

Kreuz in Kenntnis setzte. »Diese Drohun-gen belegen, daß den Indonesiern allesdaran lag, das Gebiet noch vor der Invasionvon ausländischen Beobachtern zu säu-bern.« Keinesfalls durften unabhängigeZeugen vor Ort sein, auch nicht das RoteKreuz (...)Am 6. Dezember besuchten Präsident Fordund Henry Kissinger Djakarta. Nur einenTag später führte die indonesische Armeeden erwarteten Großangriff durch; was siedamit in Gang setzte, hat Shepard Forman[Professor für Anthropologie an der Uni-versität von Michigan, der in den Jahren1973-74 unter den Bergvölkern Timorslebte] als »Vernichtung von einfachen Ge-birglern« bezeichnet, während andere dar-in schlichtweg einen Genozid erblicken.The Political Economy of Human Rights Bd. 1S. 133-143Jill Holliffe, East Timor: Nationalism andColonialism (University of Queensland Press1978)Helen Hill, The Timor Story (Timor Infor-mation Service, Australien, o. D.)

Bei seiner Landung in Hawaii wurde Fordvon Reportern nach seiner Meinung überdie Invasion Timors gefragt. Er lächelteund sagte: »Darüber werden wir späterreden (...)« [UPI 8.12.75]. Henry Kissinger,der ihn begleitete, hatte seine Reaktionschon zuvor formuliert. »Wie Journalistenin Djakarta von ihm erfuhren, würden dieUSA die von der FRETILIN ausgerufeneRepublik nicht anerkennen. >Die Vereinig-ten Staaten haben für die indonesische Posi-tion in dieser Frage Verständnis.<« [Los An-geles Times 7.12.75]The Political Economy of Human Rights Bd. 1S. 156

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AUS »BURIED ALIVE« (1989)

Carlos Alfonso (Flüchtling aus Osttimor)

Als ich den Befehl »Feuer!« hörte, warfich mich zu Boden, und dann spürteich, wie die Körper auf mich nieder-fielen - wie Blätter.Die Menschen schrien, man rief nachder Frau, der Mutter — es war entsetzlich

Ich lag am Boden. Meine Hand wargetroffen worden, die Kugel war gerade-wegs hindurchgegangen. Die Handfühlte sich an, als ob sie am Boden fest-klebte. Ich zerrte die Hand an michheran und schmierte mir das Blut überdas Gesicht. Ich beschmierte mir dasganze Gesicht mit Blut, lag still undstellte mich tot.

IN DER UNO, NEW YORK

Jose Ramos-Horta(Vertreter von Osttimor bei der UNO)

Der Rat muß die indonesische Aggres-sion gegen Osttimor als vorrangigenDiskussionspunkt betrachten, (ausge-blendet: Die Vollversammlung und derSicherheitsrat haben Indonesien aufge-fordert, unverzüglich sämtliche Trup-pen aus dem Gebiet zurückzuziehen.Die indonesische Invasion in Osttimorstellt eine Verletzung des Völkerrechtsund der UNO-Charta dar).

Chomsky (im Off)

Nach dem indonesischen Einfall rea-gierten die Vereinten Nationen in derüblichen Weise, also mit einer Verurtei-lung, der Forderung nach Sanktionenusw. Einige verwässerte Entschließun-gen wurden verabschiedet, aber die

USA waren offensichtlich entschlossen,jede reale Auswirkung zu verhindern.

Moynihan ließ auch keinen Zweifel daran,daß er genau wußte, was er angerichtethatte. Er zitiert einen seiner indonesischenFreunde in Timor, der im Februar 1976geschätzt hatte, »seit Beginn des Bürger-kriegs« im August seien »etwa 60.000 Perso-nen ums Leben gekommen« — davon abernur 2-3000 während des eigentlichen Bür-gerkriegs, alle übrigen nach der indonesi-schen Invasion im Dezember - und fährtfort: »Das sind 10 Prozent der Bevölkerung,prozentual also beinahe so viel wie der Blut-zoll, den die Sowjetunion im Zweiten Welt-krieg entrichten mußte.« Moynihan hältsich hier also etwas zugute, das sich mit Hit-lers Untaten in Osteuropa vergleichen läßt,und ist auch noch stolz darauf.The Chomsky Reader S. 308Zitate aus: Patrick Moynihan, Suzanne Wea-ver, A Dangerous Place (Little, Brown 1978)

Es war der Wunsch des Außenministe-riums, daß jegliche UN-Maßnahmen wir-

kungslos zu bleiben hätten. Diesen Auftragsetzte ich um - mit beträchtlichem Erfolg.

Daniel Patrick Moynihan(damals US-Vertreter in der UNO]

Jose Ramos-Horta war, als Indonesien inTimor einfiel, Mitglied im Zentralkomiteeder FRETILIN. In dem Bestreben, Unter-stützung für die Sache der timoresischenUnabhängigkeit zu gewinnen, beschloß dieRegierung, die noch in den Kinderschuhensteckte, die Entsendung von Vertreternnach Westeuropa und Afrika sowie zurUNO. Emissär bei der UNO wurde Ramos-Horta; er vertritt Osttimor dort noch im-mer.

Vgl.: José Ramos-Horta, East Timor Debacle:Indonesian Intervention, Repression, and We-stern Compliance, mit einer Einleitung vonNoam Chomsky (Red Sea Press 1986)

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DUNKELKAMMER

Elaine BrièreDanach flüchteten die Timoresen zuTausenden in den Dschungel. Um dieJahreswende 1977-78 richteten die Indo-nesier »Auffangzentren« für diejenigenTimoresen ein, die mit einer weißenFlagge aus dem Dschungel auftauchten.Jeder, den die Indonesier für über-durchschnittlich gebildet hielten oderim Verdacht hatten, der FRETILIN odereiner anderen Oppositionspartei anzu-gehören, wurde sofort umgebracht. DieFrauen schaffte man beiseite und flogsie in Hubschraubern nach Dili, wo sichdie indonesischen Soldaten ihrer bedie-nen durften. Auch Kinder wurdenumgebracht, sogar Babies. Aber dieeigentliche strategische Waffe damalswar der Hunger.

IM MIT

ChomskyIm Jahre 1978 hatte es die Ausmaßeeines Völkermords angenommen. NachSchätzungen der Kirche und andererQuellen waren etwa 200.000 Menschenumgekommen.Die USA standen voll dahinter. Sie lie-ferten 90 Prozent der Waffen. Unmittel-bar nach der Invasion wurden die Waf-fenlieferungen noch verstärkt. Als denIndonesiern 1978 die Waffen auszuge-hen begannen, kam die Carter-Regie-rung ihnen zu Hilfe und erhöhte denUmfang der Waffenverkäufe. Das glei-che taten andere westliche Länder.Kanada, England, Holland - jeder, derschnell Geld verdienen wollte, war da,um ihnen zu ermöglichen, noch mehrTimoresen umzubringen.Im Westen regt sich niemand über

Die Regierung behauptet, sie habe vonDezember 1975 bis Juni 1976 die Militärhil-fe an Indonesien eingefroren. »Diese vor-übergehende Sanktion war weder angekün-digt noch vorher durchgesickert«, schreibtLee Lescaze [in der Washington Post]. Außer-dem war das Ganze ein Betrug. Wie GeneralHoward M. Fish vor dem Kongreß aussagte(March Hearings S. 14), »nahmen wir keineneuen Bestellungen mehr entgegen. Wasaber schon im Rohr war, wurde weiter anIndonesien ausgeliefert.« Und BenedictAnderson gab zu Protokoll (February 1978Hearings), es gäbe einen »vom Verteidi-gungsministerium bestätigten Bericht [überWaffenverkäufe ins Ausland]«, demzufolgewährend des angeblichen Lieferstoppsneue Angebote für Militärausrüstungen er-folgten.Auf die Frage, warum Indonesien die»Besorgnis« der US-Regierung überhauptnicht zu spüren bekam, gibt es eine einfa-che Antwort. In krassem Widerspruch zuden ausdrücklichen Feststellungen vonGeneral Fish, Mr. Oakly sowie des Unter-staatssekretärs für Ostasien und den Pazifik,Richard Holbrook, erhielt die indonesischeRegierung während des zwischen Januarund Juni 1976 verhängten »offiziellen Lie-ferstopps« wenigstens vier verschiedeneAngebote über militärisches Gerät. Diesesumfaßte vor allein Flugzeuge vom Typ OV-10 Bronco (nebst Ersatzteilen), die in derZeit des Vietnamkriegs speziell zur Auf-standsbekämpfung gegen einen Gegner,der nicht über wirksame Flugabwehr ver-fügte, entwickelt worden waren. Zum SchutzIndonesiens vor einem äußeren Feindkonnten sie absolut nichts beitragen. Indo-nesien wird seitdem praktisch unverändertmit den Broncos und anderen, der Aul1

standsbekämpfung dienenden Waffen ver-sorgt; was unter Präsident Ford begann,setzt die Carter-Regierung fort.Daß man sich über die eigene Geheimpoli-tik hinweggesetzt hatte, gaben Beamte des

Außenministeriums und des Pentagonsauch offen zu. Allerdings habe, wie sie demAusschuß versicherten, »das Außenministe-rium keinesfalls bewußt eine Täuschungoder einen Gesetzesbruch unternommen.«In der Tat wurden die Indonesier von ihnennicht getäuscht. Denn wie man sieht, wardas »Militärhilfe-Embargo« so geheim, daßIndonesien nie etwas davon erfahren sollte.The Political Economy of Human Rights Bd. 1S. 144-145

Verglichen mit anderen Ländern gehörenKanada und die Vereinigten Staaten eher zudenjenigen, wo der Staat nicht zu Gewaltex-zessen greift, nur um sich des Gehorsamsseiner Bevölkerung sicher sein zu können.Auch wer kein Held ist, hat viele Möglich-keiten, etwas zu tun. Daher müssen dieMenschen in Kanada sich fragen, ob sie sichals Komplizen eines Massenmords eigent-lich wohlfühlen. Bisher ist das noch der Fall:Die Kanadier fühlen sich wohl. Zwar gab eswährend des Vietnamkriegs in Kanada ziem-lich viel Opposition dagegen, und man ver-nahm heftige rhetorische Verurteilungen.Nichtsdestoweniger wurde Kanada zumweltgrößten Waffenexporteur pro Kopf derBevölkerung; wir haben Waffen nachIndochina geschickt und uns an der Zer-störung des Landes bereichert. Solange sichdie Kanadier in dieser Rolle wohlfühlen,werden sie sie nicht aufgeben. Sobald sieaber auf die Konsequenzen schauen, wer-den sie entdecken, daß sie sich damit genauso verhalten wie die von uns gebrandmark-ten »guten Deutschen« unter dem Nazis-mus. Man lehnt sich zurück und macht mitdem Leid und Elend anderer seineGeschäfte.Aus einem Interview mit Richard Titus, Lan-guage and Politics S. 483

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Aggression, Grausamkeiten, Verletzun-gen der Menschenrechte usw. auf, wennnur genügend Profit in Sicht ist. Daswird nirgends so deutlich wie in diesemFall.Es war auch nicht so, daß etwa noch niejemand von Osttimor gehört hatte. Manmuß wissen, daß vor der Invasion dieNew York Times und andere viel über dasLand gebracht hatten.Dahinter stand damals die Sorge überden Zusammenbruch des portugiesi-schen Kolonialreichs und was das fürFolgen haben könnte. Man befürchteteeine Unabhängigkeitsbewegung, eineEinflußnahme Rußlands oder was weißich. Kaum waren die Indonesier ein-marschiert, hörten die Berichte auf.Einige gab es noch, aber nur aus Sichtdes US-Außenministeriums und desindonesischen Militärs. Ein Flüchtlingaus Timor war nie zu vernehmen.1978, auf dem Höhepunkt der Gewalt-akte, als diese geradezu den Charaktereines Völkermords annahmen, setztedie Berichterstattung völlig aus, wenig-stens in den USA und in Kanada, wo iches genauer nachgeprüft habe - buch-stäblich auf Null.All dies spielte sich nun exakt zur selbenZeit ab, als die gewaltige Protestwelle inSachen Kambodscha rollte. Das Ausmaßder Untaten war ungefähr gleich - ichmeine sogar, auf die Gesamtbevölke-rung bezogen war es in Timor nocherheblich schlimmer.Genau genommen hatte sich auch inKambodscha schon vorher - 1973-75 -ein vergleichbares Verbrechen ereignet,

für das aber wir verantwortlich gewesenwaren.

Es gibt wohl kaum ein Land, das so leidenmußte wie Kambodscha in den siebzigerJahren. Die finnische Untersuchungskom-mission, die den Versuch unternahm, dasGeschehen aufzuarbeiten, hat diese Peri-ode als »Jahrzehnt des Völkermords« be-zeichnet. Sie umfaßt insgesamt 3 Phasen,von denen die letzte noch unserer Gegen-wart den Stempel dieser furchtbaren fahreaufdrückt:Phase 1 (1969-April 1975): Nach Bombar-dierungen durch die US-Luftwaffe, wie essie in der Geschichte noch nie gegeben hat,und einem von den USA angeheizten Bür-gerkrieg ist das Land völlig zerstört. Zwarsetzt der Kongreß im August 1973 perGesetz den Bombardements ein Ende, dochdas Gemetzel geht mit amerikanischerBeteiligung weiter, bis schließlich im April1975 die Roten Khmer die Macht überneh-men.Phase 2 (April 1975 - 1978): In dieser Zeitsteht Kambodscha unter der mörderischenHerrschaft der Roten Khmer (»Demokrati-sches Kampuchea«, DK), bis diese durchden vietnamesischen Einmarsch nach Kam-bodscha im Dezember 1978 gestürzt wer-den. (Mehr dazu auf S. 103)Phase 3: Vietnam setzt die Regierung HengSamrin ein. Gleichwohl bleibt die DK-Koali-tionsregierung, deren bestimmender Fak-tor die Roten Khmer sind, die von allen Län-dern - außer vom Ostblock - allein aner-kannte Vertreterin Kambodschas. Die Gue-rilla-Armee der Roten Khmer, das einzigemilitärische Machtinstrument des DK-Regi-mes, wird mit chinesischer und amerikani-scher Hilfe im Grenzgebiet zu Thailand undauf thailändischem Boden wieder aufge-baut. Was sie jetzt in Kambodscha betreibt,pflegen wir andernorts, wenn die Ziel-scheibe eine mit uns befreundete Regie-rung ist, mit dem Wort »Terrorismus« zubezeichnen.Manufacturing Consent S. 260-261 (vgl. auchKap. 6)

Bis März 1970 wurde das Land von PrinzSihanouk regiert, bis dieser Opfer eines vonden USA unterstützten Putsches wurde. Inseiner Regierungszeit führte Sihanouk nachinnen und außen einen schwierigen Balan-ceakt aus. Innerhalb des Landes schlug erAufstandsversuche der Linken und derKleinbauern nieder und versuchte gleich-zeitig, die Rechte kurz zu halten (...)Außenpolitisch suchte er in dem um sichgreifenden Indochinakrieg ein gewissesMaß an Neutralität zu bewahren, da er vondiesem Krieg nur einen Sieg der Kommuni-sten erwartete.In den Vereinigten Staaten und bei ihrenVerbündeten stieß Sihanouk mit seinemneutralistischen Vorgehen auf wenig Ge-genliebe (...)Seit Anfang der sechziger Jahre gab esimmer heftigere Angriffe der amerikani-schen und südvietnamesischen Streitkräftegegen kambodschanische Grenzposten undDörfer, die Hunderte das Leben kosteten.Als später, vor allem nach den mörderi-schen Militäroperationen der USA Anfang1967 in Südvietnam, vietnamesische Klein-bauern und Untergrundkämpfer Zufluchtim kambodschanischen Grenzgebiet such-ten, ertönte in Washington und in denMedien die zynische Warnung vor einerkommunistischen Unterwanderung desneutralen Kambodscha (...)Am 18.03.69 wurden die berüchtigten »ge-heimen Bombenangriffe« aufgenommen.Eine Woche darauf, am 26.03.69, verurteiltedie kambodschanische Regierung öffent-lich die Angriffe mit Bomben und Bordwaf-fen, mit denen »amerikanische Flugzeugenahezu täglich (...) die kambodschanischeGrenzbevölkerung heimsuchen.« (...) Am28. März trat Prinz Sihanouk in einer Pres-sekonferenz auf und dementierte ganz ent-schieden Meldungen, die in den USAumliefen und die besagten, er habe »nichtsgegen amerikanische Bomben auf kommu-nistische Ziele innerhalb unserer Grenzen

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ChomskyDie Offensive der USA gegen Kambod-scha begann mit den LuftangriffenAnfang der siebziger Jahre; sie erreich-ten ihren Höhepunkt 1973 und gingennoch bis 1975 weiter. Sie richteten sichgegen das Landesinnere. Man weiß sehrwenig darüber, denn die Medien woll-ten sie geheimhalten. Sie wußten zwar,daß sie stattfanden, aber sie wollten garnicht so genau wissen, was da vorging.Nach Schätzungen des CIA kamen indiesen fünf Jahren an die 600.000 Men-schen ums Leben, entweder direktdurch die amerikanischen Bombenoder durch den von uns unterstütztenKrieg. Das ist schon ein ziemliches Blut-opfer. Und Kambodscha wurde ineinem solchen Zustand hinterlassen,daß hohe US-Beamte schon absehenkonnten, daß anschließend Hunger undKrankheit vielleicht eine Million Totefordern würden, weil das Land in Trüm-mern lag.Nach amerikanischen Regierungsquel-len sowie nach Meinung von Wissen-schaftlern spricht übrigens viel dafür,daß die intensiven Bombardements einwesentlicher Grund — vielleicht derHauptgrund — dafür waren, daß dieLandbevölkerung sich auf die Seite derRoten Khmer schlug, die vorher nureine Randerscheinung gewesen waren.Sehen Sie, und das ist eben die falscheStory.

einzuwenden.« Dann wandte er sich an dieinternationale Presse mit den Worten: »Ichbitte Sie dringend, im Ausland die eindeu-tige Haltung Kambodschas bekanntzu-machen, nämlich daß ich mich uneinge-schränkt gegen alle Bombenangriffe aufkambodschanisches Gebiet wende, ganzgleich, unter welchem Vorwand sie erfol-gen.«Daß dieser Appell fruchtlos blieb, wird nie-manden überraschen. Mehr noch: Bis heutewird dieses Material zurückgehalten, abge-sehen von vereinzelten Publikationen amRande des politischen Spektrums (...)Im März 1970 schließlich wurde Kambod-scha endgültig in das Schlachthaus Indo-china hineingezerrt. Am 18.03.70 wurdeSihanouk gestürzt. Es war »keine Revolu-tion, sondern ein Putsch der Oberschicht»;er diente »innenpolitischen Interessen«und genoß zumindest »indirekte Unterstüt-zung durch die USA« (...) Der Bürgerkrieg,der jetzt in Kambodscha entflammte, wurdeauf beiden Seiten mit zunehmender Grau-samkeit geführt.Auch nachdem die USA ihre Truppen ausKambodscha abgezogen hatten, wurde derBombenkrieg mit unverminderter Härtefortgesetzt. Wie eine Untersuchungskom-mission des Obersten Rechnungshofes fest-stellte, waren die amerikanischen und süd-vietnamesischen Bombenabwürfe »einewesentliche Ursache für Fluchtbewegungenund Todesopfer unter der Zivilbevölke-rung»; etwa ein Drittel der Bevölkerung von7 Millionen sei auf der Flucht.Indem Kambodscha systematisch zerstörtwurde und die Landbevölkerung im Innernimmer stärker unter dem US-Terror zu lei-den hatte und sich daher auf die Seite der -bis dahin ganz unbedeutenden — RolenKhmer schlug, entwickelten diese sich zueiner nicht mehr zu übersehenden Kraft.Manufacturing Consent S. 267-273

Als nach dem Sieg der Roten Khmer diewestlichen Korrespondenten aus PhnomPenh evakuiert wurden, konnten sie sichnur in aller Eile ein Bild von dem machen,was auf dem flachen Land vorgegangen war.Seine Eindrücke faßte der britische Korre-spondent John Swain mit folgenden Wortenzusammen:»Die Vereinigten Staaten haben hier großeSchuld auf sich geladen, und damit meineich nicht nur die Zahl der Toten und dieriesigen materiellen Verwüstungen. Dieseschwarz gekleideten Männer, die jetzt dasLand - oder was davon übrig geblieben ist -regieren und die so gar nicht kambodscha-nisch wirken, sind in ihrer schauerlichenStrenge ebenso sein ein Produkt der ameri-kanischen Flächenbombardements, in de-nen ihr Geist zu Stahl geschmiedet wurde,wie sie Schüler von Marx oder Mao sind(...) Wie überall, wo wir gewesen sind, hatauch hier [auf dem Lande] der Krieg allesruiniert. Die Brücken sind sämtlich zerstört,kaum steht noch irgendwo ein heiles Haus.Wie mir berichtet wurde, haben die meistenBewohner die Kriegsjahre aus Furcht vorden Bomben fast ununterbrochen in unter-irdischen Bunkern verbracht (...) Die Bom-ben der amerikanischen B52 haben dasLand umgepflügt und ganze Städte oderDörfer dem Erdboden gleichgemacht. Ichfand nicht eine einzige Pagode unbeschä-digt vor.« (Sunday Times, London, 11.05.85)Manufacturing Consent S. 278

Milton Osborne, Spezialist in Sachen Kam-bodscha, kommt zu dem Schluß, daß derTerror der Kommunisten [in den Siebzi-gern] »zweifellos eine Reaktion auf diefurchtbaren Bombenangriffe [der US-Luft-waffe] in den von den Kommunisten gehal-tenen Gebieten« darstellte. Ein andererKenner des Landes, David Chandler, weistdarauf hin, daß infolge der Bombardements»Tausende junger Kambodschaner zwangs-

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ChomskyNach 1975 ging das Gemetzel weiter,und plötzlich war es die richtige Story,denn nun waren ja die Bösen die Täter.Es war schlimm genug, man schätzt ja ...also das schwankt. Der CIA gibt an, daß50.000 bis 100.000 Menschen umge-bracht wurden und daß vielleicht eineMillion aus anderen Gründen starben.Einer, der die Sache besonders genauuntersucht hat, ist Michael Vickery, under setzt die Zahl der Toten auf 750.000über der normalen Sterbeziffer an.Andere, z. B. Ben Kiernan, vermutennoch höhere Werte, allerdings bislangohne Detailuntersuchungen. Jedenfallswar es furchtbar.Nun waren die Verbrechen - die tat-sächlich verübten Verbrechen - zwarschlimm, aber für den gewünschtenZweck noch nicht schlimm genug.Schon wenige Wochen nach der Macht-übernahme durch die Roten Khmerbeschuldigte die New York Times sie desVölkermords - zu einem Zeitpunkt, alsvielleicht einige hundert oder tausendMenschen umgebracht worden waren.Und von dem Moment an wurdegetrommelt und gebrüllt: Völkermord!Der Bestseller über das Kambodscha PolPots trägt den Titel Murder in a GentleLand. Bis zum 17. April 1975 war diesein Land voll friedlicher und lächelnderMenschen gewesen, und dann setzte einfurchtbarer Holocaust ein.Umgehend stand die Zahl der Toten bei2 Millionen. Es hieß sogar, die RotenKhmer hätten sich selbst damit gebrü-stet, zwei Millionen Menschen ermordetzu haben. Das waren dramatische Fak-ten. Hier beging der amtliche Feind dieGreueltaten, hier konnte man sichungeheuer entrüsten, konnte übertrei-ben, bedurfte keiner Beweise, konnteFotos fälschen - alles war erlaubt.

läufig zu Kämpfern in einem antiamerikani-schen Kreuzzug« wurden — hatten dieAngriffe doch »das Geflecht der kambod-schanischen Vorkriegsgesellschaft schwer-beschädigt und so der GPK [den RotenKhmer] die psychologischen Zutaten zueiner gewalttätigen, rachsüchtigen undunerbittlichen Revolution geliefert« (...)Manufacturing Consent S. 264

Im Mai 1993 fanden in Kambodscha Wahlenunter Aufsicht der UNO statt. Seitdem am-tiert eine provisorische Regierung, der alsgleichberechtigte Premierminister Hun Senund Prinz Norodom Ranaridhb vorstehen,letzterer ein Sohn des Prinzen Sihanouk.Doch setzen viele ihre Friedenshoffnungenauf Prinz Sihanouk selbst, der den Vorsitz indem aus vier Fraktionen bestehenden Ober-sten Nationalrat führt. Dieser Rat war eineFrucht des von der UNO vermittelten undin Paris abgeschlossenen Friedensvertragsvon 1991. Die Wahlbeteiligung war mit 90Prozent unglaublich hoch - und dies,obwohl die Roten Khmer die Wahlen nichtnur boykottierten, sondern alles taten, umsie zu sabotieren.

Ob die Roten Khmer wirklich besiegt sind, stehtkeineswegs fest. Nach jüngsten Berichten unter-halten sie beste Beziehungen zu Regierungs- undGeschäftskreisen in Thailand und verfügen übereinigen Einfluß. -NC

Über die Bevölkerungsstudie der CIA sagtChomsky: »Die Annahmen darin sind von Abis Z politisch beeinflußt; die Schätzung derNachkriegsbevölkerung ist fehlerhaft, dieTodesrate daher ohne Aussagekraft, zumalsie alle Todesursachen mit einschließt.«Vgl. Manufacturing Consent Anm. 32 S. 383-384

Mit der Machtübernahme durch die RotenKhmer im April 1975 setzte Phase 2 des»Jahrzehnts des Völkermords« ein. Bereitsnach wenigen Wochen beschuldigte die US-Presse sie »barbarischer Grausamkeiten«und einer »Politik des Völkermords«, ver-gleichbar »dem Archipel Gulag und derAusrottung der Kulaken in der Sowjet-union.« Nun hatte es bis dahin vielleichteinige Tausend Opfer gegeben, währendüber die mehr als eine halbe Million Toterder ersten Phase des Genozids nichts der-gleichen zu vernehmen gewesen war,ebenso wenig wie man sich über die Folgenunserer Kriegsführung, wie sie amerikani-sche Beamte und Helfer vor Ort durchausvorhersahen, Gedanken gemacht hatte (...)oder wie man einen möglichen kausalenZusammenhang zwischen den Schreckender Phase 2 und dem Krieg der USA gegeneine bäuerliche Gesellschaft in Phase 1 inBetracht zog.Anfang 1977 stand die Behauptung imRaum, [die Roten Khmer] seien nach eige-nen Aussagen »stolz« darauf, an die 2 Mil-lionen Menschen abgeschlachtet zu haben(Jean Lacouture in der New York Times).Diese Zahl blieb von nun an unverrückbarstehen, auch dann noch, als Lacouture siewenige Wochen später widerrief und einge-stand, er habe seine Quelle (Ponchaud)falsch interpretiert. Die echte Zahl lägeeher im Tausenderbereich, und im übrigenerschiene ihm, wenn es einerseits um denTod Tausender oder andererseits um den»Stolz« über die Ermordung von zwei Mil-lionen Menschen geht, diese Differenz un-erheblich. Aus dieser Äußerung geht wohldeutlich hervor, wie man schon damals mitFakten umzuspringen pflegte; nicht anderssteht es mit seiner anschließenden Feststel-lung, es lohne sich nicht nachzuforschen,»wer genau irgendeinen unmenschlichenSatz von sich gegeben hat« (...)Allerdings stimmte nicht jedermann in die-sen Chor ein. Die bemerkenswerteste Aus-

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ChomskyUnd es wurde gewaltig gelogen - willsagen, es wurde in einem Ausmaß gelo-gen, das selbst einen Stalin hätte errö-ten lassen. Es war schlicht und einfachBetrug. Wir wissen, daß es Betrug war,denn wir brauchen uns nur die Reaktio-nen auf Verbrechen anzusehen, für diedie USA verantwortlich waren.

nahme bildeten genau diejenigen, die zuInformationen aus Kambodscha den bestenZugang hatten, nämlich die Kambodscha-Experten des Außenministeriums. Ihre An-gaben, die sich auf die zu jener Zeit greifba-ren Belege (hauptsächlich aus dem Nord-westen des Landes) stützten, beziffern dieGesamtzahl der Opfer auf »einige Zehntau-send, vielleicht auch einige Hunderttau-send«, vorwiegend infolge Krankheit, Unter-ernährung und eines »brutalen Umbruchsder Lebensverhältnisse« und nicht etwa alsFolge eines »massenhaften Genozids«.Diese vorsichtig formulierten Erkenntnissewurden aber in den Medien fast völlig igno-riert (...) Sie wurden eben in jener Zeitnicht für nützlich erachtet.Manufacturing Consents. 280-283

Michael Vickery, Cambodia: 1975-1982(South End Press 1984): Chomsky nenntdieses Buch »die wichtigste Untersuchungüber die Herrschaft der Roten Khmer (...),im Ausland allgemein von den anerkanntenIndochina-Experten gelobt, in den USAjedoch — ebenso wie der Bericht der finni-schen Untersuchungskommission — prak-tisch völlig übergangen«, und seinen Autor»einen der wenigen wirklichen Kambod-scha-Spezialisten« .

Vgl. auch• Noam Chomsky, »Decade of Genocide in

Review«, Inside Asia (London Febr. 1985),abgedruckt in The Chomsky Reader

• Manufacturing Consent S. 382 Anm. 22• John Barron, Anthony Paul, Murder in a

Gentle Land (Reader's Digest Press 1977)• »The >Not-So-Gentle< Land: Some RelevantHistory«, Manufacturing Consents. 266-270

Als Antwort auf Chomsky schreibt Jean Lacou-ture, der das Buch: Francois Ponchaud, Cambo-dia: Year Zero (Holt, Rinehart and Winston1978) in der New York Review of Booksbesprochen halte:Noam Chomskys Korrekturhinweise habenmir heftige Kopfschmerzen bereitet. Dennindem er schwere Zitierfehler aufzeigt, stellter nicht nur meinen Respekt vor Textenund vor der Wahrheit überhaupt in Frage,sondern auch gerade die Sache, für die ichhatte eintreten wollen. Besonders bedauereich die erwähnten irreführenden Belegan-gaben; ich hätte die Daten über die Zahl derOpfer genauer überprüfen sollen, zumal sieaus fragwürdigen Quellen stammten. Ichhabe Ponchauds Buch überhastet und un-ter emotionaler Spannung durchgelesenund auch die für polemische Bemerkungengeeigneten Stellen voreilig ausgewählt.Aber ich möchte doch - bei aller Verant-wortung für die fehlerhaften Details meiner

Rezension - in Bezug auf deren Grundten-denz meine Unschuld beteuern.Sollen wir wirklich, wenn wir auf etwas soMonströses wie das derzeitige Regime inKambodscha schauen, das Hauptproblemdarin sehen, wer genau irgendeinen un-menschlichen Satz von sich gegeben hat,oder ob das Regime nun einige Tausendoder nur einige Hundert Unglücklicher aufdem Gewissen hat? Ist es für die Geschichts-schreibung von Belang, ob in Dachau dieZahl der Opfer 100.000 oder 500.000 be-trug? Oder ob Stalin in Katyn 1000 oder10.000 Polen erschießen ließ?»Cambodia: Corrections« New York Reviewof Books (26.05.77)

Oder ob vielleicht - so könnten wir fortfah-ren - in My Lai Hunderte, wie die Berichteaussagen, oder aber Zehntausende umka-men, oder ob die Mordaktion »SpeedyExpress« im Mekong-Delta nur 5000 oderaber 500.000 zivile Opfer forderte? Wenn esdoch auf einen Faktor 100 gar nicht an-kommt? Wenn Tatsachen so wenig zählen,warum dann überhaupt angebliche Tatsa-chen herauskehren?The Political Economy of Human Rights Bd. 2S. 149

Am Ende könnte sich herausstellen, daß eseher die krasseren Urteile waren, die derWahrheit entsprachen. Doch selbst dieswürde nichts an unserer Einschätzung derzentralen Frage verändern - wie nämlichdie verwendeten Daten ausgewählt, modifi-ziert, manchmal auch aus der Luft gegriffenwurden, nur um der Allgemeinheit ein ganzbestimmtes Bild zu vermitteln. Die Antwortist eindeutig und hängt nicht davon ab, wasvielleicht noch über Kambodscha ansTageslicht kommt.The Political Economy of Human Rights Bd. 2S. 293

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ChomskyKambodscha und Timor in den frühenSiebzigern sind ein geeignetes Ver-gleichspaar. Ja, und nun das beein-druckende Medienecho:

NEW YORK TIMES INDEX 1975-1979:

»TIMOR«GESAMTE SPALTENLÄNGE

170 CM

»KAMBODSCHA«GESAMTE SPALTENLÄNGE

2900 CM

In einigen Rezensionen von ManufacturingConsent: Noam Chomsky and the Media wur-den diese Zahlenwerte als die Spaltenlän-gen der in diesem Zeitraum erschienenenBeiträge selbst mißverstanden. Man kannaber sehen, daß es sich dabei um die Spal-tenlänge der Eintragungen im Index handelt,wohinter sich natürlich weit mehr Spaltender eigentlichen Texte verbergen. Wir ver-fügten nicht über die Mittel, um die vielentausend Artikel herauszusuchen, zu kopie-ren und abzumessen.Die Indexlisten lagen uns als l:l-Kopienaller Eintragungen zu den StichwortenTimor und Kambodscha vor und wurdenaneinandergeklebt. Der Platz auf Kanadasgrößter Bühne reichte knapp für den aus-gerollten Streifen über Kambodscha: etwa29 Meter.

Über Kambodscha vgl. auch: »Bloodbaths inIndochina: Constructive, Nefarious andMythical«, The Political Economy of HumanRights Bd. 1, insbes. S. 337-354; Manufactu-ring Consent Kap. 6, »The Indochina Wars(II), Laos and Cambodia«

In einem Propagandasystem werden grundsätzlich dieMenschen, die in Feindstaaten Unrecht erdulden müssen,als wertvolle Opfer dargestellt, während diejenigen, die aufder eigenen Seite vielleicht noch härter angefaßt werden,keinen Wert repräsentieren. Wieviel an Wert dabei jeweilszugemessen wird, läßt sich an Art und Ausmaß der Aufmerk-samkeit und der Entrüstung ablesen.

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PODIUMSDISKUSSION IN DERHARVARD UNIVERSITY,CAMBRIDGE, MASSACHUSETTS, USA

Im Rahmen einer internationalen Tagungzum Thema «Die USA und der Antikommu-nismus: Vorgeschichte und Konsequenzen«,11.-13.11.1988, unterstützt vom Instituteof Media Analysis

Karl E. Meyer(Leitartikler der New York Times)Im Jahre 1980 hielt ich eine Vorlesungan der Tufts University. Und da trat nunChomsky vor den Studenten auf undtrug ein leidenschaftliches Plädoyer vor- des Inhalts, die Presse hätte die Tat-sache heruntergespielt, daß die indone-sische Regierung 1975 diese ehemaligeportugiesische Kolonie annektierte.Und wenn man das beispielsweise mitKambodscha vergleichen würde, wokilometerlang Berichte erschienen,dann sei das eine eben ein kommunisti-scher Greuel und das andere kein kom-munistischer Greuel. Das hat mich nunschon interessiert, und so habe ich dendamaligen stellvertretenden außenpoli-tischen Ressortleiter der New York Timesangesprochen.Ich habe zu ihm gesagt: »Wissen Sie,unsere Berichterstattung auf demGebiet war sehr schwach.« Und er sagte:»Da haben Sie völlig recht; auf der Weltpassieren ein Dutzend Greuel, über diewir nichts bringen. Dies war auch soeiner, und das hatte seine Gründe.«Da bin ich der Sache nachgegangen.

Von jeher ist der Kommunismus das abso-lute Böse und das Gespenst gewesen, dasdie Besitzenden verfolgt; sie sehen dadurchihre Klassenposition und ihren gehobenenStatus im innersten bedroht. Die Revolutio-nen in Rußland, China und Kuba haben diewestlichen Eliten traumatisiert. Infolge derständigen Konflikte und der — noch dazuhochgespielten — Mißstände in den kom-munistischen Staaten ist die Oppositiongegen den Kommunismus zum oberstenPrinzip der westlichen Ideologie und Politikgeworden. Mittels dieser Ideologie kannman die Massen gegen einen Feind mobili-sieren, der im übrigen undeutlich genugbleibt, um jeden aufs Korn nehmen zu kön-nen, dessen politische Absichten irgendwel-che Besitzinteressen bedrohen oder dieAkzeptanz der kommunistischen Staatenoder eines radikalen Gedankenguts impli-zieren. Sie trägt demnach auch zur Spaltungder Linken und der Arbeiterbewegung beiund dient als politischer Lenkungsmecha-nismus. Wo der Triumph des Kommunis-mus das größte vorstellbare Unheil ist, läßtsich eine Unterstützung des Faschismus alskleineres Übel rechtfertigen. Ebenso wirdman gegen eine Sozialdemokratie einge-stellt sein, die in Sachen Kommunismusnicht genügend Härte zeigt, also ihm »indie Hände spielt«.In diesem, vom Antikommunismus wie voneiner Religion beherrschten kulturellenMilieu der USA sehen sich die Linkslibera-len unablässig unter den Vorwurf gestellt,sie seien prokommunistisch oder zumindestnicht genügend antikommunistisch, undsomit in die Defensive gedrängt. Sollte eseiner von ihnen gestellten Regierung unter-

Filter: Antikommunismus als National-religion und Steuerungsinstrument

laufen, daß irgendwo im Lande eine kom-munistische Idee - oder auch nur eine alssolche hingestellte - umgesetzt wird, dannmüssen sie dafür teuer bezahlen. Da auchdie wenigen Liberalen, die diese Religionnoch nicht verinnerlicht haben, ständigmeinen, ihren Antikommunismus unterBeweis stellen zu müssen, verhalten sie sichgeradezu wie echte Reaktionäre.Manufacturing Consent S. 29

Robert W. McChesneySie haben für dieses ideologische Filterdie Bezeichnung »Antikommunismus« ge-wählt. Warum soll dieser Name treffendersein, als wenn man einfach von »der herr-schenden Ideologie« sprechen würde? Mankönnte dann nämlich dieses Filter auchdort diagnostizieren, wo es überhaupt nichtum Antikommunismus geht, wohl aber umdie Interessen der Führungsschicht.

Edward S. HermanDas scheint mir ein vernünftiger Vorschlagzu sein; vielleicht hätten wir das wirklich tunsollen. Wir kommen in dem Buch ja auchmehrfach auf andere Aspekte der herr-schenden Ideologie zu sprechen - etwa daßunsere eigene Regierung immer nur dasBeste wolle, oder daß privates Unterneh-mertum etwas Gutes sei. Wir wollten aber,gerade wenn es um die Filter geht, vor allemdasjenige Element der Ideologie in den Vor-dergrund stellen, welches von der politi-schen Ökonomie der USA zu ihrem wich-tigsten Steuerungs- und Disziplinierungsin-strument gemacht worden ist.Aus einem Interview in Monthly Review Jan.1989Robert W. McChesney ist Assistant Profes-sor an der School of Journalism and Mass Com-munication der Universität von Wisconsin inMadison.

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MCGILL UNIVERSITY, MONTREAL

Arnold Kohen (Journalist)

Ich war damals als Reporter und Texteran einem kleinen alternativen Radio-sender irgendwo im Staat New Yorktätig - Wir bekamen Tonaufnahmen vonInterviews mit timoresischen Führungs-leuten und waren sehr überrascht (wodoch die USA so stark darin verwickeltwaren), daß in den großen amerikani-schen Medien sowenig - praktischüberhaupt nicht - über diese Massen-morde der Indonesier berichtet wurde.Wir haben uns dann mit ein paar Leu-ten zusammengetan; wir wollten versu-chen, den Gang der Dinge zu verfolgenund vielleicht nach und nach die Auf-merksamkeit der Öffentlichkeit aufdas zu lenken, was sich in Osttimorabspielte.

Ich stamme ja aus New York - genau ge-nommen aus dem Stadtteil Queens. Es gabdamals, 1975, eine regelmäßige Rundfunk-sendung namens »Ithaka, N. Y. - Rest of theNews«. Diese wollte Vorfälle und Entwick-lungen aufgreifen und dokumentieren, dievon den großen Medien stiefmütterlich be-handelt wurden; sie stützte sich hauptsäch-lich auf Hochschulkreise. An der arbeiteteich mit; ich war über Freunde dazuge-stoßen. Wir arbeiteten alle ehrenamtlich,die Geldmittel waren minimal. 1980 gingdie Gruppe ein.Infolge des amerikanischen Eingreifens inIndochina und anderen Ländern Südostasi-ens war ich sehr an dieser Region interes-siert; das ging ja in den siebziger Jahren vie-len so. Nun beherbergt aber Ithaka dieGornell-Universität, und diese wiederumverfügt über das wahrscheinlich beste Süd-ostasien-Institut auf der ganzen Welt. Kurznach dem indonesischen Einfall in Ostti-mor im Jahr 1975 lichtete eine kleine Grup-pe von Cornell-Leuten, zu denen auch ichzählte, ihr Augenmerk auf diese Insel.Wir fingen damit an, daß wir Infoblätterzusammenstellten und verschiedene Grup-pen und Personen im ganzen Land damitzu aktivieren suchten. Als nächstes versuch-ten wir es bei den großen Medien, obgleichdas eigentlich aussichtslos schien. DieseIthaka-Gruppe löste sich zwar 1979 auf;doch die meisten ihrer Mitglieder - unteranderem Juristen, Literaturstudenten undSüdostasien-Spezialisten - trachteten auchspäter danach, jeder in seinem Umkreisüber verschiedene Kanäle und Gremien,das Ohr der amerikanischen Öffentlichkeitzu erreichen. So nahmen wir unter ande-rem Verbindung zur New York Times auf, zurWashington Post und zum Boston Globe, dennes erschien uns wichtig, daß derartige Pres-seorgane auf die Sache aufmerksam würdenund möglichst viele Fakten veröffentlich-ten. Das ist uns natürlich nicht immergelungen, aber was dabei schließlich her-

auskam, war ein Netzwerk von Kontakten,das sich später für Flüchtlinge, für dieKatholische Kirche in Osttimor, für Men-schenrechtsgruppen und andere Organisa-tionen als nützlich erweisen sollte. Wenn wirüberhaupt Erfolg hatten, so deswegen, weilwir professionell vorgingen, höflich bliebenund uns strikt an die Tatsachen hielten. Soetwas ist durch nichts zu ersetzen - und esmacht sich wirklich bezahlt.Arnold Kohen

In den USA lebt jemand, der in meinenAugen den Friedensnobelpreis verdienthätte, wenn der einen Sinn hätte, was natür-lich nicht der Fall ist. Es handelt sich dabeium einen damaligen Cornell-Studentenhöheren Semesters, der sich mit Haut undHaaren der Aufgabe verschrieben hat, dieseDinge an die Öffentlichkeit zu bringen. Erwar es auch, der mich dazu brachte, dort miteinzusteigen. Nun ist mein Name ja rechtbekannt, ihn aber kennt keiner, und dochist er der Anführer und ich folge ihm nur.Man kann daran sehen, wie es im Geistesle-ben zugeht: Es gibt wichtige Leute, die aneiner wichtigen Sache arbeiten und dabeian einen Punkt kommen, wo sie jemandenbrauchten, der ihnen in den Lichtkegel derÖffentlichkeit verhilft. Und da gibt es dannwiederum Menschen wie mich, die dieseHilfe leisten können - aber das ist wirklichnur eine helfende Rolle.Aus Chomskys Interview mit Joop van Tijnim Sender »Humanist TV«, Niederlande,10.06.89

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BÜRO IM MIT

ChomskyEs waren buchstäblich nur ein halbesDutzend Leute, die sich mit großemEngagement der Aufgabe widmeten,diese Berichte an die Öffentlichkeit zubringen. Sie sind an einige Kongreßab-geordnete herangekommen. Sie kamenbeispielsweise auch zu mir, und sokonnte ich vor der UNO aussagen undeiniges darüber schreiben. Und sieließen nicht ab und ließen nicht ab.Alles was wir darüber wissen - das ver-danken wir praktisch alles ihrer Arbeit.Sonst gibt es so gut wie nichts.

PODIUMSDISKUSSION, HARVARDUNIVERSITY

Karl F. MeyerZuerst schrieb ich einen Kommentarmit dem Titel »Der ungerechte Krieg inOsttimor«. Er enthielt eine Landkarteund beschrieb genau, was dort passiertwar. Wir brachten dann noch ein Dut-zend anderer Beiträge dazu. Diese wur-den gelesen, sie wurden in die Kon-greßakten aufgenommen, einige Kon-greßabgeordnete griffen die Sache auf,und das führte dazu, daß sich das Parla-ment damit befaßte.

Etwa zu der Zeit [da ich vor der UNO aus-sagte,] bat mich die Columbia JournalismReview um einen Artikel über die Behand-lung Kambodschas in den amerikanischenMedien. Ich erwiderte, ich würde Osttimorvorziehen; erstens läßt sich daran viel mehrerkennen, und zweitens konnte ja schonallein die Tatsache, daß Fakten darüber aus-gebreitet würden, dazu beitragen, denimmer noch andauernden Bluttaten Ein-halt zu gebieten. Nach einigem Hin undHer lehnte man diesen Vorschlag mit derBegründung ab, Timor sei doch völlig unbe-deutend und daher für die Leserschaft un-interessant (...) So schließt sich der Kreis:Zuerst unterdrücken die Medien eine wich-tige Story, und dann weigert sich eine Zeit-schrift für Analysen des Medienverhaltens,besagte Unterdrückung zu untersuchen,eben weil diese so erfolgreich gewesen ist.Toward a New Cold War S. 471 Anm. 3.

Weder der persönliche Besuch eines Regis-seurs von Manufacturing Consent: NoamChomsky and the Media im New Yorker Büroder Columbia Journalism Review noch die Ab-lieferung einer Videokopie des Films brach-ten deren Redaktion dazu, den Film zurezensieren oder auch nur zu erwähnen.Dabei ist der Film ja nicht nur von einschlä-gigem Interesse; er lief schließlich über 6Wochen lang in New York und wurde in derNew York Times, in The Village Voice und in derNew York Post rezensiert, gar nicht zu redenvon den mehr als 225 Städten im ganzenLand, wo er gezeigt wurde und wo allegrößeren Zeitungen sowie die örtliche undüberregionale Alternativpresse sich mit ihmbeschäftigten. Im Ausland wurde der Film,wo immer er aufgeführt wurde, von dengroßen Zeitungen und auch von der jour-nalistischen Fachpresse rezensiert. Wenig-stens eine kanadische Fernsehanstalt (Ra-dio Canada, der frankophone Landessen-der) setzt ihn bei der journalistischen Mit-

arbeiterschulung ein, ebenso wie Hundertevon Hochschulen in ihren Vorlesungenüber Journalismus und Kommunikation.

Chomskys Aussage über Osttimor vor derUNO im Oktober 1978 wurde in einer leichtüberarbeiteten Fassung in Inquiry 19.02.79(»East Timor: The Press Cover-up«) und inRadical Priorities S. 84-94 abgedruckt.

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MCGILL UNIVERSITY, MONTREAL

Arnold KohenAls nun die New York Times am HeiligenAbend diesen Kommentar brachte, sahdie Sache für uns schon ganz andersaus. Worum wir uns so lange bemühthalten, erhielt jetzt einen hohen Gradan Legitimität - nämlich das Wissen umdie Tatsache, daß sich in Osttimor eineTragödie großen Ausmaßes ereignete.

IN DER NEW YORK TIMES

Karl F. MeyerNimmt man die diversen Theorien wört-lich, die Professor Chomsky vorbringt,dann müßte man annehmen, es gäbezwischen der etablierten Presse und derRegierung in Washington eine stille Ver-schwörung mit dem Ziel, sich aufbestimmte Sachen zu konzentrierenund andere Sachen zu ignorieren. Dasheißt: Sollten wir etwa die Spielregelverletzen, dann würden wir sofort eineReaktion - eine scharfe Reaktion - vonunseren Meistern in Washington zuspüren bekommen. Die würden zu unssagen: »He, was fällt euch denn ein,euch zu Osttimor zu äußern? Das woll-ten wir doch unter der Decke halten.«Wir bekamen aber absolut nichts zuhören. Allerdings erfuhren wir - interes-santerweise - daß es da einen Typnamens Arnold Kohen gab und daß dereine Ein-Mann-Lobby gebildet hatte.

Und der US-Kongreß? Wie ich von Mitar-beitern des Außenministeriums, die es wis-sen müssen, erfuhr, übte der Kongreß inden Jahren 1979-80 so viel Druck auf Indo-nesien aus, daß humanitäre Hilfslieferun-gen aus dem Ausland schließlich doch dieMenschen erreichten, die infolge der indo-nesischen Blockade jeden Monat zu Tau-senden verhungerten. Doch so wichtig eswar, daß diese Hilfe endlich durchkam, esgab auch noch andere positive Effekte.Nach anderen Quellen ist es allein diesemjahrelangen Druck zu verdanken, daß dasindonesische Militär seit 1979 nicht nochviel mehr Menschen umgebracht hat.Natürlich herrschen in Osttimor furchtbareZustände; aber ohne den internationalenDruck wäre alles noch viel schlimmer.Arnold Kohen

Diese Initiativen werden in Bd. 1 von The Poli-tical Economy of Human Rights behandelt.1977 veranstaltete der Kongreß aufschlußreicheAnhörungen. Die New York Times führte einlanges Interview mit James Dunn, dem besten Ost-timor-Spezialisten der australischen Regierung,der damals vor dem Kongreß aussagte. Abge-druckt wurde davon kein Wort. Später gab es nochandere Anhörungen; Ihr habt wohl aus den Arti-keln zitiert, die ich darüber geschrieben habe. Inden letzten fahren hat der Kongreß sich nicht aufAnhörungen beschränkt. Man hat die militäri-sche Ausbildung gekürzt (was Clinton allerdingsmißachtet) und ebenso die Waffenlieferungen.-NC

WAS HAT DIE NEW YORK TIMES AUSDEM ARTIKEL DER LONDONER TIMESHERAUSGESTRICHEN?

Am 4. September 1975 brachte die New YorkTimes einen Bericht von Gerald Stone, »aus-tralischer TV-Journalist und wahrscheinlichder erste Reporter, der seit dem Ausbruch[des Bürgerkriegs nach Osttimor] hinein-gelassen wurde.« Allerdings ist dieser Arti-kel nur eine überarbeitete und gekürzteVersion eines längeren Berichts, der am 2.September 1975 in der Londoner Times er-schienen war. Es ist nun aufschlußreich zusehen, worin die Überarbeitung durch dieNew York Times bestand.Breiten Raum in dem Times-Artikel nehmenStones Bemühungen ein, den Berichtenüber schrankenlose Verwüstungen undGewaltakte auf den Grund zu gehen, welchedie indonesische Propaganda der FRETI-LIN anlastete und die bis heute die Bericht-erstattung färben. Diese Berichte seien, soStone, durch die Brille verängstigter underschöpfter Flüchtlinge gefiltert oder sogarvon portugiesischen, indonesischen undaustralischen Beamten lanciert worden, diesämtlich von der FRETILIN nicht geradedas Beste zu erwarten hatten.Im wesentlichen stellte er folgendes fest:Auf der Fahrt durch Dili konnten wir ohneMühe erkennen, wie in diesem Krieg über-trieben und verzerrt wird. Wahr ist, daß dieStadt schwer gelitten hat; viele Häuser wei-sen Einschußlöcher auf. Doch die Hauptge-bäude stehen noch. So fanden wir ein Hotel,

Natürlich herrschen in Osttimorweiterhin furchtbare Zustände; aberohne den internationalen Druck wärealles noch viel schlimmer.

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MCGILL UNIVERSITY, MONTREAL

Arnold KohenAlso wissen Sie, ich bin Karl Meyer jadankbar für die schönen Sachen, die erin seinem Interview über mich gesagthat; aber ich muß doch der Vorstellungwidersprechen, es hätte da eine Ein-Mann-Lobby oder sowas gegeben. Dennich glaube, wenn es kein weit gespann-tes Netz gegeben hätte, mit der amerika-nischen katholischen Bischofskonfe-renz, mit anderen kirchlichen Gruppen,mit Menschenrechtsgruppen, mit enga-gierten Bürgern usw., und ein damit ver-knüpftes Interesse in den Nachrichten-medien - wäre dies nicht gewesen, dannhätte man zu keiner Zeit irgend etwaserreichen können, und schon gar nichthätten wir die Sache so lange in Ganghalten können, wie es dann geschah.

IN DER NEW YORK TIMES

Karl F. MeyerProfessor Chomsky und viele der Leute,die solche Analysen der Presseorganeveranstalten, haben eines gemeinsam:Die meisten von ihnen haben noch niefür eine Zeitung gearbeitet, und vielehaben keine Ahnung, wie es in einerZeitung zugeht. Als Chomsky da auftrat,hatte er eine Sammlung mit allen Arti-keln, die in der New York Times, derWashington Post und anderen Blätternüber Osttimor erschienen waren. Ernahm es dann ganz genau: War zumBeispiel in der Londoner Times etwasüber Osttimor erschienen und hatte dieNew York Times das übernommen, aberum einen Absatz gekürzt, dann sagte er:»Seht mal, dieser entscheidende Absatzhier gegen Ende, der alles auf denPunkt bringt, den hat die New York Timesaus dem Text der Times gestrichen.«

das angeblich niedergebrannt worden war,bis auf die zerstörten Fensterscheibenunversehrt vor (...)Unbestreitbar hat es Ausschreitungen ingroßer Zahl gegeben - auf beiden Seiten.Ob diese aber mit Vorbedacht begangenund von der Führung der FRETILIN oderder UDT gedeckt waren, ist doch sehr frag-lich. Oft habe ich versucht, einem Vorfallauf den Grund zu gehen; ich stieß fastdurchweg nur auf Berichte vom Hörensa-gen. Seltsamerweise scheinen alle drei betei-ligten Regierungen - Portugal, Indonesienund Australien - ein Interesse daran zuhaben, die Lage so chaotisch und verfahrenwie möglich erscheinen zu lassen (...) ImLicht dieser Erfahrungen bin ich davon über-zeugt, daß viele der verbreiteten Berichte nichtnur übertrieben, sondern geradezu Teil einergeplanten Lügenkampagne sind (Hervorhe-bung von uns).Stone sieht also alle drei Regierungen indiesen Propagandafeldzug verwickelt.Was hat nun aus den hier zitierten Textendie Bearbeitung in der New York Times über-lebt?Auf der Fahrt durch Dili konnten wir erken-nen, daß die Stadt durch die Kämpfe schwergelitten hat. Die Hauptgebäude stehennoch; allerdings weisen viele Häuser Ein-schußlöcher auf.

Stones Feststellungen zu den gezielten Pro-pagandalügen Indonesiens und der westli-chen Regierungen fällen gänzlich unterden Tisch, und was er über das Ausmaß derZerstörungen sagt, wird durch geschickteBearbeitung umgefärbt.Nicht gestrichen haben die Redakteure derNew York Times Stones anschließende Wie-dergabe von Berichten Gefangener überdas Verscharren von Leichen, über diegrauenvollen Verhältnisse in den Kranken-häusern der FRETILIN (die Portugiesenhatten den einzigen Militärarzt abgezogen,und andere Ärzte gab es nicht ...) sowieüber »Prügelspuren« (so der einzige Zwi-schentitel im gesamten Artikel) und andereGefangenenmißhandlungen seitens derFRETILIN.Der Prozeß, den gewünschten Gang derGeschichte herzustellen, geht jedoch nochweiter. Newsweek (International Edition15.09.75) greift nämlich Stones Artikel inder New York Times auf und schreibtzunächst, daß »die Verwüstungen, die derKampf der rivalisierenden Gruppen um dieVorherrschaft auf Timor hinterläßt, Anlaßzu Besorgnis« gäben — was nun seinerseitsbemerkenswert ist, zieht man in Betracht,wie wenig Anlaß zur Sorge Newsweek späterin dem eigentlichen Blutbad nach dem Ein-marsch der Indonesier sehen sollte. Dannkommt die Zeitschrift auf »einen Berichtvon Gerald Stone über das Blutbad« in derNew York Times zu sprechen, zitiert zunächstdie beiden oben wiedergegebenen Sätzeüber die »Fahrt durch Dili« und fährt dannfort:Weiter berichtet Stone über Leichen, dieauf der Straße liegen, und über Zivilperso-nen, die trotz ihrer schweren Verletzungenohne ärztliche Hilfe geblieben waren. Wieer weiter enthüllt, hat die marxistische FRE-TILIN-Partei die gemäßigte TimoresischeDemokratische Union (UDT) aus derHauptstadt vertrieben und die vielen Gefan-genen, die ihr dabei in die Hände gefallen

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BÜRO IM MIT

ChomskyIn der Londoner Times gab es einenziemlich zutreffenden Bericht. Den hatdie New York Times radikal verändert. Siehat nicht nur einen einzelnen Absatzweggelassen, sie hat ihn überarbeitetund ihm eine völlig neue Färbung gege-ben. Der wurde dann - so wie die NewYork Times ihn gebracht hatte - vonNewsweek aufgegriffen. Zum Schluß wares eine einzige Weißwäsche.

waren, systematischen Mißhandlungen un-terworfen (...) So werden durch StonesReportage die Erzählungen der mittlerweile4000 Flüchtlinge aus Timor erhärtet.Diese Episode lehrt uns einiges über dieMachenschaften der Freien Presse. Da suchtein Journalist ein Gebiet auf, aus dem Ver-wüstungen und Ausschreitungen »der mar-xistischen FRETILIN-Partei« [*] berichtetwerden, und kommt zu dem Schluß, daß dieBerichte weitgehend nicht nur unzutref-fend, sondern sogar ein Produkt gezielterPropaganda sind. Dann sorgt die New YorkTimes durch sorgfältige Bearbeitung dafür,daß seine wichtigsten Schlußfolgerungenverschwinden und andere abgewandelt wer-den. Und zum Schluß kann Newsweek fest-stellen, der Reporter habe den Wahrheits-gehalt der Berichte bestätigt gefunden.Bestärkt wird das, was wir glauben sollen:Von »marxistischen« Terroristen sind nurGewaltakte zu erwarten, und Befreiungsbe-wegungen sind ein Graus. Und so wirddafür gesorgt, daß die Invasion, durch diedas indonesische Militär mit amerikani-scher Unterstützung »die Ordnung wieder-herstellt«, auf allgemeines Verständnisstößt.The Political Economy of Human Rights Bd. 1S. 135-137

[*]: In seinem Bericht an das australischeParlament teilt James S. Dunn mit, daß dieFührungsschicht der FRETILIN überwie-gend »aus gläubigen und praktizierendenKatholiken« besteht; ihre Partei stuft er als»katholisch-populistisch« ein. Wie er weiterhervorhebt, »waren die Führer von Anfangan bemüht, zwischen ihrer Partei und derkommunistischen Bewegung und ihrerIdeologie eine Trennlinie zu ziehen (...)«.Genau so sehen es auch alle anderen wohl-informierten Beobachter; wir erwähnen dashier nur, weil die Indonesier das Gegenteilbehaupten und die gesamte US-Presse sichdem anschließt.

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PODIUMSDISKUSSION, HARVARDUNIVERSITY

Karl F. MeyerUnd ich habe zu ihm gesagt: »Es könntedoch sein, daß Sie die Unkenntnis, dieHast, den Zeitdruck bis zum Redaktions-schluß usw. mißverstehen und darineine Art bewußtes Handeln zur partiel-len Unterdrückung einer Geschichte zuerkennen glauben.« Worauf er sagte:»Ja, wenn es nur ein oder zwei oder dreiMal vorkäme, würde ich Ihnen jazustimmen. Aber, Mr.Meyer, wenn esein dutzendmal passiert, dann muß esda noch etwas anderes geben.«

BÜRO IM MIT

ChomskyUnd es ist nicht einmal, zweimal, fünf-mal, hundertmal vorgekommen - es istständig vorgekommen.

IN DER NEW YORK TIMES

Karl F. MeyerIch sagte: »Professor Chomsky, ichkenne diese Branche. Es passiert eindutzendmal - es sind eben unvollkom-mene Institutionen.«

BÜRO IM MIT

ChomskyUnd als man dann darüber berichtete,geschah das aus Sicht der ... also dieUSA wurden nur reingewaschen. WissenSie, das war kein unbeabsichtigter Aus-rutscher. Das ist systematisch und konse-quent. - und gerade in diesem Fall ohneeine einzige Ausnahme.

Wie wichtig es ist, daß durch die internatio-nale Presseberichterstattung Druck ausge-übt wird, zeigte sich an dem Massaker vom12. November 1991, bei dem 273 Timoresenstarben. Außerdem wurden ca. 160 Perso-nen verletzt; viele andere »verschwanden«.Unter den - durch Schläge - Verwundetenwaren auch zwei US-Journalisten: AlanNairn von der Zeitschrift New Yorker und dieWBA-Reporterin Amy Goodman (WBA isteine progressive New Yorker Hörerstation).Durch Filmdokumente von dem Massaker,die der britische TV-Journalist Max Stahlaus dem Lande schmuggelte, erfuhr dieWeltöffentlichkeit von den Verbrechen.[Wir hätten gern einiges von diesem Mate-rial in unseren Film übernommen, aberYorkshire TV verlangte dafür 4000 Dollar -ganz im Gegensatz zu fast allen anderenQuellen oder Archiven, die uns ihr Materialgegen Erstattung der Kopierkosten undErwähnung im Abspann frei überließen.Ein anderer Zeuge der Massaker, der Stand-fotograf Steve Cox, stellte uns großzügiger-weise alle seine Aufnahmen zur Verfügung;drei davon sind im Film zu sehen.]Zwar regt man sich bei uns gewöhnlichnicht darüber auf, wenn Timoresen umge-bracht werden (drei Tage später starbenweitere 80 junge Männer und Frauen, und

Hunderte verschwanden in den beiden fol-genden Monaten), aber durch das Medien-echo auf das Massaker von Dili sahen sichdoch einige der Länder, die Wirtschaftsin-teressen in Indonesien hatten, zu einerReaktion genötigt. Die kanadische Regie-rung fror Entwicklungshilfe in Höhe von 30Mio. Dollar ein, ließ allerdings die laufen-den Programme im Umfang von 46 Mio.Dollar unangetastet; auch andere Staatenkürzten ihre Hilfsprogramme. Dafür sprangdann die Indonesien-Konsultativgruppe derWeltbank ein, die von einem Jahr auf dasandere ihre Hilfe um 200 Mio. Dollar auf-stockte.Eine weitere Folge der damaligen Osttimor-Berichte in den Medien war ein gesteigertesInteresse für die Unterstützergruppen, wasdann zur Gründung des East Timor ActionNetwork/US (ETAN/US) führte.Quellen: Elaine Brière, Upstream JournalMärz/April 1993; ETAN/US Newsletter No. 7Sept. 93

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IN DER NEW YORK TIMES

Karl F. MeyerDas läuft alles viel hintergründiger abals in der Dampfhammer-Rhetorikdieser Leute, die da zwischen A und Beine Gleichung aulstellen: Was tut dieRegierung, was denkt die Bevölkerung,was schreiben die Zeitungen. Was dieNew York Times schreibt, hat manchmalenorme Auswirkungen, manchmal aberüberhaupt keine.

CBC RADIO, MONTREAL

Elaine BrièreUnd so nimmt diese Tragödie in Ost-timor - eine der schlimmsten unsererTage - ungehindert ihren Fortgang.Schätzungsweise ein Drittel der Bevöl-kerung haben die Indonesier umge-bracht. Viele sind in Konzentrations-lagern eingesperrt. Gegen diejenigen,die noch Widerstand leisten, führen siegroßangelegte Militäroperationendurch, unter Namen wie »OperationAusrottung« oder »Operation Aus-fegen«. Die Frauen in Timor zwingensie zur Geburtenkontrolle. Darüber hin-aus holen sie ständig indonesische Sied-ler ins Land, die sich den Boden aneig-nen. Und wenn mal einige Menschenden Mut aufbringen, auf der Straße zudemonstrieren oder den geringstenWiderstand zu zeigen, werden sie sofortmassakriert.Wenn wir - also die Völkergemeinschaft- den Indonesiern erlauben, in Ost-timor zu bleiben, dann werden sie Ost-timor schlucken und ... na ja, sie möch-ten es einfach als Beutemasse ansehen.

Was ich da mit ansehen mußte, war nichtmehr und nicht weniger als eine kaltblütigeHinrichtung. Da kamen indonesische Solda-ten anmarschiert, stellten sich in Formationauf und eröffneten schlagartig das Feuer aufeine friedliche, wehrlose Menschenmenge.Und am nächsten Tag äußerte sich derindonesische Militärkommandeur lobendüber das Massaker: Es sei die Politik derArmee, widerspenstige Timoresen zu er-schießen.Ich habe schon ein Dutzend fahre damitverbracht, über Unterdrücker- und Militär-regimes zu berichten - aus Mittelamerika,Südafrika und dem Nahen Osten. Abernoch nirgends hat eine Regierung so vieleMenschen derart in Angst und Schreckenversetzt wie hier.Bei meiner Rückkehr nach Osttimor im letz-ten Oktober war die Atmosphäre des Ter-rors noch drückender und die Repressionnoch härter. Da eine portugiesische Parla-mentsdelegation im Auftrag der UNO dasLand in Kürze besuchen sollte, war das in-donesische Militär ausgeschwärmt und ver-haftete in Städten und Dörfern jedenTimoresen, den man im Verdacht hatte,vielleicht mit der Delegation Kontakt auf-nehmen zu wollen. In Hunderten von Ver-sammlungen im ganzen Land drohten dieIndonesier, sie würden alle umbringen, diemit der Delegation sprechen würden. (...)Zuerst zerstreute sich die Menge, aber dannströmten die Menschen auf die Straße.Als der Zug am Friedhof ankam, war erbereits sehr lang - etwa 3000-5000 Men-schen. Einige schritten in langer Reihe zuSebastiaos Grab, doch die meisten bliebendraußen, zwischen der Straße und derFriedhofsmauer. Als wir nach rechts dieStraße entlang schauten, erblickten wir einelange Marschkolonne, die sich langsamnäherte. Die Soldaten waren in dunkel-braune Uniformen gekleidet und hieltengenaue Formation ein; ihre M16-Gewehretrugen sie vor der Brust. Als die Menschen

diese nicht enden wollende Kolonne unauf-haltsam näher rücken sahen, versuchten sieunter ängstlichen Rufen zurückzuweichen.Ich ergriff Amy Goodman von Radio WBAI/Pacifica und stellte mich mit ihr an derStraßenecke zwischen den Timoresen undden Soldaten auf. Wir glaubten nämlich,das indonesische Militär würde sich ange-sichts der Präsenz von Ausländern zurück-halten und nicht angreifen.Doch als wir noch dastanden und die Solda-ten geradewegs auf uns zukamen, geschahdas Unvorstellbare. Sie marschierten umdie Ecke, legten an und schossen Salven indie Menge, ohne auch nur einen Momentstehenzubleiben.Zitternd vor Angst oder schreckensstarrstürzten die Menschen blutend zu Boden,während das Schießen nicht nachließ. Ichsah, wie die Soldaten über die Leichen amBoden sprangen und diejenigen jagten, dienoch laufen konnten; sie schossen sie ge-zielt in den Rücken. Sie exekutierten Schul-mädchen, junge Männer und alte Leute.Die Straße war von Blut bedeckt, und über-all lagen Tote und Verletzte.Gleichzeitig fielen einige Soldaten überAmy und mich her, verprügelten uns undnahmen unsere Fotoapparate und Kasset-tenrecorder weg. Amy packten sie bei denHaaren, dann versetzten sie ihr Faust-schläge ins Gesicht und in den Magen. Alsich mich über sie warf, gingen sie mit denGewehrkolben ihrer M16 auf meinen Kopflos, so daß ich einen Schädelbruch davon-trug.Das Ganze war ganz einfach ein geplanterMassenmord, ein Massaker an unbewaffne-ten und schutzlosen Menschen. Es hattekeine Provokationen gegeben, keine Stein-würfe; die Menge verhielt sich ruhig undwich zurück, als die Schüsse einsetzten. Esgab überhaupt keine Konfrontation, auchnicht irgendeinen Hitzkopf, der vielleichtdie Beherrschung verlor. Es war eben keineunklare Situation, die sich irgendwie selbst

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IM MIT

ChomskyIch denke, hier wird keineswegs nurgezeigt, wie sich die Medien der Machtunterwerfen. In diesem Fall sind sieregelrecht Komplizen des Völkermords.Denn nur, weil niemand etwas davonweiß, können diese Verbrechen unge-hindert weitergehen. Wenn etwas dar-über bekannt würde, dann gäbe es Pro-teste und Druck, um sie zu stoppen.Indem also die Medien die Faktenunterdrücken, tragen sie einen wesent-lichen Teil der Schuld an einem der- also vielleicht an dem schlimmstenVölkermord seit dem Holocaust [bezo-gen auf die Gesamtbevölkerung].

angeheizt hätte und am Ende außer Kon-trolle geraten wäre. Das Verhalten der Sol-daten läßt nicht den geringsten Zweifel dar-an aufkommen, daß die Kolonne bereitsvorher den Befehl zu einem Massaker erhal-ten hatte. Sie eröffneten das Feuer auf einZeichen hin, ohne Vorwarnung. Zwischenihnen und der Menge hatte es überhauptnoch keine Verwicklungen gegeben; dieTimoresen standen nur still oder versuch-ten, sich zu entfernen.Nachdem die Armee die Timoresen nieder-gemäht hatte, sperrte sie das Gelände ab.Als Nonnen herbeieilten, um Erste Hilfe zuleisten, wurden sie abgewiesen; man ließ dieTimoresen auf der Straße verbluten.In einer Rede vor Absolventen des Nationa-len Verteidigungsinstituts verkündete derOberbefehlshaber der indonesischen Streit-kräfte, General Try Sutrisno, daß Timore-sen wie die, die sich vor dem Friedhof ver-sammelt hatten, »zerschmettert werdenmüssen. Solche Agitatoren und ähnlicheÜbeltäter gehören erschossen, und dafürwerden wir sorgen.«Und am 9. Dezember setzte derselbe Gene-ral Sutrisno noch hinzu, man werde, sobalddie Untersuchung des Massakers abge-schlossen sei, »alle separatistischen Ele-mente auslöschen, welche die Ehre der Re-gierung besudelt haben.«Präsident Suharto reagierte auf das Massa-ker auf seine Weise: Er ließ die Osttimore-sen in einem betont lächerlichen Lichterscheinen. In seinem Munde waren dieOpfer von Dili »Kleinkram«. Außerdemhabe er, als einige Regierungschefs ihn dar-auf ansprachen, »ihnen auf einer Landkartegezeigt, wo diese winzige Insel, dieses Ost-timor lag. Und über dieses winzige Dinggibt es so viel Aufregung. Da haben alle ge-lacht.«Aus Alan Nairns Aussage am 27.07.92 vordem UNO-Entkolonisierungs-Sonderaus-schuß (Nairn schreibt für die ZeitschriftThe New Yorker)

Organisierter und koordinierter Druck vonunten macht sich nach und nach durchausbemerkbar. Das sieht man im Fall der ame-rikanischen Indonesienpolitik an dem Ver-halten diverser Regierungsorgane.So beliefen sich die Waffenverkäufe derUSA an Indonesien im Jahre 1991 immernoch auf mehr als 100 Mio. Dollar, auchwenn dies einen Rückgang gegenüber denSiebzigern und Achtzigern bedeutet. DieLieferungen umfassen sowohl modernsteFlugzeuge als auch das [bei dem Massakerin Dili eingesetzte] Automatikgewehr M16.Der letzte Kongreßbericht schätzt, daß 1993im Rahmen des Regierungsprogramms fürWaffenverkäufe US-Gerät im Wert von 11Mio. Dollar an Djakarta geliefert wurde; fürweitere 32 Mio. Dollar versorgte Indonesiensich auf dem freien Waffenmarkt der USA.Ende 1992 strich der Kongreß die im Bud-get 1992/93 für Indonesien vorgesehenenMittel im Rahmen der Militärischen Ausbil-dung im Ausland - nicht ohne dabei vonder Bush-Regierung und von Großunter-nehmen wie etwa AT&T Widerspruch zuernten. Zwar stellten diese 2,3 Mio. Dollarnur einen Bruchteil der gesamten US-Hilfedar, doch hatte hier der Kongreß zumersten Mal Sanktionen gegen Indonesienwegen der Timorfrage verhängt (...)Ende Juli [1993] gab das Außenministeriumbekannt, Jordanien würde keine Genehmi-gung erhalten, amerikanische FSE-Jagdflug-zeuge an die indonesischen Streitkräfte zuverkaufen; man hatte sich bei der ursprüng-lichen Lieferung der Flugzeuge an Jorda-nien diesen Zustimmungsvorbehalt gesi-chert (...) Man könne, so ein Beamter desMinisteriums, »infolge verschiedener sensi-bler Punkte, darunter auch Menschen-rechtsfragen, dem Handel nicht zustim-men« (...)Im März 1993 verurteilte die UNO-Men-schenrechtskominission in Genf die indo-nesischen Menschenrechtsverletzungen inOsttimor. Die entsprechende Resolution

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war von der Clinton-Regierung mit einge-bracht worden - ein bemerkenswerter Kurs-

wechsel gegenüber der früheren Blockade-haltung der USA zu ähnlichen Entschlie-ßungsentwürfen.ETAN/US Network News No. 7

Unter den Empfängerländern kanadischerEntwicklungshilfe steht Indonesien an zwei-ter Stelle. Das Land hat seit 1985 jährlichzwischen 45 und 75 Mio. Dollar erhalten.Kanada gibt mehr Hilfe an Indonesien alsdie USA. Japan gibt übrigens am meisten.Die kanadische Regierung stellte sich ange-sichts des indonesischen Einfalls in Ostti-mor blind. Bei UNO-Anträgen, die densofortigen Abzug der indonesischen Trup-pen forderten, enthielt sich Kanada derStimme. Kaum 6 Monate nach der Invasiongewährte man Indonesien ein Hilfspaket imWert von 200 Mio. Dollar.Dieses bizarre Verhalten hat seine Wurzelnin der Vergangenheit: 1970 wurde Indone-sien von Kanada zu einem »Brennpunkt-land« für Hilfsprogramme und Handelsbe-ziehungen erklärt. Mehr als 300 kanadischeUnternehmen sind dort in Industrie, Im-portgeschäften und im Consulting tätig; zudiesen zählen auch zehn Waffenhersteller.Die militärischen Güter, die Kanada seit1975 an Indonesien geliefert hat, umfassen

Munition, Fahrzeuge, Transportflugzeugesowie Triebwerke vom Typ Pratt&Whitneyfür die in Indonesien montierten Bell-Hub-schrauber.Die Asia Pacific Foundation, eine Organisa-tion zur Förderung des Asienhandels,wandte sich dagegen, daß Indonesien überden Hebel der Entwicklungshilfe zur Beach-tung von Völkerrecht und Menschenrech-ten veranlaßt werden sollte. Man vergaß nurzu erwähnen, daß erstens die Träger dieserOrganisation, also die kanadische Ge-schäftswelt, von der kanadischen Politik derLieferbindung profitieren, wonach kanadi-sche Hilfsdollars nur für kanadische Pro-dukte ausgegeben werden dürfen, und daßzweitens eine denkbare indonesische Reak-tion auf den kanadischen Druck sich wie-derum schmerzhaft auf die kanadischenWirtschaftsinteressen in Indonesien auswir-ken könnte (vgl. Asia Pacific Foundation ofCanada, Issues, Bd. 7 No. 1, Winter 1993).Elaine Brière, The Indonesia Kit, East TimorAlert Network

Es ist ein Schritt von historischer Bedeu-tung, daß der Außenpolitische Senatsaus-schuß jetzt einstimmig einen Antrag verab-schiedet hat, in dem weitere Waffenver-käufe an Indonesien an die Beachtung derMenschenrechte in Osttimor geknüpft wer-

den. Der Präsident muß fortan vor jederGenehmigung größerer Waffengeschäftedie Zustimmung des Kongresses einholen.Es dürfte das erste Mal sein, daß Waffenver-käufe an einen unserer Verbündeten vonMenschenrechtsbedingungen abhängig ge-macht werden (...) Zur Zeit hängt dasGesetz irgendwo im parlamentarischen Ver-fahren (...) Aber ganz gleich, ob es nun indiesem Jahr noch in Kraft tritt oder nicht:Der Antrag hat bereits jetzt der Sache Ostti-mors in Washington — ja im ganzen Land —Auftrieb gegeben.ETAN/US Network News No. 8 Nov. 1993S. 1-3

Was kann nun ein junger Mensch da tun?Alles. Nichts von alledem folgt aus unüber-windlichen physikalischen Gesetzmäßigkei-ten. Alles, was da geschieht, ist das Ergebnisvon Entscheidungen, die von Menschenund in menschlichen Institutionen gefalltwerden. Diese Entscheidungen können be-einflußt, die Institutionen können verän-dert, vielleicht sogar tiefgreifend umgestal-tet werden. Es müssen sich nur genügendviele Menschen bereit finden, mutig undehrlich an der Herbeiführung von Gerech-tigkeit und Freiheit zu arbeiten.Radical Priorities S. 277

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AUS »IDEAS«, CBC RADIO, KANADA

David Frum (Journalist)

Nach Ihren Worten ignorieren dieMedien bestimmte Greueltaten, die vonuns oder unseren Freunden begangenwerden, spielen es aber ungeheuerhoch, wenn die andere Seite - unsereFeinde - Greuel begehen. Und Siepostulieren einen Test der moralischenEhrlichkeit, indem man sozusagen dieLeichen gleich behandeln müsse.

ChomskyNach den gleichen Grundsätzen.

David FrumIch meine, daß im Prinzip alle Totengleich sind.

ChomskyDas behaupte ich keineswegs.

David FrumAha, zum Glück sagen Sie sowas nicht,denn Sie tun's ja auch nicht.

ChomskyNatürlich tue ich sowas nicht und würdees auch nie fordern. Ich sage dochgerade das Gegenteil - daß wir nämlichin erster Linie die Verantwortung fürunsere eigenen Handlungen überneh-men sollten.

David FrumIhre Methode sieht also so aus, daß Sienicht nur die Opfer der anderen Seiteignorieren, sondern auch alle Leichen,die keiner Seite anzulasten sind und diemit Ihrer ideologischen Position nichtszu tun haben.

ChomskyDas ist völlig falsch.

Die von »Ideas« produzierten Radiodoku-mentarsendungen gehören zu den bestender Welt. Alljährlich werden dort auch dieMassey Lectures veranstaltet, die sich übereine Woche erstrecken und Kanadas ange-sehenstes Rundfunkforum darstellen; dabeierhält ein Denker von Rang an fünf Aben-den je eine Stunde Sprechzeit. Die MasseyLectures von 1988 durfte Noam Chomsky hal-ten; sie enthielten auch eine Fragerundemit kanadischen Journalisten.Wir baten um Filmerlaubnis bei der Auf-nahme der Vorträge und der Abschlußdis-kussion, doch der Chef der Serie, Max Allen- aktives Mitglied einer Organisation für»Gesellschaftliche Verantwortung in denMedien« - verwehrte unseren Kameras denZutritt zu den CBC-Studios. Bernd Lucht,der Produzent, schrieb uns: »(...) Ich lehnedas ab. Ich habe mit einigen Kollegen darü-ber gesprochen und meine, daß die Video-aufnahmen unsere eigenen Aufnahmen zusehr stören würden (...) Wenn neben denunmittelbar Beteiligten auch noch einVideoteam dabei wäre, würde die für unsunverzichtbare Intimität verletzt. Außer-dem sind unsere Studios zu klein für die vie-len Personen und ihr Gerät.«Man vergleiche dies mit der BBC in Eng-land, deren Studios ein Viertel der Größeder CBC-Räume aufweisen und die unsebenso mit offenen Armen empfing wiebuchstäblich jeder winzige Lokalsender aufder Welt, der mit den Zielen, die wir uns beidem Film gesetzt hatten, sympathisierte.Hinter der ablehnenden Haltung von Luchtund Allen dürfte der Wunsch stehen, dieexklusive und uneingeschränkte Kontrolleüber alles zu behalten.Für den Runden Tisch mit den Journalistenwar ein Hörsaal der Ryerson-Universität inToronto vorgesehen. Für die Veranstaltungwurde geworben; die Öffentlichkeit hatteZutritt. Als Moderator der Podiumsdiskus-sion war Stuart McLean vorgesehen, Leiterder Abteilung für Journalismus an der Uni-

versität. Nach einem Gespräch mit ihm be-schlossen wir, diese öffentliche Veranstal-tung zu filmen.Da wir die Bedenken des Produzenten ge-gen jede Störung ernst nahmen, zweigtenwir den Ton im Kontrollraum hinter derBühne ab und postierten unsere Kameras inder Projektorkabine hinter Doppelfensternan der Rückwand des Saals. Um die Refle-xionen zu vermindern, verdunkelten wir dieKabine. Der Filmemacher Dan Garson setz-te sich in den Saal und stellte seine 8mm-Videokamera mittels eines Mini-Stativs aufseinen Klapptisch. Als weiteren Videokanalaktivierten wir eine ferngesteuerte Uberwa-chungskamera, die an der Decke des Hör-saals angebracht war. So hatten wir bei die-sem Anlaß schließlich vier Kameras im Ein-satz. - MA

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David FrumGut, dann will ich Ihnen ein Beispielnennen. Sie engagieren sich ja stark fürdie palästinensische Sache, und jedepalästinensische Leiche lastet schwer aufIhrem Gewissen. Eine kurdische Leicheaber nicht.

ChomskyDas stimmt überhaupt nicht. Ich arbeiteschon jahrelang in kurdischen Unter-stützergruppen. Das ist völlig falsch, fra-gen Sie mal die Kurden - ich meine dieLeute, die da mitmachen - also wissenSie, die kommen zu mir, ich unter-schreibe ihre Auf rule usw. Oder lesenSie mal, was wir alles geschriebenhaben, werfen Sie nur mal einen Blick... Ich meine, ich bin doch nicht Amne-sty International, ich kann nicht allesmachen. Ich bin nur ein einzelnerMensch. Aber schauen Sie beispiels-weise mal in das Buch, das Edward Her-man und ich zu diesem Thema geschrie-ben haben. Wir behandeln darin dreiArten von Greueln. Einmal die, die wirals »harmlose Blutbäder« bezeichnenund die allen egal sind, dann die kon-struktiven Blutbäder, die uns zusagen,und schließlich die abscheulichen Blut-bäder, also was die Bösen anrichten. DasPrinzip, nach dem wir uns meiner Mei-nung nach richten sollten, lautet nichtso, wie Sie es formuliert haben. Ethischist es doch eine ganz einfache Sache:Man ist für die zu erwartenden Konse-quenzen der eigenen Handlungen ver-antwortlich. Für die zu erwartendenKonsequenzen der Handlungen ande-rer ist man nicht verantwortlich. Fürmich und für Sie ist es am wichtigsten,über die Folgen unserer Handlungennachzudenken. Also über das, was Sieund ich beeinflussen können.

Man ist für die voraussehbaren Konse-quenzen der eigenen Handlungenverantwortlich. Für die vorausseh-baren Konsequenzen der Handlungenanderer ist man nicht verantwortlich.

Wie moralisch das eigene Handeln ist, hängtdavon ab, mit welchen Auswirkungen mandabei rechnen muß. Die Verbrechen ande-rer zu verurteilen, fällt nicht schwer. Das istnicht moralischer, als Verbrechen zu verur-teilen, die im 18. Jahrhundert verübt wur-den. Sinn und Nutzen haben immer solchepolitischen Aktionen, die sich auf Men-schen auswirken. Das sind aber in dergroßen Mehrzahl der Fälle solche, die manselbst beeinflussen kann - in meinem Fallalso die Handlungen der Vereinigten Staa-ten.On Power and Ideology S. 51

Zur Palästinenserfrage vgl. The Fateful Tri-angle: Israel, the United States, and the Palesti-nians, »Rejectionism and Accommodation«

Vgl. auch• The Chomsky Reader S. 371-405 (aus The

Fateful Triangle)• Pirates and Emperors: International Terrorism

in the Real World• Towards a New Cold War• Necessary Illusions• Chronicles of Dissent, Kap. 2,6• Language and Politics, Interviews 9,27,36• Diverse Aufsätze in Z Magazine bis Oct. 93

über das Friedensabkommen, sowie be-reits früher in Peace in the Middle East(1974)

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IM MIT

ChomskyDies muß man im Auge behalten. Wirmachen hier doch keine akademischenÜbungen. Wir analysieren nicht dieMedien auf dem Mars oder die des18. Jahrhunderts oder dergleichen. Wirhaben es mit realen Menschen zu tun,die leiden oder sterben müssen, diegefoltert werden oder verhungern, undzwar infolge einer Politik, in die wir ver-wickelt sind, in die wir als Bürger einerdemokratischen Gesellschaft direkt ver-wickelt sind und für die wir Verantwor-tung tragen. Und die Medien sorgennun dafür, daß wir unserer Verantwor-tung nicht gerecht werden, daß statt derBedürfnisse der leidenden Menschendie Interessen der Macht berücksichtigtwerden - nicht einmal die Wünsche derMenschen in Amerika, denn die wärenja entsetzt, wenn sie das Blut erkennenwürden, das an ihren Händen klebt, nurweil sie es zulassen, vom System derartigirregeleitet und manipuliert zu werden.

Man kann es doch so sagen: Die meistenMenschen sind keine Gangster. So würdesicher kaum jemand einem halbverhunger-ten Kind die Mahlzeit rauben, auch wenn erselbst Hunger hätte und sicher sein könnte,nicht erwischt oder bestraft zu werden. Weres doch täte, würde mit Recht als pathologi-scher Fall eingestuft werden, und in diesemSinne sind eben nur wenige Menschenpathologisch. Und doch rauben die Ameri-kaner in großem Umfang hungrigen Kin-dern das Essen. So haben beispielsweise dieUSA in Mittelamerika für eine Steigerungder Agrarproduktion gesorgt, während zurselben Zeit die Ernährungssituation sichverschlechterte und Millionen von Men-schen Mangel leiden oder sogar verhun-gern. Der Grund: Die Erträge des Bodensbefriedigen nicht die Bedürfnisse der ein-heimischen Bevölkerung, sondern dienenden Exportinteressen der Agrarindustrie(...) Der einzelne US-Bürger ist aber keinGangster. Würde er sich klarmachen, was erda tut - in großem Umfang hungrigen Kin-dern das Essen rauben - dann wäre er ent-setzt und würde sofort nach besten Kräftenversuchen, diesem Verbrechen ein Ende zusetzen. Folglich muß man verhindern, daßer über diesen Aspekt der Wirklichkeit Klar-heit gewinnt.Aus einem Briefwechsel mit Dr. Celia Jaku-bowicz, abgedruckt in Language and PoliticsS. 374

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UNION HALL,, CAMBRIDGE,ENGLAND

ChomskyWas ist mit der Dritten Well? Nun, trotzallein Schlimmen und Häßlichen ist die-ser Kampf noch nicht zu Ende. DerKampf um Freiheit und Unabhängigkeithört nie ganz auf.Der Mut dieser Menschen ist wirklichbeeindruckend. Ich selbst habe mehr-mals das Privileg genossen (und es istgewiß ein Privileg), in Dörfern inSüdostasien und Mittelamerika undkürzlich auch im besetzten Westjordan-land davon Zeuge zu sein, und es ist inder Tat erstaunlich.

MALASPINA COLLEGE, NANAIMO

ChomskyEs ist immer beeindruckend - alsowenigstens mich beeindruckt es - ichverstehe es gar nicht, es bewegt undinspiriert einen auch, es erweckt gera-dezu Ehrfurcht. Für sie hängt alles vondem Spielraum zum Überleben ab, derihnen durch Unruhe und Dissens inner-halb der herrschenden Systeme geschaf-fen wird. Und von uns wiederum hängtes ab, wie groß dieser Spielraum ist.

ENDE TEIL 1

Die wahren Opfer der hier beschriebenenPolitik sind die Millionen, die in der DrittenWelt Entbehrungen, Mißhandlungen undFolter erleiden. Unsere ideologischen Insti-tutionen sind so effektiv, daß wir dies höch-stens noch sporadisch wahrnehmen. Wirmüßten eigentlich Tag für Tag so ehrlich, somoralisch und so mutig sein, die Schreieder Opfer unseres Handelns oder unseresUnterlassens zu vernehmen. Wir würdenmorgens das Radio anstellen und denBericht über eine Aktion der guatemalteki-schen Armee in der Provinz Quiche an-hören - eine Aktion, unterstützt von denUSA und ihrem Vasallen Israel. Im Verlaufdieser Aktion besetzten die Soldaten eineKleinstadt und trieben die gesamte Bevöl-kerung in ein zentral gelegenes Gebäude.Dann schlugen sie den Männern die Köpfeab, vergewaltigten und ermordeten dieFrauen und massakrierten die Kinder,indem sie ihre Köpfe an einem nahegelege-nen Fluß gegen die Felsen schmetterten.Einigen gelang die Flucht; sie berichteten,was vorgefallen war - aber nicht uns. Undnachmittags würden wir im Radio verneh-men, was ein portugiesischer Priester ausTimor uns mitteilt: Dort konnte die indone-sische Armee, die nur dank ständigermilitärischer und diplomatischer Rücken-deckung durch die USA existieren kann,Bewohner eines Dorfes dazu zwingen, sogarihre eigenen Familienmitglieder mit Mes-sern oder Knüppeln zu Tode zu bringen,weil diese auf der Seite der Widerstandsbe-wegung standen. Abends schließlich könn-ten wir dann einigen der Opfer zuhören,die in El Salvador einen Bombenangriff aufihr Dorf oder auf eine Flüchtlingskolonneüberlebt hatten; auch für diesen Angrifferfolgte die Feuerleitung von einem ameri-kanischen Militärflugzeug aus, das voneinem Stützpunkt in Honduras oder Pa-nama aufgestiegen war. Kurz, wir müßtenuns eigentlich der ganzen, an die Nierengehenden Geschichte des Terrors und der

Tortur in unseren Protektoraten stellen -einer Geschichte, wie sie Amnesty Interna-tional, America's Watch, Survival Interna-tional und andere angesehene Menschen-rechtsorganisationen zusammengetragenhaben.Doch wir verstehen es sehr gut, uns von die-ser brutalen Wahrheit abzuschotten. Indemwir das aber tun, sinken wir auf ein Niveauder Feigheit und moralischen Verkommen-heit herab, das in der heutigen Welt seines-gleichen sucht. Mehr noch: Wir fachendamit ein Feuer an, das sich zu einem Flä-chenbrand steigern und aller Wahrschein-lichkeit nach am Ende auch uns verschlin-gen wird.Aus »The Drift towards Global War« in Stu-dies in Political Economy Bd. 17, Sommer1985

Die Menschen in der Dritten Welt benötigenunsere Sympathie und unser Verständnis,aber vor allem benötigen sie unsere Hilfe.Um ihnen einen Überlebensspielraum zuverschaffen, müssen wir hier in den USAUnruhe stiften. Ob sie sich gegen die Ge-walt, die wir an ihnen verüben, behauptenkönnen, hängt zu einem großen Teil davonab, was hier bei uns passiert. Welch phanta-stischen Mut bezeugen sie doch (...) Ichdenke dabei immer an eine verächtlicheBemerkung Rousseaus über die Europäer,welche Freiheit und Gerechtigkeit für dieRuhe und den Frieden hingegeben hätten,»die ihre Ketten ihnen gewähren.« Rous-seau weiter: »Wenn ich sehe, wie die Scha-ren splitternackter Wilder mit Verachtungauf die verwöhnten Europäer blicken undum ihrer Unabhängigkeit willen Hunger,Feuer, Schwert und Tod ertragen, dannmeine ich, es steht Sklaven nicht zu, sichüber die Freiheit auszulassen.« Wer dies fürleere Worte hält, hat sehr wenig von derWelt verstanden.What Uncle Sam Really Wants S. 100-101

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Warum bringt der Film nichts über Israel?Diese Frage stellen uns gelegentlich Zu-schauer, die über Chomskys nahöstlichesEngagement im Bilde sind. Nun, einmal zei-gen wir schon etwas, nämlich - im Zusam-menhang mit den Konflikten in der DrittenWelt - eine Passage über seine Solidaritätmit Kritikern der israelischen Besatzungs-politik. Diese Passage steht sogar unmittel-bar am Schluß des ersten Teils - eine ganzbewegende Szene, nach der die Leute in diePause gehen und über den Film diskutierenkönnen.Bei einem Filmprojekt, das sich über fünfJahre erstreckt, kann man keine letzte Ak-tualität anstreben. Was man auch aufneh-men mag: Bis der Film herauskommt, ver-geht mindestens ein Jahr, und inzwischenist alles überholt. In Israel nun ändern sichdie Verhältnisse beinahe jede Woche. Da-her erschien es uns unmöglich, innerhalbdes zeitlichen Rahmens des Films ChomskysNahost-Analysen gerecht zu werden. Alleinzu diesem Thema könnte man leicht einenganzen Film mit ihm drehen. Wir selbstwären sofort dazu bereit, wenn uns jemanddas Geld dafür bereitstellen würde. Über-haupt weist der Film noch mehr Lücken inBezug auf Chomskys Aktivitätsfelder auf -denken wir nur an Mittelamerika. Nötigwäre eigentlich eine ganze Serie über seineverschiedenen Interessen- und Arbeitsge-biete.Wir haben die Fallstudien für den Film sehrsorgfältig ausgewählt und uns dabei anChomskys eigenen Aktivitäten orientiert.Als wir ihm seinerzeit mitteilten, daß wireine Fallstudie über Timor versus Kambod-scha vorhätten sowie einen Abschnitt überden Golfkrieg, war er einverstanden. Gewißverzerrt der Film die relative Bedeutung derGebiete. Aber man kann doch heute keineZeitung aufschlagen, ohne irgendwas überIsrael zu lesen. Das ist mit Timor ganzanders. Sehr viele Menschen wurden durchden Film zum erstenmal mit dieser Sache

konfrontiert. Die Vorführung löste auch dieGründung zahlreicher Initiativen aus. Unddann konnten wir wohl auch nicht gut ei-nen Film über die Medien in den neunzigerJahren machen und dabei den - sogenann-ten - Golfkrieg außen vor lassen.Um einen gewissen Ausgleich zu schaffen,bringen wir hier im Buch einen Ausschnittaus The Fateful Triangle: Israel, the United Sta-tes, and the Palestinians (1984) sowie eineAnmerkung von Chomsky, die 1993 kurznach der Unterzeichnung des Friedensab-kommens entstand.

Was ich jetzt sagen werde, nimmt Israelrecht kritisch ins Visier: Israel sperrt sichgrundsätzlich gegen jede politische Lösung,die auf eine Anerkennung der nationalenRechte der dort heimischen Bevölkerunghinausläuft; es praktiziert seit vielen JahrenRepression und Staatsterrorismus; es be-treibt eine, vor allem in den USA höchsterfolgreiche, Propaganda (die ihm, wie ichfinde, eher schadet). Doch diese Darstel-lung ist in zweierlei Hinsicht schief. Erstensgeht es hier nicht um die komplette Ge-schichte Israels, sondern allein um das, wasich für falsch und unhaltbar ansehe, undnicht auch um das, was ich akzeptiere. (Posi-tiv bewerte ich unter anderem die hebräischschreibenden Zeitungen, jedenfalls einigeder wichtigsten. Vieles von dem, was ichweiß, verdanke ich der Arbeit kluger undmutiger israelischer Journalisten, einerArbeit, die beim Aufdecken unangenehmerWahrheiten in der eigenen Gesellschaftund Regierung ungewöhnlich hohen -selbstgesetzten - Ansprüchen genügt. Ver-gleichbares habe ich nirgends erlebt). Zwei-tens läßt die Konzentration auf die Aktio-nen und Vorstöße Israels leicht vergessen,daß mein eigentliches Anliegen die Politikder USA ist, für deren Inhalt wir selbst ver-antwortlich sind oder die wir doch tolerie-ren. Die Meinungen, die sich in den USA

äußern, sind in hohem Grade von Personengeprägt, die sich »Förderer Israels« nennen- ein Terminus, den ich nur widerwilligübernehme, denn in meinen Augen solltensie sich richtiger als »Förderer des morali-schen Verfalls und schließlichen Unter-gangs Israels« bezeichnen. Bedenkt mandieses ideologische Klima und die darauserwachsenden Aktionen der USA, dann läßtIsraels Politik und sein Verhältnis zu denUSA nicht viel Gutes erwarten; die Gründehierfür werde ich später ausführen, hoffent-lich überzeugend. Wenn ich recht habe, tra-gen wir gerade durch die jüngsten Entwick-lungen bei uns ein erhebliches Maß an Ver-antwortung dafür.The Fateful Triangle S. 3-4

Ich werde häufig gefragt, warum der Film nichtsüber den Nahen Osten enthält. Ich sage dann, ichweiß es nicht, aber ich bin mit dem einverstanden,was die Filmemacher beschlossen haben. Wärenämlich der Nahe Osten mehr als nur ganz peri-pher zur Sprache gekommen, dann wäre das gan-ze- Projekt eines raschen Todes gestorben - dafürhätten die mächtigen und fanatischen Kommis-sare schon gesorgt. Insofern bin ich für EureBegründungen dankbar; sie leuchten mir ein,und sollte ich mal wieder danach gefragt werden,werde ich sie weitergeben. - NC

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Es gibt ein kleines schmutziges Geheimnis,das man im Hinterkopf haben muß und dasda lautet: Der Friedensprozeß im NahenOsten wurde etwa 20 Jahre lang durch dieVerhinderungspolitik der USA blockiert -und zwar in jeder Hinsicht. Jedesmal, wennjemand einen diplomatischen Lösungsver-such unternahm, gingen die USA erfolg-reich dazwischen.Warum kleines schmutziges Geheimnis?Nun, weil niemand die Sprache darauf brin-gen darf. Die Fakten werden unterdrücktund die Gedächtnislücke, in der sie versun-ken sind, ist so tief, daß inzwischen niemandmehr sie daraus hervorzuholen vermag.Vermutlich sind sie demnächst sogar für dieGeschichtswissenschaft verloren.In dieser ganzen Zeit herrschte eine gewisseÜbereinstimmung in Bezug auf die Frage,wie eine Friedensregelung aussehen müßte.Sie sollte sich auf die UNO-Resolution 242stützen, eine Entschließung des Sicherheits-rats vom November 1967, also eine zwi-schenstaatliche Vereinbarung. Diese legtefest, daß alle Staaten in der Region einRecht auf Frieden und Sicherheit haben.Sie erklärte eine gewaltsame Landnahmeausdrücklich für unzulässig und forderteIsrael auf, seine Besatzungstruppen zurück-zuziehen. Das hieß: Vollständiger Friedegegen vollständigen Rückzug. Alle, selbstdie USA, haben das seinerzeit auch so ver-standen.Dann aber modifizierten die USA ihre Posi-tion, indem sie nur noch einen Teilrückzugverlangten - was immer Israel darunter ver-stehen mochte. In dieser Frage nahmen dieUSA schon 1971 eine isolierte Haltung ein,vollends aber, seit Mitte der siebziger Jahreder internationale Rahmen für eine Rege-lung sich insofern änderte, als die allseitsunbestrittene Resolution 242 mit anderenUNO-Resolutionen verknüpft wurde - näm-lich mit solchen, in denen nationale Rechtefür die Palästinenser gefordert werden.Um diese Zeit war also ein diplomatischer

Lösungsvorschlag perfekt: zweistufiges Vor-gehen, Respektierung der internationalanerkannten Grenzen gemäß Resolution242, Garantien für die Sicherheit aller Staa-ten in der Region, und so weiter und so fort.Alle hatten zugestimmt - die arabischenStaaten, die PLO, die Russen, unsere Nato-Verbündeten, die Drittweltländer usw.Nur die Vereinigten Staaten stellten sichquer. Zu diesem Zweck mußten sie 1976 imSicherheitsrat ihr Veto einlegen, wodurchsich der Rat aus diesem diplomatischen Pro-zeß verabschiedete. Sie mußten dann all-jährlich in der Generalversammlung dage-gen stimmen. Jede Abstimmung ging gleichaus: etwa 150 zu 2. Israel und die USA legtendie Generalversammlung praktisch lahm.Vorstöße anderer Länder - aus Arabien,Europa, von der PLO, von vielen anderen -mußten wir natürlich auch blockieren, nurweil wir nicht akzeptieren wollten, daß ne-ben Israel auch die Palästinenser eine recht-mäßige Nation sein sollten. Es ging garnicht darum, Israels Lebensrecht und seineSicherheit anzuerkennen; das war kein Pro-blem mehr, dem hatten alle zugestimmt.Viele fahre lang standen also zwei Fragen imRaum. Erstens: Geht es um Rechte nur fürexistierende Staaten oder auch für die Palä-stinenser? Anders gesagt: Gilt nur UN 242oder gelten auch die anderen Resolutio-nen?Zweitens: Was ist mit einem Truppenabzuggemeint? Bedeutet das den Rückzug auf dieinternationalen Grenzen, wie alle es sehen(bis 1971 auch die USA) ? Oder bedeutet daseinen Rückzug nach dem Gusto Israels undder USA, also einen Teilrückzug, der denInteressen dieser beiden Staaten dient?Seit Dezember 1987 existiert noch eine drit-te Frage. In diesem Monat brach die Inti-fada los; Israels Besatzungsregime traf aufoffenen Widerstand. Und die USA isolier-ten sich auch hier von der übrigen Welt,nämlich bei der Frage (...): Welcher Statuskommt dem Widerstand gegen eine mili-

tärische Besatzung zu? Nun hat die Weltdurchaus eine Meinung zu dieser Frage,nur: Auch sie darf bei uns nicht ausgespro-chen werden, auch sie wird totgeschwiegen.Es ist nämlich die falsche Botschaft. Hierzugab es ebenfalls eine wichtige UNO-Ent-schließung - ich glaube, im Jahre 1986. Siebehandelte den Terrorismus und verur-teilte ihn in jeglicher Form. Es war wirklichein massiver Schritt gegen den Terrorismus.Die Abstimmung ergab 153 zu 2 (Israel unddie USA) bei einer Enthaltung (Honduras).Also praktisch einstimmig gegen Israel unddie USA.Wieso mußten die USA sich ausgerechneteiner Entschließung gegen den Terroris-mus widersetzen? Nun, es gab da einen un-annehmbaren Abschnitt, welcher besagte,daß die Entschließung sich nicht gegen dasMenschenrecht auf Widerstand gegen rassi-stische Regimes und militärische Besatzungrichten sollte. Das haben die USA natürlichabgelehnt; Nazideutschland im Jahre 1943hätte wahrscheinlich das gleiche getan. Undmehr oder weniger aus den gleichen Grün-den, könnte man meinen.Mit der Intifada nahm diese Frage prakti-sche Gestalt an. Hier gab es nun Widerstandgegen eine militärische Besatzung. Die USAmachten ihre offizielle Haltung dazu unver-züglich klar. Man betrachtete alle Wider-standshandlungen gegen das israelischeRegime - beispielsweise Steuerboykotts - als»gegen Israel gerichtete terroristischeAkte«, die sofort aufhören müßten. Dies istalso die dritte Frage, in der die USA eineandere Position einnehmen als der Rest derWelt - mit ganz wenigen Ausnahmen, wieich hinzufügen darf.Auf diesem Stand blieben die Dinge, bis vorkurzem das Abkommen von Oslo unter-zeichnet wurde. Dieses Abkommen über-nimmt nun die amerikanische Blockade-haltung zu hundert Prozent. Schaut mannämlich nicht auf die kurzfristigen Verein-barungen, sondern auf das, was in der fer-

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neren Zukunft darauf folgen soll, danndient als ausschließliche Grundlage nurnoch UN 242. Von den übrigen Resolutio-nen zugunsten der Rechte der Palästinenserauf Selbstbestimmung und Heimat ist nichtmehr die Rede.Am Ende steht also UN 242 und nur diese,also genau das, was die USA 20 Jahre langgefordert haben, während sie den Friedens-prozeß aufhielten.In der Frage des Truppenabzugs wurde vonAnfang an klargestellt, daß es nur einenTeilrückzug geben würde - auch dies alsoein Sieg für die USA.Über die Intifada ist im Abkommen selbstnichts gesagt, aber ein Briefwechsel zwi-schen Rabin und Arafat läßt auch hier kei-nen Zweifel aufkommen. Arafat übernimmtdie Verantwortung dafür, daß die Intifada,daß überhaupt jegliche Form des Wider-stands gegen das israelische Regime einge-stellt wird - ein Widerstand, der in denAugen der USA ein gegen Israel gerichteterTerrorismus ist.Über die Frage des Truppenabzugs wirdübrigens viel geredet, aber bei genauererBetrachtung sieht es doch etwas anders aus.So heißt es allgemein, Israel habe sich zurRäumung des Gazastreifens verpflichtet.Das stimmt aber nicht. Man findet in demVertrag zwei sich gegenseitig widerspre-chende Aussagen. Die eine spricht von Ab-zug — genaugenommen nicht einmal vonAbzug, sondern von »Umgruppierung« imGazastreifen. Die andere legt fest, daß Israeldie Kontrolle über die israelischen Siedlun-gen und die Zugangswege zu diesen behält.OK, jetzt nehmen wir mal eine Landkartedes Gazastreifens und schauen uns an, wodie israelischen Siedlungen liegen, unddann ziehen wir um diese eine Linie. Dagibt es viele verschiedene Möglichkeiten.Israel könnte überzeugend darlegen, daßeine solche Linie um seine Siedlungen her-um, vor allem um Gush Kauf im Süden, etwa40 Prozent der Küste von Gaza umschließt.

Die Küste ist aber das einzig Wichtige amGazastreifen, denn für die Wüste interes-siert sich niemand. Gaza ist nur wenige Kilo-meter tief, und das meiste ist Wüste; wertvollist nur der Küstenstreifen.Die Israelis könnten also ohne Problemeeinen Abzug ankündigen, der 40 Prozentdes Territoriums ausnimmt; ob sie das wirk-lich tun werden, wissen wir nicht. Jedenfallswerden sie aus Gaza-Stadt abziehen. Das istungefähr so, als ob die New Yorker Polizeisich aus Harlem zurückzieht. Mit anderenWorten, man möchte nicht länger als Ziel-scheibe dienen. Alles andere könnten dieIsraelis nach Belieben für sich behalten.Was nun die Gush-Katif-Siedlungen imSüden betrifft, so sind diese für Israel sehrwichtig. Ob Sie es glauben oder nicht, sieliefern einen beträchtlichen Teil der israeli-schen Exporte. Da sie in der Wüste liegen,benötigen sie viel Wasser - und das, so ha-ben sogar einige israelische Kommentato-ren bemerkt, rauben sie praktisch dem übri-gen Gazastreifen. Sie erzeugen damit etwadie Hälfte der israelischen Tomatenexporteund einen Großteil der Blumenexporte, mitderen Absatz in Europa das Land viel Geldverdient. Es gibt dort auch große Touristen-hotels mit künstlichen Teichen und ähnli-chem. Ich wiederhole, wir sind in derWüste. Es ist kaum anzunehmen, daß dieseObjekte geräumt werden. Vielmehr werdengerade neue Wasserleitungen dorthin ge-baut. Sie genießen eine hohe Priorität; dashat auch Ministerpräsident Rabin deutlichgemacht.Man kann nicht vorhersagen, was dieZukunft bringt. Vieles kann sich ändern.Was kommen wird, hängt sogar sehr starkvon dem ab, was wir selbst tun; darauf werdeich noch zu sprechen kommen. Doch zurZeit bestimmt das Abkommen, daß Israelsich im Grunde im Gazastreifen frei bedie-nen kann. Und in der Westbank sieht esgenau so aus. Sie müssen sich nur mal inden Entwicklungsplänen für die Westbank

ansehen, wo die Straßen und die Siedlun-gen liegen. Dann erkennen Sie, daß man -und das schon seit 1968 - das langfristigeZiel verfolgt, große Teile dieses Gebiets indie israelische Wirtschaft zu integrieren,dabei aber die größeren palästinensischenBevölkerungszentren auszugrenzen. Dem-entsprechend verlaufen die Hauptstraßen.Wer also von einer palästinensischen Stadtin eine andere will, muß auf den existieren-den Straßen meist israelisches Gebietdurchqueren.Und das dritte Gebiet-Jerusalem: Wie stehtes damit? Jerusalem war seinerzeit illegal,nämlich gegen den Widerspruch des Sicher-heitsrats, annektiert worden; heute ist esoffiziell dreimal so groß wie vor dem Kriegvon 1967. Nur täuscht dieser Eindruck:Wenn man dort »Jerusalem« sagt, meintman das sogenannte Großjerusalem. Groß-jerusalem aber umschließt zusammen mitseiner Infrastruktur - also den Wasserlei-tungen, den Mülldeponien, den Straßen,den Siedlungen und so weiter - einen be-trächtlichen Teil der Westbank, einschließ-lich einiger hunderttausend Palästinenser,die natürlich in irgendwelche Winkel ver-bannt sind. Und ebenso natürlich beabsich-tigt Israel nicht, sich aus Groß-Jerusalemzurückzuziehen.Wir sind uns aber alle darin einig, daß wirfür diese Bevölkerung keine Verantwortungübernehmen wollen. Sie sollen sich selbstverwalten und am Leben erhalten, so gut siekönnen. Wir aber nehmen uns alles, was unsnützlich erscheint, vor allem das Wasser.Israel leitet fünf Sechstel der Wasserreser-ven der Westbank auf sein Gebiet [unddeckt damit ein Drittel seines Wasserbe-darfs]. Alles nutzbare Land, die hübschenVororte in den Hügeln um Tel Aviv undJerusalem, das Jordantal - all das istBestandteil des Entwicklungsplans. Wie isra-elische Experten festgestellt haben, ist diegesamte Siedlungspolitik der Arbeitsparteiseit Anfang der siebziger Jahre stark hydro-

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logisch beeinflußt. Das heißt, die Siedlun-gen werden so angelegt, daß sie die Wasser-reserven kontrollieren, was in dieser Halb-wüste lebenswichtig ist.Wir sind also beinahe wieder beim Statusquo angelangt, vergleichbar etwa der Lageum 1985. Zwar gibt es einige Unterschiede,und manche davon mögen zu HoffnungenAnlaß geben. Ob aber diese Möglichkeitengenutzt werden können, hängt vor allemdavon ab, was hier bei uns geschieht.Wie konnte es überhaupt dazu kommen?Die eifrigsten Verfechter der israelischenSache machen daraus gar kein Hehl. Tho-mas Friedman hat es in der New York Timesvöllig zutreffend benannt: »Die Kapitula-tion der Palästinenser«. Arafat, schreibt er,hat die weiße Fahne gehißt. Aber wie kam esdazu? Nun, das wiederum hat viel mit derEntwicklung der Weltlage zu tun, über diewir gerade gesprochen haben. Erinnern Siesich: Die USA konnten zwar alle diplomati-schen Aktivitäten blockieren, sie konntenaber ihre eigene Verhinderungspolitik solange nicht endgültig durchsetzen, wie esnoch einen Rest der Welt gab.Ja, und diesen Rest der Welt gibt es nunnicht mehr. Die Sowjetunion ist nicht mehrim Spiel. Auch die Dritte Welt ist teilweiseaus dem Spiel, und zwar aus zwei Gründen.Erstens ist es nun, da die Welt unipolargeworden ist, mit der Bündnisfreiheit zuEnde. Der andere, wichtigere Grund liegtaber in der kapitalistischen Katastrophe, diesich wie eine gewaltige Woge in den achtzi-ger fahren über die Erde gewälzt hat. Sie hatdie Dritte Welt ruiniert und in ein einzigesNotstandsgebiet verwandelt. Kein Gedankealso an irgendeine Initiative aus dieser Rich-tung.Bleibt noch Europa - und auch dort geht eseinmal mehr um Marktbeherrschung. Nachdem Golfkrieg erfolgte ein gewaltiger Um-schwung. Vorher hatte es Initiativen von sei-len europäischer Staaten gegeben. Man for-derte, ganz im Sinne der übrigen Länder,

eine politische Lösung. Nach dem Golfkriegwar es damit vorbei. Die letzte Abstimmungin der Generalversammlung erfolgte imDezember 1990, nachdem diese Frage zuvorregelmäßig auf die Tagesordnung gekom-men war. Seitdem tut sich nichts mehr;Europa hat den Nahen Osten praktisch denAmerikanern überlassen.Seit der Errichtung der Neuen Weltord-nung im Jahre 1945 hatten die USA stetsdarauf gedrungen, die Monroe-Doktrinauch auf den Nahen Osten auszudehnen,doch es war ihnen nie ganz gelungen. Jetzthat Europa es schließlich doch akzeptiert.Die Europäer dürfen zwar noch amerikani-sche Verhinderungspläne realisieren -denn nichts anderes hat Norwegen imAugust getan - nicht aber, wie zuvor, unab-hängige Initiativen für politische Lösungenstarten.Ein weiterer Faktor ist der gravierendeinnere Zerfall der PLO. Leider reicht dafürmeine Zeit nicht; wichtig genug wäre es.Die USA beherrschen die Erde inzwischenso uneingeschränkt wie nie zuvor, in vielerHinsicht noch stärker als 1945. Nie gab esVergleichbares in der Geschichte. Darin lie-gen viele Gefahren verborgen - aber auchviele Chancen. Für uns, die Menschen inden Vereinigten Staaten, bedeutet es, daß esauf unser Handeln noch mehr ankommt,als dies bisher schon der Fall war. Die USAkonnten bis heute den Friedensprozeß ent-scheidend blockieren; jetzt haben sie ihrZiel erreicht. Sie konnten es aber nur, weildas amerikanische Volk dabei stillgehaltenhat. Dies nun könnte sich ändern; es gäbeMöglichkeiten in Fülle. Jeder, der für dieseDinge offen ist, trägt also eine große Ver-antwortung.Aus »Keeping the Rabble in Line«, aufge-nommen am 26.09.93 in New York, zu bezie-hen bei Alternative Radio.Mehr zum Friedensabkommen in Z Maga-zine Oct. 1993

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TEIL 2

Ermutigungzum

Andersdenken

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AUS »ON THE SPOT« (NFB-1954)

AnsagerUnd jetzt bringen wir Ihnen »On thespot«.

Fred DavisHeute wollen wir uns mal anschauen,wie es hinter den Kulissen einer Film-produktion zugeht. Der Regisseur undseine Leute arbeiten gerade an einemDokumentarfilm - gehen wir mal hin.Bob, Sie sprechen hier also von einem»Dokumentarfilm«. Was ist denn für Sieder Unterschied zwischen einem Doku-mentarfilm und einem Spielfilm?

BobOh, da gibt es eine Menge. Zum Bei-spiel die Länge. Dokumentarfilme sindmeist erheblich kürzer als Spielfilme.Auch enthalten die Dokumentarfilmeimmer eine Botschaft; sie sollen gezieltinformieren. Man könnte statt Doku-mentarfilm auch »Film über die Wirk-lichkeit« sagen.

Fred DavisUnd dieses Ding hier, Bob, wird das zujeder Szene vor die Kamera gehalten?

BobGenau, das ist eine Klappe. Damit wer-den die Szene und die Aufnahme anihren Nummern sichtbar identifiziert,so daß dann die einzelnen Filmab-schnitte - Sie haben's ja am Tongemerkt - im Studio zusammengefügtwerden können. Die Lippenbewegun-gen stimmen, die Klappe stimmt - allesläuft prima synchron.

Eine einzige und allumfassende Definitiondes Begriffs »Dokumentarfilm« existiertnicht (...) Am häufigsten findet sich JohnGriersons Formulierung von der »kreativenVerwendung der Aktualität« zitiert, und sieist aus zwei Gründen wohl auch die brauch-barste. Erstens stellt sie die Konzentrationdes Dokumentarfilms auf die Wirklichkeitheraus, also seine Orientierung an realenEreignissen und Menschen. Zweitens aberläßt sie auch erkennen, daß der Dokumen-

tarfilm - wie jeder Film - nicht etwa ein voll-kommen durchsichtiges Fenster zur Wirk-lichkeit bietet, sondern eine vermittelteKonstruktion ist, der unzählige Einzelent-scheidungen zugrunde liegen, durch dieman versucht, zusammenhängende, durch-dachte und hoffentlich auch leidenschaftli-che Interpretationen der Realität zu liefern.Arlene Moscovitch, Constructing Reality: Ex-ploring Media Issues in Documentary (Buch+9 Stunden Film, National Film Board ofCanada 1993)

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RADIO KUWR, LARAMIEaufgenommen auf der Videowand des ErinMills Einkaufszentrums

Marci Randall MillerVor der Pause sagten Sie, die Medienwürden sich in dem, was sie wieder-geben, immer nach der Machteliterichten. Ich habe das nicht so ganzverstanden: Wie bewirkt die Machtelitedas? Wie kommt es, daß wir auf ihrerSeite stehen? Warum klappt das so gut?

ChomskyEs geht hier wirklich um zwei verschie-dene Fragen. Die eine lautet: Trifft dasBild zu, das hier von den Mediengezeichnet wird? Dazu muß man sichdie Indizien ansehen. Das eine Beispiel,das ich genannt habe, ist ja noch keinüberzeugender Beweis. Dazu bedürftees noch vieler anderer Hinweise. Undda kann meiner Meinung nach jederwirklich schlagende Beweise finden.Kaum ein soziologischer Lehrsatz ist sogut belegbar wie dieser. Die andereFrage lautet dann: Wie läuft das ab?

FLUGHAFEN AMSTERDAMChomsky kommt durch die automatische Tür

Patrick Barnard (freierJournalist)

Ich bin der Zeitungsmann. Was hättenSie denn gern? Ich habe hier eine Inter-national Herald Tribune.

ChomskyEgal, Hauptsache, in einer westlichenSprache. Was haben Sie denn so?

Patrick BarnardDie Financial Times?

ChomskyDie Financial Times? Also wirklich!(Barnard lacht). Das sind die einzigen,die die Wahrheit schreiben.

So findet man in der Wirtschaftspresse, undnicht nur dort, häufig sehr gut geschrie-bene, zutreffende Berichte. Diejenigen, dieüber die Macht verfügen, müssen eben alleFakten kennen, wenn sie im eigenen Inter-esse entscheiden wollen.Aus: «Noam Chomsky: Media, Knowledgeand Objectivity» (Interview mit David Bar-samian vom 10.6.93, erhältlich bei Alterna-tive Radio)

Dieses Lob hat die Financial Times unseresWissens in ihrer Eigenwerbung noch niezitiert. - MA

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Peter WintonickHaben Sie die mit der großen Debatte?

ChomskyDas NRC Handelsblad

Peter WintonickHan-dels-blad

GRONINGEN, NIEDERLANDEIm Film sind in die folgende SequenzSchwarz-Weiß-Aufnahmen von Boxkämpfeneinmontiert

ChomskySo, heute abend steht also eine Debatteauf dem Programm. Ich habe mich dar-über ziemlich gewundert, denn es gibtda einige Probleme. So wurde beispiels-weise keine These aufgestellt. Bei einerDebatte, wie ich sie verstehe, vertreteneinige Leute etwas und andere sprechensich dagegen aus. Man hat stattdessen -und das finde ich vernünftiger - einThema zur Diskussion gestellt, nämlichdie Fabrikation von Konsens.

Frits BolkesteinEs ist wohl ziemlich ungewöhnlich,wenn ein Kabinettsmitglied in derÖffentlichkeit mit einem Professordebattiert. In Holland hat es sowasnoch nicht gegeben, und woanderswohl auch nicht allzu häufig.

ModeratorMr. Bolkestein, Sie haben das Wort.

BolkesteinNun, es ist allgemein bekannt, daß manauf Beispielen allein keine Theorie auf-bauen kann. Man muß vielmehr zeigen,daß die Theorie eine innere Logik

Diese »Debatte« wurde von NRC Handels-blad gesponsert. Frits Bolkestein hatte indiesem »Mitte-links-Blatt mit Niveau« einenin eine ganzseitige Buchbesprechung ge-kleideten Angriff auf Chomsky geführt.Chomsky schickte eine Antwort, die ebensoabgedruckt wurde wie Bolkesteins Erwide-rung darauf und Chomskys erneute Reak-tion. Anläßlich einer, vom International Phi-losophers Project veranstalteten philosophi-schen Tagung zum Thema »Wissen undSprache«, an der Chomsky teilnahm, orga-nisierte die Zeitung eine »Debatte«. Debatteoder nicht, jedenfalls dauerte sie 2 Stundenund lief nach einem merkwürdigen, starrenSchema ab. So gab es Abschnitte »mit Un-terbrechung« und solche »ohne Unterbre-chung«, wobei die Teilnehmer gelegentlichihre momentane Rolle vergaßen und sichsagen lassen mußten, ob sie nun gerade un-terbrachen oder aber sprachen.

Frederick (Frits) Bolkestein, ehemaligerVerteidigungsminister der Niederlande,war 1978-82 und 1986-88 Mitglied der libe-ralen »Volkspartei für Freiheit und Demo-kratie« sowie in den Jahren 1982-86 Staats-sekretär im Wirtschaftsministerium.Bevor er in die Politik ging, war er (1973-76)als Chemie-Direktor in Paris für den Shell-Konzern tätig gewesen. Daneben fungierteer als Vizepräsident der Atlantik-Kommis-sion und gehörte dem Königlichen Institutfür Auswärtige Angelegenheiten an.

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besitzt. Das aber hat Professor Chomskynicht getan.

ModeratorProfessor Chomsky bitte.

ChomskyEr hat natürlich völlig recht, wenn ersagt, daß man nicht einfach nur Bei-spiele nennen kann, sondern rationalvorgehen muß. Deshalb haben wir jaunsere Beispiele miteinander verglichen.

BolkesteinDie Dinge liegen aber nicht so einfach,wie Professor Chomsky behauptet. Aneiner Stelle befaf3t er sich mit derBerichterstattung der westlichen Presseüber Kambodscha. Und da gerät er aufeinen bösen Holzweg (vereinzeltes Lachenim Publikum).

ChomskyWir haben Kambodscha nicht diskutiert- wir haben es mit Osttimor verglichen.Wir haben diese beiden Fälle direktnebeneinandergestellt. In The PoliticalEconomy of Human Rights stehen auf ca.300 Seiten sämtliche Einzelheiten inklu-sive der Quellenangaben zu allem, waswir über Kambodscha finden konnten.

BolkesteinEs gibt hier im Westen viele Intellektu-elle, die einfach der Wahrheit nicht insGesicht sehen wollen. Die Schlüsse, zudenen jeder unverbildete Menschgelangt, die verweigern sie einfach.

ChomskyNatürlich haben sich viele Leute geär-gert, als wir diesen Riesenbetrug überKambodscha aufdeckten und dem dannauch noch das Stillschweigen gegen-überstellten, das über die Greuel ver-

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hängt wurde, die just zur selben Zeit mitamerikanischer Hilfe in Timor verübtwurden. Sowas mögen die Leute nicht.Denn erstens stellten wir das Recht inFrage, aus Staatsraison lügen zu dürfen,und zweitens enthüllten wir, wie realeUntaten entschuldigt und sogar nochunterstützt wurden. Beliebt macht mansich damit nicht.

BolkesteinWoher weiß er denn überhaupt etwasvon Verbrechen in Osttimor oder inMittelamerika? Doch wohl aus dersel-ben freien Presse, für die er nur Hohnund Spott übrig hat.

ChomskyWenn Sie wissen wollen, woher meineKenntnisse darüber stammen, dannlesen Sie mal meine Fußnoten. Was ichweiß, stammt aus Berichten von Men-schenrechtsgruppen und Kirchen, ausBefragungen von Flüchtlingen, vorallem aber aus der australischen Presse.Die US-Presse ist nicht vertreten, denndort herrschte Schweigen.

BolkesteinHerr Vorsitzender, das ist ein Versuch,das Denken einzuschüchtern. Das sindja Feldwebelmethoden. Was ProfessorChomsky hier betreibt, ist der ältesteDebattentrick, den die Welt kennt.Zuerst baut er einen Pappkameradenauf, und dann schlägt er auf ihn ein.Wo Professor Chomsky von manipulier-ter Zustimmung spricht, da nenne ichdas »einen Konsens schaffen«. Hier inHolland heißt das Grondslag, also Funda-ment. Professor Chomsky hält es fürBetrug, aber das stimmt nicht. In einerrepräsentativen Demokratie hat es dieBedeutung: die Menschen für dieeigene Auffassung gewinnen. Doch Pro-

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fessor Chomsky glaubt ja wohl Über-haupt nicht an die repräsentative Demo-kratie, sondern an die direkte Demokra-tie. Genau wie Rosa Luxemburg sehnter sich nach der Anarchistenvision vonder kreativen, spontanen, selbststeuern-den Kraft der Massenaktion. DieseVision ist aber ein Kindertraum.

ChomskyAlle, die an Freiheit und Demokratieglauben, sehen sich vor eine schwierigeAufgabe gestellt. Ich meine, sie müssenvor allem den verachteten »kleinen Leu-ten« dabei helfen, für ihre Rechte zukämpfen und die demokratischen Zielezu erreichen, die uns die Geschichtewieder und wieder vor Augen gestellthat. Anstatt den Mächtigen und Privile-gierten zu dienen, müssen sie für derenOpfer eintreten. Denn Freiheit undDemokratie sind nicht mehr nur hehreWerte, die es zu bewahren gilt, sondernsie sind vermutlich überlebenswichtiggeworden.

BolkesteinDas ist ja die reinste Verschwörungs-theorie; alle Fakten sprechen doch da-gegen. Übrigens, Herr Vorsitzender...

ModeratorJa bitte?

Bolkestein

Ich muß jetzt leider nach Amsterdam

- wenn Sie mich bitte entschuldigen

wollen.

(Beifall, Gelächter)

Vorsitzender

Also wenn eines sicher ist, dann dies:Heute abend wurde kein Konsensfabriziert.

Chomsky

Ich erhalte viele Briefe, hunderte, vielleichtsogar tausende (...) Viele davon sind sehrernst und nachdenklich. Bei einem Anlaßmußte ich mich sogar mit einem Formbriefdes Inhalts »Sony, ich kann wirklich nichtantworten« behelfen.

Barsamian

Um was ging es denn da?

ChomskyRaten Sie doch mal.

Barsamian

JFK. Verschwörungstheorien.

Chomsky

Genau. Ich konnte einfach nicht mehr dar-auf antworten, weil der Tag nur 24 Stundenhat. Es hat mir wirklich leid getan, aber ichmußte sagen: Sorry, es geht nicht.

Barsamian

Läßt sich aus diesem Interesse an Verschwö-rungstheorien etwas über die politische Kul-tur ableiten?

Chomsky

Man erfährt daraus etwas über Dinge, die ander Linken nagen. Denn wenn jemandeiner Verschwörungstheorie anhängt, dannerwartet er eben, daß da irgendwo einer aufihn lauert. Sie kennen sicher auch so jeman-

den, und für den hätte ich ein schönes Bei-spiel - also nicht daß jemand meint, ichglaubte selbst daran, aber hören wir mal. Daüberlegt sich also der CIA: Wie könnten wirdiese ganzen Volksbewegungen untermi-nieren und kaputtmachen? Na, setzen wirsie doch auf irgendeine verrückte Sache an,wo sie dann mit einem Riesenaufwand Ana-lysen und immer genauere Analysen vonvöllig unwichtigen Dingen betreiben. Dannsind sie still; das wird funktionieren.

Barsamian

Eigentlich ist es doch merkwürdig, daß einTeil unserer sogenannten »Linken« sichausgerechnet auf so etwas kapriziert.

Chomsky

Ich denke, wir haben es hier mit dem schonerwähnten Gefühl von Machtlosigkeit undIsolation zu tun. Wenn die Leute glauben,die realen Probleme wüchsen ihnen überden Kopf, dann finden sie auch Wege, die-sen Problemen aus dem Weg zu gehen.Dann jagen sie eben irgendwelche unwich-tigen Säue durchs Dorf, oder sie betreibenakademische Kulte, weitab von jeder Rea-lität, aber gut geeignet als Schutz vor derbösen Welt. Sowas läuft ziemlich oft ab,auch bei den Linken.

David Barsamian, Keeping the Rabble in Line(Common Courage Press 1994)

Wenn ich darauf hinweise, daß GeneralMotors seinen Gewinn und seinenMarktanteil zu maximieren sucht, dannist das keine Verschwörungstheorie,sondern eine Institutionsanalyse.

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GERICHTSGEBÄUDE IN MEDIA

Peter WintonickWas glauben Sie: Besteht ein Zusam-menhang zwischen dem, was wir nachMeinung der Regierung wissen sollen,und dem, was wir aus den Medienerfahren?

Mann (Bildmitte)Es ist nicht wie bei den Kommunisten,aber in gewisser Weise hat sie schon einAuge darauf.

STRASSE IN MEDIA

Mann (links)Sie sagen aber nicht immer - nichtwahr, John, sie sagen nicht immer dieWahrheit. So ist es doch, oder?

John (ganz rechts)Da hast du recht.

BAHNHOF IN MEDIA

Peter WintonickGlauben Sie, daß das, was Sie in dieserZeitung lesen, vielleicht etwas gefärbtist?

FrauAber sicher.

BAHNHOF IN MEDIA

MannIm großen und ganzen ist sie wohl ganzgut. Sie bringt beide Seiten der Medaille- sozusagen die liberale und die konser-vative.

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GERICHTSGEBÄUDE IN MEDIA

Frau (rechts)

Man erhält doch kein ausgewogenesBild. Die haben doch nur 20, 30 Sekun-den für ein Thema, und dann wählensie eben nur das Highlight aus, und alleSender bringen dasselbe Highlight, undmehr bekommt man nicht zu sehen.

BAHNHOF IN MEDIA

SchaffnerMan kriegt nur das zu hören, was manhören soll.

Peter WintonickGlauben Sie, daß die irgendwie ein-seitig...

SchaffnerHm ... Muß los. Bis später.

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MAIASPINA COLLEGE, NANAIMO

ChomskyLäßt sich die Beleuchtung etwas hellereinstellen, damit ich da unten über-haupt jemanden sehen kann?

UNIVERSITY OF WYOMING,LARAMIE

StudentSie jammern nun seit 1 Stunde und 41Minuten, daß die Regierung und die Eliten mittels »Gedankenkontrolle« Radi-kale wie Sie von der Öffentlichkeit fern-halten. Und nun - ja, nun sind Sie hier.Ich kann keine CIA-Leute sehen, die Siefortzerren. Sie standen in der Zeitung -nur daher wissen wir, daß Sie kommenwollten. Und bestimmt schreiben Sieauch in dieser Zeitung. Es gibt einenHaufen Länder, da wären Sie für das,was Sie heute getan haben, erschossenworden. Also worüber jammern Sie? Wirlassen Sie frei sprechen; ich kann dakeine Gedankenkontrolle erkennen.

ChomskyAlso zunächst mal habe ich mit keinemWort behauptet, ich selbst würde vonder Öffentlichkeit ferngehalten. Dasläuft hier ganz anders. Vielleicht habenSie es nicht gehört, aber ich sagte, esläuft hier über ein System der Formung

und Steuerung, das zu einer bestimm-ten Sichtweise auf die Welt führt. Ichhabe dafür auch ein Beispiel gegeben.Ich kann Ihnen Quellen nennen, da fin-den Sie Tausende anderer Beispiele.Das hat nichts mit mir zu tun. Es betrifftdie Allgemeinheit. Man marginalisiertsie, und man sorgt dafür, daß sie denEliten, die hier über alles bestimmensollen, nicht hereinreden.

Also worüber jammern Sie? Ich kannkeine Gedankenkontrolle erkennen.

In den sechziger Jahren war Chomsky eineangesehene Persönlichkeit. Die New York Re-view of Books druckte seine Artikel über den[Vietnam-] Krieg ab. Norman Mailer sprachvon den »dichtgepackten Begriffswindun-gen des Chomskyschen Erkenntnisprozes-ses»; für Hitchens trug »sein Name eine ArtGütesiegel.« All dies änderte sich Mitte derSiebziger. Die New York Review of Books ließihn stillschweigend fallen, und andere libe-rale Zeitschriften taten es ihr nach. Viel-leicht lag dies daran, daß nach dem Endedes Krieges sein Radikalismus nicht mehrgefragt war, vielleicht stieß man sich an sei-nen Ansichten über den Nahen Osten. DenRest besorgten dann die Fälle Kambodschaund Faurisson. Heutzutage behandelt manChomsky mit einer seltsamen Mischung ausBeschimpfung und Mißachtung. Seine Bü-

cher werden kaum noch rezensiert - sooowichtig ist er doch nun auch wieder nicht,oder? Nur, für schäbige Fehlinterpretatio-nen seiner Äußerungen zu Kambodscha,Israel, den Holocaust und so fort findet sichin jeder Zeitung immer mal wieder eineSpalte.Ich denke, von daher stammt die Galle inseiner Stimme. Je stärker er an den Rand ge-drängt wurde, um so schriller und starrer ister geworden. Aber wenn dies seine Ver-wandlung auch erklärt, so rechtfertigt es siedoch nicht.Zuviel von der Härte der Welt, gegen die erankämpft, ist auf ihn übergegangen. Wenner nur in seine Arbeit wieder die Sanftheitund Großherzigkeit einer Welt einbringenkönnte, wie sie ihm vorschwebt - ich wäreglücklich darüber.

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»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

Karine KleinhausIn einer Rezension des Chomsky Readerheißt es: »Je stärker er an den Randgedrängt wurde, desto schriller und har-scher ist er geworden.« Halten Sie dieseEinschätzung Ihrer jüngsten Veröffentli-chungen für zutreffend, und fühlen Siesich als Opfer dieses von Ihnenbeschriebenen Prozesses?

ChomskyNa ja, die Sache mit dem Rand ... alsoob ich schrill geworden bin, müssenandere beurteilen; ich selbst glaub'seigentlich nicht. Aber das mit dem An-den-Rand-gedrängt-werden stimmt. Nurist es gerade das Gegenteil von dem, wasda angedeutet wird. In Wirklichkeitkomme ich jetzt viel leichter in diegroßen Medien als vor zwanzig Jahren.

Wenn ich nachlese, was ich soeben nieder-geschrieben habe, finde ich es richtig - undmuß doch zögern. Nur ungern stelle ich mirvor, daß gerade diejenigen, die Chomsky sogern in einem falschen Licht erscheinen las-sen, über meine Kritik Genugtuung emp-finden könnten. Ich sollte wohl unmißver-ständlich aussprechen, daß ich ihn für denbesten Kritiker der US-Macht halte undmich überhaupt nur deswegen mit ihm aus-einandersetze.In seiner ersten Sammlung politischer Es-says, American Power and the New Mandarins,schildert Chomsky seine Reaktion auf einenicht ganz alltägliche Ausstellung im Chica-goer Museum für Naturwissenschaft undTechnik: »Was soll man von einem Landhalten, wo sich in einem großstädtischennaturwissenschaftlichen Museum ein Expo-nat findet, mit dem der Besucher sich ineinen Hubschrauber versetzen und miteinem Maschinengewehr auf vietnamesi-sche Bauernhütten feuern kann, und beijedem Treffer leuchtet eine Lampe auf?Was kann man von einem Land sagen, wo soetwas auch nur in Gedanken erwogen wer-den kann? Über ein solches Land kann mandoch nur weinen.«Durch Chomskys sämtliche Schriften ziehtsich seine Fassungslosigkeit darüber, was dieMächtigen den Machtlosen anzutun im-stande sind. Er ist nicht abgestumpft; erkann sich immer noch entrüsten. Wennseine Stimme nach 20 Jahre heiser klingt -wer wollte es ihm verübeln? Wer sich überihn erheben? Niemand hat seine Kraft sovollständig wie er dem Kampf gegen dieSchrecken unserer Zeit geweiht. Seine Hei-serkeit ist unserer Gepflegtheit allemal vor-zuziehen. Wieder kommen mir die Zeilen inden Sinn, die Yeats über Swift schrieb:»Wagt doch, es ihm nachzutun (...) denn er/diente der Freiheit des Menschenge-schlechts.«»Chomsky Then and Now« von Brian Mor-ton, The Nation 7.05.88

Hierzu bemerkt Edward S. Herman in demEssay »Pol Pot, Faurisson und die Verleum-dungskampagne» :Morton ist leitender Redakteur bei Dissent,und diese Zeitschrift stand lange Zeit unterdem Einfluß von Irving Howe und MichaelWalzer, beides Sozialdemokraten mit engenBindungen an Israel und seit jeher mitChomsky verfeindet. Da Chomsky geradeThe Fateful Triangle veröffentlicht hatte,eine vernichtende, bestens mit Dokumentenuntermauerte Abrechnung mit der Politikder USA und Israels, verwundert es nicht,wenn Morton hier bei Chomsky eine gewisseGrobheit diagnostiziert. Man sollte auchbeachten, daß The Nation erst auf Mortonzukam, nachdem man eine zunächst beiDavid Finkel bestellte Rezension des Chom-sky Reader als zu positiv abgelehnt hatte(zusammen mit Hermans Essay in NoamChomsky: Critical Assessments (a. a. O.) abge-druckt).

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AUS »A WORLD OF IDEAS« (1988)

Bill MoyersSie haben einige unbequeme Wahrhei-ten verkündet und sind infolgedessenziemlich vereinsamt. Bedauern Sie esda nicht manchmal, daß Sie sich fürbestimmte Dinge eingesetzt oderbestimmte Sachen geschrieben haben,oder wünschten Sie, man hätte eherauf Sie gehört?

ChomskyNein, das nicht. Gut, es gibt Sachen, diewürde ich heute anders anfassen.Sobald man anfängt, über etwas nachzu-denken, möchte man es anders machen.Aber allgemein gesprochen, bedauereich eigentlich nichts.

Bill MoyersGenießen Sie es, umstritten zu sein?

ChomskyNein. Es stört mich sogar erheblich.

Bill MoyersIn diesem Medium hat man nämlichnicht viel für abweichende Meinungenübrig - und das gilt nicht nur für NoamChomsky. Solchen Leuten schenkt dasMedium überhaupt nicht viel Gehör.

ChomskyDas ist doch auch völlig klar. Wenn dieMedien die bevorzugten Wahrheiten inFrage stellen ließen, würden sie ja ihrerRolle in der Gesellschaft nicht gerecht.

Am 19. März 1993 hielten die Filmemacher einen

Workshop an der New School for Social Re-search in New York. Die einführenden Worte

sprach Ingrid Abramovitch, Redakteurin der Zeit-

schrift Success, zuvor bei der kanadischen Nach-

richtenagentur Canadian Press tätig.

Ingrid AbramovitchAnfang dieser Woche ging ich einer derschwerwiegendsten Behauptungen der Fil-memacher nach, daß nämlich die US-Medien Chomsky - der schließlich einer derbedeutendsten Intellektuellen des Landesist - fast völlig ignorieren.Ich startete also eine Suche im Nexis-System(Das ist eine Medien-Datenbank über Arti-kel der großen Zeitungen und Zeitschriften,aus der auch Ross Perot während seiner Prä-sidentschaftskandidatur ständig zitiert hat).Die Datenbank enthält nicht alles, mancheserscheint eher zufällig.Ich tippte also »Noam Chomsky« ein undsah mir die ersten 30 Referenzen an. Eswaren• 21 aus kanadischen Zeitungen• 3 aus der britischen Presse, darunter die

Times mit einem Beitrag über »Die Affen,die uns immer noch faszinieren«, alsoüber Chomskys linguistische Theorien

• 1 aus der Jerusalem PostNur 5 entstammten US-Medien:• 2 bezogen sich auf den Film, den Mark und

Peter gemacht haben• 1 kündigte eine Signierstunde in Boston an• 1 stammte aus der Mun-Zeitung Washing-

ton Times• Die letzte schließlich fand sich in Newsday,

und zwar in einer Rezension eines Cyber-punk-Buches (Showcrash von Neal Ste-phenson), in dem es u. a. um Tempelpro-stitution in einem Kult geht, der dem anti-ken Sumer, Ascherach, George Steinerund - man fragt sich, warum - NoamChomsky gewidmet ist.

Zu der Zeit, da Ingrid Abramovitch Lexis-Nexis abfragte, war Manufacturing Consent:Noam Chomsky and the Media erst einigeMonate in den amerikanischen Kinos gelau-fen. Inzwischen ist der Film weltweit inmehr als 300 Städten öffentlich gezeigt wor-den, über 225 davon in den USA; die Presse

hat Hunderte von Rezensionen und länge-ren Artikeln gebracht. Das Funk- und Fern-seh-Echo ist natürlich schwieriger zu quan-tifizieren, denn wir können ja nicht allesverfolgen. Doch nach den Unmengen vonInterviewwünschen zu urteilen, die Chom-sky und wir erhielten, muß die Berichter-stattung auf lokaler Ebene sehr ausführlichgewesen sein; einiges wurde auch landes-weit verbreitet. Damit wurde ein breiter Be-völkerungsquerschnitt angesprochen, derüberwiegend noch nie etwas von NoamChomsky gehört hatte, und dies wiederumverschaffte seinen Gedanken ein größeresPublikum.Es könnte demnach auch dem Film zu ver-danken sein, wenn inzwischen die wichtige-ren nordamerikanischen TV-Kanäle Chom-sky wieder etwas mehr Zugang gewähren.Nachdem der Film 1993 herausgekommenwar, kam Chomsky in der CNBC-Show »Pos-ner & Donahue« zwei Stunden lang zuWort, wobei Filmausschnitte gezeigt wur-den und man darüber diskutierte. Der kana-dische Nachrichtenkanal Newsworld gab ihmeine Stunde - in Konkurrenz zur CBC-Hauptnachrichtensendung Prime Time Newsvon 20 bis 21 Uhr. Der Film bot ein Sprung-brett, von wo aus große Teile der Diskussionsich entfalteten. Natürlich findet Newsworldnicht so viele Zuschauer wie die Nachrich-tensendungen der großen Anstalten, aberso hatten die Bürger mit Kabelanschlußdoch wenigstens einen Abend lang mal eineAuswahl.Sobald das Fernsehen einsteigt, ist mit einerStreuwirkung zu rechnen. Denn weiß man,wer alles zuschaut? Bei Redaktionsschlußdieses Buches [der Originalausgabe 1994]haben Fernsehanstalten in Australien, Bel-gien, England, Finnland, Kanada, Mexiko,den Niederlanden, Norwegen, Österreich,Portugal, Schweden, der deutsch- und itali-enischsprachigen Schweiz, Spanien undUngarn den Film erworben und MillionenMenschen ihn gesehen. - MA

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PICCADILLY CIRCUS, LONDON

Chomsky (im Off)

Nur, bitte, sobald ich das Land verlasse,stimmt das so nicht mehr. Ich kommein jedem Land der Erde leicht in dieMedien, und dafür gibt es verschiedeneGründe. Schon weil ich hauptsächlichvon den Vereinigten Staaten spreche,denn darin erblickt man natürlich eineviel geringere Bedrohimg.

VERLAG »SERPENT'S TAIL«

Martin Woollacott(schreibt für die Londoner ZeitungThe Guardian)Ihrer Ansicht nach rührt also die Mili-tarisierung der amerikanischen Wirt-schaft vor allem daher, daß man darindas einzige Mittel sieht, das Volk unterKontrolle zu halten.

ChomskyWissen Sie, in einer demokratischenGesellschaftsordnung - es klingt para-dox, aber je freier eine Gesellschaft ist,desto öfter muß man zu solchen Tricksgreifen wie z. B. künstlich erzeugteFurcht.

Chomskys Botschaft lautet im Kern: Machtist von Übel. Wie die Elite die Masse be-herrscht, ist von einer Gesellschaft zur ande-ren unterschiedlich (...) Alle realen Staatenbesitzen eine Machtstruktur, auch wenn ineinigen wenigen das Volk über wirksameKontrollmittel verfügt.Sobald man in Amerika die hohen Militär-ausgaben in andere Dinge investieren wür-

de und das Volk darüber diskutieren dürfte,würde — so Chomsky — dieses selbe Volkauch ein Mitentscheidungsrecht verlangen.Und eine derartige Machteinbuße brächtedie Elite nicht über sich.Und weiter: Zwar steuern alle Staaten dasVerhalten ihrer Massen mittels Propaganda,aber besonders wichtig ist dies in den De-mokratien. Geliefert wird diese Propagandavon einer »weltlichen Priesterkaste« ausJournalisten und anderen Intellektuellen,indem diese der zynischen Politik der Eliteein moralisches Mäntelchen umhängen.Dabei schimmert gelegentlich die Wahrheilnoch durch; entweder wird sie aus prakti-schen Gründen noch benötigt, oder dereine oder andere moralisch noch gefestigteIntellektuelle »schmuggelt« sie ein. Manmuß aber danach suchen und sie häufigauch erst entschlüsseln.Chomsky stützt sich in seiner analytischenArbeit auf diese Annahmen. Er schreibt: »Inden westlichen Demokratien erhält eineprivilegierte Minderheit durchaus die Mu-ße, die Ausbildung und die Mittel, um nachder Wahrheit suchen zu können - die Wahr-heit, die bei der Wahrnehmung der Tages-ereignisse hinter einem Schleier aus Verzer-rung, Verfälschung, Ideologie und Klassen-interessen verborgen bleibt.«Zweifellos erscheint die Welt, die Chomskyuns hier entwirft, reichlich trocken undkünstlich. Er selbst scheint für die Motiveder Mächtigen nur Zynismus übrig zu ha-ben; durchgehen läßt er ihnen nichts. Fürihn finden sich bei denen, die die Geschickeder USA - und vermutlich jedes anderenStaates - leiten, weder Moral noch Gefühle,noch Bedauern, und in jedem politischenSchwenk sieht er ausschließlich den Machia-vellismus am Werk.Der Frage, ob es nicht vielleicht auch »Gu-tes im Bösen« gibt - also gutes Verhalten ineiner schlechten politischen Umwelt - kanner nichts abgewinnen. Indem er eine allzukrasse Antithese zwischen einer von Grund

auf amoralischen Elite und der von Grundauf moralischen Masse aufstellt, entgehtihm die Komplexität aller menschlichenDinge. Dies zeigt sich vor allem in seinenjüngeren Veröffentlichungen, denn er ent-wickelt darin seine früheren Ideen nichtmehr weiter, sondern wiederholt sich nurnoch. Und wenn er mal in kurzen Wortenauf alternative Gesellschaftsformen zu spre-chen kommt, wirkt er auch nicht sehr über-zeugend.Sitzt man ihm aber direkt gegenüber, sospürt man seine sanfte Gegenwart und dieAura eines freundlichen und gleichzeitigfähigen Lehrers. Man fühlt sich angespro-chen von seiner fragilen, jugendlich wir-kenden Erscheinung, die sein bereits er-grautes Alter Lügen straft. Er kann sogarwitzig sein - in seinen Schriften undenkbar!- und sein Beharren auf den Fakten beein-druckt jeden. Er steht sozusagen in der Tra-dition der Propheten, denn man könnteebenso wenig gegen ihn argumentieren wiegegen einen Jesaja oder Hesekiel. Wer ihmwiderspricht, wird entweder - so ihm guterWille unterstellt wird - höflich korrigiertoder aber - so dies nicht der Fall ist - nie-dergemacht. Nichts scheint seine innereSicherheit zu beeinträchtigen.Und genau darin liegt seine Stärke und seinWert für uns alle. In einem Zeitalter derTäuschung und der moralischen Verwir-rung kennt Chomsky das Gute, und ihmallein will er dienen. Ob beim Vietnam-krieg, bei den Massakern in Timor oderbeim israelischen Einfall in Südlibanon -Chomsky hat den Vorhang heruntergeris-sen, hinter dem sich die Mordmaschine ver-borgen hielt. Auch wer ihm in seiner Sichtder Machtfrage oder in seinen marxistisch-anarchistischen Vorstellungen nicht zu fol-gen vermag, wird doch aus dieser raren Ver-bindung moralischer Visionen und intellek-tueller Präzision Nutzen ziehen können.Aus »Deliver Us From Evil« von MartinWoollacott, The Guardian, 14.01.89

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LONDON

John Lawton(Produzent der Sendung »Opinions« im TV-Kanal Channel Four,)OK, ich stimme dem zu. Man könnteihn als den bedeutendsten lebendenIntellektuellen ansehen. Ich würde ihmliebend gern in meinem Programm einehalbe oder dreiviertel Million Hörer ver-schaffen.

THE BRITISH ACADEMY, LONDON

John LawtonAlso, Herr Professor, Ihre Zeit läuft.

Chomsky (in die Studiokamera)In Kriegszeiten waren sich die Strategendarüber einig, daß die wahren Kriegs-ziele nicht bekanntwerden sollten (...)(ausgeblendet: Sie drängten darauf, in derÖffentlichkeit müßten »die Interessenanderer hervorgekehrt werden«, weildas »einen besseren Propagandaeffekt«haben würde. Entsprechend vage undidealistisch klangen also die Atlantik-Charta und Roosevelts »Vier Freihei-ten«. Doch es gibt noch so etwas wieeine Fünfte Freiheit, aber die findet sichnur in internen Dokumenten und alsLektion der Geschichte: die Freiheit zurauben, auszubeuten, zu herrschen undjeden, der stört, mit allen Mitteln ausdem Weg zu räumen), (im Off) Wenndie Medien in Ländern wie Kanadaoder Belgien offener sind, dann auchdeshalb, weil es gar nicht so sehr daraufankommt, was man dort denkt. Woraufes ankommt, ist das Denken und Han-deln der politisch Gebildeten in demLand, das alles überragt, also in denUSA. Aber gerade deshalb würdennatürlich viele gern hier arbeiten.

Um es nun brutal auf den Punkt zu bringen:Für die Dritte Welt bedeutet dies, daß dieUSA außenpolitisch im wesentlichen dasZiel verfolgen, die Freiheit des Raubes undder Ausbeutung zu garantieren. Ich habedies bei anderer Gelegenheit als die »FünfteFreiheit« bezeichnet, die Präsident FranklinDelano Roosevelt bei der Proklamation sei-ner berühmten Vier Freiheiten ausgelassenhatte.On Power and Ideology S. 7

An den Vier Freiheiten und an der Atlantik-Charta läßt sich gut illustrieren, worin diewahre Bedeutung und der eigene Nutzenhehrer Ideale liegen. Im Januar 1941 ver-kündete Präsident Roosevelt, daß die Alli-ierten für die Redefreiheit, die Religions-freiheit, die Freiheit von Not und Furchtkämpften. Ähnlich hochfliegend las sichauch die im August desselben Jahres vonRoosevelt und Churchill unterzeichneteAtlantik-Charta. Solche hehren Formulie-rungen trugen nicht nur zum Zusammen-halt während der schwierigen Kriegsjahrebei, sondern sie wurden auch in anderenWeltgegenden von leidenden und unter-drückten Völkern ernstgenommen - Illusio-nen, die diese nur zu bald wieder verlierensollten.Turning the Tide S. 45

Opinions ist eine 30-Minuten-Serie, in derMenschen, die etwas zu sagen haben, dieGelegenheit geboten wird, sich - ohne un-terbrochen zu werden - im nationalen Fern-sehen zu äußern.

Die Produzenten von Opinions mußten aufexaktes Timing achten und schrieben daherChomsky die Benutzung eines Telepromp-ters vor. In dieser Maschine wird mittelseines halbdurchlässigen Spiegels der abzu-lesende Text direkt vor die Kameralinseprojiziert. Nachrichtensprecher wie Präsi-denten nutzen gleichermaßen dieses Gerät,um ablesen zu können und dabei dochscheinbar die Kamera, also den Zuschauer,anzublicken. Offensichtlich hatte niemandes unternommen, Chomsky darüber aufzu-klären; dieser wiederum setzt im allgemei-nen volles Vertrauen in Medienleute (wieuns), die ihm genügend Redezeit gewähren.Sein Interesse für TV-Technik ist eherunterentwickelt, und als er nun 90 Minutenvom Teleprompter vorgelesen hatte und dieAufnahme fertig war, fragte er den Produ-zenten John Lawton: »Wo war denn eigent-lich die Kamera die ganze Zeit über?«

Wenn die Medien in Ländern wieKanada oder Belgien offener sind, dannauch deshalb, weil es gar nicht so sehrdarauf ankommt, was man dort denkt.

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John LawtonOK. Schnitt.

ChomskyIch habe mich versprochen. Machen wirden Abschnitt noch mal?

Chomsky (im Off)

Allgemein herrscht in den USA ideo-logisch eine viel borniertere Geistes-haltung als in anderen Ländern. Mehrnoch, jede Art kritischer Diskussion istdort - schon von der Struktur derMedien her - so gut wie unmöglich.

AUS »THE TEN O'CLOCK NEWS«,RADIO WGBH, BOSTON (1986)

Chris LydonUnsere heutigen Gäste liegen in ihrerBeurteilung der Contras so weit ausein-ander, wie es amerikanische Intellektu-elle nur sein können.

Weiter siehe rechte Seite, wo die vollständigeDiskussion wiedergegeben ist.

(die fett gedruckten Passagen sind im Film ent-halten)

John Silber, Präsident der Boston Univer-sity, war Mitglied der Kissinger-Kommission,die in Mittelamerika ein Sicherheitsrisikodiagnostizierte.Noam Chomsky, Sprachtheoretiker amMIT, vertritt in seinem neuesten Buch Turn-ing the Tide die These, unsere Interventionin Mittelamerika sei nur ein aktuelles Bei-spiel für den allgemeinen Mißbrauch unddas Mismanagement, mit denen wir dieDritte Welt überziehen.Darf ich zuerst Sie bitten, Präsident Silber.Winden Sie sich an diejenigen im US-Senat,die noch unschlüssig sind (wenn es sie denngeben sollte). Warum würden Sie für dieFinanzhilfe an die Contras stimmen?

Silber

Nun, der Senat der Vereinigten Staaten hatvon jeher auf der Seite der demokratischenKräfte gestanden und sich gegen totalitäreBestrebungen gewandt. Wenn es dabei blei-ben soll, dann wird man für die Contras undgegen die Sandinisten stimmen. Die Sandi-nisten haben am 15. Oktober das Verbotvon Hausdurchsuchungen ohne Durchsu-chungsbefehl sowie das Postgeheimnis auf-gehoben und stattdessen die Postzensurzugelassen. Auch das freie Versammlungs-recht haben sie suspendiert, ebenso jeglichePressefreiheit. Nach wie vor versetzen siedie Menschen in Schrecken, denen sie prak-tisch alle demokratischen Rechte genom-men haben. Dieser Erlaß vom 15. Oktobergeht viel weiter und ist viel einschneidenderals derjenige, mit dem Hitler am 28. Feb-ruar 1933 das Ende der Weimarer Republikbesiegelte. Der totalitäre Charakter diesesRegimes ist seit September 1979 offenkun-dig; er hält weiterhin an, und wenn derSenat der Vereinigten Staaten dies erkennt,dann muß er auch die Demokraten unter-stützen.

Chris Lydon

Und Sie, Noam Chomsky, begründen Sienun in einer kurzen Ansprache an den Se-nat, warum Sie Geldzahlungen an die Con-tras ablehnen.

Chomsky

Nun, selbst die wärmsten Befürworter derContras geben inzwischen zu, daß es sichdabei um eine Stellvertreter-Armee han-delt, die Stützpunkte im Ausland hat undNicaragua von dort aus angreift; daß dieseArmee ihre Instruktionen und ihr Materialallein von ihren Auftraggebern erhält; daßsie weder ein politisches Programm vorge-legt noch politischen Rückhalt im Landeselbst gewonnen hat; daß schließlich ihremilitärische Führungsspitze fast durchwegaus Offizieren Somozas besteht. Ihre bishe-rigen militärischen Erfolge sind im wesent-lichen bestens dokumentierte, schrecklicheSerien von Folterungen, Verstümmelungenund anderen Greueln. Wie in Regierungs-kreisen inzwischen ganz, offen eingestandenwird, sollen die Contras vor allem die Sozi-alreformen in Nicaragua bremsen oderihren Abbau bewirken, und sie sollen ganzallgemein die Öffnung dieser Gesellschaftverhindern. In der Tat herrscht seit letztemHerbst Belagerungszustand, aber dochwohl in sehr milder Form, und jeder dort bishinauf zum amerikanischen Botschafterwird Ihnen bestätigen, daß das Land poli-tisch ziemlich offen ist. Der Belagerungszu-stand selbst entspricht etwa der Regelung,die seit Anfang 1980 in El Salvador in Kraftist, nur daß er dort zu Massakern an Zigtau-senden geführt hat, zur Zerstörung derPresse und so fort. In Nicaragua hingegenhandelt es sich um die Reaktion auf einenKrieg, den wir gegen das Land führen undder darauf abzielt, die Sozialreformen zuverzögern und die Entwicklungsmöglich-keit einer offenen Gesellschaft einzuschrän-ken. Diese Politik ist grausam und brutal,und wir sollten damit Schluß machen.

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Silber

Wollen Sie diese Reihe platter Unwahrhei-ten fortsetzen? Noch nie habe ich so vieleUnwahrheiten auf einmal gehört. In Nica-ragua hat es durchaus Massaker gegeben -an den Miskito-Indianern, verübt von denSandinisten. Es herrscht massive Repres-sion, schlimmer als alles, was wir bisher ausMittelamerika oder überhaupt aus Latein-amerika kennen. Man hat dort eine regel-rechte Diktatur errichtet. Und die Führerder Contras als Anhänger Somozas hinzu-stellen, ist eine schlichte Fälschung. Robelo,Cruz, Calero oder Chamorro sind und wa-ren keine Somozisten. Und was die Armee-führung der Contras angeht, so stammeneinige in der Tat aus der Nationalgarde.Nur, wenn Ihnen das nicht paßt -es gibt kei-nen Grund dafür, denn die Garde bestandnicht nur aus Somozisten - dann weise ichSie daraufhin, daß auch Modesta Rojas, derStellvertretende Kommandeur der sandini-stischen Luftwaffe, in der Nationalgardegedient hat, ebenso ein großer Teil jenerBlockwarte, mit denen die Sandinisten ihreDiktatur durchsetzen. Hier reihen sich Fäl-schungen und Verzerrungen aneinander,und auch über die Versuche der Sandini-sten, den Contras erfundene Greueltatenanzuhängen, liegen genügend Beweise vor.

Chris Lydon

Noam Chomsky sollte jetzt unter anderemauf die Herkunft der totalitären ...

ChomskyAlso erstmal reden wir über die Fakten. Wieich schon sagte, stammt beinahe die ge-samte militärische Spitze der Contras ausder Führung der Nationalgarde Somozas.

Silber

... Somozas Armee ...

ChomskyEdgar Chamorro, also der Oberbefehls-

haber der Armee, hat selbst angegeben, daßvon seinen 48 Spitzenleuten 46 ...

Silber

... also die Soldaten sind ...

Chomsky

Entschuldigen Sie mal, ich hab' Sie dochauch ausreden lassen, oder?

SilberSie verfälschen hier reihenweise die Wahr-heit. Hier müßte mal langsam jemand ...

Chomsky

Darf ich bitte?

Silber

... die Gelegenheit ergreifen, Ihre Ge-schichtsfälschungen richtigzustellen, solan-ge Sie noch da sind ...

Chomsky

Mr. Silber hat allen Grund, dagegen zu sein,daß ich hier rede ...

Silber

... Marcos, ja, Marcos ...

Chomsky

... er kennt nämlich die Wahlheil, und dawill er natürlich nicht, daß ich ...

Silber

Aber nicht doch, nein, das ist nur, weil Siehier die Wahrheit lange genug verbogenhaben.

Chomsky

Könnte ich vielleicht einmal Gelegenheitbekommen zu sagen, was ich ...

Silber

... nein, jetzt lassen Sie mich mal eben aus-reden. Es war doch Marcos und seineArmee, die dem Aquino zur Macht verhol-

fen haben. Wenn Sie hier also auf die Natio-nalgarde losgehen, so als ob das alles Somo-zisten gewesen wären, dann erzeugen Sieein falsches Bild.

Chris LydonNun lassen Sie ihn doch mal selbst argu-mentieren. Es ist doch ...

Silber

Und dann übersehen Sie auch, daß sichunter den Anhängern der Sandinistenebenfalls viele Mitglieder der Nationalgardefinden.

Chris Lydon

Mr. Chomsky ...

Silber

So, jetzt dürfen Sie wieder die Wahrheit fäl-schen.

ChomskySehen Sie, so gehen Sie vor. Ein schönesMuster für Totalitarismus: Man sorgt dafür,daß die Opposition ...

Silber

Jedenfalls bin ich derjenige, der Ihr Mono-pol auf Desinformation zerstört hat.

Chomsky

Es ist doch wohl lächerlich, zu meinen, ichbesäße ein Monopol auf die Desinformationder amerikanischen Presse.

SilberKeineswegs.

Chomsky

Was? Ich soll die amerikanische Presse be-herrschen? Also nochmal von vorn, zu denFakten: 46 der 48 obersten Militärführer derContras waren Offiziere unter Somoza. Dassteht im Kongießbericht; Sie können aberauch Edgar Chamorro fragen, den der CIA

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dort als Sprecher eingesetzt hat. Genau «lashabe ich gesagt, und es ist die reine Wahr-heit. Aber wenn es dann heißt, die Sandi-nisten hätten vergleichbare Massaker verübtwie die, die wir in Mittelamerika angerichtethaben - also das ist nun wirklich umwer-fend!Seit 1978, nein 1979, als wir in El Salvadormassiv eingriffen, sind dort an die 60.000Menschen Massakern zum Opfer gefallen.Oder Guatemala: Dort haben wir ja unun-terbrochen Militärhilfe geleistet, mit beson-derer Begeisterung gerade jetzt, und dorthat man etwa 100.000 Menschen umge-bracht.Dann hat Mr. Silber die Miskito-Indianerangesprochen. Denen hat man übel mitge-spielt; ich glaube, es gab so 60 bis 70 Tote.Dem stehen aber 5-6000 Menschen gegen-über, die von unserer Seite umgebrachtwurden - und mit Umbringen meine ichnicht die vornehme Art, sondern Folter,Verstümmelung und Mord, wofür es genau-este Beweise gibt. Zweifellos geschehenauch bei den Sandinisten Verbrechen, aberdie verschwinden doch im Vergleich zu denVerbrechen, bei denen wir Hilfestellung ...

Chris Lydon

Ich möchte doch nochmal auf zwei Punktezurückkommen, die sich hier gezeigthaben. Der eine ist das Sicherheitsrisiko,das die Sandinisten in Nicaragua für dieUSA und die ganze Hemisphäre darstellen.Der andere besagt, daß wir es den soge-nannten Demokraten und unserem Demo-kratiebegriff schuldig sind, Menschen zuhelfen, die unseren Standard in dieserRegion einführen möchten. Ich frage Sie,John Silber: Sind diese beiden Argumentegleichrangig, und sprechen Sie sich dafüraus?

Silber

Also erstmal bin ich dagegen, daß in Nica-ragua an die 6500 kubanische und sowjeti-

sche Soldaten stationiert sind. Ich bin dage-gen, daß die Sowjetunion 24 voll ausgerü-stete Kampfhubschrauber an Nicaragua ge-liefert hat, sowie 150 Kampf panzer, ca. 1200Lastwagen, 300 ...

Chris Lydon

Aber wieso soll darin ein Sicherheitsrisikofür die USA liegen?

Silber

Noch ist es ja keins. Hitler war auch nochkein Sicherheitsrisiko, als er am 28. Februar1933 den Deutschen ihre Freiheiten nahm.Nicht mal 1936, als er das Rheinland remili-tarisierte, war er eine ernstzunehmendeBedrohung. Als aber die Alliierten endlichdahin gekommen waren, in ihm eine Bedro-hung zu erblicken, kostete uns der Siegüber ihn sechs Jahre und viele MillionenTote.Im Augenblick sind wir noch in der Lage,mit der sandinistischen Diktatur in Mittel-amerika aufzuräumen, ohne einen einzigenAmerikaner aufs Spiel zu setzen. Wir brau-chen nur die Feuerwehr zu bezahlen. Dennes brennt wirklich dort unten. Wir müssendas Feuer nicht selbst löschen, man bittetuns ja um Geld für die Feuerwehr. Dochfalls wir zuwarten und so lange nichts tun,bis die Sowjets dort eine Landbasis errichtethaben, und wenn wir zulassen, daß dieseausgebaut wird, dann erwächst daraus das

Risiko eines Krieges. Gegenwärtig bestehtdie Bedrohung noch nicht, aber die Ent-wicklungweist in diese Richtung. Wenn dieMenschen nicht einmal soviel Verstandhaben, einzusehen, daß auch ein kleinesFeuer in einem Zimmer eine Gefahr dar-stellt, nicht per se, sondern weil aus kleinenFeuerchen leicht große Brände werdenkönnen, dann haben sie aus der Geschichtenichts gelernt.

Chris Lydon

Und jetzt Noam Chomsky zur Frage derGefahr für die Sicherheit der USA undunserer Hemisphäre.

Chomsky

Wenn man Nicaragua als ein Sicherheits-risiko hinstellt, dann ist das ungefähr so, alswürde man die Bedrohung untersuchen,die Luxemburg für die Sowjetunion dar-stellt. Mr. Silber hat Hitler erwähnt. Nun,ich bin alt genug, um mich daran zu erin-nern, wie Hitler in seinen Reden von derBedrohung Deutschlands durch Polensprach und daß Deutschland sich dagegenverteidigen müsse. Und selbst dieses Bei-spiel ist noch unfair gegenüber Hitler.Natürlich ist Nicaragua hochgerüstet undvoller sowjetischer Waffen. Und warum?Weil eine gewisse Supermacht ganz bewußtjede andere Lieferquelle verstopft hat. Biszur Verhängung des Embargos im Mai letz-ten Jahres wickelte Nicaragua 20 Prozentseines Handels mit dem Ostblock ab; Waf-fen bezog es von überall her. Zuerst blok-kierten wir alle anderen Waffenlieferungen.Dann haben wir den Krieg weiter intensi-viert, und jetzt tun sie genau, was unsereRegierung will: Sie ziehen Mittel aus demReformprozeß ab - den wir nun allerdingswirklich fürchten - und stecken sie in dieRüstung. Nicaragua uns angreifen - dieLänder Lateinamerikas sehen allein in demGedanken nichts als hysterischen Wahn-sinn. Die Contadora-Länder, auch die Län-

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der, die uns zuneigen, also auch alle relativdemokratischen lateinamerikanischen Län-der - alle fordern uns auf, den Krieg gegenNicaragua einzustellen. Ihnen ist nämlichvöllig klar, was dieser Krieg bewirkt: Erzwingt das Land dazu, sich zu militarisieren,und setzt die Region der Gefahr eines nochgrößeren Krieges aus. Es wäre ganz einfach,die paar russischen Panzer und die kubani-schen Berater aus Nicaragua herauszube-kommen, und die Regierung weiß das auch.Sobald wir den Krieg beenden, werden sichdie Nicaraguaner wieder dem zuwenden,womit sie vor unserem Angriff beschäftigtwaren - nämlich ihren Reformen, den wirk-samsten der ganzen Hemisphäre, für die siesehr gelobt wurden, von der Weltbank, vonder Interamerikanischen Entwicklungs-bank, von Organisationen wie OXFAM, diein 76 Entwicklungsländern nicht so etwaserlebt hatten wie dort ...

Chris LydonUnsere Sendezeit ...

Chomsky

... denn einzig unser Angriff hat diese Re-formen gebremst und gestoppt.

Chris Lydon

Wir haben schon so sehr überzogen, daß wirauch einfach weilermachen können. Ichmöchte Sie jetzt mal auf die Demokratie-frage hinlenken und auf unsere Verantwor-tung für die Förderung der Demokratie.Sie, Mr. Silber, haben ja die Sandinisten kri-tisiert; aber würden Sie wirklich den Con-tras bescheinigen, die Demokratie im Ge-päck zu tragen?

SilberAbsolut. Aber zuerst wollen wir mal mit die-sem Mythos aufräumen, daß das dort alleswunderbare Demokraten waren, bis wir siedurch unseren Widerstand den Sowjets indie Arme trieben. Das ist ein Mythos und ei-

ne Geschichtsfälschung, und Mr. Chomskyweiß das auch ganz genau. Es war doch so:Nach dem Sieg ihrer Revolution Ende Juli1979 kamen die Sandinisten nach Washing-ton; vorher hatten sie der OrganisationAmerikanischer Staaten zugesagt, freieWahlen abzuhalten. Daraufhin erhielten sieKredite in Höhe von 117 Millionen Dollar,auch von der Weltbank und durch Vermitt-lung der USA. Man hat sie ausgesprochengut behandelt. Aber dann, im September1939 - äh, 1979 - ging es los mit der Repres-sion. Also stimmt an der Behauptung, erstwir hätten sie an die Seile der Kommunistengedrängt, kein Wort. Das ist einfach eineLüge.

Chris Lydon

Aber die Frage war doch: Sind die Contrasgeeignet, die Demokratie voranzubringen?

Silber

Wenn die Contras zur Zeit im nicaraguani-schen Volk nicht offen unterstützt werden,dann liegt der Grund dafür doch auf derHand. Nachdem Hitler die Macht inDeutschland ergriffen hatte, genossen seineGegner auch keine offene Unterstützungmehr. In einem totalitären Staat hat dieOpposition keine vernehmbare Stimme -auch nicht in der Sowjetunion. Dort findetman höchstens einige isolierte Gruppenvon Neinsagern. In Nicaragua hingegengibt es ein Führungsteam: Robelo, Cruz,Chamorro, Colero - alles wichtige, demo-kratisch eingestellte Persönlichkeiten, dieschon in der Opposition gegen Somozaaktiv waren und von denen viele im Gefäng-nis gesessen hatten. Und hinter dieserFührung stehen buchstäblich Tausende, diesich der sandinistischen Diktatur widerset-zen. Wer jetzt versucht, diese Menschen alstotalitär abzutun, und mit diesem hochge-spielten Blödsinn ankommt, sie hättenGreueltaten begangen, liefert nur ein be-sonders schönes Beispiel für Orwellsches

Zwiedenken. Mr. Chomsky spielt hier 1984- er ist ja schon in der ganzen Welt dafürbekannt. Es ist einfach Quatsch.

Chris Lydon

Und Sie, Mr. Chomsky, was erwidern Sie aufdiesen Appell, den Kräften der Demokratiezu Hilfe zu kommen?

Chomsky

Also zunächst wäre ich ja wirklich froh,wenn die USA endlich mal damit beginnenwürden, die demokratischen Kräfte in Mit-telamerika zu unterstützen, anstatt ständiggegen zu sie zu arbeiten.Um aber wieder auf Nicaragua zurückzu-kommen, also auf die Welt, wie sie ist, somuß ich sagen, daß ich niemals die Sandini-sten als, wie Sie wohl sagten, vollkommeneDemokraten bezeichnet habe. Ich habe nurdie Weltbank zitiert, OXFAM, die Jesuitenund all die anderen, die anerkannt haben,daß die Nicaraguaner ihre knappen Mittelzum Nutzen der armen Bevölkerungsmehr-heit eingesetzt haben. Deshalb hat das Ge-sundheitsniveau einen Sprung nach obengemacht, ebenso die Alphabetisierung. Nurdadurch sind sie - als einzige weit und breit- mit der Landreform vorangekommen undhaben die Subsistenzwirtschaft verbessertund den Nahrungsmittelkonsum erhöht.Und nur deshalb haben wir sie angegriffen- mit der Demokratie hatte das überhauptnichts zu tun. Und dann habe ich auchnicht behauptet, Cruz und Robelo hättenAusschreitungen verübt. Diese beiden sit-zen doch in Washington und tun überhauptnichts. Das sind ja nur Galionsfiguren, diewir zusammengeschustert haben. Es sinddie Contras, angeführt von der National-garde, die die Verbrechen begehen. Vondenen, die Sie nannten, ist allerdings einerdoch darin verwickelt, nämlich Colero, einrechtsextremer Geschäftsmann und Vertre-ter der engstirnigen, extremistischen Wirt-schaftskreise in Nicaragua.

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Wissen Sie, wenn es uns auch nur im gering-sten um die Demokratie ginge — was in unse-rer Außenpolitik noch nie der Fall war —dann würden wir uns mal Ländern wie ElSalvador zuwenden, auf die wir wirklich Ein-fluß haben. In El Salvador beispielsweisebeschimpft man den Erzbischof nicht, manbringt ihn gleich um. Man zensiert diePresse nicht, man vernichtet sie. Der kirch-liche Rundfunksender wurde von der Ar-mee in die Luft gesprengt. Den Herausge-ber der unabhängigen Zeitung fand man ineinem Graben, verstümmelt und mit Mache-ten zerhackt.

SilberMerken Sie eigentlich nicht ...

ChomskyDarf ich bitte fortfahren? Ich habe Sie auchnicht unterbrochen.

SilberMerken Sie eigentlich nicht, daß das ganz al-te Hüte sind, was Sie hier sagen ...

ChomskyEntschuldigen Sie mal, das war neunzehn-hundert...

Silber... oder verbreiten Sie Ihre Lügen im Fern-sehen lieber systematisch?

ChomskyIch spreche hier - ich - ich spreche hierüber neunzehnhundert...

SilberSie sind ein systematischer Lügner ...

Chomsky... und sind diese Sachen nun passiert odernicht?

SilberAlso in dem Zusammenhang, in den Sie siestellen, sind sie jedenfalls nicht passiert.

ChomskyWie bitte??

SilberUnd wenn Sie hier behaupten, Arturo Cruzsei bloß eine Galionsfigur und täte über-haupt nichts, dann vergessen Sie, daß erschließlich Botschafter der Sandinisten inWashington gewesen war...

ChomskyAllerdings, und daß er immer ...

Silber... und daß er der Spitzenbanker der Sandi-nisten war ...

ChomskyGenau - nämlich in den USA.

Silber... bis er schließlich mit den Sandinistenbrach, als ihm ihr restlos totalitäres Wesenklar wurde. Sie sind ein Scharlatan, Mister,und es wird höchste Zeit, daß die Leute IhrGeschreibsel auch mal so einschätzen.

ChomskyAlso jetzt ist wohl klar, warum Sie mich hieraus der Diskussion herausmanövrieren wol-len ...

SilberStimmt überhaupt nicht. Wir haben nur die-sen Quatsch satt!

ChomskyAlso bitte, ich habe doch gesagt, ArturoCruz war in den USA und man hat ihn ...

SilberUnd warum war er hier?

ChomskyEr war in den USA und ist hier desertiert.Dann hat man ihn als Politfigur zurück nachNicaragua geschickt, weil die dortigen op-positionellen Geschäftskreise keinen über-zeugenden Kandidaten hatten. Er hätte sichzur Wahl stellen können - hat er aber nicht,zum Teil deswegen, weil ...

Silber... er konnte es nicht, weil er pleite war ...

ChomskyDarf ich bitte weiterreden?

SilberNein, Sie lügen nämlich schon wieder.

Chris LydonIch muß Ihnen jetzt leider beiden das Wortentziehen.

ChomskyAber ich hab' doch noch gar nichts gesagt.

SilberEs waren die Turbas [pro-sandinistischeStraßenmiliz], die verhindert haben, daßCruz sich an der Wahl ...

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ChomskyDas ist auch wieder gelogen. Aber jetzt zu-rück zu ...

Chris LydonGeht leider nicht. Unsere Sendezeit ist um.Jedenfalls haben Sie es Präsident Reaganfür Sonntag abend verdammt schwer ge-macht. John Silber und Noam Chomsky, wirdanken Ihnen.

ChomskyJa - OK.

Der Sturz Somozas [des nicaraguanischenDiktators] im Jahre 1979 ließ in Washingtondie Besorgnis aufkommen, es könnte auchin El Salvador die dortige brutale Diktaturgebrochen werden und somit auch diesesLand sich dem Einfluß der USA entwinden.Eine noch größere Gefahr aber erblickteman in der zunehmenden Ausbreitung der»Organisationen des Volkes«, etwa vonBibelkreisen, die sich unter Anleitung derKirche in Selbsthilfegruppen verwandelten,oder von Kleinbauern-Organisationen, Ge-

werkschaften und dergleichen. Es entstanddie furchterregende Aussicht, El Salvadorkönnte sich zu einer wirklich sinnerfülltenDemokratie entwickeln und womöglich dasVolk spürbar am politischen Prozeß beteili-gen (...)Die Reaktion der Carter-Regierung aufdiese Gefahren in El Salvador bestand dar-in, daß sie im Oktober 1979 einen Putschreformistischer Offiziere unterstützte, nichtohne gleichzeitig sicherzustellen, daß diereaktionärsten Vertreter des Militärs aufihren maßgeblichen Posten verblieben (...)Im Februar 1980 richtete Erzbischof Ro-mero an Präsident Carter die dringende Bit-te, der Junta keine Militärhilfe zu gewähren,denn diese - so stellte er fest-»wird hiermitSicherheit das Unrecht vermehren und dieRepression verschärfen, die sich gegen dieOrganisationen des Volkes richtet, nur weildiese um ihre elementarsten Menschen-rechte kämpfen« (...)Nun lagen der US-Politik aber gerade dieVerschärfung der Repression, die Vernich-tung der Volksorganisationen und die Ver-hinderung jeglicher Unabhängigkeit beson-ders am Herzen. Also ignorierte Carter denAppell des Erzbischofs und schickte seineLieferungen, »um die Schlüsselrolle der Ar-mee im Reformprozeß zu stärken« (...)Im März 1980 erlag Erzbischof Romeroeinem Mordanschlag. Der Richter Atilio Ra-mirez übernahm die Leitung einer gericht-lichen Untersuchungskommission. Nach-dem er den Organisator der Todesschwa-dronen und US-Liebling General Medranosowie den rechten Flügelmann Robertod'Aubuisson beschuldigt hatte, die Mördergedungen zu haben, erhielt er Todesdro-hungen, überlebte nur knapp einen Mord-versuch und floh schließlich ins Ausland(...) Die Schlußfolgerung des RichtersRamirez lautete: »Es kann keinen Zweifeldaran geben, daß man sich von Anfang andazu verschworen hatte, den Mord zudecken (...)«

Im Juni überfiel die Armee die Universitätplünderte und verwüstete sie; unter denzahlreichen Toten war auch der Rektor. An-schließend wurde die Universität geschlos-sen (...)Inzwischen hatte man auch die unabhängi-gen Medien durch Bomben und anderenTerror ausgeschaltet - auch dies eine Vor-aussetzung dafür, dem Marionettenregimedurch »freie Wahlen« eine Legitimation zuverschaffen. Die Leichen des Herausgebersund eines Redakteurs [der Zeitung La Cró-nica del Pueblo} fand man von Macheten zer-hackt vor; eine andere Zeitung [El Indepen-diente] stellte ihr Erscheinen ein, nachdemes gegen den Herausgeber drei Mordan-schläge gegeben und seine Familie Drohun-gen erhalten hatte, die Redaktion von Sol-daten besetzt war und Mitarbeiter verhaftetund gefoltert worden waren. Im kirchlichenRadiosender explodierten mehrfach Bom-ben; kurz nach Reagans Wahl stürmtenTruppen das erzbischöfliche Gebäude, zer-störten den Sender und durchwühlten dieRäume der Zeitung (...)Am 26.10.1980 verurteilte Erzbischof Rome-ros Nachfolger, Bischof Rivera y Damas, dieArmee und »ihren Ausrottungsfeldzug undVölkermord an der wehrlosen Zivilbevölke-rung«, während einige Wochen später derzivile Präsident der Junta, Duarte, bei seinerVereidigung den Streitkräften seine Aner-kennung »für ihren mannhaften KampfSeite an Seite mit dem Volk gegen die Sub-version« aussprach.Turning the Tide S. 102-107

[Weder die New York Times noch Time, News-week oder CBS News] ließen während der sal-vadorianischen Wahlen (...) auch nur einWort darüber fallen, daß La Crónica und ElIndependiente das Opfer von Mord und phy-sischer Gewalt geworden oder daß Journali-sten umgebracht worden waren.Manufacturing Consent S. 129

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GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

Frage aus dem PublikumAls Sie zuletzt hier waren, haben Siedavon gesprochen, daß Ihnen dieMassenmedien zwar im Ausland offen-stehen, zuhause aber wohl weniger.Hai sich da irgend etwas geändert?Sind Sie schon mal zu »Nightline«oder »Brinkley« eingeladen worden?

ChomskyDoch, man hat mich mehrfach gebeten,in »Nightline« aufzutreten. Ich konntees aber nicht machen. Ich hatte wohleinen anderen Vortragstermin oder so— und, um ganz ehrlich zu sein, es istmir auch ziemlich egal.Die Medienbeobachter von FAIR haben»Nightline« mal analysiert, mit interes-santen Ergebnissen. Demnach ist dasSpektrum dieser Sendung geradezulächerlich schmal, jedenfalls wenn maneuropäische oder überhaupt internatio-nale Maßstäbe anlegt.

Einmal ist Chomsky doch für »Nightline«interviewt worden. Eine Suche in der Daten-bank des ABC-Archivs »Sherman GrinbergFilm Library« führte auf ein Interview von.'59 Minuten Länge, das man mit Chomskyim April 1988 für eine sich über Wochenerstreckende Reihe von Sonderprogram-men «Nightline im Heiligen Land« aufge-nommen hatte. Über den Sender ging abernichts davon.

INDEX: PERSONENCHOMSKY, NOAMKRIEG: ARABISCH-ISRAELISCHERKONFLIKTDATUM = 88/04/08LAGERORT = NEW YORKPROGRAMM: ISRAEL SPEZIAL /»NIGHTLINE« IM HEILIGEN LANDAUFGENOMMEN IN: CAMBRIDGE,MASSACHUSETTSREPORTER: JORDANKAMERA: WORDENINHALT: INTERVIEW MIT PROFESSORNOAM CHOMSKY VOM MASSACHU-SETTS INSTITUTE OF TECHNOLOGY(MIT) ÜBER DIE KRISE IN DENISRAELISCH BESETZTEN GEBIETEN

Kassette 1 von 2• 00:01:31:27• Chomsky behauptet, seit 17 Jahren blok-

kierten die USA eine friedliche Lösungdes israelisch-arabischen Konflikts. Skiz-ziert Beispiele der amerikanischen Einmi-schung in den Friedensprozeß.

• 00:04:55:25• Behauptet, die größte Bedrohung der is-

raelischen Sicherheit stelle die jüdischeGemeinde in den USA dar, die Israel zueiner Politik der Besetzungen und dermilitärischen Konfrontation treibt.

• 00:10:38:08

• Bezeichnet die derzeitigen Bemühungender USA um einen Frieden im NahenOsten als mangelhalt.

• 00:19:17:10• Chomsky kritisiert die Berichterstattung in

den Medien über die gewaltsamen Unru-hen in den besetzten Gebieten, da sie sei-ner Meinung nach die der Gewalt zugrun-de liegenden Faktoren nicht wiedergeben.

Kassette 2 von 2• 00:00:33:21• Chomsky spricht über die Gründe, warum

die palästinensischen Jugendlichen wei-terhin gegen Israel rebellieren.

• 00:02:55:21• Sagt, der Holocaust müsse als Lehre die-

nen, Menschen nicht zu unterdrückenoder zu terrorisieren.

• 00:06:38:00• Macht geltend, Israels Sicherheit würde

zunehmen, wenn es einer politischen Lö-sung mit den Palästinensern nähertritt.

• 00:15:46:09• Behauptet, die USA legten einer politi-

schen Lösung Hindernisse in den Weg.• 00:16:18:02 Schnitt.

Für das Recht, diesen Streifen in Manufactu-ring Consent: Noam Chomsky and the Media zuverwenden, wollte man uns pro Sekunde 90Dollar berechnen; Mindestabnahme 1800Dollar. Wir zogen es vor zu passen.

Seit 1963, als ABC Network News zum ersten-mal ausgestrahlt wurde, wurden bei Sher-man Grinberg ca. 25 Mio. Filmmeter undüber 400.000 Videokassetten eingelagert,katalogisiert und in Computern erfaßt, d. h.die gesamte weltweite Nachrichtenproduk-tion von ABC. Außerdem betreut das ArchivPathé News (3 Mio. Filmmeter) und Para-mount News (2,5 Mio. Meter).

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Die Organisation FAIR (Fairness andAccuracy in Reporting) hat 865 »Night-line«-Programme untersucht. Von den

1530 Gästen aus den USA waren

92 Prozent weiß89 Prozent Männer

80 Prozent Freiberufler,hohe Regierungsbeamte oder

Vertreter von Großfirmen

Obgleich »Nightline« eines der wichtigstenNachrichtenmagazine der USA ist, war dieReihe vor dem Erscheinen dieses Reportsnoch kaum analysiert worden. Weil Polit-Shows wie »Nightline« häufig live gesendetwerden, kommt es entscheidend auf dieGäste an; deshalb hat sich die Studie diesemAspekt gewidmet. Zu diesem Zweck wurdendie »Nightline«-Niederschriften aus 40Monaten ausgewertet (1.01.85-30.04.88).Wie sich zeigte, waren die Gäste in ihrergroßen Mehrheit weiß, männlich und Ver-treter mächtiger Institutionen. In der Welt-sicht, die durch die Show vermittelt wurde,standen die USA als ein Land ohne nen-nenswerte innere Verwerfungen da, wohin-gegen der Rest der Welt als »erschreckendinstabil« galt. Daher standen auch die in»Nightline« aufgegriffenen Themen »in ei-nem engen Zusammenhang mit der aktuel-len Politik der US-Regierung«.Selbstverständlich erhebt »Nightline« denAnspruch, eine möglichst breites Spektrumzu präsentieren. Diesem Ziel steht es jedochentgegen, wenn Ted Koppel als »Diplomat«auftritt, der die in seiner Show angespro-chenen Probleme zu lösen sucht.Infolge seiner Weltsicht, die sich auch inder begrenzten Auswahl der Gäste wider-spiegelt und bestärkt fühlt, ist »Nightline«ein im Grunde konservatives Politik-Pro-gramm im Dienste derer, die schon jetzt dieMacht innehaben.

Die Studie schließt mit der Empfehlung»Nightline« möge »Durchschnittsbürger-/innen aus allen Bevölkerungsschichtenund Berufen« mit einbeziehen und da-durch seine Repräsentativität verbessern.William Hoynes, David Croteau, A SpecialFAIR Report: Are You on the Nightline GuestList? An Analysis of 40 Months of Nightline Pro-gramming (Boston College 1989) S. 1-4

Der FAIR-Report über »Nightline« ließ dieFrage aufkommen, wie gut wohl im Ver-gleich dazu andere TV-Nachrichtenmaga-zine in Bezug auf Vielfalt und Spannweiteihrer Gästelisten abschneiden. Also stellteFAIR 1989 sechs Monate lang einen Ver-gleich zwischen »Nightline« (ABC) und der»McNeil/Lehrer«-Show von PBS an. Wiesich zeigte, war das Gästespektrum bei»MacNeil/Lehrer« politisch gesehen nochschmaler als das von »Nightline« - und dies,obwohl doch »MacNeil/Lehrer« über einenÖffentlichen Kanal geht.Aus dem Folgebericht von FAIR, All theUsual Suspects: MacNeil/Lehrer and Nightline.Beide Berichte bei FAIR erhältlich.

Filter: Die Abhängigkeit der Medien von Informationen, dievon der Regierung und aus der Wirtschaft geliefert werdensowie von Experten, die ihrerseits auf Anerkennung undFinanzierung durch diese primären Organe und Quellen derMacht angewiesen sind.

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GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyIch will euch jetzt mal etwas erzählen,was ich selbst erlebt habe. Ich war imStudio eines Hörerradios in Madison,Wisconsin, ein ganz guter Lokalsender,und wurde vom Nachrichtenleiter [JeffHansen, Regionalfunk WORT] inter-viewt. Ich war vorher schon zigmal aufdem Sender gewesen, meist übers Tele-fon. Dieser Mann ist wirklich gut, ertrifft die verschiedensten Leute. Erspielte mir also ein Band mit einemInterview vor, das er gerade geführtund auch gesendet hatte, mit einemdieser Wichtigtuer von »Nightline«.Der Typ hieß Jeff Greenfield oder soähnlich - sagt jemandem der Name was?

TV-BILD IN EINEM SCHAUFENSTER

Jeff GreenfieldHier ist »Nightline« in New York, undich bin Jeff Greenfield.

RADIO WORT, MADISON,WISCONSIN, USA

Jeff HansenWas ist denn eigentlich gerecht an derAuswahl der analytischen Köpfe, die zu»Nightline« eingeladen werden, wennNoam Chomsky nie auftritt?

Jeff GreenfieldAlso - also das kann ich nun auch nichtsagen.

Jeff HansenEr ist einer der größten Intellektuellenauf der ganzen Welt.

JEFF GREENFIELD (geb. 1943)1968 B. A. University of Wisconsin1967 LL. B. Yale University1967-68 Parlamentarischer Berater vonSenator Robert Kennedy1968-70 Assistent des New Yorker Bürger-meisters John Lindsay1970-76 Consultant bei Garth AssociatesSchriftsteller; Kritiker für Politik und Me-dien bei CBS und ABC

In seinem Buch The Real Campaign: The Me-dia and the Battle for the White House erschüt-tert Greenfield die verbreitete Annahme,die Medien hätten einen Einfluß auf denAusgang der Präsidentschaftswahlen. Soheißt es dort: »Dieses Buch vertritt dieThese, daß das Fernsehen und die Medienpraktisch keinen Einfluß auf den Ausgangder Wahl von 1980 hatten.« (...) LarrySabato schrieb in der New York Times BookReview über Greenfield, er habe »einen ge-schulten Blick dafür, wie man mit gefälligenAnekdoten und aufschlußreichen Bildernwichtige Begriffe verdeutlichen kann. Aller-dings neigt er zur Jovialität, und in seinenSchriften stören die zahllosen Hervorhe-bungen.«Quelle: Contemporary Authors Bd. 24 (1988)

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Jeff GreenfieldIch weiß es wirklich nicht, aber ichkönnte ja mal vermuten. Vielleicht ist ereiner der großen Intellektuellen, diesich nicht auf Fernsehauftritte verste-hen. Da gibt es bestimmte Regeln, diefür uns enorm wichtig sind. Wenn dieganze Show 22 Minuten hat, undjemand wird nach 5 Minuten erst solangsam warm - weiß nicht, ob das aufChomsky zutrifft - also so jemand istout. Warum haben wir bei »Nightline«immer die üblichen Verdächtigen?Weil, wenn man jemanden für eineShow einplant, muß man sicher sein,daß der oder die Betreffende innerhalbder vom TV-Medium diktierten Grenzenauf den Punkt kommen kann. Wem dasnicht paßt, der sollte sich mal merken:Wer für eine Antwort acht Minutenbraucht, der ist genauso fehl am Platzwie einer, der kein Englisch spricht.Natürlich ist das, wie üblich, kultur-abhängig. Bei uns müssen die Leuteeben Englisch sprechen. Und sich kurzfassen.

GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyDieser Greenfield, oder wie er heißt,trifft den Nagel auf den Kopf. Denn nurin den US-Medien - nur dort müssensich alle kurz fassen. Was man sagt, darf600 Worte lang sein und muß zwischenzwei Werbespots passen. Und nunkommt's: Das Schöne an der Kürze desAusdrucks - nicht wahr, man bringt zwi-schen zwei Commercials gerade maleinige Sätze hervor - also das Schönedaran ist nämlich, daß man auf dieseWeise nur Gemeinplätze wiederkäuenkann.

(Wir baten Chomsky um seine Meinung zu derBehauptung, daß nicht nur die amerikanischen,sondern alle kommerziellen Medien Inhalte ver-kürzen)

Ich bin mir nicht sicher, ob kommerziell gesteuerteMedien außerhalb der USA »Kürze« erzwingen -kann sein, kann auch nicht sein. Beim britischenKommen-Fernsehen ist es jedenfalls nicht so; diesollen sogar noch erheblich offener sein als dieBBC. Das ist auch meine Erfahrung; war nichtdas Opinions-Programm, das Ihr gefilmt habt,auf einem kommerziellen Kanal? Aber entschei-dend ist, daß außerhalb der USA die Radio- undFernsehwelt im allgemeinen nicht-kommerziell ist;

also stellt sich Eure Frage so überhaupt nicht. Und

selbst bei den kommerziellen Sendern läuft es an-ders ab bei uns. Nehmen wir Italien: Da brachtedas Femsehen - jedenfalls vor 15 Jahren, als ichdort war - zwar massenhaft Reklame, aber alleSpots lagen in den Lücken zwischen den verschie-denen Programmen. Nicht wie hier bei uns, woalle paar Minuten unterbrochen wird (vor allemim Radio). Wahrscheinlich ist der ganze Begriffder »Kürze« etwas Amerikanisches und greift über

die kommerzielle Bedingtheit hinaus. Aber umganz sicher zu sein, müßte man das erst einmalrichtig untersuchen. Ich selbst spreche nur auseigener Erfahrung; geforscht habe ich nicht dar-über. Übrigens unterwirft man sich sogar imÖffentlichen Radio oftmals diesen Einschränkun-gen. Während des Golfkriegs durfte ich mal imNational Public Radio einen Kommentar spre-chen. Dieser mußte vorher eingereicht werden,und er hatte genau 2 1/2 Minuten zu dauern.Als der Text abgenommen war, sollte ich ihn imStudio aufzeichnen lassen. Da aber meine ersteLesung 2 Minuten 36 Sekunden dauerte, mußteich die Aufnahme wiederholen, damit die Zeit-grenze eingehalten war. Sowas habe ich noch vonnirgendwo vernommen. - NC

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RADIO WORT, MADISON

Jeff GreenfieldVor 20 Fahren habe ich Chomsky malgelesen. Für mich sind seine Vorstellun-gen ... hat er nicht mal ... war er nichtCo-Autor eines Buches mit dem TitelEngineering Consent oder The Manufactu-ring of Consent? Auf mich wirken solcheDinge, als ob sie vom Neptun kommen.

FOTOS DES PLANETEN NEPTUNVON DER NASA-RAUMSONDE»VOYAGER«

SprecherZum erstenmal zeigt sich hier Neptunso deutlich dem menschlichen Auge.Voyagers jüngste Leistung - vor wenigenStunden nahm er diese Fotos auf.

Jeff GreenfieldKlar, es steht ihm frei, zu behaupten,auch ich würde alles durch ein Prismasehen. Aber was er da über die Grenzender Diskussionsfreiheit bei uns vor-bringt, halte ich für absoluten Quatsch.

GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyNehmen wir mal an, ich würde mich dain »Nightline« hinstellen, man gibt mir,sagen wir, zwei Minuten, und ich ver-künde dann, daß Gaddhafi ein Terroristist und Khomeini ein Mörder, daß dieRussen nach Afghanistan eingefallensind und so weiter und so fort - dafürmuß ich keine Beweise bringen, weiljeder das abnickt.Nun nehmen wir aber mal an, ich täteetwas anderes, als die üblichen Predig-ten abzuspulen. Ich würde etwasäußern, das auch nur im geringstenunerwartet oder umstritten ist.Beispielsweise ...

Jeff Greenfield hat übrigens Chomsky nichtnur gelesen, er war sogar zusammen mit ihmim Fernsehen - nämlich in jungen Jahren1969 als Hilfsfrager bei William F. Buckley,als der in seiner »Firing Line« Chomskyinterviewte.

Zu Ghaddafi, den amerikanischen Bomben-angriffen auf Libyen und das Medienechodarauf vgl. auch:• Culture of Terrorism; Pirates and Emperors;

Chronicles of Dissent Kap. 3• Necessary Illusions Anh. 5.2• Language and Politics Interview 33• »International Terrorism«, Audioband

von Alternative RadioZu Khomeini, Iran und zum religiösen Fa-natismus vgl. auch Language and PoliticsS. 740-741

Zur Medienberichterstattung über die sow-jetische Invasion in Afghanistan und dieamerikanische in Vietnam, vgl. Manufactu-ring Consent Kap. 5

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INTERVIEW MIT DERSEATLLE TIMES,SEATTLE, USA

»Die größten inter-nationalen Terror-unternehmen, diewir kennen, wer-den von Washing-ton aus gesteuert.«Das Handbuch der U. S. Army über dieBekämpfung dieser Pest [des internationa-len Terrorismus] versteht unter Terroris-mus »den kalkulierten Einsatz von Gewalt,oder eine Drohung damit, in Verfolgungpolitischer, religiöser oder ideologischerZiele. Dies geschieht durch Einschüch-terung, Zwang oder die Erzeugung vonFurcht« (...)Zu den offiziellen Instrumenten der USAzählt die LIC-Doktrin [Low Intensity Con-flict] . Während sie in El Salvador trotz einesfurchtbaren Blutzolls fehlschlug, hat sie sichin Nicaragua bewährt und konnte dort eineunabhängige Entwicklung erfolgreich ver-hindern. Es muß festgehalten werden, daßLIC (...) kaum mehr als ein Euphemismusfür internationalen Terrorismus ist; denn eswird dabei Gewalt eingesetzt, aber unter-halb der Schwelle der Aggression, die als

Kriegsverbrechen unter das Urteil vonNürnberg fallen würde. Unter den vielenterroristischen Staaten auf der Erde neh-men die Vereinigten Staaten einen Sonder-platz ein, denn sie betreiben den interna-tionalen Terrorismus offiziell, und das ineinem Ausmaß, das alle Konkurrenten vorScham versinken läßt (...)Necessary Elusions S. 271-273

Es ist eine grundlegende Tatsache, daß dieUSA ein neo-kolonialistisches System vonSatellitenstaaten fördern und protegieren,die hauptsächlich durch Terror regiert wer-den und den Interessen einer kleinen in-und ausländischen Wirtschafts- und Mili-tärelite dienen. Gemäß ihrem wichtigstenGlaubenssatz, der eigentlich ein ideolo-gischer Vorwand ist, fühlen sich die USAweltweit der Sache der Demokratie und derMenschenrechte verpflichtet — gelegent-liche Fehltritte vorbehalten.Zumindest während der letzten 25 Jahre hatder offizielle Terror weit mehr Tod und Fol-ter mit sich gebracht als sein Gegenstück imUntergrund. Mehr noch, die Waage desSchreckens neigt sich anscheinend immerstärker der Seite des Westens und seinerVerbündeten zu, wobei die USA als Quelleund Förderer das Tempo bestimmen. Dieradikalnationalistischen Aufstände im Ge-folge des Zweiten Weltkriegs, der die alteKolonialwelt zertrümmerte, bildeten eineBedrohung für die überlieferte Hegemoniedes Westens und für seine Wirtschafts- undGeschäftsinteressen. Um diese Gefahr ein-zudämmen, verbündeten sich die USA mitden Eliten und Mililärkasten in der DrittenWelt, die seitdem die Rolle eines Dammesgegen die Flut des Wandels übernommenhaben. Diem und Thieu spielten seinerzeitdiese Rolle in Vietnam ebenso wie heutenoch unsere Verbündeten, für die Namenwie Mobutu in Zaire, Pinochet in Chile oderSuharto in Indonesien stehen. Ein neofa-schistischer Nationaler Sicherheitsstaat und

andere autoritäre Regimes sind in der Drit-ten Welt zur Regel geworden, häufig genugmit aktiver Unterstützung durch die USA.Diese konterrevolutionären Regimes, dienicht nur eifrige Antikommunisten sein,sondern sich auch für ausländische Einflüs-se offen halten müssen, empfangen westli-che Waffen (meist aus den USA), mit denensie dann nach Herzenslust foltern und tötenkönnen.Nun sind die Errichtung und Unterstützungsolcher Militärjuntas mit ihren sadistischenQuälereien und Blutbädern kaum mit De-mokratie, Menschenrechten und anderenvorgeblichen westlichen Weiten vereinbar.Daher wird erheblicher Druck auf die Me-dien und die Intelligenz der USA und West-europas ausgeübt, an der Begründung derstaatlichen Politik mitzuwirken. Gelöst wirddieses Problem vor allem durch Unterdrük-kung der Fakten; man verschließt also dieAugen vor allen unappetitlichen Einzelhei-ten, als da sind: die verbreiteten Morde undFolterungen, der Rassismus - auch in Isra-el -, die systematische Errichtung immerneuer autoritärer Regimes und schließlichdie Rolle der USA als Schirmherr der Füh-rungsschicht in diesem Weltreich faschi-stischer Satellitenstaaten.The Political Economy of Human Rights Bd. 1S.ix,8,ll

Zum internationalen Terrorismus vgl. auchEdward S. Herman, The Real Terror Network:Terrorism in Fact and Propaganda (SouthEnd, Black Rose Books 1982)Edward S. Herman, Gerry O'Sullivan, The»Terrorism« Industry: Structure, Linkages, andRole in Western Ideological Mobilization (Pan-theon 1989)Chomsky: Culture of Terrorism, Pirates andEmperors, Chronicles of Dissent Kap. 3, Langu-age and Politics Interviews 35,38, und »Ter-rorism Strikes Home: The Mideast, Funda-mentalism, Terrorism, and U. S. ForeignPolicy«, in Z Magazine May 1993

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MALASP'INA COLLEGE, NANAIMO

»...In den acht-ziger Jahren mußtedie amerikanischeRegierung imUntergrundoperieren...«

Überlegen Sie doch mal: Warum könnteeine Regierung überhaupt einen verdecktenKrieg führen wollen? Warum gibt es Opera-tionen im Untergrund? Vor wem sollen siegeheimgehal ten werden? (...) Vor den Op-fern offensichtlich nicht, die wissen sowiesoBescheid. Zum Beispiel die Erkenntnisseaus den Iran-Contra-Anhörungen - für kei-nen der Söldnerstaaten war das ein Geheim-nis (...) Der Witz ist: Sie sollten nur vor deramerikanischen Bevölkerung verborgenbleiben - das ist alles. Eine Regierung suchtregelmäßig dann Zuflucht zu verdecktenOperationen, wenn sie von ihrem eigenenVolk in den Untergrund getrieben wird.Kann man seine Bevölkerung nicht mit Ge-walt unter Kontrolle halten und auch nichtgenügend indoktrinieren, dann muß manin den Untergrund gehen (...) Das ameri-kanische Volk ist eben immer noch zu wenigangepaßt; aller Gehirnwäsche und Indoktri-nierung zum Trotz wollen die weniger gebil-deten, weniger elitären Schichten der Be-völkerung einfach nicht mitziehen.Aus einem Interview mit David Barsamian,abgedruckt in Language and Politics S. 735

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RADIO KUWR, IARAMIE

»... Oder ich sage,daß die USA inSüdvietnam ein-fallen - was siewirklich getanhaben...«

Schauen wir mal auf die russische Invasionin Afghanistan - eine klare Sache. Man be-nötigt keine besonderen Vorkenntnisse, umzu begreifen, daß die Sowjetunion in Afgha-nistan eingefallen ist. Das war eben so. Manmuß darüber nicht diskutieren, darin liegtnichts Verborgenes, schwer Verständliches.Man versteht es auch ohne Kenntnis derGeschichte Afghanistans. Und schauen wirnun auf die amerikanische Invasion in Süd-vietnam. Schon die Formulierung ist unge-wöhnlich (...) Ich möchte bezweifeln, obauch nur in einer einzigen großen Zeitung,ja selbst in einer linken Zeitung, währenddes Krieges dieser Ausdruck gefallen ist.Und doch fand in Südvietnam ebenso eineamerikanische Invasion statt wie jetzt einerussische in Afghanistan. Bereits 1962 flo-gen amerikanische Piloten - echte Militär-flieger, nicht etwas Söldner - mörderischeBombenangriffe auf vietnamesische Dörfer.Das blieb damals völlig unbeachtet, aber eswar eine amerikanische Invasion Südviet-nams. Zweck dieser Angriffe war die Zer-störung der ländlichen Sozialstruktur inSüdvietnam, um einer Widerstandsbewe-gung den Boden zu entziehen, die ihre Exi-stenz überhaupt nur der Repression durchdas von uns eingesetzte Satellitenregimeverdankte. Dieses Regime hatte die im Gen-fer Friedensabkommen von 1954 gefor-derte politische Lösung blockiert und seit-dem an die 80.000 Menschen umgebracht,ohne den Widerstand unter Kontrolle brin-gen zu können. Also: Es gab bereits Anfangder 60er Jahre eine Aggression der USAgegen Südvietnam, ganz zu schweigen da-von, daß wir später ein Expeditionskorpshingeschickt haben, um das Land zu beset-zen und den Widerstand im Lande zu bre-chen. Aber kein Mensch hat darin eineamerikanische Invasion Südvietnams sehenwollen.

Ich kenne die öffentliche Meinung in Ruß-land nicht besonders gut, aber ich kann mirgut vorstellen, jeder x-beliebige Mann auf

der Straße wäre höchst überrascht, wennman ihm von einer russischen InvasionAfghanistans erzählen würde. Schließlichverteidigt man Afghanistan gegen kapitali-stische Anschläge, gegen Banditen, hinterdenen der CIA steht, und so weiter. Ande-rerseits würde derselbe Mann wohl un-schwer verstehen, daß die Aktivitäten derVereinigten Staaten in Vietnam eine Inva-sion darstellen.The Chomsky Reader S. 34

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MIT

»Faule und kor-rupte politischeFührer - das sinddie besten.«

Meiner unmaßgeblichen Meinung nach warKennedy wahrscheinlich der gefährlichstePräsident, den wir je hatten (Beifall). Erhatte einen wirklich gefährlichen, macho-haften, geradezu fanatischen Zug an sich.Zur Zeit kommt ja gerade so einiges in denBerichten über die kubanische Raketen-krise ans Tageslicht - wirklich sehr auf-schlußreich. Es scheint sogar noch schlim-mer zu sein, als man vorher angenommenhatte. Denn daß er damals bereit war, dieWelt an den Rand der Zerstörung zu trei-ben, hatte verdammt viel damit zu tun, daßer sein Macho-Image retten wollte. So etwasist echt gefährlich. ... Also faule und kor-rupte politische Führer, das sind die besten.Gefährlich sind die, die nur auf Macht aussind. Wer bloß schlafen oder vor dem Fern-seher sitzen will oder so, der ist unproble-matisch. Und das läßt sich auch über dieKorruption sagen. Korruption in einer Re-gierung ist etwas ungemein Positives; mansollte immer dafür sein. Solange sich dieseLeute nur bereichern oder im Bett amüsie-ren wollen oder dergleichen, sind sie nichtan der Macht interessiert. Die Typen, diehinter der Macht her sind, das sind dieGefährlichsten. Und ich sage, Kennedy warso einer. Außerdem kommt Korruptionrasch ans Licht. Und warum? Ganz einfach:Wer korrupt ist, bestiehlt üblicherweiseandere, die viel Geld haben. Diese Figurenblockieren sich also gegenseitig, und wennihre Korruption aufgedeckt wird, schwächtdas wieder ihre Macht. So kann man sichauch dagegen schützen. Genau so ist es üb-rigens mit diesen Evangelisationspredigern.Wenn die auf Macht aus wären, hätten wirwirklich ein Problem. Solange sie bloß ver-goldete Cadillacs und Sex und so wollen, istalles in Butter.Aus einem Vortrag »Necessary Illusions« imMIT, 10.05.89

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ST. MICHAEL'S COLLEGE, WINOOSKI,VERMONT, USA

»Wenn es nach denNürnberger Geset-zen gegangen wäre,dann hätte manseitdem jeden US-Präsidentengehenkt.«

Unter einer Verletzung der Nürnberger Ge-setze verstehe ich ein Verbrechen von derArt, für die man in Nürnberg Menschengehenkt hat. Nürnberg steht übrigens auchfür Tokio. Muß man sich also zunächst ein-mal in Erinnerung zurückrufen, wofür inNürnberg und Tokio Menschen gehenktwurden. Tut man dies, dann ist alles blitz-schnell klar. So wurde zum Beispiel unterden schlimmsten Fällen in Tokio der Gene-ral Yamashita zum Tode durch den Strangverurteilt. Begründung: Auf den Philippi-nen hatte es Kriegsverbrechen gegeben,und die dafür verantwortlichen Truppen-teile hatten formal unter seinem Oberbe-fehl gestanden (das war aber im Endsta-dium das Krieges, er hatte überhaupt kei-nen Kontakt mehr zu diesen Truppen, dieda auf den Philippinen umherzogen). Undfür diese Verbrechen wurde er gehenkt.Also wenn man das allgemein anwendenwürde, bliebe niemand mehr übrig.Aber blicken wir mal tiefer in die Prozessevon Nürnberg und Tokio hinein. Nehmenwir Tokio und Truman: Es gab da einenangesehenen, unabhängigen asiatischenRichter, einen Inder — übrigens der einzigedes ganzen Gerichtshofs, der sich im Völ-kerrecht auskannte. Dieser Mann distan-zierte sich von dem Urteil, überhaupt vondem ganzen Prozeß, und er verfaßte einwichtiges Minderheitsvotum - 700 Seitenstark. Es findet sich in der juristischenBibliothek von Harvard - da habe ich esjedenfalls her, vielleicht ist es auch nochanderswo vorhanden - und es ist äußerstlesenswert. Er geht die Gerichtsprotokolledurch und beweist m. E. überzeugend, daßder Prozeß eine Farce war. Am Ende zieht eretwa folgendes Resume: Wenn es auf dempazifischen Kriegsschauplatz überhaupt einVerbrechen gab, das sich mit denen der inNürnberg gehenkten Nazis vergleichenläßt, dann war das der Abwurf der beidenAtombomben. Und den in Tokio Angeklag-ten könne nichts Derartiges vorgeworfen

werden. Ich denke, wenn man den Hinter-grund betrachtet, ist das völlig plausibel.Truman hat dann in Griechenland eine gro-ße Aufstandsbekämpfungsaktion gestartet,mit dem Erfolg: 160.000 Tote, 60.000 Ver-triebene, 60.000 Gefolterte, Kollaps des po-litischen Systems. Am Ende stand eine Re-gierung der Rechten, und dann kamen dieamerikanischen Konzerne und bemächtig-ten sich des Landes. Gemäß den Nürnber-ger Statuten ist das für mich ein Verbre-chen.Und dann, wie war das mit Eisenhower? Esgibt Gründe dafür, den durch ihn eingelei-teten Sturz der Regierung von Guatemalaals Verbrechen einzustufen. Es gab einevom CIA unterstützte Armee, die dort ein-rückte, Bomben warf und schließlich diesekapitalistische Demokratie untergrub, allesbegleitet von Drohungen aus den USA. Dashalte ich für ein Verbrechen. Oder der Ein-marsch im Libanon 1958 - ich weiß nicht,auch da ließe sich Ähnliches vorbringen,denn viele Menschen fanden den Tod.Oder der erfolgreiche Putsch gegen dieRegierung im Iran - dahinter stand aller-dings der CIA. Jedenfalls gab es unter Eisen-hower viele Fälle, aber Guatemala reichtschon.Kennedy ist leicht. Die Invasion Kubas wareine direkte Aggression. Übrigens war siebereits unter Eisenhower geplant worden,auf dessen Konto geht also noch, daß er ineine Verschwörung zum Angriff auf einfremdes Land verwickelt war. Im Anschlußan die Invasion startete Kennedy eine gewal-tige terroristische Operation gegen Kuba,die dort ernste Folgen hatte. Das ist keinWitz. Bomben gegen Industrieanlagen undHotels, viele Tote, Fischerboote versenkt,Sabotageakte. Später - unter Nixon - hatman sogar Vieh vergiftet und dergleichen.Es war eine dicke Sache. Und dann kamVietnam; er ist dort eingefallen. Er hat dieAir Force mit Bomben hingeschickt. OK.Soviel zu Kennedy.

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Johnson ist trivial. Die Dominikanische Re-publik können wir ruhig beiseite lassen -allein der Krieg in Indochina war schon einschweres Kriegsverbrechen.Nixon - dasselbe. Er ist in Kambodscha ein-gefallen. Die Bombardements Anfang der70er Jahre unter Nixon und Kissinger unter-schieden sich nicht sonderlich von denGreueltaten der Roten Khmer - gut, es waretwas weniger, aber nicht viel. Und das giltauch für Laos. Also bei diesen beidenkönnte ich leicht einen Fall nach dem ande-ren hernehmen.Ford war ja nur kurz im Amt, da konnte ernicht so viele Verbrechen verüben, aber eingrößeres ist ihm doch gelungen. Er unter-stützte den indonesischen Einmarsch inOsttimor. Dieser war eine Art Völkermord;im Vergleich dazu mutet Saddam HusseinsEinfall in Kuweit wie ein Kaifeekränzchenan. Und der entscheidende Rückhalt dafürkam aus den USA, sowohl auf diplomati-scher Ebene als auch in Form von Militär-hilfe. Unter Carter ging das dann weiter.Carter war unter den amerikanischen Präsi-denten der, der am wenigsten zur Gewaltneigte. Doch selbst er tat einige Dinge, diewohl mit Sicherheit unter die NürnbergerStatuten lallen würden. Denn genau zu derZeit, da das Wüten der Indonesier die Aus-maße eines Völkermords annahm, verstärk-te Carter die Hilfe aus den USA. Ihr Maxi-mum erreichte sie 1978, gleichzeitig mitden Mordaktionen. Das reicht für Carter;alles andere vergessen wir mal.Reagan: Keine Frage - da genügt ja schonMittelamerika. Und dann die Unterstüt-zung der israelischen Invasion im Libanon,wo die Zerstörung und die Zahl der Opferabermals Saddam Hussein vergleichsweiseharmlos aussehen lassen. Das reicht.Nun zu Bush. Gibt es da überhaupt nochetwas zu sagen? Es gab in der Reagan-Zeitein Urteil des Internationalen Gerichtshofsgegen Reagan und Bush wegen »unerlaub-ten Einsatzes von Gewalt«. Man könnte in

einigen Fällen unterschiedlicher Meinungsein, aber wenn man sich an die Urteile vonNürnberg und Tokio hält, dann hat maneinen ziemlich sicheren Stand. Meiner Mei-nung nach fallen alle amerikanischen Präsi-denten in diese Kategorie.Ich muß darauf hinweisen, daß die Grund-sätze von Nürnberg auch kritisch gesehenwerden sollten. Als Vorbild will ich siebestimmt nicht hinstellen. Das fängt damitan, daß sie ex post facto waren. Die Sieger ha-ben bestimmt, was ein Verbrechen war, undzwar nach dem Sieg. Das wirft schon dieeine oder andere Frage auf. Bei unserenPräsidenten war nämlich nichts ex post facto.Was heißt überhaupt »Kriegsverbrechen»?Wie hat man diese Frage in Nürnberg undTokio beantwortet? Die Antwort ist ebensoeinfach wie unbequem. Es gab nämlich eineArt operationelles Kriterium: Etwas galt alsKriegsverbrechen, wenn der Gegner es be-gangen hatte und nicht beweisen konnte,daß wir das Gleiche getan hatten. So galt dasBombardement von städtischen Ballungs-räumen nicht als Kriegsverbrechen, denndas hatten wir stärker betrieben als dieDeutschen und die Japaner. Wir legenTokio in Schutt und Asche? So viel Schutt,daß man nicht mal mehr eine Atombombedraufwerfen kann, man würde ja keinenUnterschied bemerken - nur darum hatman nicht Tokio dafür genommen. KeinKriegsverbrechen - das waren ja wir. Wirhaben Dresden bombardiert, also war dasauch keines. Den deutschen Admiral Dönitz(er befehligte wohl die U-Boote) stellte manwegen des Versenkens von Handelsschiffenoder ähnlicher Sachen vor Gericht. Als dieVerteidigung den US-Admiral Nimitz alsZeugen aufbot, sagte der aus, die USA hät-ten praktisch dasselbe getan; damit warDönitz diese Anklage los. Man kann wirklichalle Akten hernehmen - ein Kriegsverbre-chen lag immer dann vor, wenn wir es ihnenanlasten konnten, aber sie uns nicht. Dastellen sich doch einige Fragen. Übrigens

wird dies interessanterweise von den Betei-ligten offen zugegeben und sogar als mora-lisch vertretbar angesehen. Oberster Anklä-ger in Nürnberg war Telford Taylor, einehrenwerter Mann. Er hat ein Buch ge-schrieben, Nuremberg and Vietnam, und ergeht darin auf die Frage ein, ob es in Viet-nam Verbrechen gegeben habe, die unterdie Nürnberger Statuten fallen. Wie zu er-warten findet er keine, aber es ist interes-sant, wie er diese Grundsätze formuliert.Er tut es genau so, wie ich gesagt habe; ichkönnte ihn direkt zitieren. Nur sieht er dar-in nichts Kritikwürdiges, sondern stellt ein-fach fest: Jawohl, so haben wir das damalsgemacht, und das war auch gut so.Im Yale Law Journal gibt es einen Artikel dar-über; wer sich dafür interessiert, findet ihnauch in einem Buch abgedruckt [gemeintist Chomskys ausgezeichnete Untersuchungüber Vietnam und Kriegsverbrechen »Re-view Symposium: War Crimes, the Rule ofForce in International Affairs«, The Yale LawJournal Bd. 80 Nr. 7 Juni 1971].Ich meine, zu den Prozessen von Nürnbergund Tokio - besonders zu letzterem - soll-ten eine Menge Fragen gestellt werden. DerProzeß von Tokio war in vieler Hinsicht eineFarce. Für das, was die dort Verurteiltenbegangen hatten, hätte man auch eineMenge Leute auf der anderen Seite verur-teilen können. Darüber hinaus hat man inden USA - genau wie bei Saddam Hussein -von vielen besonders schlimmen Verbre-chen kaum Notiz genommen. Denn dieübelsten Bluttaten der Japaner ereignetensich in den dreißiger Jahren in China, aberdas hat in den USA nicht sonderlich inter-essiert. Daß Japan aber daran ging, den chi-nesischen Markt abzuschotten - das hat unsinteressiert. Das fanden wir nicht so gut,weniger das Abschlachten von ein paarHunderttausend Menschen in Nanking.Das ist ja nichts Besonderes.Aus einem Vortrag am St. Michael's College,Winooski, Vermont, USA

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ROWE CONFERENCE CENTER

»Unter all unse-ren klassischenBüchern steht wohldie Bibel am mei-sten für Völker-mord.«

Es ist doch ganz natürlich, daß die Ge-schichte voranschreitet: Zuerst ist die Skla-verei legitim, später nicht mehr. Es wäreüberraschend, wenn diese Entwicklungs-richtung für längere Zeit umgekehrt würde.Zu allen Zeiten war es doch so, daß dieDinge, die man in einer bestimmten Peri-ode als vernünftig und moralisch akzep-tierte, später nur noch Verachtung und Ent-setzen hervorriefen. Das trifft auch aufunsere eigenen Überlieferungen zu. Unterall unseren klassischen Büchern steht wohldie Bibel am meisten für Völkermord; lesenSie nur mal darin. Damals war es Gott, derseinem auserwählten Volk den Auftrag gab,die Amalakiter mit Mann, Frau und Kindauszurotten. Heutzutage würden die Men-schen sich weder auf so etwas einlassennoch es ihrem Gott zuschreiben wollen.Hierin zeigt sich doch ein gewisser morali-scher Fortschritt.Aus einem Interview mit Richard Beckwithund Matthew Rispoli, abgedruckt in Langu-age and Politics S. 468

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UNIVERSITY OF WYOMING, LARAMIE

»Das Ausbildungs-system beruht aufverordneterUnwissenheit.«

StudentIch möchte mal eine Frage zur Wahrneh-mung und Dauer dessen stellen, wovon Siegesprochen haben. Mil der Bildung in denUSA steht es ja so, wie sich auch in der Um-frage des National Geographie gezeigt hat: Esist erschütternd, wie viele Amerikaner nullteinmal über Grundkenntnisse in Geogra-phie usw. verfügen. Ist es da nicht verständ-lich - ich selbst bin ja anderer Meinung -daß dieses Bild von der ignoranten Masse sozählebig ist?

Chomsky

Ich hoffe doch, Sie haben aus meinen Zita-ten über die dumme und unwissende Massenicht etwa den Schluß gezogen, ich glaubteselbst daran. Was ich da beschrieb, war dieEinstellung der Eliten. Die wollen ja gerade,daß die Masse dumm und unwissend ist.Nun gibt es aber nicht einen einzigen Be-weis dafür, daß die Durchschnittsbevölke-rung bei wichtigen Angelegenheiten düm-mer oder uninformierter wäre als die gebil-deten Eliten. Ich glaube, eher trifft dasGegenteil zu - wenigstens bei vielen wichti-gen Fragen.Beispielsweise würden Sie auf die Frage»Auf welchem Breitengrad liegt die Haupt-stadt von Honduras?« die richtige Antwortbestimmt mit größerer Wahrscheinlichkeitim Harvard Faculty Club erhalten, als wennSie diese Frage den Leuten stellen würden,die dem Jesuitenzentrum Spenden für dieHurrikanopfer geschickt haben. Wenn Sieaber andererseits etwas über die Welt wissenwollen, dann würden Sie sicherlich die bes-seren Antworten von denen bekommen, dieGeld für die Hurrikanopfer im Jesuitenzen-trum spenden, denn diese Menschen wis-sen, worauf es ankommt. Sie haben verstan-den, was los ist. Vielleicht kennen sie diegeographische Breite von Tegucigalpanicht, oder nicht einmal diesen Namen.Aber sie haben verstanden, wie es in Mittel-amerika zugeht. Davon wiederum verstehen

die Leute im Harvard Faculty Club so gutwie nichts, weil sie viel zu sehr indoktriniertsind.Wie ich bereits erwähnte, geriet unsereBevölkerung während des Vietnamkriegsaußer Kontrolle. Hierfür hat es einen sehrguten Beweis gegeben. Bei uns werden jadauernd Umfragen veranstaltet; wir wissenalso ganz, gut, was die Leute denken. Wennman nach dem Vietnamkrieg fragt undmehrere Antworten möglich sind, dann sagtseit 1969/70 bis jetzt die überwältigendeMehrheit der Befragten - etwa 70 Prozent -,dieser Krieg sei nicht nur ein Fehler, son-dern grundfalsch und unmoralisch gewe-sen.Befragt man aber die Meinungsführer -oder was man so nennt - dann liegen dieentsprechenden Zahlen viel niedriger. Undbei den wortgewandten Intellektuellen fälltsie praktisch auf Null. Als die Oppositiongegen den Krieg ihren Höhepunkt erreich-te, hielten sie ihn allerhöchstens für einenFehler.Damit bezeugt doch die unwissende Masseein tieferes Verständnis der Realität als diegebildete Elite.

StudentAber beziehen Sie sich da nicht schon wie-der auf ein ganz spezifisches Bevölkerungs-segment? Auf Collegestudenten und Frie-densaktivisten?

Chomsky

Nein, nein, ich meine schon die Bevölke-rung der USA. Meine Zahlen betreffen dieGesamtbevölkerung.

StudentAber der Gedanke - also ich selbst bin jaanderer Meinung ...

Chomsky

Also gut, OK, dann müssen wir die Frage sostellen: »Welches ist die richtige Haltung?«

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VERLAG »SERPENT'S TAIL«

ChomskyIm Grunde ist die Weltpolitik heutenicht moralischer als in den Zeiten vonDschingis Khan. Man hat es nur mitanderen Faktoren zu tun ...

David Ransom(TV-Reporter des australischen Senders ABC)Vielen Dank, Noam Chomsky.

GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

ChomskyDie Leute möchten doch gern wissen,was man meint. Warum sagt er das jetzt?Sowas habe ich ja noch nie gehört.Wenn er das sagt, dann muß er aucheinen Grund, muß Beweise dafür haben- tunlichst eine Menge Beweise. Wenner schon sowas Aufregendes vorträgt.Wo man sich aber so kurz fassen muß,da kann man einfach keine Beweiseliefern, und genau darin liegt dergeniale Kern dieser systematischenBeschränkung. Ich denke sogar, dieLeute von »Nightline« und ähnlichenShows wären bessere Propagandisten,wenn sie Dissidenten häufiger in ihreProgramme hineinließen. Denn dortwürden sie sich in der Tat so anhören,als kämen sie vom Neptun.

Ist es richtig, die amerikanische InvasionSüdvietnams für einen Fehler zu halten,den man beim nächsten Mal besser vermei-den sollte? Oder sollten wir von einem An-griff auf ein anderes Land, der drei Länderverwüstet und einige Millionen Tote hinter-lassen hat, nicht eher sagen: »Das war nichtnur ein Fehler, sondern grundfalsch undunmoralisch.« Man kann da verschiedenerMeinung sein, aber ich persönlich stimmein dieser Sache nun mal mit der überwälti-genden Mehrheit der Amerikaner überein.Wenn die Eliten das anders sehen, danndeshalb, weil es nicht ihrer Interessenlageentsprechen würde. Man kann doch neh-men, was man will: Mißt man die Bildungdaran, wie gut jemand spezielle Testfragenbeantwortet, erhält man ein Ergebnis; so-bald man sie aber am Weltverständnis mißt,gibt es ein gänzlich anderes Ergebnis.Die Naturwissenschaftler unter Ihnen ken-nen das aus ihren Grenzgebieten. Nehmenwir an, Sie möchten wissen, wer etwas vonder Physik versteht. Würden Sie alle Wis-senschaftler mit der Frage testen, wie vieleFakten sie kennen, dann erwischen Sie dieBürokraten, nicht aber diejenigen, die Phy-sikverständnis besitzen und eine Vorstel-lung davon haben, wie sie funktioniert.Wenn diese Personen eine Detailinforma-tion benötigen, dann schlagen sie in einemHandbuch nach.

In der Frage des Weltverständnisses ist esauch nicht viel anders. Das Ausbildungssy-stem beruht auf verordneter Unwissenheit;es ist ein System der Indoktrination, das denMenschen die Fähigkeit austreibt, eineSache wirklich zu verstehen. Deshalb findeich in vielen Dingen bei denjenigen, dieweniger Zugang zu dieser Indoktrinationhatten, einen erheblich schärferen Blick.Damit will ich mich natürlich nicht für Bil-dungsmängel aussprechen. Ich fände esschon nicht schlecht, wenn die Leute wüß-ten (...) wo Tegucigalpa liegt; das wäredurchaus hilfreich. Andererseits steht eben

denjenigen, die dem Indoktrinationssystemweniger ausgeliefert sind, eine freiere Welt-sicht offen.Aus einer Fragestunde im Anschluß aneinen Vortrag »Necessary Illusions« in derUniversity of Wyoming in Laramie

Im Grunde ist dieWeltpolitik heutenicht moralischerals in den Zeitenvon DschingisKhan.

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AUS »MACNEIL/LEHRER NEWS-HOUR«, PBS, USA (1990)

(Chomsky insgesamt 11 Minuten 52 Sekun-den im Bild)

Jim LehrerUnd jetzt unser Gespräch über die Nah-ostkrise - heute mit dem Schriftstellerund politischen Aktivisten, ProfessorNoam Chomsky.

ChomskyUnd auch hier liegt ein Angebot aufdem Tisch, das wir abgelehnt haben:Im April boten die Irakis ...

Robert MacNeil (nicht im Bild)OK, leider muß ich ...

Chomsky... uns an, ihre Bestände an chemischenund anderen nicht-konventionellenWaffen zu beseitigen, sofern Israelgleichzeitig dasselbe macht.

Robert MacNeil... hier abbrechen.

ChomskyWir haben das Angebot zurückgewiesen,aber ich meine, man sollte daraufzurückkommen.

Robert MacNeilVerzeihung, daß ich Sie unterbreche,aber wir müssen leider hier aufhören.Unsere Zeit ist zu Ende. Vielen Dank,Professor Chomsky, daß Sie hier waren.

WERBESPOT DES AT&T-KONZERNS

SprecherSeit 1983 sponsert AT&T die »Mac-Neil/Lehrer NewsHour«, denn - einegute Verbindung, das bedeutet für uns:Qualität in der Information/Qualität inder Kommunikation. Die richtige Wahl-AT&T.

Im Verlauf von sechzehn Jahren traten imMacNeil/Lehrer-Nachrichtenmagazin über10.500 Gäste auf.Noam Chomsky wurde dabei genau 1 malinterviewt.

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VERLAG »SERPENT'S TAIL«

David RansomOK, ich brauche Sie nur einen Momentfür eine kurze Szene mit uns beiden.Alles andere machen wir dann an-schließend.

ChomskyEinverstanden.

David Ransom (zum Kameramann)

Gut, aber was ist mit dem ...

Chomsky (zu Mark Achbar)Weißt du, Mark, ich will lieber nachoben gehen, hier hängt soviel Zeugherum ...

David RansomAlso bei dieser Aufnahme geht es nurdarum, daß man sieht, wie ich zu Ihnenspreche und Sie mir zuhören. Ich frageSie was, aber Sie antworten nichts,machen keine Mundbewegung; mansieht nur, daß ich Ihnen eine Fragestelle. Das machen wir nur, weil ...

ChomskyIch kenne das schon ...

David RansomAlso, Sie sagen kein Wort und über-lassen alles mir, ja? Ach ja, also wirmachen diese Aufnahme deshalb, weil- ich erkläre es ganz, das geht am leich-testen - wir machen das, weil ich eineEinstellung brauche, wo Sie dasitzenund mir zuhören, wie ich Ihnen eineFrage stelle. Diese Aufnahme könnenwir für Ihre Vorstellung nehmen, da wowir sagen, wer Sie sind und warum Sieeinen Platz in meiner Sendung haben.Und wenn Sie selbst gar nichts sagen,dann kann ich das Ding auch noch ...Alles klar? OK, vielen Dank für IhreGeduld. Auf geht's!

David Ransom, Reporter für ABC Australia,hatte dankenswerterweise Chomsky umeine Analyse gebeten und war dann auchnoch so offenherzig, uns einige Details derTechniken des TV-Journalismus ausplau-dern zu lassen, die den Zuschauern übli-cherweise verborgen bleiben.

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»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

Elizabeth SikorovskyWarum leben Sie eigentlich in den USA,wenn doch die Meinungsvielfalt hiergeringer ist und man viele Meinungennur schlecht vertreten kann?

ChomskyAlso erstens ist es mein Land, und zwei-tens - ich sagte es ja schon - ist es invieler Hinsicht das freieste Land derWelt. Will sagen, es gibt wahrscheinlichnirgends so viele Chancen zur Verän-derung wie gerade hier.

AUS »IDEAS«, CBC RADIO

ChomskyIn den USA unterliegt der Staat den ver-gleichsweise stärksten Beschränkungen.

Peter Worthington (Ottawa Sun)Aber sollten Sie nicht gerade da ehereinen vergleichenden ...

ChomskyDas tue ich doch.

Peter Worthington... als einen absoluten Maßstab anlegen?

ChomskyNatürlich.

Peter WorthingtonBei Ihnen wirkt das aber anders.

ChomskyNaja, vielleicht kommt es nicht sorüber, aber gesagt habe ich es bestimmtsehr oft. Ich sage doch dauernd, auchheute abend, und ich habe es auchschon tausendmal geschrieben: In den

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Vereinigten Staaten gibt es sehr vielFreiheit - und auch sehr viel Reichtum.Aber dieser Reichtum beleuchtet dochauch einen Skandal. Wenn man malbedenkt, wie gut die USA in der Weltdastehen - so reich an Mitteln und soarm an Feinden - dann müßte hierdoch der allgemeine Wohlstand, dasGesundheitsniveau usw. um eineGrößenordnung über dem Rest derWelt liegen. Tut es aber nicht. In derKindersterblichkeit nehmen wir unterden 20 Industrieländern den letztenPlatz ein. Hier hat der amerikanischeKapitalismus in einen Skandal geführt.Aber - wir sind eine freie Gesellschaft.Und - wir stellen böse Sachen in derWelt an. Stimmt doch, oder? Hier mußja kein Widerspruch liegen. Mit athe-nischen Maßstäben gemessen, besaßauch Griechenland eine freie Gesell-schaft. Und doch war es bösartig in sei-ner imperialistischen Politik. Zwischender inneren Freiheit einer Gesellschaftund ihrem Verhalten nach außenbesteht - wenn überhaupt - nur eineäußerst schwache Korrelation.

In der Säuglingssterblichkeit liegen die USAunter zwanzig Industriestaaten auf Platz 20,noch hinter Ostdeutschland, Irland, Spa-nien etc. (Wall Street Journal, 19.10.88)Necessary Illusions S. 357 Anm. 8

In früheren Jahren hatte es gewaltige Pro-pagandafeldzüge gegeben, um in der Allge-meinheit grassierende Abweichungen aus-zutilgen - vor allem kurz nach dem ZweitenWeltkrieg, als eine Welle von Sozialrefor-men über die Erde ging.Diese wurden von den USA - nicht nur imeigenen Land - erbittert und weitgehenderfolgreich bekämpft; einzig in Europa undJapan verfehlten die Attacken auf die De-mokratie und die Arbeiterbewegungen zumTeil ihr Ziel, schloß man doch in diesenLändern eine Art »Gesellschaftsvertrag« abund setzte so unsittliche Ideen wie medizi-nische Versorgung, Arbeiterrechte und an-dere Abweichungen von dem rechten Wegedurch, den wir als Türhüter und Muster be-wachen.In den USA selbst brach sich die Reform-welle an der intensiven Gegenpropagandader Handelskammer und des Werberats, dieunter Einsatz von 100 Millionen Dollar eineKampagne über alle Medien laufen ließen,um dem amerikanischen Volk das Amerika-nische Wirtschaftssystem - oder was sie dar-unter verstanden -zu »verkaufen«. Offiziellnannte man diese Kampagne »ein wichtigesProjekt, der Bevölkerung der USA die wirt-schaftlichen >Tatsachen des Lebens< beizu-bringen.« Wie das führende Wirtschafts-magazin Fortune berichtete, setzten dieGroßunternehmen »umfangreiche Indok-trinationsprogramme für ihre Angestell-ten« in Gang, in deren Verlauf sie die ihnenausgelieferten Mitarbeiter/-innen in »Wirt-schaftlichen Fortbildungskursen« versam-melten und auf ihre Loyalität gegenüberdem System des »freien Unternehmertums«- also auf ihren »Amerikanismus« - teste-ten. Dies geschah in einem »atemberauben-den« Umfang (so der damalige Fortune-Redakteur Daniel Bell) und war nichtsanderes als der Versuch der Unternehmer,den Demokratisierungsimpuls aus der Zeitder großen Depression zu stoppen und dieideologische Hegemonie des »freien Unter-

nehmertums« wiederherzustellen. Nacheiner Umfrage der American ManagementAssociation waren für viele Wirtschaftsführer»Wirtschaftserziehung« und »Propaganda«zu Synonymen geworden, wollten sie docherreichen, »daß unsere Leute richtig den-ken«.Wie das AMA ebenfalls berichtete, »zieltendiese Kampagnen häufig gleichzeitig« aufden Kommunismus, den Sozialismus sowieauf bestimmte politische Parteien undGewerkschaften. »Viele Arbeitgeber erblick-ten darin einen >Kampf um die Herzen< mitden Gewerkschaften« - ein ziemlich unglei-cher Kampf, bedenkt man die verfügbarenMittel, einschließlich der damals wie heutegratis einspringenden privatwirtschaftlichorganisierten Medien.Das Ergebnis war unübersehbar: Die USAschlössen sich auf dem Feld der sozialenFragen und der menschlichen Grundrechteaus der Gemeinschaft der übrigen Indu-strieländer aus. Einzig die Krankenversiche-rung hat man jetzt wieder aufgegriffen,nachdem die Wirtschaft das überbürokrati-sierte und ineffiziente private System alseine allzu drückende Belastung zu empfin-den begonnen hatte; aber auch hier sind esdie USA allein, die - wiederum gegen eineweitverbreitete Opposition - ein rückständi-ges (nämlich nicht auf Steuern gegründe-tes) System durchdrücken, das auf Kostender Allgemeinheit geht und vor allem denInteressen einiger mächtiger Versiche-rungsgesellschaften dient, die es aufziehenund verwalten werden.»The Clinton Vision - The Rationale andRhetoric of U. S. Foreign Policy: Enlarge-ment, Democracy, and Free Markets« in ZMagazine Dezember 1993; dt.: Clintons Vision(Trotzdem Verlag 1994) S. 26

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AUS »FIRING LINE« (1969)

William F. BuckleySie beginnen Ihre Argumentationskettean einem für Sie günstigen Zeitpunktder Geschichte ...

ChomskyDrum sage ich immer, man muß richtiganfangen. Man muß richtig anfangen ...

BuckleyDas Drama der Nachkriegszeit istdoch ...

ChomskyKlar.

Buckley... liegt doch darin, daß die kommuni-stischen Imperialisten durch Terroris-mus und ... und durch Unterdrückungder Freiheit zu diesem Blutvergießenbeitragen. Und nicht nur das - wasschon traurig genug ist - sondern siehaben anscheinend auch Sie um Ihrerationale Beobachtungsgabe gebracht.

ChomskyDarf ich mal was sagen?

BuckleySicher.

ChomskyDas stimmt etwa zu fünf Prozent und ...na ja, vielleicht zu zehn Prozent. Jeden-falls stimmt es ...

BuckleyWas sollen diese Zahlen?

ChomskyDarf ich mal ausreden?

BuckleyAber gewiß doch.

ChomskyAlso es trifft zwar zu, daß der stalinisti-

Als eingehendere Behandlung empfiehltChomsky hierzu:Alex Carey, Managing Public Opinion: TheCorporate Offensive (MS, University of NewSouth Wales 1986);leicht verändert in: S. Frenkel (Hrsg.), UnionStrategy and Industrial Change (New SouthWales University Press 1978);ausschnittsweise in City Lights Review Nr. 3(San Francisco 1989)

Edward S. Herman und Noam Chomskyhaben Manufacturing Consent Alex Careygewidmet.

Zur Situation in den USA vgl.:»The Third World at Home«, Year 501: TheConquest Continues, S. 275-288»The Home Front«, Deterring Democracy,S. 69-88»The Domestic Scene«, On Power and Ideo-logy, S. 113-135

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sche Imperialismus sich Teile der Erdebrutal unterworfen hat, vor allem inOsteuropa, und sie immer nochbeherrscht - aber in anderen großenRegionen haben wir genau dasselbegemacht. Es gibt im Kalten Krieg eineWechselwirkung. Wissen Sie, diese ...was Sie da gerade vorgeführt haben, dasist doch ein Kalter-Kriegs-Mythos, dervielleicht vor 10 Jahren vertretbar war,inzwischen aber dem Stand der For-schung völlig widerspricht.

BuckleyDann fragen Sie doch mal einen Tsche-chen ...

ChomskyUnd fragen Sie doch mal einen Guate-malteken oder einen Dominikaner —einen Bürger der DominikanischenRepublik - fragen Sie jemanden ausSüdvietnam oder aus Thailand oderaus ...

BuckleyAlso wenn Sie nicht mal erkennen, daßein Unterschied besteht zwischen unse-rer Aktion in Guatemala und dem, wasdie Sowjets in Prag gemacht haben ...

ChomskyWo liegt denn der Unterschied?

Buckley... dann haben wir wohl wirklich einProblem.

ChomskyErklären Sie mir doch mal den Unter-schied.

(Glocke)

BuckleyTut mir leid.

In der linken Hand hielt Buckley einenKnopf, mit dem er offensichtlich das Zei-chen zum Umschalten auf Werbung oderPause geben konnte. Im Film ist zu erken-nen, wie sein Daumen genau in dem Mo-ment über dem Knopf schwebt, als Chom-sky, der im Verlauf der Sendung mehrmalsunterbrochen worden war, darum bat, end-lich seinen Satz zu Ende führen zu dürfen.Buckley machte dann seinen Punkt, ließaber Chomsky nicht mehr zu Ende kom-men, sondern schaltete um. Nach dem En-de der Unterbrechung ging er auf Chom-skys Argumentation nicht mehr ein.

Zum Kalten Krieg vgl. "Cold War: Fact andFancy«, Deterring Democracy, S. 9-68

Zu Guatemala vgl. Turning the Tide und OnPower and Ideology

Zur Dominikanischen Republik vgl.:The Political Economy of Human Rights, Bd. 1S. 242-250Year 501: The Conquest Continues, Kap. 7-8»The Fruits of Victory: The Caribbean«,Deterring Democracy, S. 233-235

Zu Thailand vgl. The Political Economy ofHuman Rights, Bd. 1 S. 218-229

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ERIN MILLS TOWN CENTRE

Zunächst weißes Bild, dann Schnitt zumCoast Bastion Inn, Nanaimo, Kanada

ChomskyWie läßt sich erreichen, daß die Mediendemokratischer werden und besser rea-gieren? Viel Spielraum gibt es da nicht- das wäre etwa so, als wollte man dieKonzerne demokratisieren. Da gibt eswirklich nur eines: sie abschaffen.Natürlich, wenn jemand viel Machtrepräsentiert, läßt sich schon ... alsowenn z.B. jemand von der Kirche ineiner Aktionärsversammlung lautstarkgegen Investitionen in Südafrika pole-misiert, dann kann das schon mal einegewisse Wirkung haben. Es geht nichtspurlos unter; aber die wahren Macht-verhältnisse tastet man dadurch nichtan, denn das wäre der Umsturz derGesellschaftsordnung. Solange manaber eine solche Revolution - also eineVerlagerung der Macht - nicht ernsthaftwill, so lange behalten die Medien ihreheutige Struktur und vertreten diesel-ben Interessen wie heute. Ich will damitnicht sagen, daß man es nicht versuchensollte. Man kann immer versuchen, dieGrenzen des Systems zu verschieben.

Fortsetzung (nicht im Film gezeigt)Schließlich bilden Großbetriebe und Kon-zerne auf dem Gebiet der Wirtschaft das Ge-genstück zu dem, was in der Politik Faschis-mus genannt wird. Ihre Entscheidungs-struktur ist top-down aufgebaut: Jemandgibt Befehle, die dann weiter unten ausge-führt werden.

Wenn man mal in einer Demonstration mit-läuft und dann wieder nach Hause geht, dannist das zwar auch etwas, aber damit könnendie Mächtigen leben. Anders ist es, wennanhaltender und wachsender Druck ausgeübtwird, wenn Organisationen die Sache in Ganghalten, wenn die Menschen Lehren aus ihrenErfahrungen ziehen, um es beim nächstenMal besser zu machen: Damit können sienicht leben.What Uncle Sam Really Wants S. 98

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BÜRGERINITIATIVE, NANAIMO

Junger MannUm eine gute Presse zu haben, brauchtman nichts weiter als ein oder zwei Men-schen, die sich als anständige Journali-sten verstehen.

ChomskyGenau. Das ist wichtig, und das führtuns auf einen Punkt zurück, der vorherschon mal aufkam. Die Welt ist nun malkompliziert und nicht monolithisch.Auch die einzelnen Massenmedien sindkomplex und nicht ohne innere Wider-sprüche. Einerseits sollen sie indoktri-nieren und entmündigen, andererseitsbesitzen sie ein Berufsethos.

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SARAH MCCLENDON NEWSSERVICE, WASHINGTON

SprecherSie ist ihre eigene Chefin. Sie arbeitetfür ein ganzes Sammelsurium kleinererAbnehmer überall im Land, schreibtZeitungsartikel und Rundfunkkommen-tare. Seit nahezu 40 Jahren schießt dieseTexanerin mit der Lederlunge, wie sieauch genannt wird, ihre Fragen auf diegroßen Tiere ab.

Sarah McCIendonHeutzutage hat so mancher junge Mannhierzulande jede Illusion über dieRegierung verloren.

Richard NixonNun, es ist sehr gut, daß Sie das allge-meine Interesse auf diese Frage lenken.

Ronald ReaganNicht, daß wir keine Pressekonferenzenabgehalten hätten. Aber ich habe dieganze Zeit darauf gewartet, daß Sarahwieder auftaucht.

Sarah McCIendonSehr freundlich, Mr.President, vielenDank auch. Darf ich Sie vielleicht aufein ernstes Problem ansprechen?

SprecherMcClendons unverwechselbare undhäufig schockierende Fragen zielen vorallem darauf ab, Informationen heraus-zukitzeln.

Sarah McCIendonIch möchte Sie - und Ihren neuenMann da - fragen, wie seiner Meinungnach die Öffentlichkeit... (der Rest gehtim allgemeinen Gelächter unter)

SprecherKenntnisreich und hartnäckig, wie sieist, kann sie ihre Zielperson gewöhnlichfestnageln.

Ich habe eigentlich eine hohe Meinung vonden US-Medien, denn ihre Professionalitätist beachtlich, wenigstens im engeren tech-nischen Sinn. Wenn ich also bei einemEreignis irgendwo auf der Welt die Wahlhätte zwischen einem erfahrenen amerika-nischen Reporter und einem Reporter auseinem der anderen, mir vertrauten Länder,dann würde ich wohl im großen und ganzendem Bericht des Amerikaners den Vorzuggeben. Es gibt dort gewiß ein hohes berufli-ches Niveau im engeren Sinn -will sagen, eswird nicht gelogen. Gut, einige tun auchdas, aber übers Ganze gesehen wollen un-sere Reporter doch herausfinden, was pas-siert ist (immer im engen technischenSinn). Falsch liegen sie eben in der Auswahlder Themen, in ihren stillschweigendenAnnahmen, die in die Berichterstattungeinfließen, in den Hervorhebungen, denUntertönen usw.Aus einem Interview mit Joop van Tijn,Humanist TV, Niederlande, 10.06.89

Die Journalistin und Autorin Sarah New-comb McClendon wurde 1910 geboren.1946 gründete sie in Washington den SarahMcCIendon News Service. 1978 erschien ihrBuch My Eight Presidents; seitdem hat sieüber drei weitere berichtet.Neben der Arbeit für ihre Nachrichtenagen-tur liefert sie Beiträge für Esquire, Penthouse,Diplomat und andere Zeitschriften.Unter den zahlreichen Auszeichnungen, dieihr verliehen wurden, finden sich der Womenof Conscience Award des Nationalen Frauen-rats (1983) und der erste Presidents Awardfor Journalism in Washington der NationalenJournalistinnen-Vereinigung (1990). Sie hatauch im Weiblichen Armeekorps gedientund im Beratungsausschuß für Frauen inden Streitkräften mitgearbeitet.

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IM NATIONAL PRESS CLUB,WASHINGTON

Sarah McCIendonVersetzen Sie sich mal in die Lage einesJournalisten. Sie möchten ehrlich sein,und Sie grämen sich zu Tode über IhrLand, und Sie sehen, wie krank es ist,und sehen dieses schwächliche WeißeHaus und diesen schwächlichen Kon-greß. Was würden Sie da als Reportertun?

ChomskyAlso viele Journalisten leisten in meinenAugen ganz hervorragende Arbeit. Ichhabe viele Freunde bei der Presse, diesind spitzenmäßig. Was Sie da ...

Sarah McCIendonIch weiß, die sind gut oder versuchen eswenigsten. Aber Sie, was täten Sie ...

ChomskyAlso zunächst mal muß man das Systemdurchschaut haben. Gute Journalistenkönnen das. Man muß wissen, von woder Druck kommt, wem man verpflich-tet ist, welche Wege offen und welcheversperrt sind.

Diese Pressekonferenz war von FAIR eigensfür die in Washington tätigen Medien orga-nisiert worden, um einmal gegenüber demMedienkritiker Noam Chomsky »den Spießumzudrehen«. Es erschienen etwa 40 Men-schen, darunter nicht ein einziger Vertreterder großen US-Zeitungen, obgleich diesesämtlich eingeladen worden waren.

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AMERICAN CIVIL LIBERTIES UNION,ROCHESTER

ChomskyZum Beispiel unmittelbar nach denAnhörungen über die Iran-Contra-Affäre, da ging vielen guten Reporternauf: Hoppla, jetzt geht einige Monatelang alles etwas offener zu, jetzt könnteman doch Berichte über Sachen durch-drücken, über die man vorher nicht malzu sprechen gewagt hätte.

MannNach Watergate auch.

ChomskyNach Watergate genauso. Aber dannwird alles wieder dicht gemacht - biszum nächsten Mal.

Im Falle von Watergate bestand das Verbre-chen darin, daß die Republikanische Parteiaus Gründen, die bis heute im dunkeln lie-gen, eine Truppe, die geradewegs aus der»Police Academy« hätte kommen können,beauftragt hatte, in das Hauptquartier derDemokratischen Partei einzudringen. So-weit das eigentliche Vergehen; daneben gabes noch einige Begleitaffären.Zeitgleich mit den Anhörungen zu Water-gate wurde im Zuge diverser Gerichtsver-fahren und durch Berufung auf das »Free-dom of Information Act« [Gesetz, das den vonAktivitäten der Regierung incl. der GeheimdiensteBetroffenen ein Recht auf Akteneinsicht gibt] ent-hüllt, daß das FBI bereits seit 12 oder 13Jah-ren regelmäßig Einbrüche in Büros derSocialist Workers Party - einer legalen poli-tischen Partei - verübt hatte. Ziel war es, dieParteiaktivitäten zu stören und vor allem dieMitgliederlisten zu entwenden; mit diesenkonnte man dann die Neueingetreteneneinschüchtern, sie um ihre Arbeitsplätzebringen usw. Dies war eine viel ernstereSache; schließlich war hier nicht ein Grüpp-chen kleiner Gauner am Werk gewesen,sondern die politische Polizei der Nation.Und nicht irgendein übereifriger Kampf-hahn hatte es betrieben, sondern verschie-dene Regierungen hielten systematisch dar-an fest. Watergate hat der DemokratischenPartei nicht geschadet; hier aber wurde einelegale politische Partei in die größtenSchwierigkeiten gebracht. Kam dazu etwasbei den Watergate-Anhörungen zur Spra-che? Nicht ein Wort.Wo liegt der Unterschied? Einfach darin:Die Demokratische Partei ist- im Gegensatzzur Socialist Workers Party - eine Repräsen-tantin der Macht. Die Anhörungen habenalso das Grundprinzip vorgeführt, das dalautet: »Die Mächtigen wissen sich zu schüt-zen.«Chronicles of Dissent S. 136-137

Mehr zur Iran-Contra-Affäre auf S. 213

Zu Watergate vgl.:Manufacturing Consent Kap. 6»Watergate: Small Potatoes«, Radical Priori-ties, S. 175-177

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»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

ChomskyIch glaube, die meisten Menschen ver-innerlichen die Werte. Das ist ganz ein-fach und funktioniert fast immer: Hatman seine Werte erst einmal verinner-licht, dann kann man sich - in einemgewissen Sinne sogar zu Recht - ein-bilden, man besäße Handlungsfreiheit.

Man paßt sich ein wenig an und spürt, daßdarin ein Privileg liegt. Weil es nützlich ist,glaubt man bald selbst an das, was man sagt.In diesem Augenblick hat man das System ausIndoktrinierung, Täuschung und Verzerrungbereits verinnerlicht und ist ein williges Mit-glied der privilegierten Elite geworden, derHerrin über die Gedanken und die Indoktri-nierung. Das ist überall so, ob unten oderoben. Es dürfte kaum einen Menschen geben,der diese sogenannte »kognitive Dissonanz«aushalten kann: an etwas glauben, aber etwasanderes sagen. Man fühlt sich genötigt,gewisse Dinge zu sagen, und sehr bald glaubtman selbst daran, schon weil es gar nichtanders geht.Aus einem Interview mit David Barsamian, Language, and Politics S. 653-654

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BILDSCHIRM IN EINER TV-WERK-STATT WÄHREND DES GOLFKRIEGS(18.01.90)

SprecherAlso auf zum Weißen Haus, wo unserkampferprobter Korrespondent FrankSesno uns wohl etwas über Selbstzensurerzählen kann. Dieses Trägheitsnaviga-tionssystem bleibt doch immer einge-schaltet, oder? Wie sieht das aus mit deroffiziellen Zensur, Frank?

Frank Sesno (CNN-Reporter)

Es gibt keine Selbstzensur. Was icherfahre, gebe ich weiter - sofern nichtwirklich zwingende Gründe dagegensprechen. Ich behaupte ja nicht, daß ichnicht auch mal gern im Oval Officewäre, um wie der Präsident einen Blickauf die vielen Karten und Diagrammedort zu werfen. Aber das ist unmöglich,unrealistisch und wahrscheinlich auchgar nicht wünschenswert.

Die Eigentumskonzentration bei den Me-dien ist sehr hoch und nimmt immer nochzu. Außerdem gehören die Inhaber derSpitzenpositionen sowie diejenigen, die alsKommentatoren zu Ansehen kommen, der-selben privilegierten Eliteschicht an, derenEinstellungen, Blickwinkel und Ziele sie ver-mutlich ebenso teilen, wie sich darin ihreeigenen Klasseninteressen widerspiegeln.Journalisten, die neu in diese Welt einstei-gen, werden kaum erfolgreich sein, solangesie sich dem ideologischen Druck nicht beu-gen, was gewöhnlich dadurch geschieht,daß sie die entsprechenden Wertvorstellun-gen verinnerlichen. Es fällt schwer, etwas zusagen, an das man nicht glaubt, und wersich nicht anpaßt, wird alsbald vermittelsder bekannten Mechanismen ausgesiebt.Necessary Illusions S. 8

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AUS »JOOP VAN TIJN IN GESPRECKMET«, HUMANIST TV, NIEDER-LANDE

Joop van Tijn (Journalist)

Hallo.

ChomskyHi, wie geht's?

Joop van TijnBestens. Wenn Sie dort bitte Platz neh-men würden. Willkommen in Holland.Zunächst werde ich Sie mal kurz vor-stellen.

(in die Kamera, auf Niederländisch)Professor Chomsky, Noam Chomsky,ist 60 Jahre alt und so ziemlich derumstrittenste Intellektuelle in den USA.Das ist zwar eigentlich eine Binsen-wahrheit, aber genau so wird er immerbezeichnet.

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MELDUNG ÜBER EINE BÜCHER-VERBRENNUNG

Nachrichtensendung von City TV (Toronto,Kanada) vom 25.09.87

Thalia Assuras (Reporterin)

Man hat Chomsky den Einstein dermodernen Linguistik genannt. Für dieNew York Times ist er »vielleicht derbedeutendste Intellektuelle der Gegen-wart.« Und doch hat sein Auftreten hierzu Protesten geführt.

Bui Son (Vereinigung Freier Vietnamesen inKanada)Dieses Buch vergiftet die Welt, es stecktvoller Lügen, und wir Vietnamesen wol-len es hier verbrennen.

Alle DemonstrantenVietnam! Vietnam!

Khanh Lekim (Vietnamesisches Menschen-rechtskomitee)Er sagt, in Vietnam würden keine Men-schenrechte verletzt und in Kambod-scha keine Verbrechen begangen. Erhat unrecht.

Bui SonAufgrund seiner beruflichen Stellung ...unter Hinweis darauf vergiftet Chomskydie Welt - und dagegen protestierenwir.

Vollständiger Text

Thalia AssurasMit Empörung haben Mitglieder der vietna-mesischen und kambodschanischen Ge-meinde auf einen Vortrag reagiert, den einweltberühmter Gelehrter an der UniversitätToronto gehalten hat. Der Vortrag lief inder Reihe des Toronto Star, und die 1700Plätze in der Convocation Hall waren heutenachmittag ausverkauft. Redner war derBuchautor Noam Chomsky. Man hat Chom-sky den Einstein der modernen Linguistikgenannt. Für die New York Times ist er »viel-leicht der bedeutendste Intellektuelle derGegenwart.« Und doch hat sein Auftretenhier zu Protesten geführt.

Bui SonDieses Buch vergiftet die Welt, es steckt vol-ler Lügen, und wir Vietnamesen wollen eshier verbrennen.

Alle DemonstrantenVietnam! Vietnam!

Thalia AssurasDas Buch, um das es geht, hat er zusammenmit Edward S. Herman geschrieben. Esheißt After the Cataclysm: Imperial Ideology andPost-War Reconstruction in Indochina [Der Ti-tel wird hier verdreht, er lautet richtig: Afterthe Cataclysm: Postwar Indochina and the Recon-struction of Imperial Ideology (The Political Eco-nomy of Human Rights Bd. 2) ]

Khanh LekimEr behauptet, niemand sei in irgendein La-ger gekommen. Wir haben solche Gefange-ne hier unter uns. Er behauptet, wenn Leu-te aus Vietnam flüchten, dann nicht wegendes Kommunismus, sondern aus anderenGründen. Er sagt, in Vietnam würden keineMenschenrechte verletzt und in Kambod-scha keine Verbrechen begangen. Er hatunrecht.

Bui SonAufgrund seiner beruflichen Stellung ...unter Hinweis darauf vergiftet Chomsky dieWelt - und dagegen protestieren wir.

Thalia AssurasNach Chomskys Aussage verfolgt das Buchunter anderem das Ziel, das wahre Ausmaßder in Kambodscha und anderen Ländernverübten Greueltaten zu ermitteln. Auchvergleicht es die veröffentlichten Zahlenmit anderen Quellen.

»THIRD EAR«

ChomskyBei Kambodscha bestand die allgemeinübliche Darstellung in den Medien darin,daß Pol Pot zugegeben - sich sogar gerühmt- hätte, zwei Millionen Menschen in einereinzigen Genozidaktion umgebracht zu ha-ben. Nach den damaligen Erkenntnissendes US-Geheimdienstes betrug die Zahl derToten aber nur einige Zehn- oder allenfallsHunderttausende, und sie waren auch kei-nem Genozid zum Opfer gefallen, sondernextrem schlechten Lebensbedingungen, Er-schöpfung und so weiter. Unsere Aussage istdann, daß das nach unserer Meinung die zu-verlässigste Schätzung sein dürfte,(zu Kambodscha siehe auch ab S. 92)

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AUS »THIRD EAR«

ChomskyIch habe nichts dagegen, wenn ichangegriffen werde. Was mich stört, sinddie Lügen. Intellektuelle können wirk-lich wunderbar lügen - sie sind gerade-zu Profis auf diesem Gebiet. Verleum-dung ist nämlich ein phantastischerTrick, weil man nicht darauf reagierenkann. Was soll ich denn sagen, wennmich jemand einen Antisemiten nennt?Daß ich keiner bin? Oder man schimpftSie einen Rassisten oder einen Nazioder sonstwas - Sie ziehen immer denKürzeren. Sie können auf solcheAngriffe einfach nichts entgegnen, unddeshalb gewinnt immer der, der denSchmutz geworfen hat.

Zu anderen Lügen und Verleumdungen,denen Chomsky ausgesetzt war, vgl. : »TheChorus and Cassandra: What EveryoneKnows About Noam Chomsky« von Christo-pher Hitchens in Grand Street Herbst 1985

... deshalb gewinnt immer der,der den Schmutz geworfen hat.

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GRONINGEN

Frits Bolkestein (niederländischerVerteidigungsminister)Professor Chomsky scheint für alleMenschen, an denen er etwas aus-zusetzen hat, nur zwei Schubladenbereitzuhalten: Entweder sie lügen odersie sind dumm. Jetzt passen Sie mal auf:Ich nehme den Fall Robert Faurissonher. Wie war das doch gleich?

Wer kennt nicht Noam Chomsky vom MIT -entweder als Linguist oder wegen seiner lin-ken politischen Aktivitäten. Aber nur inFrankreich ist bekannt, daß er auch engeVerbindungen zur aktuellen Neonazi-Szeneunterhält, ja gewissermaßen der obersteSchutzpatron dieser Bewegung ist. Es gehtihm wie einem Bigamisten: Wie dieser seinebeiden Familien voreinander verbergenmuß, so muß auch Chomsky darauf sehen,daß seine liberalen und linken Leser undZuhörer nichts über seine Neigung zu denNeonazis erfahren.Chomsky macht geltend, seine Kontakte mitden Neonazis bezögen sich ausschließlichdarauf, für deren Redefreiheit einzutreten.Er stünde auch nicht hinter dem wichtig-sten Glaubensartikel der Neonazis, demzu-folge der Holocaust nie stattgefunden habe.Allerdings haben ihn derartige Dementisnicht von seiner wiederholten und langan-dauernden Zusammenarbeit mit der Neo-nazi-Bewegung abgehalten. Und was beson-ders den französischen Neonazis geholfenhat: Er wirbt für ihre Gruppen mit seinemwissenschaftlichen Ruf.Werner Cohn, The Hidden Alliances of NoamChomsky (40-seitige Kampfschrift der »Ame-ricans for a Safe Israel« 1988)

Wer jemals in seine eigene FBI-Akte Ein-blick genommen hat, der weiß, daß die mei-sten Geheimdienste völlig unfähig sind.Deshalb geht ja bei denen auch so vielschief. Es klappt einfach nicht, und dafürgibt es viele Gründe. Zum Teil hängt es da-mit zusammen, wie sie mit den Informatio-nen umgehen. Die Weitergabe geschiehtüblicherweise durch ideologische Fanati-ker, die alles auf ihre eigene abseitige Weisemißverstehen. Schaut man beispielsweise indie eigene Akte, wo man ja die Faktenkennt, dann stellt man fest: Ja, die Angabenstehen in einer losen Beziehung zu den Tat-sachen; man kann rekonstruieren, wovon

die Rede ist. Doch bis das Material erst malseinen Weg durch den ideologischen Fana-lismus der Geheimdienste gemacht hat,

sind die merkwürdigsten Verzerrungen ein-getreten.Aus »Noam Chomsky: Questions and An-swers with Community Activists, UniversityCommon Ministry, Laramie, Wyoming«10.02.89

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HUMANIST TV, NIEDERLANDE

Joop van TijnEinzelheiten ersparen wir uns, weil ...

ChomskyDie sind aber wichtig.

Joop van TijnIch möchte nur eine Frage zum FallFaurisson stellen.

ChomskyAlso kommt es nun auf die Fakten anoder nicht?

Joop van TijnNatürlich, ja.

ChomskySo, dann möchte ich Ihnen bitte dieFakten vorlegen.

Joop van TijnHm.

BATTERSEA ARTS CENTRE,LONDON

Zorniger MannJawohl - Faurisson hat gesagt, daß derMassenmord an den Juden im Holo-caust eine Geschichtslüge ist ...

Frau aus dem PublikumKönnten wir bitte die nächste Fragehören?

Zorniger MannNein.

ChomskyDoch, doch, das ist schon wichtig,das hat auch viel mit unserem Themazu tun.

Frau aus dem PublikumVerschwinden Sie!

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RADIO KUOW, SEATTLE

Ross ReynoldsSie sind ja sehr umstritten. Aber denschärfsten Widerspruch haben sie dochwohl geerntet, als Sie diesen franzö-sischen Intellektuellen verteidigten,der behauptet hatte, es habe im ZweitenWeltkrieg überhaupt keine Nazi-Todes-lager gegeben, und der deswegenseinen Job an der Uni verlor.

CAFE IN PARIS

Robert FaurissonIch heiße Robert Faurisson. Ich bin60 Jahre alt und Professor an der Uni-versität von Lyon. Dort hinter mir sehenSie das Pariser Gerichtsgebäude, dasPalais de Justice. Dort wurde ich zuBeginn der achtziger Jahre viele Maleverurteilt; verklagt hatten mich neun- zumeist jüdische - Vereinigungen.Ich wurde beschuldigt, Haß zu schüren,d. h. Rassenhaß, sowie Rassendiskrimi-nierung und Geschichtsfälschungbetrieben zu haben.

Die seit 30 Jahren andauernden Forschun-gen revisionistischer Autoren haben erge-ben:1. Hitlers »Gaskammern« hat es nie gege-

ben.2. Der »Völkermord« (auch »versuchter

Völkermord«) an den Juden hat niestattgefunden. In anderen Worten:Hitler hat weder den Befehl noch dieErlaubnis gegeben, jemanden wegenseiner Rasse oder Religion zu töten.

3. Die sogenannten »Gaskammern« undder sogenannte »Völkermord« sind eineeinzige Lüge.

4. Diese hauptsächlich von den Zionistenin die Welt gesetzte Lüge hat einen riesi-gen politischen und finanziellen Betrugmöglich gemacht, dessen Hauptnutz-nießer der Staat Israel ist.

5. Die Opfer dieses Betruges sind in derHauptsache das deutsche Volk (nichtdie Regierung) sowie das gesamte palä-stinensische Volk.

6. Durch die gewaltige Macht der offiziel-len Informationsmedien konnte bislangder Erfolg dieser Lüge gesichert und dieRedefreiheit derjenigen, die ihr wider-sprechen, beschnitten werden.

7. Die Nutznießer dieses Betruges wissen,daß dessen Tage gezählt sind. So verfäl-

sehen sie Ziel und Art der revisionisti-schen Forschung. Das durchdachte undgerechtfertigte Bemühen um die histo-rische Wahrheit wird bei ihnen mit denEtiketten »Wiederaufflammen des Nazis-mus« und »Geschichtsfälschung« belegt.

Robert Faurisson, »The >Problem of theGas Chambers« (o. D.)

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GRONINGEN

Frits BolkesteinDamals unterschrieb Professor Chomskyzusammen mit anderen Intellektuelleneine Petition; in der heißt es, Faurissonsei ein angesehener Literaturprofessor,der nichts weiter getan habe, als seineForschungsergebnisse zu publizieren.

AM PANTHEON, PARIS

Mark AchbarVielleicht fangen wir einfach mal mitder Faurisson-Sache an. Welche Rollespielten Sie dabei?

Pierre Guillaume (Faurissons Verleger)

Es gab über 500 Unterschriften, wohleher 600. Zumeist von — äh - universi-taires ...

Serge Thion (Indochina-Experte)

Hochschullehrer.

Pierre Guillaume... Hochschullehrern.

Mark AchbarUnd die anderen vierhundertneunund-neunzig? Wieso redet man immer nurüber Chomskys Unterschrift?

Serge ThionNa ja, wohl weil Chomsky für sich alleinschon so etwas wie eine politische Machtdarstellt.

HUMANIST TV, NIEDERLANDE

ChomskyIch unterschrieb eine Petition an dasGericht, es solle Faurissons Bürger-rechte respektieren. Die französischePresse - der anscheinend die Rede-freiheit nichts bedeutet - zog darausden Schluß, nur weil ich mich für seineBürgerrechte einsetzte, verträte ichauch seine Theorien.

Der Begriff »Ergebnisse« an sich ist völligneutral. Es liegt kein Widerspruch in einerAussage wie der folgenden: »Die For-schungsergebnisse, die er publizierte, wur-den als wertlos/irrelevant/gefälscht erach-tet...«»His Right to Say It« von Noam Chomsky inThe Nation 28.02.81 S. 231.Weitere Auszüge aus diesem Artikel aufS. 188-190

Pierre Guillaume gibt die Zeitschrift Annalesd'Histoire Revisionniste heraus, zu der erauch Beiträge liefert. Er verlegt FaurissonsWerke in Frankreich.

Über Serge Thion sagt Chomsky, er sei »einlibertär-sozialistischer Wissenschaftler undfür seine Opposition gegenüber dem Tota-litarismus in jeglicher Form bekannt«.Gemeinsam mit Guillaume veröffentlichteer zahlreiche Artikel über »Die Faurisson-Affäre«. In jüngster Zeit bestreitet er, Initia-tor der Petition gewesen zu sein, und be-nennt stattdessen den amerikanischen Revi-sionisten Mark Weber vom Institute for Histo-rical Review in Kalifornien.

Im Pantheon liegt Voltaire begraben.

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Der Kampf für die Freiheit der Rede ist vonentscheidender Bedeutung, bildet diesedoch das Herzstück eines ganzen Systemsvon Freiheiten und Rechten. Eine der zen-tralen Fragen, die in der Moderne abge-handelt werden, lautet: Darf der Staat denInhalt von Mitteilungen verbieten - undfalls ja, in welchen Killen? (...) Eine restrik-tive oder zumindest vorsichtige Haltung zudieser Frage findet sich selbst bei denen, dieman als die führenden Libertären kennt.Ein kritischer Punkt ist die Staatsverleum-dimg, also der Gedanke, der Staat könneallein durch das gesprochene Wort krimi-nell angegriffen werden - mit den Wortendes Rechtshistorikers Harry Kalven »dasMarkenzeichen aller geschlossenen Gesell-schaften der Welt«. Keine Gesellschaft, siemag noch so viele gute Eigenschaften auf-weisen, ist frei, solange sie Gesetze gegenStaatsverleumdung duldet. Im England desspaten 17. Jahrhunderts wurden Menschenfür dieses Vergehen verstümmelt, kastriert,geköpft und gevierteilt. Im gesamten 18.Jahrhundert bestand Konsens darüber, daßdie angestammten Autoritäten sich nur hal-ten konnten, solange alle umstürzlerischenDiskussionen unterblieben; auch sei »jegli-che Beeinträchtigung des guten Rufs derRegierung, gleich ob real oder nur ge-dacht«, gewaltsam zu unterdrücken (Leo-nard Levy). »Der gemeine Bürger kannnicht Richter seiner Oberherrn sein (...)Denn dies würde jegliches Regiment ver-stören«, schrieb ein Verleger. Ein Wahr-heitsbeweis war keine Entschuldigung, son-dern galt im Gegenteil als noch verbreche-rischer als eine falsche Anschuldigung, warer doch geeignet, die Autoritäten besondersstark in Verruf zu bringen.Im übrigen verfährt man in unserer freisin-nigeren Gegenwart mit Abweichlern ganzähnlich. Falsche oder lächerlich wirkendeAngriffe stellen kein Problem dar; wovor dieGesellschaft geschützt werden muß, ist jenergewissenlose Mensch, der mit seiner Kritik

unbequeme Wahrheiten öffentlich macht.Auch in den nordamerikanischen Kolonienhielt man am Grundsatz der Staatsverleum-dung fest. In den Jahren der Revolutionherrschte notorische Intoleranz. ThomasJefferson, führender Streiter für die Freiheitin Amerika, schloß sich der Auffassung an,Strafe habe auch der verdient, der »Verratin Gedanken, nicht im Tun« begangenhabe; politisch Verdächtige ließ er internie-ren. Er war sich mit den übrigen Gründer-vätern darin einig, daß »verräterische oderrespektlose Äußerungen« gegen die Auto-rität des Nationalstaats oder der Einzelstaa-ten kriminell seien. Leonard Levy schreibt:»Während der Revolution waren Jefferson,Washington, Paine sowie die beiden Adamsüberzeugt davon, daß in der Frage derUnabhängigkeit ernsthafte politische Mei-nungsunterschiede nicht toleriert werdenkonnten und daß die einzige akzeptableHaltung die vollständige Hingabe an diepatriotische Sache war. Die Freiheit, diesezu preisen, war unbegrenzt - sie zu kritisie-ren, gleich Null.«Gleich beim Ausbruch der Revolution for-derte der Kontinental-Kongreß die Einzel-staaten auf, durch Gesetze zu verhindern,daß die Menschen »getäuscht und zu einerirrigen Meinung verleitet« würden. Die Jef-fersons mußten um 1800 erst selbst Ziel-scheibe solcher repressiven Maßnahmenwerden, ehe sie sich zu ihrem eigenenSchutz entschlossen, freiheitlichere Gedan-ken zu entwickeln - was sie freilich nicht aneiner Kehrtwendung hinderte, sobald sieihrerseits an die Macht gekommen waren.Noch bis zum Ersten Weltkrieg stand dieRedefreiheit in den USA auf sehr schwa-chen Füßen, und es dauerte bis 1964, bis derOberste Gerichtshof den Straftatbestandder Staatsverleumdung abschaffte. In einemUrteil von 1969 schließlich garantierte derGerichtshof die völlige Redefreiheit mit dereinzigen Ausnahme der »Aufforderung zusofortigem gesetzlosen Handeln«. So hatte

das Gericht endlich - zweihundert Jahrenach der Revolution - j e n e Position einge-nommen, aus der heraus Jeremy Bentham1776 gefordert hatte, eine freie Regierungmüsse es »Unzufriedenen« gestatten, »ih-ren Unmut zu äußern, ihre Pläne zu ent-wickeln und überhaupt Opposition in jegli-cher Form zu betreiben, ausgenommenaktive Rebellion, bevor die Exekutive sichdas Recht zur Einmischung nehmen darf.«Der Grad an Freiheit, der in dieser Ent-scheidung des Obersten Gerichtshofs for-muliert wird, hat in meinen Augen in derWelt nicht seinesgleichen. So wird man etwain Kanada immer noch für die Verbreitung»falscher Nachrichten« eingesperrt, weildies nach einem Gesetz von 1275 zumSchutz des Königs strafbar ist.Noch rückständiger ist man in Europa. Einkrasser Fall ist Frankreich; dort herrschteine besonders breite Kluft zwischen derselbstgefälligen Rhetorik und einer verbrei-teten repressiven Praxis, die nur deswegenniemandem auffällt, weil jeder sich an siegewöhnt hat. Auch Großbritannien ziehtder Redefreiheit enge Grenzen; das Landleistet sich ja sogar zu seiner Schande einGesetz gegen Gotteslästerung. Besondersspringen hier die Reaktionen der soge-nannten »Konservativen« in der Rushdie-Affäre ins Auge. Als Salman Rushdie wegenStaatsverleumdung und Gotteslästerung an-geklagt wurde, entschied der Oberste Ge-richtshof, das gesetzliche Verbot der Gottes-lästerung gelte nur innerhalb der christli-chen Kirche, nicht aber für den Islam, undStaatsverleumdung liege auch nur vor,wenn sich die verbalen Angriffe »gegen IhreMajestät persönlich, gegen die RegierungIhrer Majestät oder gegen eine andere staat-liche Institution« richteten. Somit hat dasGericht zwar konzediert, daß das Gesetz inEngland ausschließlich die heimischenAutoritäten vor Kritik schützt, im übrigenaber ein Prinzip bestätigt, welchem anson-sten Khomeini, Stalin, Goebbels und ande-

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GRONINGEN

Frits BolkesteinUnd dann schrieb Faurisson ein Buch,in dem er den Beweis zu führen suchte,die Gaskammern der Nazis habe es niegegeben.

IN EINEM AUTO IN PARIS

Robert FaurissonWir bestreiten die Tatsache eines Aus-rottungsplans und der Ausrottung - spe-ziell in Gaskammern oder Gaswagen.

GRONINGEN

Frits BolkesteinZu diesem Buch hat Professor Chomskyein Vorwort geschrieben. Er nenntdarin Faurisson »einen ziemlich unpoli-tischen Liberalen«.

IN EINEM AUTO IN PARIS

Robert FaurissonEin Kommunist ist ein Mensch, ein Judeist ein Mensch, ein Nazi ist ein Mensch,und ich bin ein Mensch.

Mark AchbarSind Sie Nazi?

Robert FaurissonIch bin kein Nazi.

Mark AchbarWo würden Sie sich politisch einord-nen?

Robert FaurissonBei gar nichts.

re Feinde der Freiheit huldigten. Hier wür-de wohl auch Conor Cruise O'Brien Unter-stützung erfahren, der als irischer Ministerfür Post und Fernmeldewesen durch eineAbänderung des Rundfunkgesetzes es derAnstalt ermöglicht hat, eine Ausstrahlungzu verweigern, sofern diese nach Ansichtdes Ministers »geeignet ist, die Staatsauto-rität zu untergraben.«Wir sollten auch bedenken, daß es nichtetwa der Erste Verfassungszusatz ist, demwir in den USA die Redefreiheit verdanken,sondern daß es hierzu langer und intensiverAnstrengungen des Volkes bedurfte, vorallem durch die Arbeiterbewegung sowiedie Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungder sechziger Jahre. »Ein Pergament schützt

nicht vor Tyrannei«, schreibt James Madi-son. Bloße Worte können keine Rechte gar-antieren; man gewinnt und sichert sie nurdurch Kampf.Schließlich sollte man sich noch in Erinne-rung rufen, daß Fortschritte für das Rechtauf freie Rede häufig gerade dort erkämpftwurden, wo es um besonders abscheulicheoder inakzeptable Äußerungen ging. Sostellte das Urteil des Obersten Gerichtshofsvon 1969 den Ku Klux Klan von Verfolgungfrei, nachdem auf einer Versammlung be-waffneter Kapuzenmänner um ein Flam-menkreuz Rufe ertönt waren, »die Niggerzu begraben« und »die Juden nach Israelzurückzuschicken.«Deterring Democracy S. 398-401

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BATTERSEA ARTS CENTRE,LONDON

Zorniger MannSie haben doch dieses Vorwort geschrie-ben, und da ...

ChomskyNein. Das ist nicht mein Vorwort, dennich habe nie ein Vorwort geschrieben.Und Sie wissen das auch ganz genau.

Zorniger MannJa, ja ... Vidal Naquet ...

ChomskyEr spielt auf eine Äußerung von mirüber Bürgerrechte an, die in ein Buchübernommen winde, wo Faurisson ...also bitte ...

Zorniger Mann (brüllt)

Sie sind doch Linguist ...

ChomskyJawohl!

Zorniger Mann... wenn Sie also schreiben, dann bedeu-ten Ihre Worte auch etwas!

ChomskyStimmt. Und wenn ich schreibe, ...

Zorniger MannUnd wenn Sie jemanden als unpoliti-schen Liberalen bezeichnen, dessenAnsichten durch seine Worte, Ergeb-nisse oder Schlußfolgerungen Gewichterhalten, dann stellt das ein Urteil dar,und zwar eine positive Beurteilung die-ser Ansichten!

ChomskyAber ganz im Gegenteil ...

Chomsky hat unablässig bestritten, Fauris-sons Ansichten zu teilen oder ihn gar aktivzu unterstützen. Wenn es daher Menschengeben sollte, die sich in dieser Sache aufChomsky berufen, dann ist das eine Folgedavon, daß man ihn durch bewußt falscheDarstellung seines Standpunkts als Anhän-ger Faurissons erscheinen ließ und dadurchauch Faurisson selbst mehr Kredit verschaffthat, nur um in Wirklichkeit Chomsky aufsKorn nehmen zu können. Wie Chomskyebenfalls vermerkt hat, wurde beispielsweiseder Holocaust-Leugner Arthur Butz, Do-zent an der Northwestern University, völligignoriert und blieb daher ohne Wirkung inder Öffentlichkeit. Niemand stellte seineBürgerrechte in Frage, und noch seineabseitigsten Ideen wurden selbst von denschärfsten Widersachern nicht zu einercause célèbre gemacht.In einem Beitrag unter dem Titel »TheJudgment of History« schreibt Gitta Serenyiim New Statesman vom 17.07.81: »Im Aprilschlug ich vor, Arthur Butz, der auch zu de-nen gehört, die den Holocaust als >Schwin-del< bezeichnen, zu stellen. Es hieß dannaber in den akademischen Kreisen, manwürde dadurch nur einen Propagandisten,den niemand ernst nehmen kann, aufwer-ten«. Wie jedoch der Fall Faurisson gezeigthat, ist ein solches Urteil fragwürdig.« Manversteht nicht, wie Serenyi so argumentie-ren konnte. Faurisson kam ja eben dadurch,daß er »gestellt« wurde, zu seiner großenPublizität. Ähnlich attackiert, würde auchButz diesen Nutzen ernten. Auch Faurissonwurde nicht etwa durch seine Ergebnisse»aufgewertet«, sondern als jemand, dem einBürgerrecht verweigert wurde - auch daseine Folge der offenen Auseinanderset-zung.Edward S. Herman, »Pol Pot, Faurisson,and the Process of Derogation«, in NoamChomsky: Critical Assessments (a. a. O.)

Der »zornige Mann« hielt ein Exemplar vonThe Hidden Alliances of Noam Chomsky in derHand. Siehe S. 175

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HUMANIST TV, NIEDERLANDE

ChomskyKann ich mit den Fakten fortfahren?

Joop van TijnGewiß, stundenlang können Sie das.Es gibt doch aber wohl einige Fakten,die ... na ja, OK.

ChomskyAlso dieses sogenannte Vorwort. DerMensch, der diese Petition organisierthatte, bat mich um ein Statement zurRedefreiheit. Dabei sollte es auchdarum gehen, daß es einen Unterschiedmacht, ob ich dafür eintrete, daßjemand seine Meinung frei äußernkann, oder ob ich mich dem anschließe,was er da vorbringt. Ich habe mich alsohingesetzt und eine ziemlich trivialeErklärung verfaßt, die betitelt war»Einige grundsätzliche Bemerkungenzur Redefreiheit«. Ich habe ihm danngesagt: »Machen Sie damit, was Siewollen.«

AM PANTHEON, PARIS

Serge ThionPierre hat also ein Buch herausgebrachtmit all den Argumenten, die Faurissonvor Gericht vorbrachte. Und wir dach-ten dann, es wäre doch eine gute Idee,diesen Text von Noam Chomsky als eineArt Warnung zu verwenden, als ein Vor-wort, daß es hier um die Redefreiheitgeht, um die Gedankenfreiheit undauch um die Freiheit der Forschung.

Der Titel des Buches lautet Mémoire enDefense contre ceux qui m'accusent de falsifierl'Histoire (Plädoyer zur Verteidigung gegenjene, die mich der Geschichtsfälschungbezichtigen)

Auf der Umschlagseite von Faurissons BuchMémoire en Defense ... wird Chomskys Bei-trag als avis bezeichnet (Meinung, Urteil,Rat, Warnung, Notiz). Im Text heißt esdann »Vorwort«.

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HUMANIST TV, NIEDERLANDE

Joop van TijnWarum haben Sie in letzter Sekundeversucht, es zurückzuziehen, es ...

ChomskyAlso das ist das einzige, was ich dabeibedauere. Das ist ...

Joop van TijnAber das ist doch das einzig Wichtige.

ChomskyIst es nicht.

Joop van TijnIst es doch.

ChomskyIst es nicht.

Joop van TijnAber damit haben Sie doch ...

ChomskySie meinen, mit dem Versuch, eszurückzuziehen?

Joop van TijnDamit haben Sie doch sagen wollen, Siehielten es für falsch ...

ChomskyStimmt nicht. Was habe ich denndamals ... Sehen Sie, ich schrieb einenBrief, der wurde bekannt, und darinheißt es: So, wie die Dinge sich ent-wickelt haben, ist die französische Intel-ligenzschicht schlichtweg unfähig, dasGanze zu verstehen. Wenn nun meineÄußerungen über die Redefreiheit indas Buch übernommen würden - vondem Buch hatte ich nichts gewußt -dann würde alles nur noch schlimmer.

Im nachhinein gesehen, hätte ich es [denRückziehversuch] vielleicht doch nicht ma-chen sollen. Gut, Leute wie Alan Dersho-witz, die in Sachen arabisch-israelischerKonflikt jegliche Gedanken- und Redefrei-heit bekämpfen, hätten dadurch wenigerAnsatzpunkte gehabt - ich weiß es nicht.Taktische Gründe mögen also vielleichtdafür gesprochen haben, aber ich findenicht, daß man so vorgehen sollte. Man solldas tun, was man für richtig hält, nicht nurwas einem einen taktischen Vorteil ein-bringt.Chronicles of Dissent S. 264

Es hat schon viel umstrittenere Fälle gege-ben, in denen ich für diesen Grundsatz ein-getreten bin. Beispielsweise bei Personen,die ich für wirkliche Kriegsverbrecher halte,und dies auf dem Höhepunkt des Vietnam-kriegs - oder bei Wissenschaftlern, dieSchwarze für genetisch minderwertig hal-ten, und dies in einem Land, wo dieSchwarzen nur wenig Gutes erlebt habenund wo derartige Lehren geeignet sind, denimmer noch bestehenden Rassismus erneutanzuheizen. Man mag ja von Faurisson hal-ten, was man will, aber niemand wirft ihmschwere Kriegsverbrechen vor noch be-zeichnet er die Juden als genetisch minder-wertig, und überhaupt genießt er nicht ein-mal einen winzigen Bruchteil des Rückhalts,der in diesen anderen Fällen zu registrierenist - bei denen im übrigen meine Verteidi-gung der Grundsätze, die auch weiterhindie meinen sind, nicht die mindeste Kritikhervorrief.Radical Priorities S. 16

Vgl. auch »The Treachery of the Intelligent-sia: A French Travesty«, Language and Poli-tics, S. 308-323

Die französische Intelligenzschicht ist schlicht-weg unfähig zu verstehen, worum es geht.

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Um Klarheit zu schaffen, wäre es daherbesser, die beiden Sachen deutlich zutrennen. Im Rückblick finde ich nunallerdings, ich hätte das vielleicht dochnicht tun sollen. Ich hätte lieber sagensollen: Gut, es soll so veröffentlicht wer-den. Denn das sollte es auf jeden Fall.Nur - ganz abgesehen davon, sehe ichdiese Sache nicht nur als trivial an, son-dern als geradezu winzig, wenn man siemit meinen anderen Äußerungen zurRedefreiheit vergleicht.

UNIVERSITY OF WASHINGTON,SEATTLE

ChomskyMeiner Meinung nach hat der Staatkein Recht, darüber zu bestimmen, wiedie geschichtliche Wahrheit lauten soll,und alle zu bestrafen, die davon abwei-chen. Dieses Recht werde ich dem Staatnicht gewähren, selbst wenn vielleichtjemand behauptet...

StudentBestreiten Sie nun, daß es jemals Gas-kammern gegeben hat?

ChomskyNatürlich nicht. Was ich sagen will, istfolgendes: Wenn man an die Redefrei-heit glaubt, dann ist das eine Redefrei-heit für Meinungen, die einem nichtgefallen. Goebbels war auch für dieRedefreiheit - bei Ansichten, die ihmpaßten. Stimmt's? Stalin genauso. WennSie also für Redefreiheit eintreten, dannbedeutet das die Freiheit, eine Meinungzu äußern, die Sie widerlich finden.Andernfalls wären Sie überhaupt nichtfür Redefreiheit. Zur Redefreiheit kannman nur zwei Haltungen einnehmen,und jeder trifft seine Wahl.

Meiner Meinung nach hat der Staat keinRecht, darüber zu bestimmen, wie diegeschichtliche Wahrheit lauten soll, und dannalle zu bestrafen, die davon abweichen.

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BATTERSEA ARTS CENTRE,LONDON

ChomskyWenn ich mich vor die anstößigstenÄußerungen stelle - ich meine, vorLeute, die wirklich übelste Vorstellun-gen verbreiten - dann sagt bestimmtjeder Kommissar zu mir: Sie vertretendieselben Ansichten wie jener Mensch.Da bin ich ganz sicher. Ich vertrete abergar nicht seine Meinung - ich vertretesein Recht, sie zu äußern. Das ist wirk-lich der entscheidende Unterschied,und spätestens seit dem 18. Jahrhunderthaben das auch alle verstanden - nurdie Faschisten nicht.

Zur Diskussion über Redefreiheit, Staats-verleumdung (Kritik an der Regierung) undZensur vgl. Necessary Illusions S. 123-133 so-wie S. 337-355

UNIVERSITY OF WASHINGTON,SEATTLE

FrauAber es gibt doch so etwas wie Objekti-vität oder wissenschaftliche Objektivitätoder Realität? Wie können Sie als Wis-senschaftler diesen Standpunkt ein-nehmen?

ChomskySehen Sie mal, ich sage doch nicht, daßich seine Ansichten verteidige. Wennjemand eine wissenschaftliche Abhand-lung publiziert und ich anderer Mei-nung bin, dann sage ich doch auchnicht, der Staat soll ihn einsperren,oder?

FrauSicher. Aber Sie müssen ihn doch nichtso direkt unterstützen ...

ChomskyIch unterstütze ihn doch gar nicht.

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Frau... und sagen, ich unterstütze ihn,weil ...

ChomskyAber nein!

Frau... weil jeder das Recht haben soll, zusagen, was er will.

ChomskyJa, aber ... also gut. Jetzt nehmen wirmal an, er wird wegen Fälschung vorGericht gestellt. Dann verteidige ichihn, selbst wenn ich anderer Meinungbin als er. Und genau das ist doch in ...

FrauAber er stand doch nicht vor Gericht.

ChomskyOh, da sind Sie aber im Irrtum.

FrauAlso wann haben Sie diesen Text, indem Sie sich vor ihn stellen, geschrie-ben - ich meine dieses ...

ChomskyAls er vor Gericht gestellt wurde. Undüberhaupt habe ich ihn nur in derWeise unterstützt, daß ich gesagt habe,die Redefreiheit gelte auch für ihn -Punkt.

AUS »SPEAKING OUT: CRISIS IN THEMIDDLE EAST«TVOntario (Bildungskanal) 12.12.85

Yossi OlmertDiese Sache mit dem Holocaust, den esangeblich gar nicht gegeben hat, istzweifellos ein ganz typisches Beispiel.

TVOntario ist das nicht-kommerzielle Bil-dungsfernsehen der kanadischen ProvinzOntario. »Speaking Out« ist eine einstün-dige Livesendung über aktuelle Themen mittelefonischer Zuschauerbeteiligung.

In dieser Sendung im Jahre 1985 diskutierteChomsky mit Professor Yossi Olmert vonder Universität Tel Aviv (nachmals israeli-scher Regierungssprecher) über die Nah-ostkrise.

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ChomskyWie viele ...

Yossi OlmertNehmen wir ein anderes Beispiel - ausdem Nahen Osten.

ChomskyWie viele Zeitungen in Amerika - odersonstwo - nehmen Faurisson ernst? Wieviele sind es in Frankreich ...

Yossi OlmertAls ich damals ...

Chomsky... was meinen Sie, wieviel Prozent?

Yossi OlmertSofort.

ChomskyGrößer als Null?

Yossi OlmertSofort.

ChomskyGrößer als Null?

Yossi OlmertSofort - ich komme gleich darauf.

ChomskyHaben Sie jemals in irgendeiner Zei-tung irgend etwas darüber gelesen ...

Yossi OlmertSie fragen dauernd, und ich versuche zuantworten.

Chomsky... oder gibt es irgendeine Zeitung, dieihn nicht als Verrückten bezeichnethätte?

TVOntario

Telefonbericht - SPEAKING OUT - 12.12.85ISRAEL UND DER NAHE OSTENGäste:Prof. Josef Olmert, Univ. Tel Aviv, Berater der israelischen Regierung, Korrespondentzahlreicher Zeitungen, Funk- und FernsehanstaltenNoam Chomsky, Professor für Linguistik am MIT, Autor von THE FATEFUL TRIANGLEund anderer Bücher; schreibt in der Presse und hält häufig Vorträge.

ANRUFE (ZUGESCHALTET)Toronto 3Burlington 1 (21.00 Uhr)

ANRUFE (NICHT ZUGESCHALTET)Toronto 10Ottawa 1NACHTRÄGLICHToronto 12Ottawa 1

IMPULSZÄHLER (VERSUCHE, IN DIE SENDUNG ZU GELANGEN): 25.809TELEFONWAHL-STIMMEN: 5.484GESAMTZAHL ANRUFE: 31.321

Abstimmungsfrage der Telefonwahl:HABEN DIE PALÄSTINENSER EIN ANRECHT AUF SELBSTBESTIMMUNG IN EINEMTEILGEBIET DES EHEMALIGEN PALÄSTINA?Ja 3.627Nein 1.857

AnmerkungBei Studiogästen dieses Kalibers ist es so gut wie unmöglich, überhaupt Anrufer in die Sen-dung hineinzunehmen; wir konnten schon über die vier froh sein. Wie stark der Ansturmwar, läßt sich daraus erschließen, daß fast alle Anrufe, die uns überhaupt erreichten, Orts-gespräche waren. Um sicherzugehen, daß sich in der Sendung vorher genügend Substanzangesammelt hatte, blendeten wir die Telefonnummer erst um 21:30:15 Uhr ein. Die De-batte war so hitzig, daß es bei dem komplexen und sensiblen Thema besonders lange dau-erte, bis das Signallicht durchkam. Wir mußten sogar den POSTKORB-Teil halbieren undden Rest im Eiltempo abwickeln, nur um die Sendezeit einzuhalten. Die Anzahl der abge-gebenen Telefonstimmen bildet einen Spitzenwert für diese Saison (und unter Berück-sichtigung der veränderten Sendezeit auch für die vorhergehenden Perioden); die binnen25 Minuten vom Impulszählei registrierten Anrufversuche stellen ebenfalls eine Rekord-zahl dar. Wie die Bell-Telefongesellschaft uns wissen ließ, haben wir ihre Vermittlungs-zentrale überlastet.

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Yossi OlmertOK. Ich versuch's mal - ich versuch'smal. Ich meine, als ich die Sache ver-folgt habe ...

ChomskyDas ist doch eine ganz einfache Frage.

Yossi Olmert... als ich die Sache vor 5 oder 6 fahrenverfolgte, erfuhr ich, daß Noam Chom-sky sogar von einigen seiner Anhängerheftig kritisiert wurde, weil man inseinem Verhalten eine antiisraelischeKampagne sah.

BATTERSEA ARTS CENTRE,LONDON

ChomskyIch habe in der Vergangenheit in Bezugauf die Personen, die den Holocaustleugnen, eine weit extremere Haltungeingenommen als Sie hier. Lesen Siemal meine allerersten Artikel; da sageich, man verhält sich bereits unmensch-lich, sobald man sich auch nur auf eineDiskussion darüber einläßt, ob die Nazisdiese Greuel wirklich begangen haben.Wenn Sie also meine Meinung dazuhören wollen: Sie sollten über dieseSache nicht mal diskutieren. Aber wennjemand unbedingt Faurisson widerlegenmöchte, dann dürfte das gewiß nichtschwerfallen.

Mir fällt eine ausgezeichnete Untersuchungüber Hitlers Osteuropa-Politik ein, die ichvor einigen Jahren in einer Stimmung grim-miger Faszination gelesen habe. Der Autorhatte sich alle Mühe gegeben, kühl, wissen-schaftlich und objektiv zu bleiben und diemenschlichen Reaktionen zu unterdrük-ken, die notwendigerweise aufgewühlt wer-den, wenn man mit dem Plan konfrontiertist, Millionen menschlicher Wesen zu ver-sklaven oder zu vernichten und so dieErben der geistigen Kulturwerte des Okzi-dents in die Lage zu versetzen, ungestörteine höhere Gesellschaftsform zu errichten.Sobald wir aber diese elementaren mensch-lichen Reaktionen unter Kontrolle halten,begeben wir uns bereits in die Erörterungtechnischer Probleme mit der Nazi-Intelli-genz: Ist es überhaupt technisch möglich,Millionen von Leichen zu beseitigen? Sollman sie an Ort und Stelle verscharren oderin ihre »natürliche Heimat im Osten«zurückschicken, damit die neue Hochkul-tur zum Nutzen der Menschheit erblühenkann? Sind die Juden wirklich ein Krebsge-schwür, das die Lebenskraft des deutschenVolkes zerfrißt? Und so weiter und so weiter.Ganz ohne es zu merken, fand ich mich indiesen Morast wahnwitziger Rationalitäthineingezogen und legte mir Argumentezurecht, um die Konstrukte der Bormannsund Rosenbergs zum Einsturz zu bringen.Wer die Anmaßung, gewisse Fragestellun-gen dürften rational diskutiert werden, fürlegitim hält und sich somit auf die Ebenevon Argument und Gegenargument, vonTaktik und technischer Realisierbarkeit,von Zitaten und Fußnoten begibt, der hatschon dadurch seine Humanität preisgege-ben.Einleitung zu American Power and the NewMandarins S. 8-9

Im September 1993 veröffentlichte Jean-Claude Pressac, ein ehemaliger AnhängerFaurissons, I.es Crématoires d'Auschwitz. Er

gibt darin eine genaue technische Beschrei-bung der Konstruktion und Funktionsweiseder Gaskammern und Verbrennungsöfen.Als erster Vertreter eines westlichen Landeshatte Pressac Einblick in die umfangreichenAuschwitz-Akten erhalten, welche 1945 denSowjets in die Hände gefallen waren. ImNouvel Observateur (30.09. bis 06.10.93) be-richtet Pressac, wie diese Forschungen seineschon vorher aufgekommenen Zweifel anFaurissons Behauptungen bekräftigten. Erveröffentlicht derartige Untersuchungenseit 10 Jahren und findet seine Forschungs-ergebnisse durch die Moskauer Dokumentebestätigt.Sabrina Matthews

Der Artikel in der New York Times über mei-ne Verwicklung in die »Faurisson-Affäre«trug die Überschrift »Französischer Sturmim Cognacglas«. Wenn damit gemeint war,die Vorgänge hätten nicht einmal die Be-zeichnung »Sturm im Wasserglas« verdient,dann kann ich dem zustimmen. Dennochist dazu in Europa - und zum Teil auch hier- die Tinte in Strömen geflossen, und weildie Berichterstattung nicht gerade erhel-lend war, sollte ich vielleicht kurz die Tatsa-chen aus meiner Sicht darlegen und aucheinige Worte über die Grundsatzfragen ver-lieren, die sich hier stellen (...)Im Herbst bat Serge Thion, ein libertär-sozialistischer und für seine Oppositiongegenüber dem Totalitarismus in jeglicherForm bekannter Wissenschaftler, mich ummeine Unterschrift unter eine Petition andie französischen Behörden, sie möchten»Robert Faurissons Sicherheit und freieAusübung seiner gesetzlichen Rechte«garantieren. (...)Diese Petition stieß auf lebhaften Protest.Im Nouvel Observateur schrieb Claude Roy,»der von Chomsky erlassene Aufruf« vertei-dige Faurissons Ansichten. Roy stellte mei-nen Standpunkt als einen Versuch dar, denUnterschied zwischen den Vereinigten Staa-

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ten und Nazideutschland wegzuinterpretie-ren. Pierre Vidal-Naquet beurteilte die Peti-tion in Esprit als »skandalös«, denn es wür-den darin »seine »Schlußfolgerungen alsechte Entdeckungen vorgestellt«. Vidal-Naquet hatte einen Satz in der Petitionmißverstanden, in dem es hieß: »Seit derVeröffentlichung seiner Ergebnisse mußteProfessor Faurisson ...«. Der Begriff »Ergeb-nisse« an sich ist völlig neutral. Es liegt keinWiderspruch in einer Aussage wie der fol-genden: »Die Forschungsergebnisse, die erpublizierte, wurden als wertlos/irrelevant/gefälscht erachtet...«. Die Petition sagtenichts über die Qualität von Faurissons Ar-beiten aus, denn die Fragen, um die es ging,waren ganz andere (...)Was Faurisson vorträgt, steht in diametra-lem Gegensatz zu meinen Überzeugungen,die ich auch vielfach in Büchern vertretenhabe, (so etwa in Peace in the Middle East?, woder Holocaust als »der phantastischste Aus-bruch kollektiven Wahnsinns in der Ge-schichte der Menschheit« bezeichnet wird).Doch es ist von geradezu elementarer Be-deutung, daß man die Freiheit des Wortes(und das schließt die akademische Freiheitmit ein) nicht auf Äußerungen beschrän-ken darf, die einem zusagen. Daher mußdiese Freiheit gerade für solche Meinungenbesonders engagiert verteidigt werden, dieüberwiegend auf Ablehnung und Verach-tung treffen. Man kann sehr leicht den ver-teidigen, der dieser Hilfe gar nicht bedarf,oder mit in den Chor derjenigen einfallen,die einmütig - und häufig zu Recht - übereinen amtlichen Feind und Menschen-rechtsverletzer herfallen.Etwas später erfuhr ich dann, daß meineErklärung in ein Buch aufgenommen wer-den sollte, in dem Faurisson sich gegen einegerichtliche Anklage zu verteidigen suchte.Dies hatte zwar nicht in meiner Absichtgelegen, aber es widersprach auch nichtden Anweisungen, die ich gegeben hatte.In einem Brief, den mir Jean-Pierre Fay

schrieb - Fay war ein bekannter antifaschi-stischer Schriftsteller und Aktivist - stimmteer mir zwar im Grundsatz zu, bat michjedoch dringend, meinen Text zurückzuzie-hen; andernfalls würde man bei dem inFrankreich herrschenden Klima meinenKampf um Faurissons Recht auf freie Mei-nungsäußerung als inhaltliche Parteinahmeinterpretieren. In meiner Antwort schloßich mich seinem Urteil an; ich verlangte,meine Erklärung solle nicht erscheinen,aber da war es bereits zu spät, um die Veröf-fentlichung noch zu stoppen (...)Nach einer weitverbreiteten Meinung sollteein besonderer Skandal darin liegen, daßich mich für Faurissons Recht auf das freieWort eingesetzt hatte, ohne mir vorher sei-ne Arbeiten genauer angeschaut zu haben.Das halte ich nun allerdings für eine merk-würdige Lehre; denn würde man sich da-nach richten, dann gäbe es für unpopuläreMeinungen überhaupt keinen Rechts-schutz. Faurisson besitzt nicht den gering-sten Einfluß in Frankreich, weder auf diePresse noch in der Wissenschaft. Wer ihnwiderlegen oder verdammen will, hat dazujede Möglichkeit. Daß ich selbst in schärf-ster Opposition zu ihm stehe, ist - wie ichbereits sagte - belegt. Will man ein Buch mitrationalen Gründen verurteilen, dann mußman es zumindest sorgfältig gelesen haben,mögen die darin präsentierten Erkennt-nisse auch noch so gespenstisch sein; manmuß die Belege nachprüfen usw. Einer derbizarrsten Anwürfe lautete, ich habe -indem ich dies verweigerte - mein Desinter-esse an 6 Millionen ermordeter Juden ver-raten. Nun, diese Kritik würde allerdingsjeden treffen, der sich genau so wenig fürFaurissons Arbeiten interessiert wie ich.Wenn ich das Recht der freien Meinung ver-teidige, dann übernehme doch ich keinebesondere Verpflichtung dafür, die fragli-chen Äußerungen zu studieren oder auchnur zur Kenntnis zu nehmen. Beispielsweisehabe ich Petitionen zugunsten gefährdeter

osteuropäischer Dissidenten unterschrie-ben (und mehr als das), ohne viel über ihreAnsichten zu wissen (sie interessieren michauch nicht, zumal ich sie in einigen Fällenfür ziemlich abstoßend halte, was ich aberniemals verlauten lasse, eben weil es absolutnichts mit der Kernfrage zu tun hat). Ichkann mich nicht erinnern, jemals wegen sol-cher Schritte kritisiert worden zu sein.Hier muß ich aber noch etwas anmerken.Unter den Fällen, wo ich mich für Bürger-rechte und die akademische Freiheit starkgemacht habe, gab es einige, die erheblichkontroverser waren. So sprach ich mich aufdem Höhepunkt des Vietnamkriegs dage-gen aus, Personen, die in meinen Augenwirkliche Kriegsverbrecher waren, aus poli-tischen oder ideologischen Gründen dieLehrbefugnis zu entziehen. Die gleiche Hal-tung habe ich in Bezug auf Wissenschaftlereingenommen, die eine genetisch bedingteUnterlegenheit der Schwarzen »bewiesen«haben wollen, und das in einem Land, wodie Schwarzen nur wenig Gutes erfahrenhaben und wo derartige Lehren von Rassi-sten und Neonazis aufgegriffen werden.Man mag ja von Faurisson halten, was manwill, aber niemand wirft ihm vor, schwereKriegsverbrechen propagiert oder dieJuden als genetisch minderwertig bezeich-net zu haben (er schreibt übrigens von dem»heroischen Aufstand des WarschauerGhettos« und rühmt jene, die »todesmutigfür die gerechte Sache und gegen denNazismus kämpften»; aber auch dies hatnichts mit seinen Bürgerrechten zu tun). ImJahre 1969 schrieb ich sogar, es sei fälsch, anden Universitäten die Forschungen zur Auf-standsbekämpfung zu verbieten, auch wenndiese zu Mord und Zerstörung führen -heute wäre ich mir da übrigens nicht mehrso sicher. Gegen all diese doch erheblichumstritteneren Aktionen erhob sich auchnicht der leiseste Einspruch; das beweistdoch, daß diejenigen, die das Recht aufungestrafte Meinungsäußerung nicht gel-

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ten lassen wollen und auf jede Verteidigungdieses Rechts mit Abscheu reagieren, reich-lich selektiv vorgehen.Interessant ist auch, wie der PEN-Club inParis reagiert hat. PEN verurteilte meinenBeitrag mit der Begründung, Faurisson ha-be dadurch ausgerechnet in einer Zeit deswachsenden Antisemitismus Publicity erhal-ten. Es mutet merkwürdig an, wenn eine Or-ganisation, die für die Freiheit der Schrift-stellerei eintritt, sich dann aufregt, als Fau-rissons Verteidigung gegen seine Anklägerdas Ohr der Öffentlichkeit erreicht. Fauris-son verdankt seine Publicity in erster Linieseinem Prozeß und einer Presse, die in mei-ner Verteidigung seiner Bürgerrechteeinen Skandal erblicken wollte (...)Was nun das von PEN beklagte Wiederauf-leben des Antisemitismus und der rassisti-schen Ausschreitungen angeht, so erhebtsich doch die Frage, ob es wirklich ange-messen ist, Veröffentlichungen, durch dierassistische Gewalt und Unterdrückung be-stärkt werden könnten, mit dem Entzug vonBürgerrechten zu beantworten. Läge diebessere Antwort nicht vielmehr darin, nachden Gründen für diese unheilvollen Ent-wicklungen zu suchen und diese nach Mög-lichkeit abzustellen? Ich denke, für jeden,der die als fundamental angesehenen Ide-ale der westlichen Demokratie hochhältund um die wirklichen Übel besorgt ist, dieuns bedrohen, dürfte die Antwort klar sein.»His Right to Say It« in The Nation 28.02.81S. 231-234

Seit diesem einen Tag mit Faurisson über-lege ich mir ernsthaft, woher wir eigentlichwissen, was wir zu wissen glauben, und wel-che Anforderungen wir an Beweise stellen.Was weiß ich über die Gaskammern? Da ichjüdisch erzogen bin und schon als Kind anunzähligen Wohltätigkeitsaktionen unterdem Banner »Nie wieder!« beteiligt war,scheint das Wissen sozusagen angeboren zusein. Aus jüngerer Zeit kommt einem natür-

lich Claude Lanzmanns Shoah-Dokumenta-tion in den Sinn: mit den Geständnissen vonNazis, mit dem Bericht eines Mannes, derdie Leichen aus den Gaskammern holte,mit vielen Aussagen anderer Zeugen undÜberlebenden der Nazigreuel. Ich habe dieWerke angesehener Historiker über denHolocaust gelesen, etwa von Raoul Hilberg,der auch in Shoah auftritt. Ich habe im Laufeder Zeit mit verschiedenen Überlebendengesprochen, darunter Sarah Nomberg Pryt-zyk, Autorin des Buches Auschwitz: TrueTales of a Grotesque Land (University of NorthCarolina Press 1985). Und jetzt also Pressacmit seinen Dokumenten.Anscheinend leben die Leute, die wie Fau-risson und die anderen Revisionisten diesesüberwältigende Beweismaterial ablehnen,in einem parallelen Universum. Glaubensie, die Deutschen hätten alle wahrheitslie-benden Juden umgebracht und nur einigeLügner übriggelassen? Ich selbst könnte umnichts in der Welt Faurissons Denkweisenachvollziehen. Geradezu unheimlich wur-de die Sache dadurch, daß er ja kein dump-fer Irrer ist. Er vermittelt zumindest einenAnschein von Rationalität, und auch dieLyoner Universität legt vermutlich einengewissen Qualitätsmaßstab bei der Auswahlder dort tätigen Personen an.Seine Methode, Aufmerksamkeit zu erre-gen, besteht darin, immer anstößigere Be-hauptungen aufzustellen. Fr hält beklatsch-te Vorträge vor Grüppchen von Neonazis(einer ist in dem schwedischen Film TheTruth Shall Set You Free zu sehen). Und dochkonnte ich bei ihm keinen inneren Juden-haß erkennen. Vielleicht war ich auch be-täubt vor Entsetzen über seine Behauptun-gen. Sollte er derartige Gefühle hegen,dann hat er sie jedenfalls vor mir gut ver-borgen - schließlich wußte er über meineAbstammung Bescheid, wir hatten ja darü-ber gesprochen. Er wollte nur eines: michüberzeugen. Er suchte pausenlos Streit, umdann seine Geschichtsversion wiederkäuen

zu können. »Ich mache aus Ihnen schonnoch einen Revisionisten«, drohte er mir.Als ich einmal zwischen zwei Interviews mitChomsky im Zug nach Holland saß, sprachich mit ihm über das Faurisson-Phänomen.Seiner Meinung nach muß man sich nur wieein Laserstrahl auf eine genügend engeAuswahl von Beweisen konzentrieren, umschließlich nicht einmal mehr an die Exi-stenz der Schwerkraft zu glauben. - MA

[Wie Du schreibst] kannst Du nicht verstehen,was diese Holocaust-Revisionisten eigentlich an-treibt; alles wirkt so gespenstisch. Mir erscheintdas gar nicht so ungewöhnlich. Zweifel am Holo-caust sind schließlich weit verbreitet, und nie-mand zuckt auch nur mit der Wimper, denn manist ja nicht grundsätzlich dagegen. Das beste Bei-spiel ist der Artikel von Edward Alexander, Mit-arbeiter von Werner Cohn [siehe S. 175], im Con-gress Monthly, wo er den Holocaust und andereNaziverbrechen mit der Bemerkung abtut, diese»Phantasiegeschichten sind geplatzt". Hat sichirgendwer darüber erregt ? Jeder weiß davon, vorallem seit dem Artikel von Alex Cockburn in TheNation vom 17.(18.92, und dem Briefwechselvom 15.02.93. Jedenfalls ist dies der weitausbekannteste und prominenteste Fall einer Entla-stung der Nazis und Leugnung des Holocaust.Hast Du auch nur einen Funken Interesseirgendwo bemerkt? Was schließt Du daraus?Natürlich spricht Alexander hier gar nicht vonden Juden, sondern von den Roma, die, gleichzei-tig umgebracht wurden, und zwar auf dieselbeWeise, aus denselben Gründen und etwa im glei-chen Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl. Ich willdamit nicht suggerieren, diese beiden Variantender Holocaust-Lüge lägen moralisch auf einerEbene: Es ist allemal viel schlimmer, die Nazi-verbrechen an den Roma abzustreiten, denn diewerden weiterhin gnadenlos verfolgt und sogarnoch aus Deutschland ausgewiesen, zurück zuden osteuropäischen Pogromen.Man braucht nicht lange über all dies nachzu-denken, um zu verstehen, was da vorgeht. - NC

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CAFE IN PARIS

Robert FaurissonRedefreiheit und das ganze Zeug läßtmich kalt. Ich muß gewinnen — nurdarauf kommt es an. Und ich werdeauch gewinnen.

Mark Achbar (zum Kameramann)

Schnitt.

Anti-Holocaust-Historikervon Jugendlichen zusammen-geschlagenClermont-Ferrand (Reuter)

Ein französischer Historiker, der den Todvon Millionen Juden im Nazi-Holocaustabstreitet, wurde gestern so schwer zusam-mengeschlagen, daß er operiert werdenmußte.Der Sechzigjährige namens Robert Fau-risson war von drei Jugendlichen ange-griffen worden, als er in Vichy seinenHund ausführte. Er erlitt einen Kiefer-bruch, mehrere Rippenbrüche sowieschwere Kopfverletzungen. Ein Sprecherdes Krankenhauses in der zentralfranzösi-schen Großstadt Clermont-Ferrand, wo-hin der Verletzte zwecks Operation über-führt wurde, bezeichnete seinen Zustandals stabil.»Er war bei Bewußtsein, konnte abernicht sprechen«, berichtete ein Feuer-wehrmann aus Vichy, der Erste Hilfe ge-leistet hatte. »Sein Kiefer war zerschmet-tert; sie haben ihm das ganze Gesicht zer-schlagen.«Zu dem Überfall bekannte sich eine bis-lang unbekannte Gruppe, die sich »Söh-ne des Gedenkens an die Juden« nennt(...) [In einer Erklärung der Gruppe]heißt es: »Professor Faurisson war der er-ste, aber er wird nicht der letzte gewesensein. Hüte sich jeder, der [den Holocaust]ableugnet.«Faurisson ist ein führendes Mitglied derrevisionistischen Schule in der Ge-schichtswissenschaft. Diese Schule vertrittdie Auffassung, es gäbe keine Beweisedafür, daß im Zweiten Weltkrieg sechsMillionen Juden in den Konzentrations-lagern der Nazis vergast worden seien.

Montreal Gazette 19.09.89

Den Opfern desHolocaust ist nichtdamit gedient, wennman eine zentraleDoktrin ihrer Mörderübernimmt.

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COAST BASTION INN, NANAIMO,KANADA

FrauIch bin nur eine ganz normale Mutterund möchte nicht eines Tages mitmeinen Enkelkindern dastehen undetwas Entsetzliches erleben und michdann fragen, warum ich nichts getanhabe. Bei Ihnen sieht ja jeder, was Sietun. Ich möchte nun ganz praktischfragen: Was meinen Sie, wo man seineEnergie am besten einsetzen soll? Denndas hier heute abend, das überwältigt ...das kommt mir alles so riesig vor, mankann doch nicht mal dran kratzen.

ChomskyDie Welt verändert sich, wenn vieleMenschen unablässig daran arbeiten.Das tun sie: in ihrer Gemeinde, anihrem Arbeitsplatz, wo sie auch seinmögen. So legen sie das Fundament fürdie Massenbewegungen, die die Verän-derungen bewirken. Es ist noch nieanders gewesen. Denken Sie an dieAbschaffung der Sklaverei oder an diedemokratischen Revolutionen — Sie kön-nen nehmen, was Sie wollen, jedesmalist es so abgelaufen. Die Geschichts-bücher vermitteln davon ein falschesBild. In denen gibt es nur ein paar Füh-rergestalten - Menschen wie GeorgeWashington oder Martin Luther King.Das soll nicht heißen, daß diese Perso-nen unbedeutend waren. Natürlich warMartin Luther King ein bedeutenderMann, aber die Bürgerrechtsbewegungbestand nicht nur aus ihm allein. Wenndie Bücher über Martin Luther Kingberichten können, dann deshalb, weilviele Menschen in den Südstaaten aktivwaren - Menschen, deren Namen wirnie erfahren werden, die vergessen sind,die vielleicht sogar umgebracht wurden.

Es gibt zur Lösung unserer Probleme wederZaubersprüche noch Wunderrezepte, son-dern nur die altbekannten Methoden: Ehrli-che Suche nach Erkenntnis, Lernen, Orga-nisation; ein Handeln, das entweder dieKosten staatlicher Gewaltanwendung in dieHöhe treibt oder die Grundlagen für Ver-änderungen in den Institutionen schafft;schließlich jenes niemals nachlassende En-gagement, das der Desillusionierung trotzt,das den vielen Rückschlägen und den dünngesäten Erfolgen gewachsen ist und das vonder Hoffnung auf eine lichtere Zukunftlebt.Turning the Tide S. 253

In Albany, Georgia, einem Städtchen imtiefsten Süden, in dem noch der Hauch derSklaverei hing, fanden im Winter 1961/62und im folgenden Jahr Massendemonstra-tionen statt. Von den 22.000 farbigen Ein-wohnern von Albany landeten über 1000 imGefängnis - wegen ihrer Umzüge, Ver-sammlungen und Proteste gegen Rassen-trennung und Diskriminierung. Wie in allenDemonstrationen, die in der Folgezeit überden Süden hinwegrollten, waren auch hierkleine Kinder beteiligt; eine ganze Genera-tion lernte zu handeln. Als nach einer derMassenverhaftungen der Polizeichef vonAlbany die Namen der vor ihm aufgereihtenHäftlinge aufnahm, erblickte er vor sicheinen etwa neunjährigen farbigen Jungen.»Wie heißt du?« Der Junge sah ihm geradein die Augen und antwortete: »Freedom,Freedom.«Howard Zinn, A People's History of the UnitedStates (Harper and Row 1980) S. 446

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INTERVIEW MIT PAUL ANDREWS INDER SEATTLE TIMES

ChomskyZuerst müssen mal Aktivisten da sein,Menschen, die Betroffenheit empfin-den, die sich für eine Sache oder sogarfür eine andere Gesellschaftsordnungeinsetzen. Erst danach können Leutewie ich auf den Plan treten und alsProminente wirken. Das geht nur,wenn die anderen die Arbeit tun.

HUMANIST RADIO, NIEDERLANDE

ChomskyIch halte wohl jedes Jahr Hunderte vonVorträgen, ich schreibe Bücher, ich sitze20 Stunden pro Woche über Briefen -aber all das zielt nicht etwa auf die Poli-tiker oder auf die Intelligenz, sondernes ist für den sogenannten »Mann aufder Straße« bestimmt. Ich erwarte näm-lich von diesen Menschen nicht mehrals das, was sie bereits sind. Sie sollendie Welt zu verstehen suchen, und siesollen ihren positiven Antrieben folgen.Viele wollen das ja auch, nur müssensie erst mal verstehen ... also was dasbetrifft, so weise ich den Leuten eigent-lich nur den Kurs zur geistigen Selbst-verteidigung.

Die, die von jeher die Opfer waren, blickenin eine trübe Zukunft. Trübe, aber dochnicht ganz ohne Hoffnung. Die Verdamm-ten dieser Erde kämpfen weiter für ihreRechte, und ihr Mut und ihre Beharrlich-keit sind erstaunlich. In den Industrielän-dern andererseits, wo der Bolschewismuszusammenbricht und der Kapitalismusschon längst aufgegeben ist, eröffnen sichneue Chancen für ein Wiederaufleben bis-lang verschütteter libertär-sozialistischerund radikaldemokratischer Ideale über dieMitsprache der Menschen am Arbeitsplatzund bei den Investitionen, also über mehrDemokratie für das Volk in dem Maße, wiedie Macht der Einzelnen abnimmt. Es sindnoch ferne Hoffnungen, aber auch nichtferner, als vor 250 Jahren die Möglichkeiteiner parlamentarischen Demokratie undeiner Verfügung über elementare Bürger-rechte zu liegen schienen. Wer ist so klug,mit Gewißheit zu sagen, was menschlicheWillenskraft erreichen kann?Wir müssen eine Art Pascalscher Wette ab-schließen: Rechnen wir mit dem Schlimm-sten, so wird es auch eintreten; nehmen wiraber den Kampf für Freiheit und Gerechtig-keit auf, so können wir diesem Ziel immer-hin näherkommen.Deterring Democracy S. 64

Einen »Kapitalismus« hat es - wenn man dar-unter ein System freier Marktwirtschaft versteht -in den entwickelten Ländern schon früher kaumjemals gegeben und gibt es jetzt noch viel weniger;die Gründe dafür habe ich vielfach dargelegt. Esgab im 19. Jahrhundert in den USA und in Groß-britannien eine Art »Eigentümerkapitalismus«.Ihm folgte Anfang des 20. Jahrhunderts derManager-Kapitalismus in der USA und nochspäter der kontrollierte Staatskapitalismus in Ja-pan und in den ostasiatischen Schwellenländern.Bereits in den 30erJahren befanden sich praktischalle kapitalistischen Länder auf dem Weg ineinen faschistoiden Staatskapitalismus. Nachdem Krieg nahm die Entwicklung unterschied-liche Formen an - in den USA hauptsächlich diedes Militär-Keynesianismus. Es wäre völlig ver-fehlt, so etwas ab »Kapitalismus« zu bezeichnen.Seit 30 Jahren wird das System mehr und mehrdurch massive staatliche Interventionen am Lau-fen gehalten - ganz abgesehen von der starkenmilitär-keynesianischen Komponente, die in prak-tisch allen florierenden Branchen zu finden ist.Außerdem haben sich die Spielregeln gewaltigdurch das Aufkommen der transnational Kon-zerne gewandelt, die ausgedehnte Oligopole bil-den, strategisch mit den Regierungen zusammen-arbeiten und eigene regierungsähnliche Institu-tionen betreiben. Es verrät Realismus, wenn man-che dieses System als »Konzern-Merkantilismus«bezeichnen. -NC

Zur Rolle der Schulen siehe S. 157

Vgl. auch:• Auszug aus »Toward a Humanistic Con-

ception of Education« in Work, Techno-logy, and Education S. 48

• »The Function of the University in a Timeof Crisis« in For Reasons of State S. 298-315

• »Some Thoughts on Intellectuals and theSchools« in American Power and the NewMandarins, S. 309-321

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AUS »NON-CORPORATE NEWS«(OFFENER KANAL), LYNN,MASSACHUSETTS, USA

Ed RobinsonWas meinen Sie denn damit? Was fürKurse sollen das denn sein?

ChomskyAlso in die Schule wollte ich sie eigent-lich nicht schicken, denn da lernen sie'sbestimmt nicht.

Die Gesellschafts-und Verhaltens-wissenschaften ver-dienen ernsthaftstudiert zu werden,nicht nur, weil sieauch per se Inter-essantes zu bietenhaben, sondern weiluns dadurch erst klarwird, wie wenig sieüber die wirklichdrängenden Mensch-heits- und Gesell-schaftsproblemeaussagen.

|Es liegt eine Tragik darin, daß aus den Ver-einigten Staaten - in Toynbees Worten -Ader Anführer einer weltweiten antirevolu-tionären Bewegung zum Schutz egoistischerInteressen« geworden ist. Eigentlich müß-ten die Schule und die Intellektuellen inAmerika ihren Blick vor allem auf dieseunbeschreibliche Tragödie richten (...)Man sollte vielleicht nicht darüber lächeln,wenn ich den Schulen vorschlage, (...) denSchülern Abwehrtechniken zu vermitteln,mit deren Hilfe diese sich vor der ständiganrollenden Welle der Regierungspropa-ganda und vor der naturgegebenen Einsei-tigkeit der Massenmedien schützen kön-nen. Und um zum Thema zurückzukom-men: Sie sollten sich auch vor der ebensonaturgegebenen Neigung schützen, genauwie große Teile der amerikanischen Intelli-genz ihr Leben nicht an Wahrheit undGerechtigkeit auszurichten, sondern an derMacht und deren möglichst wirksamer Aus-übung (...)Den Intellektuellen ist stets die Rolle einesleidenschaftslosen Kritikers zugekommen —zumindest haben sie sich so sehen wollen.Da sie aber diese Rolle weitgehend einge-büßt haben, muß die Schule in demselbenMaße praktisch eine Selbstverteidigungshal-tung ihnen gegenüber einnehmen (...)In jedem Lehrplan einer zivilisierten Gesell-schaft müßte die Geschichte des Imperialis-mus und seiner Apologeten - möglichstunter dem Blickwinkel derjenigen, auf dieseine Waffen gerichtet sind - eine zentraleStellung einnehmen. Aber auch andereAspekte der intellektuellen Selbstverteidi-gung sollten nicht übersehen werden. ImZeitalter von Naturwissenschaft und Tech-nik wird ganz selbstverständlich deren Pre-stige als ideologisches Instrument einge-setzt. Insbesondere bedient man sich in derPolitik gern der Gesellschafts- und Verhal-tenswissenschaften, um nationale oderandere Sonderinteressen zu fördern undgleichzeitig zu tarnen. Zwar sind zum einen

in einer Gesellschaft, die ihnen Prestige undWohlstand verspricht, die Intellektuellender heftigen Versuchung ausgesetzt, einesogenannte »pragmatische Haltung« einzu-nehmen (...); anstatt die im In- und Aus-land existierende Machtverteilung und diesich daraus ergebenden politischen Realitä-ten kritisch zu hinterfragen oder gar anihrer Veränderung zu arbeiten, pflegt mansie dann zu »akzeptieren« (...) Auchbesteht in dieser Phase die Versuchung, dieeingenommene Position - die vielleichtimmerhin historisch gerechtfertigt werdenkann - mit einer sehr allgemeinen ideolo-gischen Rechtfertigung zu untermauern.Doch darüber hinaus ist damit zu rechnen,daß die politische Elite sich der Terminolo-gie der Gesellschafts- und Verhaltenswissen-schaften bedient, um ihre Handlungsweisegegen kritische Analysen zu immunisieren -schließlich wird sich ja auch kein Laie an-maßen, Physikern und Ingenieuren erzäh-len zu wollen, wie man einen Atomreaktorbaut (...)Die Gesellschafts- und Verhaltenswissen-schaften verdienen ernsthaft studiert zuwerden, nicht nur, weil sie auch per se Inter-essantes zu bieten haben, sondern weil unsdadurch erst klar wird, wie wenig sie überdie wirklich drängenden Menschheits- undGesellschaftsprobleme aussagen (...) Sokönnen wir uns wirksam vor der zu erwar-tenden Propaganda schützen und die wahreNatur der Tricks erkennen., durch die unsder eigentliche Gehalt von Innen- undAußenpolitik verborgen bleiben soll.American Power and the New Mandarins,S. 313-318

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TV-SCHIRM IN EINER HOCHHAUS-WOHNUNG

ChomskyDazu muß man einen unabhängigenGeist entwickeln. Allerdings ist dasungeheuer schwer, solange man alleinist. Unser System isoliert aber den Ein-zelnen - und das ist der Witz bei derSache. Jeder Mensch sitzt allein vor sei-ner Glotze. Unter diesen Bedingungenkann man aber Ideen oder Gedanken

nur schwer entwickeln. Man kann auchnicht als Einzelner gegen die ganzeWelt kämpfen. Gut, es kommt vor, aberverdammt selten. Es geht nur, wennman sich organisiert. Will man alsogeistige Selbstverteidigung lernen, sobedarf es dazu eines politischen undorganisatorischen Umfelds.

BÜRGERINITIATIVE, NANAIMO

ChomskyEs ist durchaus sinnvoll, zu beobachten,was die Institutionen tun, und sichdaran zu orientieren. Denn auf was sieaus sind, das müssen wir bekämpfen.Wenn sie die Menschen voneinanderisolieren wollen, bringen wir sie zusam-men. Ihr müßt in eurer Gemeinde nachAusgangspunkten für alternative Aktio-nen suchen, nach Menschen, die die-selben Sorgen haben - wenn auch viel-leicht auf unterschiedlichen Gebieten,aber im Kern mit vergleichbaren Wert-vorstellungen. Und die ebenfalls denLeuten beibringen möchten, wie sie sichgegen fremde Mächte zur Wehr setzenkönnen, und die ihr Lebe in dieeigene Hand nehmen und anderenMenschen beistehen wollen. Hier gibtes viele Gemeinsamkeiten. Ihr erfahrtetwas über eure eigenen Wertvorstellun-gen; ihr lernt, euch zu verteidigen - unddies alles geschieht gemeinsam.

Sehr viele Menschen sind im Grunde an-ständig, auch wenn sie schlecht informiertund heftiger Propaganda ausgesetzt sind.Solange niemand der Propaganda entge-gentritt, zeigt sie Wirkung; unter die Ober-fläche dringt allerdings kaum etwas. Bei vie-len genügt es schon, daß sie Fragen stellenund ihre Intelligenz und ihren instinktivenAnstand einsetzen, und sie werden sich als-bald aus dem Fangnetz der Doktrinen be-freien und beginnen, auf d ie eine oder an-dere Weise Menschen beizustehen, die be-sondere Not und Unterdrückung erleidenmüssen.Aus einem Interview mit Open Road (Van-couver, Kanada), abgedruckt in Languageand Politics S. 389

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Wenn man die bürgerlichen Freiheiten ver-teidigen will, ist es am besten, eine Bewe-gung für gesellschaftlichen Wandel aufzu-bauen und dieser ein positives und weitge-spanntes Programm zu geben, das auf freieund offene Diskussion setzt und vielfältigeAktionsmöglichkeiten eröffnet. Das Poten-tial für eine solche Bewegung ist mit Sicher-heit vorhanden. Offen bleibt, ob sie einesTages Wirklichkeit wird. Denn es droht janicht nur die Repression von außen; auchFraktionskämpfe, Dogmatismus, unüber-legte Aktionen und taktische Manipulatio-nen können gefährlich werden (...)Eine linke Bewegung kann auf lange Sichtnur dann auf Erfolg hoffen, wenn sie sichüber das Wesen der heutigen Gesellschaftim klaren ist und die Mehrheit mit ihrerZukunftsvision überzeugt (...)Jeder weiß, daß in einer fortgeschrittenenIndustriegesellschaft die Massen erheblichmehr zu verlieren haben als nur ihre Ket-ten; das zu bestreiten wäre unsinnig. Ihnenwird vielmehr sehr daran gelegen sein, dieherrschende Ordnung beizubehalten. Jedeernstzunehmende radikale Bewegung mußdaher ein hohes geistiges Niveau anstreben- das hat schon André Gorz richtig gesehen.Immer nur die Litanei von der Ungerech-tigkeit und der Unterdrückung herzubeten,kann nicht genügen (...) Die Bewegungdarf auch nicht in die Illusion verfallen,eine »Avantgardepartei« könne alle Wahr-heit und Tugend bei sich bündeln, dieMacht im Staat ergreifen und wie durch einWunder die Revolution herbeiführen, wor-auf dann endlich die Gesellschaft auf derGrundlage demokratischer Strukturen undvertretbarer Wertvorstellungen erblühenwird (...) Und um den Kampf gegen denImperialismus — wie auch gegen die der Ge-sellschaft von den immer stärker werden-den internationalen Wirtschaftsinstitutio-nen drohenden Zwänge und Eingriffe -führen zu können, muß sich die radikaleBewegung international organisieren, und

zwar auch in ihrem kulturellen Selbstver-ständnis. Wenn wir hier versagen, bleibenvielleicht nur noch Tyrannei und Unglück(...) Was die Wirtschaftswissenschaftler»externe Kosten« nennen, läßt sich nichtmehr in Fußnoten verstecken; soviel hatsich inzwischen herumgesprochen. Werauch nur eine Minute über die Problemeunserer Gesellschaft nachdenkt, wird aufdie sozialen Kosten stoßen, die mit Produk-tion und Konsum, mit der fortschreitendenUniweitzerstörung und der völlig irrationa-len Nutzung unserer technischen Mittel ver-bunden sind - weil ein auf Profit und maxi-males Wachstum gegründetes System ge-genüber der Maximalversorgung mit Gü-tern für den persönlichen Gebrauch eineinsgesamt bessere Lebensqualität völlig ver-nachlässigt und somit Bedürfnissen, die nurkollektiv zu definieren sind, überhauptnicht gerecht werden kann.Radical Priorities S. 221-223

Oft nehmen die Herrschenden und ihreIdeologen gar kein Blatt vor den Mund. Soträgt ein Leitartikel der Financial Times -Autor ist James Morgan, Wirtschaftskorre-spondent des BBC World Service - den Unter-titel »Nach dem Zusammenbruch des Ost-blocks herrschen IWF und G7 über die Weltund können ein neues imperiales Zeitaltereröffnen.« Endlich naht sich also die Erfül-lung von Churchills Vision: Wir werdennicht mehr von diesen »hungrigen Völ-kern« bedrängt, die »immer mehr habenwollen« und die Ruhe der Reichen stören.Jetzt also obliegt »die Errichtung einer neu-en Weltordnung der G7, dem IWF, derWeltbank und dem GATT«, wobei »eine in-direkte Herrschaft dadurch ausgeübt wird,daß die Führer der Entwicklungsländer indas Geflecht der neuen Herrscherklasseeingebunden werden« — daß es die alle ist,sollte nicht überraschen. Lokale Statthalterdürfen am Wohlstand teilhaben, vorausge-setzt, sie erfüllen ihre Pflichten gegenüber

den wahren Herren. Morgan verkennt auchnicht »die Heuchelei der reichen Nationen,wenn sie von der Dritten Welt die Öffnungder Märkte verlangen, aber ihre eigenenabschotten«. Er hätte auch den Bericht derWeltbank erwähnen können, demzufolgedurch den Protektionismus der Industrie-länder das Einkommen der Länder des Sü-dens doppelt so stark geschmälert wird, wiedie gesamte Entwicklungshilfe beträgt, dieohnehin zum größten Teil nur in Export-förderung besteht und auf die bessergestell-ten Schichten der »Entwicklungsländer«zielt (wer mehr hat, kann mehr konsumie-ren). Oder wie wäre es mit der UNCTAD-Schätzung der NTB-Auswirkungen [non-tariff barriers, über die Zollschranken hinausge-hende Handelshemmnisse]: 20 Prozent Export-rückgang der Dritten Welt im Jahreswertvon mehreren Milliarden Dollar. Oder mitder Schätzung der Weltbank, daß die NTBssich auf 31 Prozent der Industrieproduktedes Südens auswirken, im Norden aber nurauf 18 Prozent. Oder nehmen wir den Jah-resbericht 1992 des UN Human DevelopmentProgram über den wachsenden Abstand zwi-schen Reich und Arm in der Menschheit:die reichste Milliarde verfügt über 83 Pro-zent des Gesamtvermögens, die ärmste übergerade 1,4 Prozent. Und wenn sich dieserAbstand seit 1960 verdoppelt hat, dann istdas - so der Bericht - auf die Politik derWeltbank und des Währungsfonds zurück-zuführen sowie darauf, daß von den 24Industrieländern 20 heute einen stärkerenProtektionismus ausüben als vor 10 Jahren;hierzu zählen auch die USA mit ihrer Rea-gan-Revolution (Verdoppelung des Anteilsder von Schutzmaßnahmen betroffenenImporte). Düsteres Fazit des Economist.»Jahrzehntelange Entwicklungskredite ha-ben nur dazu geführt, daß die armen Län-der jetzt Jahr für Jahr mehr als 21 MrdDollar in die Tresore der Reichen transfe-rieren.«Year 501: The Conquest Continues S. 61-62

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UNIVERSITY OF WYOMING,LARAMIE

FrauWas könnte ich als Biologin, als Durch-schnittsmensch denn lesen, um dieseFilter in unserer Presse zu umgehen?Könnten Sie da einen oder zwei Titelnennen?

ChomskyAlso zu dieser Frage: »Von welchenMedien kann ich die richtigen Antwor-ten erwarten?« will ich nichts sagen,denn darauf gibt es wohl keine Antwort.Richtig ist immer das, was Sie als richtigempfinden. Was ich sage, ist vielleichtalles falsch. Könnte doch sein, oder? Ichbin doch nicht der liebe Gott. Das müs-sen Sie schon selbst herausbekommen.Natürlich könnte ich irgend etwas nen-nen, was ich gerade für gut halte; aberich wüßte nicht, warum Sie das beson-ders ernst nehmen sollten.

MAIASPINA COLLEGE, NANAIMO

FrauWelchen Einfluß - oder welches Poten-tial - haben Ihrer Ansicht nach diealternativen Medien? Ich meine vorallem das Potential, und unter alternati-ven Medien - ich will das definieren -verstehe ich Medien, die nicht vomStaat oder von der Wirtschaft, sondernvon den Bürgern kontrolliert werden.

ChomskyGenau, das hat die Menschen immerverbunden. Nur wenn Menschen mit-einander in Wechselwirkung treten kön-nen, schaffen sie etwas Konstruktives.

Nicht was man liest ist wichtig, sondern wieman liest. Die Menschen müssen sich klar-machen, daß immer und immer wieder ver-sucht wird, sie zu manipulieren. Das sollnicht heißen, daß die Fakten nicht auch ver-fügbar wären.Aus einem Interview mit Paul Andrews,Seattle Times.

Man muß die Medien nur kritisch und zy-nisch genug verfolgen, muß viel lesen, mußdie Vorgänge durchschallen, muß sich nurbewußt werden, daß einem eine ganz be-stimmte Brille aufgedrängt werden soll -dann kann man sich auch wehren.Aus einem Interview mit David Barsamianim MIT, Februar 1990.

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BÜRO IM MIT

ChomskyIch habe das immer für eine gute Sachegehalten, die soweit wie möglich geför-dert und vorangetrieben werden muß.Aber es wird sehr schwer werden. DieAlternativmedien mögen noch so wich-tig sein - gegen die Konzentration derMacht werden sie hart zu kämpfenhaben.Zwar gibt es auch kleinere Erfolgserleb-nisse, aber selbst die erfordern von denBeteiligten einen unglaublichen Ein-satz. Nehmen wir beispielsweise dasZ Magazine. Das ist eine überregionaleZeitschrift, aber gemacht wird sie vongenau zwei Leuten ohne finanzielleReserven.

BÜRO DES Z MAGAZINE, BOSTON

Mark AchbarErzählt uns doch mal was über dasZ Magazine. Was ist das und worinunterscheidet es sich von anderenZeitschriften?

Michael Albert (zu Lydia Sargenl)Fang du an.

Lydia SargentIch anfangen? Nein danke.

Michael AlbertWir wollten eine Zeitschrift machen, inder alle Aspekte der Politik zur Sprachekommen: die Wirtschaft, die Rassen-frage, die Geschlechterfrage, die Herr-schaftsfrage, die politischen Beziehun-gen. Wir wollten sie aber auch so gestal-ten, daß die Leserschaft nicht nur ver-steht, was da vorgeht, sondern darübernachdenkt, was man anstreben sollte

Michael Albert und Lydia Sargent gründe-ten South End Press im Jahre 1978, um demin den USA bestehenden Mangel an pro-gressiven Veröffentlichungen über dieBeziehungen zwischen den Rassen, Klassenund Geschlechtern und über andere innen-politische Probleme abzuhelfen.Zehn Jahre darauf gründeten die beidendas Z Magazine. Sie teilen sich in die Redak-tions- und Produktionsarbeiten; bei ande-ren Pflichten geht ihnen Eric Sargent zurHand (sie leben zusammen; Eric ist LydiasSohn). Auch wenn Albert sofort einräumt,daß das Z-Kollektiv nicht ohne weiteres alsVorbild dienen kann, so empfiehlt er dochdenen, die sich für das Verlagswesen inter-essieren, einen Blick auf die Struktur vonSouth End Press. Zusammen mit RobinHahnel hat er ein Buch geschrieben, Look-ing Forward: Participatory Economics for theTwenty-first Century (South End Press 1991);es liefert eine genaue Beschreibung desideellen Hintergrunds und der praktischenAktivitäten eines fiktiven Verlages namensNorthstart Press (zu dem South End PressModell gestanden hat).Z Magazine ist eine Vierteljahreszeitschriftüber Strategien und Visionen. Es hat 15.000Abonnenten und setzt 8-9000 Exemplare imfreien Verkauf ab.Insgesamt gibt es in Amerika über 500 alter-native Blätter mit lokaler, regionaler odernationaler Verbreitung, und Z Magazine isteines davon.Lydia Sargent, Z Magazine

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und was man verbessern kann. Und Kul-tur und Humor wollten wir auch nochanbieten. Es sollte ein Magazin sein, dasden Menschen etwas bedeutet, aus demsie etwas für sich gewinnen können undin das sie sich einbringen können.

Lydia SargentUnd dann wollten wir etwas bieten, daswir bei den bereits existierenden Zeit-schriften vermißt haben, nämlich einenaktivistischen Schwerpunkt setzen unddamit den vielen Bewegungen im Land

Won Nutzen sein. Eine Zeitschrift, diedie Leute begeistern und ihnen eine ArtStrategie oder sogar eine Vision vombesseren Leben vermitteln kann - soeine Zeitschrift war nirgends zu finden.

IM MIT

ChomskySouth End Press ist erfolgreich - oderbesser gesagt, hat bislang überlebt.Der Verlag bildet eine kleine Koopera-tive und verfügt auch nur über sehrbegrenzte Mittel, bringt aber eineMenge Bücher heraus. Doch obwohldarunter viele gute Bücher sind, es istso gut wie unmöglich, ein Buch vonSouth End mal irgendwo rezensiert zubekommen.

Nehmen wir etwa den Boston Globe (...)Manchmal ist es geradezu komisch - zumBeispiel im letzten Herbst. Die NationaleVereinigung der Englischlehrer hat einensogenannten »Orwell-Preis« gestiftet; erwird alljährlich für die beste Entlarvungeiner gespaltenen Zunge verliehen, undzwei Jahre zuvor hatte ich ihn für mein BuchOn Power and Ideology erhalten. Nun alsobekamen Ed Herman und ich ihn für Manu-facturing Consent. Etwa zur selben Zeit, ichglaube im November, machte eine - übri-gens ziemlich linksliberale - Journalistin fürden Boston Globe ein Interview mit dem Men-schen, der für diesen Preis zuständig ist. Eslas sich alles sehr positiv: Tolle Idee, so ei-nen Preis gegen gespaltene Zungen zu ver-leihen. Sie führte dann auch einige Namenvon Preisträgern aus den letzten Jahren auf,Ted Koppel und andere. Allerdings gab eseine auffällige Lücke: Ausgerechnet dieGewinner dieses Jahres blieben unerwähnt.Nun war es meines Wissens das erstemal,daß jemand den Preis zweimal bekommenhatte. Und dann handelten die beiden der-art ausgezeichneten Bücher auch noch vonden Medien. Also nichts in der Art von TedKoppel — es war eine Medienkritik, nichtmehr und nicht weniger. Und darüberkonnte sie natürlich nichts bringen. SouthEnd Press hat furchtbar kämpfen müssen,bis endlich mal eines ihrer Bücher rezen-siert wurde; man kann es übrigens im Publi-sher's Weekly nachlesen. So ist es eben; Ihnenmuß ich das ja nicht erzählen. Ohne Geld-mittel, ohne Rückhalt bei Inserenten, ohneZugriff auf die lautstarken Medien hat mannur eine äußerst begrenzte Reichweite. Nurmit harter Arbeit läßt sich dann überhauptetwas erreichen, und es ist wichtig zu wissen,welche Kompensationsmöglichkeiten esgibt. So besteht zwischen vielen Dissidenteneine Kooperation. Ich zum Beispiel stehestundenlang am Kopierer und produzierePapiere für Freunde im Ausland, die dort inderselben Lage sind wie ich hier, und das-

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selbe tun sie für mich. Ich habe ja kein For-schungsbudget für diese Sachen, kriegeauch keinen Sonderurlaub dafür, und dochhabe ich auf diese Weise einen besserenZugang zu den Quellen als die etabliertenWissenschaftler-oder auch als der CIA. Diehaben eben keinen hellwachen Typ in Israelsitzen, der die hebräischen Zeitungen fürsie durchsieht, die wichtigen Sachen aus-schneidet und analysiert und das Ergebnisherschickt — aber ich schon.Aus einem Interview mit David Barsamianim MIT, Februar 1990.

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VERLAG »SOUTH END PRESS«,BOSTON

Karin Aguilar-San JuanUnsere Titelauswahl und Geschäftspoli-tik beruht auf Grundsätzen, die für diegroßen Verlage mit ihren Bindungen andie Großunternehmen nicht in Fragekommen. Wir besorgen uns die Manu-skripte, die für die Bewegung relevantsind, und unsere Produktentscheidun-gen richten sich danach, ob die Men-schen sich unsere Bücher leisten kön-nen und ob ein Buch herauskommensollte, weil vielleicht tausend Leute dar-aufwarten, auch wenn wir damit keinGeld verdienen können. Gerade heut-zutage, bei den vielen Fusionen undÜbernahmen, legen wir auf diese Krite-rien besonderen Wert.

Loie HayesUnd dann machen wir - wenn ein Buchproduziert wird - die Arbeit auch allegemeinsam und lernen dabei alles Mög-liche. Wir büßen dabei zwar etwas anProduktivität ein, aber jeder von uns hatEinfluß und kann zu den übrigen sagen:»Das sehe ich aber anders.« Wenn sol-che Entscheidungen anstehen, steuernalle ihre Intelligenz bei, nicht nur, werzufällig die längste Erfahrung besitztoder die »beste« Schule besucht hat unddeswegen meint, der »beste« Redakteurzu sein, und alle Entscheidungen alleintreffen will.

South End Press ist ein gemeinnützig arbei-tendes Buchverlags-Kollektiv. 175 Titel wur-den bereits produziert. Seit seiner Grün-dung im Jahre 1978 versucht der Verlag, vorallem für solche Leser zu arbeiten, die dieGesellschaft von Grund auf verändernmöchten oder die nach Wegen suchen, dieszu erreichen.Die Bücher des Verlages sollen der Förde-rung kritischen Denkens und konstruktivenHandelns in den entscheidenden sozialenund ökologischen Fragen im In- und Aus-land dienen. Auch sollen sie den unter-schiedlichsten demokratischen Bewegun-gen in der Gesellschaft eine Stimme verlei-hen und Alternativen zu den Produkten derGroßverlage anbieten.Gemeinsam mit 7. Magazine, Speak Out! (ei-ner Rednervermittlungsagentur), dem Pub-lishers Support Project und dem New LiberationNews Service arbeitet South End Press im Insti-tute for Social and Cultural Change an der Ver-breitung von Informationen und kritischenAnalysen. Ähnliche Ziele werden auch vonanderen progressiven Organisationen invielen Ländern verfolgt.

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BÜRO DES Z MAGAZINE, BOSTON

David BarsamianSeit etwa 10 Jahren weisen die Hörer-radios in den USA einen erheblichenZuwachs auf; sie sind vielleicht das amschnellsten wachsende Medium.Gründe dafür gibt es viele, aber vorallem ist es enorm billig und erreichtGemeinden, die vorher keinen Zugangzu diesem Medium hatten.Wir sehen es ja in Boulder (Colorado).Noam Chomsky ist in den letzten sechsJahren wohl dreimal dort gewesen undhat eine riesige Zuhörerschaft angezo-gen. Das aber ist teilweise dem SenderKGNU zu verdanken, denn wir spielenseine Bandaufnahmen ab, wir übertra-gen seine Interviews und seine Vorträge,und wenn er dann selbst nach Boulderkommt, können die Leute einschaltenund ihm zuhören. Er bringt ja auchkeine exotischen oder esoterischenSachen, sondern spricht über Dinge,die jeder kennt. Er hat das übrigensauch schon selbst bemerkt.

ChomskyIn so einem Hörerradio wird den Leu-ten Tag für Tag ein neuer Blick auf dieWelt und ein anderes Verständnis derDinge geboten und nicht nur das, wasdie großen Medien ihnen vorführenwollen. Sie können es sich nicht nuranhören, sie können selbst darauf Ein-fluß nehmen, können ihre Gedankeneinbringen, können Erfahrungenmachen und so fort. Ja, und so werdendie Menschen zu wahren Menschen. Soübernehmen sie ihre menschliche Rolleals Beteiligte im politischen und gesell-schaftlichen System.

In Frankreich verfügen viele lokal operie-rende Gruppen über eigene Radiosender.Einer der bekanntesten ist Radio Zinezine,das der progressiven Kooperative LongoMai in der Haute Provence gehört und rundum die Uhr sendet. Dieser Sender ist zueiner bedeutenden Gemeinschaftseinrich-tung geworden, über die viele zuvor isoliertlebende Landwirte informiert und aktiviertwerden können. Auch in manchen Regio-nen [der USA] läßt sich der potentielleWert nicht-kommerzieller Stationen ausma-chen, so etwa bei Radio Pacifica, mit dessenWeltsicht, Berichtsniveau und Diskussions-freiheit kaum eines der großen Medien mit-halten kann. Und auch die ÖffentlichenKanäle *1) stellen - trotz der Rückschläge,die sie in der Ära Reagan/Bush hinnehmenmußten - immer noch eine mögliche Alter-native dar, deren Wiederbelebung und Stär-kung jedem am Herzen liegen sollte, dersich dem Propagandasystem entgegenstel-len will. Auch die anhaltende Kommerziali-sierung der Öffentlich-rechtlichen Sender*2) müßte entschieden bekämpft werden.Eine demokratische politische Ordnungbedarf auf lange Sicht einer erheblich aus-geweiteten Einwirkungsmöglichkeit auf dieMedien, verbunden mit einem verbesser-tem Zugang. Es ist für die ganze Fortschritts-bewegung wichtig, intensiv zu diskutieren,wie dies erreicht werden kann; eine grund-legende Medienreform muß in die politi-schen Programme Eingang finden.»Conclusions« in Manufacturing ConsentS. 307

*1) Public radio/TV: Mit öffentlichen Mittelnarbeitender Sender*2) Publicly-owned station: Staatseigener Sen-der

Warum brauchen wir das Radio? EdwardSaid hat es »die oppositionelle Form« ge-nannt, denn im Gegensatz zum Fernsehen,wo man ständig hinter dem effektvollenFilmschnipsel her ist, sei es für das Radiowichtig, »anders zu denken, nämlich linear- nicht in Bildern zu denken, sondern mitder Vernunft«. Im Radio kann man sich ein-mischen.Seit 1978 bin ich ein solcher Einmischer,ein Kämpfer im Äther. Meine »Organisa-tion«, Alternative Radio, ist Teil einer florie-renden Bewegung lokaler nicht-kommerzi-eller Sender mit unabhängigen Produzen-ten. Ich selbst produziere und vertreibe jedeWoche ein politisches 60-Minuten-Pro-gramm. Es wird von über 100 Sendern in

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Kanada und den USA ausgestrahlt und ge-langt außerdem über Kurzwelle in mehr als70 Länder. Die Technik ist einfach, dieKosten niedrig. Bei all ihren Medienproble-men haben die USA doch unter allen Län-dern das am besten ausgebildete Netz vonRegional- oder Hörerradios.Alternative Radio nahm einen bizarren An-fang. Es war 1986, und ich unternahm da-mals etwas Unerhörtes: Ich buchte auf demSatelliten einen Block von dreieinhalb Stun-den Noam Chomsky - ein Vortrag von 90Minuten, gefolgt von vier Interviews zu je 30Minuten. Es war meine erste landesweiteSendung; niemand hatte mir gesagt, daß diemeisten Sender nur halbstündige oderallenfalls einstündige Blöcke bringen. Eswar eben das sprichwörtliche Lehrgeld. Im-merhin wurde die Ausstrahlung durch dasPacifica-Netz verbreitet und löste eine ge-waltige Hörerreaktion aus - der Weg für ARwar vorgezeichnet.An diesem Satellitensystem hängen Hun-derte von Sendern wie an einer elektroni-schen Nabelschnur. Betrieben wird dasGanze vom National Public Radio. Aber keineAngst - die wollen nur unser Geld. Nie habeich auch nur einen Pieps zum Inhalt einesmeiner Programme von denen vernom-men. Mehr als 400 Stationen haben down-links, können also die Sendungen über ihreSchüsseln empfangen. Die Einspeisung vonProgrammen erfolgt über ca. 20 uplinks. DasArbeiten mit den vom Satelliten gesetztenTerminen ist wie ein unablässiger Reiz. Manhat sozusagen ständig ein Magnetband alsDamoklesschwert über dem Kopf schwe-ben. Das Programm muß kurz vor der ver-einbarten Zeit am uplink bereitstehen. Dieeinzelnen Stationen rufen das Programmdann vom Satelliten ab und strahlen es zueiner bestimmten Uhrzeit aus. Man kannauch live über den Satelliten senden, zumBeispiel bei den Nachrichten oder bei be-sonderen Anlässen wie Hearings oder De-monstrationen. Nähere Auskünfte über das

Satellitensystem und seine Benutzung er-teilt NPR, 2025 M Street NW, Washington,D. C. 20036, USA, Tel. (202) 822-2323.Zweifellos ist das Radio unter allen elektro-nischen Medien das billigste. Und es ist das-jenige, das mir am meisten zusagt. Das Ra-dio hat etwas Intimes; es bemächtigt sichnicht der Vorstellungskraft seiner Hörer.Für das gesprochene Wort - wie bei mir - istes sowieso ideal. Ein Thema kann in einerStunde gut abgehandelt werden. Die AR-Programme befassen sich mit den übrigenMedien, der US-Außenpolitik, dem Rassis-mus und den Rechten der indigenen Völ-ker, mit der Umwelt sowie mit Wirtschafts-themen wie NAFTA/GATT und anderem.Leider ist das Satellitensystem auf die USAbeschränkt; nach Kanada, Australien usw.muß ich also Bänder verschicken. Das istnatürlich teuer und unpraktisch und auchschlecht für die Tonqualität. Ich warte wirk-lich darauf, daß wir eines schönen Tagesendlich über ein globales Netz verfügen.Und wie trägt sich das alles? Nun, durch denDirektverkauf von Audiokassetten und Nie-derschriften an die Hörer. Den Sendern be-rechne ich nichts; schließlich möchte ich ja,daß die Programme ausgestrahlt werden,also muß für die Stationen alles möglichsteinfach und schmerzlos sein. Mein Ziel istes, die verschiedenen Ansichten und Blick-winkel zu verbreiten. Was habe ich davon,wenn ich ein Programm produziere und esdann ein Ladenhüter wird?Wer mehr wissen oder eine lokale Radiosta-tion aufziehen möchte, sollte sich an fol-gende Adresse wenden: National Federa-tion of Community Broadcasters, 666 11 thStreet NW, Washington, D. C. 20001, USA,Tel. (202) 393-2355. NFCB ist eine zentraleVertretungs- und Dienstleistungsorganisa-tion für Lokal- und Regionalsender. Sie ver-treiben auch Audio Craft, einen nützlichenRatgeber zur Produktionstechnik, geschrie-ben vom Radiozauberer Randy Thom.Außerhalb der USA kann man sich an

AMARC wenden, die World Association ofCommunity Broadcasters, 3575 Blvd. St. Lau-rent, Suite 704, Montreal, Que. H2X 2T7,Canada. Bruce Girard von AMARC hat einBuch mit dem Titel A Passion for Radio her-ausgegeben, das über die Situation der loka-len Radios in verschiedenen Ländern infor-miert. AMARC verfügt auch über Fachlite-ratur in englischer, spanischer und franzö-sischer Sprache.In Ermangelung eines guten örtlichen Sen-ders kann man progressive Programmeauch über Kurzwelle empfangen, nämlichvom Sender Radio for Peace International. Ersteht in Santa Ana, Costa Rica. Sende- undFrequenzpläne können angefordert werdenbei RPI, PO Box 10869, Eugene, OR 97440,USA.Das Lokal- oder Hörerradio bietet, mit denWorten von William Barlow von der HowardUniversity, »mehr demokratische Möglich-keiten als jedes andere Massenmedium inden USA.« Alle politisch Engagierten soll-ten das Radio als Aktions- und Mobilisati-onsmedium ernsthaft in Erwägung ziehen.Im ersten Heft der Z Papers schreibt EdwardHerman: »Eine umfassende Demokratisie-rung der Medien kann nur in Verbindungmit einer durchgreifenden politischen Re-volution erfolgen.« Genau davon reden wir.Gerade wird die Fusion zwischen Bell Atlan-tic und TCI angekündigt. Der Trend zurimmer stärkeren Konzentration von Machtund Kapital setzt sich fort. Ganze Berge vonPapier belegen die Beherrschung der Me-dien durch Wirtschaft und Industrie. Wirhaben unsere Hausaufgaben gemacht, undobwohl solche Kritik auch noch weiter ge-äußert werden kann, erscheint es mir dochaus psychologischen wie politischen Grün-den erforderlich, positive Alternativen auf-zuzeigen. Dies ist für uns lebenswichtig - dasRadio bietet uns die Möglichkeit dazu.David Barsamian, »Alternative Radio - Au-dio Combat« in Z Papers (Oktober/Dezem-ber 1993).

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AUS »NON-CORPORATE NEWS«,LYNN

Ed RobinsonHallo, hier ist »Non-Corporate News«.Mein Name ist Ed Robinson. Was istNon-Corporate News und warum brau-chen wir diese Sendung?(im Off)Ich wollte nicht schon wieder so eineFilmvorführung in einer Stadtbüchereimachen. Ich wollte selbst etwas aus-drücken. Ich versprach mir mehr Spaßan der Sache, und vielleicht könntenandere dabei mitmachen. Wir würdennicht nur einen Film zeigen, sondernselbst einen machen. An dem hiesigenKabelsender hängen drei Gemeinden,Lynn, Swampton und Salem, mit zusam-men 30.000 Menschen - vielleicht auch30.000 Haushalte, da bin ich mir nichtganz sicher - aber jedenfalls können dasviele Leute sehen, und zwar genau die,die nicht ins Kino gehen. Wir kommenalso zu denen ins Haus, und wenn siedann durch die Kanäle zappen, ent-wickeln sie vielleicht ein ganz neuesWeltbild.

Wenn ich an einen alten Freund schreibe,dauert es gewöhnlich mindestens sechs Wo-chen, bis ich eine Antwort erhalte. Als ich1986 zum ersten Mal an Noam Chomskyschrieb - ich hatte gerade sein Buch Turn-ing the Tide gelesen - reagierte er binnen

einer Woche. Das mag etwas über meineFreunde oder über Noam Chomsky aussa-gen - ich bin mir da nicht ganz sicher.Ich bat ihn damals, mir andere vergleich-bare Bücher zu empfehlen, und lud ihnaußerdem zu einem Vortrag an der Univer-sity of Massachusetts ein. Damals erschienmir dieser Vorschlag ungewöhnlich.Sein Buch warf mich förmlich um; es verän-derte mein gesamtes Weltbild und machtemich zu einem politischen Aktivisten, d. h.ich schloß mich der Central America SolidarityAssociation an der Universität an. 1990 grün-dete ich den Sender Non-Corporate News; ichhoffte, dadurch die Leute zu erreichen, dieabends zu müde sind, um noch in Vorträgezu gehen, und bei denen ich mir ähnlicheReaktionen wünschte.Anfangs hatte ich geglaubt, ich könnte michauf Originalmaterial beschränken. Diesstellte sich aber sofort als unmöglich heraus,denn schon für die Produktion der 30 Se-kunden kurzen Einleitung benötigte ich -zusammen mit zwei Studenten - vier Stun-den. Es dauerte nicht lange, und wir ver-wendeten 90 Prozent unserer Sendezeit aufprofessionelle Videos, die wir vom AmericanFriends Service Committee ausgeliehen hatten.Ich selbst verwandelte mich in Laufe derZeit in einen geradezu fanatischen Copy-right-Verletzer.Als erstes brachte Non-Corporate News natür-lich ein Interview mit Noam Chomsky; Aus-schnitte daraus sind auch in ManufacturingConsent: Noam Chomsky and the Media zu se-hen. Als das Video sendereif war, schrieb ichan Noam und schickte ihm einen Zeitungs-ausschnitt mit der entsprechenden Pro-grammankündigung auf dem Kanal WarnerCable. In seiner Antwort teilte er mir mit, erhabe ein »besonderes Verhältnis« zu War-ner Communications (die jetzt zu Time-Warner gehören). Diese hätten nämlich1974 den Vertrieb eines seiner Bücher abge-würgt (Näheres dazu in einer Vorbemer-kung zu Band 1 von The Political Economy of

Human Rights). Ich solle doch unbedingtWarner Communications davon in Kennt-nis setzen, daß er im Warmer Cable zu sehensein werde.In den 60er Jahren - oder war es Anfang der70er - schrieb Abbie Hoffman Steal ThisBook. Jetzt haben wir die Neunziger, und dasolltet ihr alle dem Rat folgen: »Kopiert die-ses Video« und es über euren lokalen Offe-nen Kanal*) schicken. Wer die Zeit dafürhat, der soll sein eigenes Video machen unddas ausstrahlen lassen. Über Offene Kanäleist das kostenlos, und man kann auch ko-stenlos lernen, wie das geht.Ed Robinson (November 1993)

*) In den USA verbreitete Form eines öf-fentlich lizenzierten Privatkanals, der fürBeiträge aus dem Publikum offen sein muß.

In einer Fußnote zu Manufacturing Consentschreiben Herman und Chomsky: »Das Ver-kabelungsgesetz (Cable Franchise and Tele-communications Act) von 1984 gibt den Städ-ten das Recht, Offene Kanäle anzufordern;andererseits dürfen die Kabelgesellschaftendiese Kanäle bei unzureichender Auslastungauch anderweitig verwenden. So könnte alsozu geringe Nutzung dazu beitragen, daß dieOffenen Kanäle sterben.« Und auf S. 307heißt es: »Die Kommunikation über Kabelund Satelliten war nur am Anfang rein kom-merziellen Interessen ausgeliefert; inzwi-schen hat ihre wachsende Verbreitung dasNetz-Oligopol geschwächt und ermöglichteine verstärkte Nutzung durch lokale Grup-pen. Es gibt in den USA bereits an die 3000Offene Kanäle, über die allwöchentlich20.000 Stunden lokaler Programme laufen.Es gibt auch schon Produzenten von Pro-grammen, die landesweit über Satellit aus-gestrahlt werden (z. B. Deep-Dish Television);außerdem Hunderte lokaler Produzenten,die natürlich alle unter Geldnot leiden.«

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BÜRO IM MIT

ChomskyEs entwickelt sich so eine Art kooperati-ver Netzwerke. Hier habe ich zum Bei-spiel einen Stoß Papier, den ein Freundvon mir in Los Angeles zusammen-gestellt hat. Er verfolgt die gesamteLos-Angeles-Presse und liest auch vielebritische Zeitungen und wertet sie aus.Auf diese Weise brauche ich nicht dieganzen Filmrezensionen zu lesen oderden lokalen Klatsch und bekommedoch die Perle, die gelegentlich dabeiist und die man erwischt, wenn manviele Zeitungen sorgfältig, intelligentund kritisch durchforstet. Damitbeschäftigen sich nun eine MengeLeute, die sich auch untereinanderaustauschen.

HARVARD UNIVERSITY

Edward S. Herman(Co-Autor von Manufacturing Consent:The Political Economy of the MassMedia und The Political Economy ofHuman Rights)Wir haben also dieses zweibändige Werkgeschrieben. Ganz zu Anfang trafen wiruns einige Wochen lang, aber danachschrieben wir die zwei Bände, praktischohne uns zu sehen; alles lief übers Tele-fon, über Briefe und über den Aus-tausch von Manuskripten. Da wird vielüber die Post kommuniziert. MeineChomsky-Akte mißt beinahe einenMeter.

Meine Zusammenarbeit mit Chomsky er-wuchs aus gemeinsamen Interessen und An-sichten. Außerdem verspürten wir die Syn-ergieeffekte der Zusammenarbeit: UnsereGedanken flössen ineinander, desgleichendie Worte, sie auszudrücken; wir konntenunsere Texte gegenlesen und überhauptgemeinsam alles schneller voranbringen.Persönlich haben wir uns kaum je gesehen,aber es gab eine intensive Korrespondenzmit Artikeln, Gedanken und Kommentarenzu dem, was draußen ablief. Einer hatte viel-leicht eine Idee - oder einen ganzenSchwärm davon - und benötigte Hilfe beider Klärung und Ausarbeitung, und genaudabei wollte der andere mitwirken, weil ihmdie Sache grundsätzlich gefiel. Auch psy-chologisch liegt in gelegentlichen gemein-samen Aktivitäten eine Stütze: Ich weiß, daist jemand, dem meine Gedanken zusagen,ich bin also mit meinen Ideen nicht völligausgegrenzt. Ich kann mich gar nicht mehrerinnern, wer als erster den Vorschlagmachte, gemeinsam vorzugehen, und umwelche Frage es dabei ging; es ergab sicheinfach von selbst und wirkte offensichtlichebenso effizienzsteigernd wie psychologischaufbauend.Als wir beschlossen, Manufacturing Consentgemeinsam anzugehen, waren wir beide mitanderen Projekten für den Pantheon-Ver-lag im Verzug; ich plante ein Buch über dieMedien, Chomsky eines über Medienfra-gen. Und indem wir so über unsere Proble-me reden, kommt uns beiden gleichzeitigder Gedanke, unsere Kräfte zu bündeln unddadurch ein einziges Werk über die Medienzu schaffen, und zwar in kürzerer Zeit undauf einem höheren Niveau, als es jeder fürsich allein vermocht hätte. Mir schwebtebereits ein Kapitel über ein theoretischesModell vor (»Propagandamodell«), demChomsky weitgehend zustimmte, und auchauf anderen Gebieten hatte jeder von unsVorarbeiten geleistet und genauere Kennt-nisse erworben. Wir hatten sogar schon so

viel Material vorliegen, daß wir den Bereich,den das Buch abdecken sollte, ziemlich baldverkleinern mußten; ursprünglich hattenwir nämlich auch noch ein umfangreichesKapitel über den Terrorismus vorgesehen(u. a. mit einem Vergleich des Medienbildesder terroristischen Staaten Libyen und Süd-afrika) sowie weitere über einige innenpoli-tische Fragen (Reaganomics, Abwürgen derUmweltpolitik). Sobald wir mit der Arbeitan den ersten Kapiteln begannen, blähtendie sich auf wie Luftballons - wir kamen umtiefe Einschnitte wirklich nicht herum.Wir legten sogleich eine Verteilung der Zu-ständigkeiten fest und behielten diese biszum Schluß bei; unklar blieb nur, wer dasSchlußkapitel übernehmen würde. Ichhatte das Vorwort und die ersten vier Kapi-tel; Chomsky hatte die Kapitel 5 und 6 undschrieb auch den ersten Entwurf für Kapitel7. Jeder lieferte auch die jeweiligen An-hänge zu seinen Kapiteln. Skizzen und Glie-derungen tauschten wir laufend aus, vorallem zum ersten Kapitel, in dem ein Modellvorgestellt wurde, das im folgenden Anwen-dung finden sollte. Zu Kapitel 1 gab es alsoungewöhnlich viele Diskussionen und Ab-stimmungen. Die Manuskripte zu jedem Ka-pitel wurden ausgetauscht. Am tiefsten wardie gegenseitige Durchdringung beim Vor-wort, bei Kapitel 1 und in den Schlußfolge-rungen. Im übrigen blieb es jedem überlas-sen, bei seiner Arbeil die Kommentare des

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anderen zu berücksichtigen. Über das fer-tige Werk bestanden kaum noch Meinungs-unterschiede. Die Zusammenarbeit war ein-fach angenehm und effizient. Jeder fühltesich durch die sorgfältigen Korrekturenund Anmerkungen des anderen in seinerArbeit bestärkt.Noch etwas in Parenthese: In einer beson-ders dummen Besprechung von Manufactu-ring Consent, die in Tikkun erschien, ver-suchte Carlin Romano mit großem Aufwandnachzuweisen, das Propagandamodell habeallein schon deshalb einen künstlich-me-chanischen Charakter, weil es aus Chomskyslinguistischen Theorien abgeleitet wordensei. Damit stand er zwar nicht allein, aberdiese Meinung ist in mehrfacher Hinsichtabsurd, vor allem weil ich wirklich derHauptverantwortliche für das Modell warund es viel enger an meine früheren Analy-sen in Corporate Control, Corporate Power an-knüpft als an irgendeine andere Quelle.Aus Antworten von Edward S. Herman aufFragen des Journalisten David Peterson(unveröffentlicht)

Ich habe an der University of California inBerkeley meinen Ph. D. in Wirtschaftswis-senschaften gemacht. In diesem Feld habeich dann hauptsächlich auf den GebietenGeld- und Bankwesen, Finanzinstitutionensowie Struktur und Politik der Konzernegearbeitet (einschließlich Konkurrenz- undMonopolfragen). Von 1958 bis zu meinervorgezogenen Emeritierung lehrte ich ander Wharton School of Economics der Uni-versität von Pennsylvanien. Ich hielt auchSeminare über Medien an der dortigenAnnenberg School; ein Seminar über Vor-urteile in den Medien lief bis 1992.Während meiner Wharton-Zeit habe ichviele Bücher über Finanzinstitutionen und-kontrollen geschrieben; dazu gehörte aucheine Untersuchung über die Treuhand-funktion der Banken und eine andere überInteressenkonflikte im Spar- und Kreditwe-sen (da gibt es viele). Mein vielleicht wich-tigstes Buch, auch für die Allgemeinheit, istCorporate Control, Corporate Power (Cambrid-ge University Press 1981); es behandelt dieZentralisierung und Steuerung der großenUS-Konzerne sowie die Chancen einer Re-form von innen heraus (die mir gering er-schienen). Meine Themen verschoben sichnach und nach fast automatisch von denFinanzinstitutionen und ihrer Macht überdas Konzernsystem als solches bis hin zu denMedien.Ansporn erfuhr ich dabei durch mein wach-sendes Interesse an der Außenpolitik. Ichengagierte mich, wollte meine Meinung zuGehör bringen und herausfinden, wie dieMedien mit außenpolitischen Fragen um-gehen (...)War die Außenpolitik vorher nur ein Inter-essengebiet unter mehreren gewesen, sonahm sie in den Jahren des Vietnamkriegsden zentralen Platz ein. 1966 und 1971 ver-öffentlichte ich Bücher zum Vietnamkrieg.In dieser Zeit lernte ich Chomsky kennen,denn wir hatten das gleiche Interesse unddieselben Ansichten über den Krieg und die

Außenpolitik; damals setzte auch unsereZusammenarbeit ein (ich glaube, alles be-gann mit einem Artikel in Ramparts: »SaigonCorruption Crisis: The Search for an Ho-nest Quisling«). [Fin Quisling ist ein Verrä-ter, der in seinem Land mit Besatzern kolla-boriert, insbesondere in einer Marionetten-regierung]. 1973 produzierten wir aucheinen schmalen Band über das heiße Eisender »Blutbäder« (man erwartete allgemeinein solches, sollten sich die USA wirklich ausVietnam zurückziehen). Dieses Büchleinsollte später eine gewisse Berühmtheit er-langen, als die Muttergesellschaft (Warner)unseres Verlegers (Warner Modular) auslauter Abscheu über unser Produkt nichtnur das Buch vernichten ließ, sonderngleich die ganze Tochterfirma liquidierte.Nachzulesen ist diese Episode im Vorwortzu unserem Buch The Washington Connectionand Third World Fascism - dieses eine überar-beitete und erweiterte Fassung des vernich-teten Vorläuferbandes, erschienen 1979 beiSouth End Press und Black Rose Books.Gleichzeitig erschien im selben Verlag einFolgeband mit dem Titel After the Cataclysm:Postwar Indochina and the Reconstruction ofImperial Ideology [Beide Bände bilden zusam-men The Political Economy of Human Rights;}.1988 nahmen wir mit Manufacturing Consentunsere Zusammenarbeit erneut auf. Seiteinigen Jahren reden wir gelegentlich überein weiteres gemeinsames Projekt, eine neuzu schreibende Geschichte des Vietnam-kriegs; aber ich bin mir nicht sicher, ob esjemals dazu kommt.In den 80ern und frühen 90ern habe ichweiter über außenpolitische Frage geschrie-ben: Zwei Bücher über den Terrorismus,eines über »Wahlen durch Demonstratio-nen« und noch einige andere. Außerdemschreibe ich regelmäßig für Z Magazine undLies of Our Times.Edward S. Herman

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BÜRO IM MITChomsky

Am Ende verfügt man dann über Mög-lichkeiten, wie sie wohl kein Geheim-dienst hat, geschweige denn ein Wissen-schaftler. Also: Wenn man kein Geldhat, können auch Menschen etwas tun.

HUMANIST TV, NIEDERLANDE

ChomskyDie Waffenlieferungen an den Iran bei-spielsweise habe ich in Niederschriftenvon BBC-Sendungen entdeckt, unddann habe ich auch irgendwo ein Inter-view mit einem israelischen Botschaftergelesen und wiederum irgendwas inisraelischen Zeitungen. Also die Infor-mationen sind schon da, aber eben nurfür einen Fanatiker- so jemand, dereinen großen Teil seiner Zeit und Ener-gie darauf verwendet, alles zu durchfor-schen, die Lügen von heute mit derWahrheit von gestern zu vergleichenund so weiter. Das ist eine echte For-schungsaufgabe, und es wäre völlig sinn-los, von der gesamten Bevölkerung zuerwarten, daß sie sich in jeder Einzel-frage so etwas auflädt.

Philip Tibenham (BBC Reporter)So stellten der Sturz des Schah und dieRückkehr Khomeinis für Israel eine Kata-strophe dar. Jetzt gab es plötzlich ein weite-res antizionistisches Moslemregime. DenIsraelis war dringend an einer Wiederher-stellung des früheren Verhältnisses zumIran gelegen. Im Oktober 1980 wurde derIran von seinem Nachbarn Irak angegriffen,der auf die Ölfelder von Khusistan aus war.Hier war die ideale Chance für Israel, demiranischen Militär Beistand zu leisten, denndas waren genau die Leute, die man gern imIran an der Macht gesehen hätte (...)

David Kimche (israelischer Außenminister, vor-mals Vizechef des Geheimdienstes Mossad)Ihr größtes Problem ist derzeit: Ihnen feh-len Ersatzteile und amerikanische Waffen.Außerdem benötigen sie Munition, Grana-ten, Bomben usw. Da liegen ihre größtenProbleme.

TibenhamDas heißt also: Insoweit Israel gern die ira-nische Armee gestärkt sähe, würde es israe-lischen Interessen dienen, wenn die USAdieses Material an den Iran lieferten?

KimcheNaja, ich möchte hier nicht direkt ausspre-chen, was doch auf der Hand liegt. Ich habeunsere Position deutlich gemacht. Ja, wirhätten gern eine starke Armee im Iran.

TibenhamAber eigentlich denken Sie dabei an eineMachtübernahme durch die Armee?

Kimche

Doch, möglicherweise (...)

Richard Helms (ehemals CIA-Chef und US-Bot-schafter im Iran)Wenn man einen Putsch inszeniert, umeinen Regierungswechsel herbeizuführen

oder den Gang der Dinge zu beeinflussen,dann benötigt man natürlich eine reale Ba-sis - also Waffen, Menschen, Gruppen, diemitmachen und etwas riskieren. All das istnötig, denn wir leben in der Praxis und spie-len kein theoretisches Modell durch. DieUSA suchen ganz zweifellos herauszufin-den, was sie in dieses Spiel mit einbringenkönnen.BBC »Panorama«, 01.02.82

Vgl. auch The Fateful Triangle S. 458-459 undThe Culture of Terrorism S. 174

ChomskyWenn ich sage, die Fakten seien verfügbar,dann meine ich nicht, daß das Volk sie auchkennt. Beispielsweise gab es Informationenüber Waffenverkäufe der USA an den Iran.

Joop van TijnEntschuldigung, Sie sagten doch, die Infor-mationen hätten gedruckt vorgelegen.

ChomskyIch möchte noch mal betonen, was ich vor-hin schon sagte. Informationen können ge-druckt vorliegen und trotzdem für die Men-schen nicht verfügbar sein. Denn sehen Siemal, wer findet die gedruckte Information?Der fleißige Forscher, der viel Zeil undEnergie darauf verwendet, sie zusammen-zutragen und ihre Bedeutung herauszufin-

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den. Für die große Mehrheit existiert dieInformation einfach nicht. Wenn zum Bei-spiel in einer einstündigen BBC-Sendungvon 1982 dieselben hochrangigen Beamten,die wir dann später in den Iran-Contra-Anhörungen wieder zu Gesicht bekommensollten, erklären, warum sie Waffen - alsoamerikanische Waffen - in den Iran schik-ken, und ich lese das: Dann weiß zwar ich es,aber doch nicht das amerikanische Volk.Und wenn ich dann weiter lese, daß der isra-elische Botschafter irgendwo in einem In-terview gesagt hat: »Unsere Waffenlieferun-gen an den Iran« (das war 1982) »erfolgenin Abstimmung auf höchster Ebene mit denUSA«, dann kann ich das alles zusammen-fügen und etwas daraus machen. Ich inve-stiere viel Arbeit und mir wird klar, die USAverfolgen hier nur eine ganz, klassische Poli-

tik - nämlich die Politik, auf die man immerdann zurückgreift, wenn man eine Regie-rung stürzen will. Um eine Regierung zuFall zu bringen, bewaffnet man am bestendie Armee des betreffenden Landes. WennSie auch nur ein wenig von der Geschichtewissen, dann erkennen Sie das Muster- bei-spielsweise wie die USA bei Allende in Chilevorgegangen sind. Um die Regierung zustürzen, bewaffne man das Militär. DieselbePolitik wurde mit Sukarno in Indonesienverfolgt. Statt uns mit einer Regierung di-rekt anzulegen, stützen wir immer dieArmee. Und wer fleißig genug gräbt, derfindet heraus, daß VerteidigungsministerMcNamara sich das hinterher auch gutge-schrieben hat. Fragt ihn ein Kongreßabge-ordneter: »Welchen Sinn hatte es, Waffennach Indonesien zu schicken? Hat es sich

bezahlt gemacht?« Und er antwortet: »ja-wohl, es hat sich bezahlt gemacht.« Dannweiß man auch über einen Untersuchungs-ausschuß des Repräsentantenhauses Be-scheid, in dem dargelegt wurde, die Grund-lagen für den Putsch seien unter anderemauch durch die Verbindungen der USA zumindonesischen Militär gelegt worden.

]oop van TijnAber entschuldigen Sie, die Frage ist doch,wie erreicht man, daß das amerikanischeVolk genau so gut informiert ist wie Sie,genau so privilegiert, daß es auch alles sogut zusammensetzen kann?

ChomskyEiner muß es eben tun. Ich hab's ja geradeangedeutet. Wenn ich durchschauen will,was sich in den Iran-Contra-Anhörungenabspielte, dann muß ich wissen: Wasgeschah in Chile? Und was in Indonesien?Welche klassischen politischen Mittel setztman ein, wenn man eine Regierung zu Fallbringen möchte? Was hat der israelischeBotschafter gesagt? Was haben Kimche undJacob Nimrodi gesagt? Man muß all dieseDetailinformationen auffinden und insAuge fassen können und dann - aha! daspaßt genau ins klassische Schema. Wennman das tut, fügt sich alles zusammen. Aberman kann doch nicht erwarten, daß derDurchschnittsbürger sich diese ganze Ar-beit macht. Sie haben vorhin gefragt,worum es in unserem Buch [ManufacturingConsent] geht. Also dieses Buch soll eineHilfe sein; es soll nicht unbedingt bestimm-te Einzelfälle erklären, sondern es soll denMenschen zu erkennen helfen, wie dasSystem die Tatsachen verzerrt, denn dannsind sie in der Lage, in anderen Fällen dieseVerzerrungen zu kompensieren.Aus einem Interview mit Joop van Tijn inHumanist TV, Niederlande, 10.06.89

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HUMANIST TV, NIEDERLANDE

ChomskyIch bin kein Freund von falscherBescheidenheit. Ich weiß, was ich kannund was ich besonders gut kann - zumBeispiel Analysen, Studien, Forschung,Sie wissen schon. Also sowas kann ich,und ich glaube auch so ungefähr zuverstehen, wie es in der Welt zugeht- soweit man das überhaupt kann.Dies ist nun aber eine äußerst nützlicheQuelle für die Menschen, die sich aktivorganisieren und dafür engagieren,daß die Welt irgendwo ein kleines Stückbesser wird. Und wenn man dabei mit-helfen oder mitmachen kann, dann istdas ... dann fühlt man sich belohnt.

UNIVERSITY OF WASHINGTON,SEATTLE

FrauKönnen Sie sich eigentlich vorstellen,daß Menschen wie ich - also ganz naiveMenschen - eines Tages wieder stolz aufdie Vereinigten Staaten sein können?Sollte man sich das überhaupt wün-schen? Denn es könnte ja sein, daßgerade weil jeder unbedingt aufs eigeneLand stolz sein will ... daß wir geradedeshalb so leicht von den Mächtenmanipuliert werden können, über dieSie hier gesprochen haben.

ChomskyAlso zunächst muß man sich fragen, wasman mit dem eigenen Land meint.Denn wenn man damit die Regierungmeint, dann glaube ich nicht, daß manjemals darauf stolz sein kann (Beifall) -oder auf irgendeine Regierung - alsojedenfalls nicht auf unsere Regierung.Man sollte es auch nicht. Staaten sind

Ich bin wirklich nicht darauf aus, die Leutezu irgend etwas zu überreden - ich möchtees nicht, und ich will auch den Grund dafürnennen. Ich möchte, daß die Menschensich selbst überreden können. Ich sageihnen, was ich denke, und hoffe natürlich,sie von meiner Wahrheit zu überzeugen;doch noch lieber ist es mir, wenn sie sichvon einer ihnen gemäßen Wahrheit über-zeugen lassen. Die Menschen erfahren javiele Einblicke überhaupt nicht, die siedurch bestimmte Informationen gewinnenkönnten. Und genau die möchte ich liefern,mehr nicht. Im großen und ganzen ist mei-nen Zuhörern das wohl auch klar. Darumkommen sie, das wollen sie hören.Chronicles of Dissent S. 119

David BarsamianWas denken Sie vom Staat? Sind Sie ein Iso-lationist? Wie würden Sie sich politisch cha-rakterisieren?

ChomskyVermutlich gehen Sie davon aus, daß esStaaten geben muß. Diese stellen aber inder Geschichte eine temporäre Phase dar.Über den Staat zu diskutieren, das ist so, alswürde man fragen: Welches Feudalsystemwäre das beste für uns? Welche Form derSklaverei wäre die beste? In einer bestimm-ten historischen Phase mochte es durchaussinnvoll gewesen sein, nach der bestenForm der Sklaverei - der am wenigstenschrecklichen - zu fragen. Man konntedann über die verschiedenen Arten vonSklaverei diskutieren und nach der bestensuchen. So ist die Frage einfach falsch ge-stellt, denn sie setzt die Notwendigkeit vonZwang und Fremdbestimmung voraus. Siesind aber nicht notwendig (...) Jetzt hängenwir im Staatssystem drin - zumindest füreine gewisse Zeit. Und genau so hing dieWelt für eine gewisse Zeit im System derSklaverei. Es wird nicht andauern - soviel istzu erwarten. Und auch wenn dieses Systemauf Dauer angelegt wäre, könnte es nichtlange überleben, denn es ist ein tödlichesSystem.Aus einem Interview mit David Barsamian,in Language and Politics, S. 745

Davon auszugehen, daß es den Staatgeben muß, das ist so, als würde manfragen: Welches Feudalsystem wäredas beste für uns? Welche Form derSklaverei wäre die beste?

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gewalttätige Institutionen. In jedemLand, nicht nur bei uns, steht die Regie-rung für eine bestimmte Machtstruktur,und sie wendet dabei normalerweise(lewalt an. Näherungsweise könnte mansagen, daß die Staaten um so mehr(lewalt ausüben, je mächtiger sie sind.Wenn ihr euch nur mal die GeschichteAmerikas anschaut - da gibt es nichts,das man gern weitererzählen würde.Wie kommt es denn, daß wir hier sind?Weil an die 10 Millionen Eingeboreneausgerottet wurden. Keine schöneSache.Noch in den 60er Jahren hat manimmer nur an Cowboys und Indianergedacht. Sogar die Wissenschaft konnteerst in den 70ern ernsthaft an die Fak-ten rühren. Zum Beispiel an die Tatsa-che, daß es viel mehr Eingeborene -vielleicht 10 Millionen mehr - gegebenhatte, als immer behauptet wurde; daßsie über eine hochentwickelte Kulturverfügten; daß das, was sich dannabspielte, an Völkermord grenzte. Wirhaben zweihundert Jahre durchlebt,ohne dieser Wahrheit ins Gesicht zusehen. Die 60er haben immerhinbewirkt, daß man jetzt so langsam malüber die Tatsachen nachdenken kann.Das ist doch schon ein Fortschritt.

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»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

Elizabeth SikorovskyGlauben Sie, daß diese Aktionen, dievor 20 Jahren abliefen, sich bis in un-sere Zeit in der Gesellschaft auswirken?

ChomskyDie Institutionen wurden dadurch nichtverändert. Aber die Aktionen habenerhebliche kulturelle Veränderungenmit sich gebracht. Man muß bedenken,daß diese Bewegungen aus den 60erJahre in den 70ern und 8()ern immerweiter um sich gegriffen haben, inandere Bereiche der Gesellschaft undauf anderen Problemfeldern. Vieles vondem, was damals die Leute schockierte,ist heute ganz selbstverständlich. Neh-men Sie nur den Feminismus: In den60ern gab es ihn kaum; heute ist er imallgemeinen Bewußtsein verankert. DieÖkologiebewegung setzte in den 70ernein. Die Solidarität mit der Dritten Weltbestand in den 60ern auch nur in sehreingeschränktem Maße; eigentlich ginges nur um Vietnam. Und dann war dasalles in den 60ern eine reine Studenten-bewegung. Heute ist das anders - heuteist es der Mainstream in den USA.

Anscheinend gelingt es vielen amerikani-schen Intellektuellen ebenso, sich damit ab-zufinden, daß mit den technischen Mittelder USA die Bauerngesellschaft Indochinassystematisch zerstört wird, wie viele ihrerVorgänger sich mit Stalins Säuberungenarrangieren konnten, oder mit Hiroshimaund Nagasaki. Auf die Jugend der sechzigerJahre trifft dies nicht mehr zu, und dasspricht für sie. Ich vermute, ihre prägendeErfahrung war Vietnam - diese Schlächte-reien, diese Täuschungsmanöver, der zag-hafte Widerstand, die schmachvollen Recht-fertigungen - und diese Erfahrung wird sichnoch lange auswirken. Zwar mündet ihrAbscheu gelegentlich in eine Anti-Haltungzu Technik und Wissenschaft oder sogar inIrrationalismen, aber überwiegend -jeden-falls ist das meine Erfahrung - haben sieerkannt, mit wieviel Kraft und Durchhalte-vermögen sie sich engagieren müssen, umIndochina vor der völligen Vernichtung zubewahren, und wie tiefgreifend die Verei-nigten Staaten - ihre Institutionen und ihregesamte Kultur - sich werden verändernmüssen, soll nicht ein ähnliches Schicksalandere Gemeinschaften treffen, die eben-falls nach Unabhängigkeit streben. Das sindgewaltige, fast erdrückend schwere Aufga-ben, und so wenden sich viele lieber wiederihren Privatangelegenheiten zu - aber nicht

aus Apathie, wie oft gesagt wird. Es herrschteben nicht die Apathie der fünfziger Jahre;vielmehr können diejenigen, die wirklichaktiv werden, aus einem Reservoir aus Sym-pathie und Unterstützung schöpfen.Radical Priorities S. 234

Es gibt wirklich eine furchtbare Hysterie inSachen »political correctness«. Dazu zählenbösartige Reden ebenso wie eine Flut vonBestsellern voller mehr oder weniger zu-rechtgebastelter Geschichten über angeb-liche Horrorzustände an den Universitätensowie von Zeitungsartikeln, Nachrichten,Sportberichten, Kommentaren (...)Dieses Phänomen ist aber keineswegs ausdem Nichts entstanden. Ein wichtiges Ele-ment der Klassenkämpfe in der Nach-Wohl-stands-Gesellschaft ist die weitgehendeÜbernahme der ideologischen Führerschaftdurch die Rechte. Massenhaft entstehenrechtslastige Denklabors; es gibt eine Kam-pagne zur Stärkung des konservativer Ein-flusses auf die ideologisch bedeutsamenSektoren der Hochschulen (...) und es hatsich ein Arsenal von Instrumenten heraus-gebildet, mit denen das Denken und Redenmöglichst eng auf das reaktionäre Ende desohnehin schmalen Spektrums beschränktwerden soll (...)So kann der nächste Schritt für den, der indas Management kultureller HintergründeEinblick hat, keine Überraschung mehrbedeuten. Zuerst gab es eine Periode inten-siver ideologischer Auseinandersetzungenum die politischen und Lehrinstitutionen,die mit einem eindrucksvollen Sieg derWirtschaftslobby und der Rechten endete.Was lag nun näher, als einen weiteren Pro-pagandafeldzug zu starten und zu behaup-ten, Linksfaschisten hätten das Kommandoüber das gesamte Kulturleben ergriffen undihm ihre radikalen Nonnen aufgezwungen.Year 501: The Conquest Continues S. 53-54

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AUS »A WORLD OF IDEAS« (1988)

Bill MoyersWarum schreiben Sie eigentlich immernoch, daß die Menschen sich isoliertfühlen, wenn es doch auch in IhrerErinnerung früher viel weniger Konfor-mismus gab als heute?

ChomskyWeil den meisten Menschen klar gewor-den ist, daß ihre wahren Interessen, Sor-gen und Nöte sich in den organisiertenInstitutionen überhaupt nicht wieder-finden. Sie sehen sich auch nicht insinnvoller Weise am politischen Systembeteiligt. Sie glauben nicht, daß dieMedien ihnen die Wahrheit sagen oderauch nur ihre Sorgen aufgreifen. Alsoversuchen sie, außerhalb der etabliertenInstitutionen etwas zu tun.

Bill MoyersWir bekommen zwar unsere gewähltenFührer immer öfter zu Gesicht, aber wirwissen immer weniger, was sie eigentlichtun. (In die Kamera) Und das bewirktdieses Medium.

ChomskySehr gut gesagt. Sehen Sie, die Präsiden-tenwahl ist doch fast an einem Punktangelangt, wo die Allgemeinheit sie alsWahlentscheidung überhaupt nichtmehr ernst nimmt.

Ist eine Gesellschaft einmal entpolitisiert,dann sind die Menschen schon intelligentgenug zu merken, daß ihre Stimme zu denwirklich wichtigen Dingen überhaupt nichtgefragt ist. Statt dessen stimmen sie fürCoca-Cola oder Pepsi-Cola. Parteien gibt esnicht, nicht einmal im - bereits einge-schränkten - westeuropäischen Sinn. Ichwill die Verhältnisse in Westeuropa gewißnicht überbewerten; aber wenn man sichdas sozio-ökonomische Spektrum derjeni-gen Hälfte unserer Bevölkerung - ca. 45Prozent - anschaut, die nicht zur Wahl ge-hen, dann sind das fast genau die gleichen

Schichten, die in Europa für eine reformi-stische Arbeiterpartei stimmen, also für dieSozialdemokraten, die Labour Party, dieKommunisten. Die Zusammensetzung die-ser Wähler entspricht ungefähr der Gruppeder Nichtwähler in den USA. Und daß diesenicht zur Wahl gehen, liegt wahrscheinlichdaran, daß sie sich nicht vertreten fühlen.Aus einem 1984 geführten Interview mitdem finnischen Rundfunkjournalisten Han-nu Reime, abgedruckt in Language and Poli-tics, S. 600

Den meisten Menschen ist klar geworden, daßihre wahren Interessen, Sorgen und Nöte sichin den organisierten Institutionen überhauptnicht wiederfinden.

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VOR DEM WEISSEN HAUS,WASHINGTON

Peter Wintonick mitten in einer Gruppe vonJungen

Peter WintonickWas haltet ihr denn davon, was imWeißen Haus vorgeht?

1. JungeIch meine, es ist zu sehr abgeschirmt.

2. JungeSie müßten rauskommen, ja? Zu denLeuten reden.

Peter WintonickWer soll zu den Leuten reden?

1. und 2. JungeGeorge Bush.

Man darf nicht vergessen, daß in den USAdas Spektrum des politischen Diskurses unddie Basis der politischen Macht außeror-dentlich schmal sind und daß dies unserLand von vielen anderen demokratischenIndustriestaaten unterscheidet. Die USAsind das einzige Land ohne eine organi-sierte Bewegung, die auch nur die vorsich-tigsten Reformvarianten des Sozialismusvertreten würde. Es gibt zwei politische Par-teien, die von einigen ziemlich zutreffendals zwei Fraktionen ein und derselben »Par-tei des Eigentums« charakterisiert werdenund die sich in ihrer Festlegung auf kapita-listische Institutionen und Ideologien einig

sind. Ihre Außenpolitik seit dem ZweitenWeltkrieg galt fast durchweg als »überpar-teilich« - will sagen, außenpolitisch warenwir ein Einparteienstaat. Ihre gelegent-lichen Meinungsverschiedenheiten be-schränken sich auf die Rolle des Staates:Während die Republikaner generell größe-res Gewicht auf den Einfluß der Privatwirt-schaft legen, neigen die Demokraten in derSozial- und Wirtschaftspolitik eher staatli-chen Interventionen zu (...)Aus »The Carter Administration: Myth andReality« in Radical Priorities S. 137 (auchS. 138-166)

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AUS »A WORLD OF IDEAS« (1988)

ChomskyDas bedeutet also, die politischenSysteme funktionieren zunehmendohne Input aus der Allgemeinheit. Esläuft immer mehr darauf hinaus, daßdie Menschen die Entscheidungen, dieihnen vorgelegt werden, gar nicht mehrratifizieren - schlimmer noch, sie betei-ligen sich überhaupt nicht mehr andem Prozeß, sie machen sich nicht ein-mal mehr die Mühe einer Ratifizierung.Jeder geht davon aus, daß die Entschei-dungen ohnehin durchgezogen werden,ganz gleich, was er oder sie in der Wahl-kabine tut

MoyersWas wäre denn eine Ratifizierung?

ChomskyBei einer Ratifizierung stünde ich alsWähler vor zwei Alternativen. Ich gehedann in die Wahlkabine und drückeeinen von zwei Knöpfen, je nach meinerPräferenz. Das ist natürlich eine einge-schränkte Form der Demokratie. Wenneine Demokratie einen echten Sinnhaben soll, dann müßte ich auch bei derVorbereitung der Entscheidung einbe-zogen sein, also bei der Formulierungder Alternativen - das wäre dann wirk-lich demokratisch. Davon sind wir abernoch weit entfernt. Wir sind ja sogar aufdem besten Wege, die Ratifizierung auf-zugeben. Die Wahlen sind ein inszenier-tes Theater; die PR-Branche bestimmt,was jemand sagen darf; die Kandidatenwählen ihre Worte auf der Grundlagevon Querschnittstests ihrer Wirkung.Irgendwie scheinen die Leute gar nichtzu erkennen, wieviel Verachtung siedamit der Demokratie bezeigen.

Während der Ära Reagan hat die kapitalisti-sche Demokratie beachtliche Fortschrittegemacht. Acht Jahre lang funktionierte dieUS-Regierung de facto ohne Chef. Das istnicht ganz unwichtig. Es wäre ausgespro-chen unfair, den Menschen Ronald Reaganfür die in seinem Namen betriebene Politikverantwortlich zu machen. Denn obwohldie gebildeten Kreise sich die größte Mühegaben, die Formalien mit der gebotenenWürde ablaufen zu lassen, war es ein offenesGeheimnis, daß Reagan von der Politik sei-ner Regierung nur die nebulösesten Vor-stellungen hatte. Sobald ihn sein Stab ein-mal nicht sorgfältig genug gebrieft hatte,gab er Äußerungen von sich, die nur des-halb nicht peinlich wirkten, weil sie sowiesoniemand ernst nahm. Die Iran-Contra-Anhörungen wurden von der Frage be-herrscht: »Konnte Reagan sich an das Vor-gehen seiner Behörden erinnern, hat erüberhaupt davon gewußt?« Aber diese Fra-ge konnte eben gar nicht ernstgenommenwerden. Daß das Gegenteil behauptet wur-de, gehört mit zur Verschleierung. Im übri-gen zeigt sich ein gewisser Realismus in demDesinteresse der Öffentlichkeit an Enthül-lungen von der Art, Reagan sei seinerzeit indie illegalen Aktionen zugunsten der Con-tras verwickelt gewesen, wo er doch (laut sei-nen eigenen Worten im Kongreß) nichtsdavon gewußt haben will.Reagan hatte zu lächeln, mit seiner sympa-thischen Stimme vom Teleprompter abzule-sen, ein paar Witze zu erzählen und dieZuschauer in ihrem erwünschten Tiefschlafzu halten. Seine Eignung für das Präsidial-amt bestand allein darin, daß er lesenkonnte, was die Reichen ihm aufschriebenund wofür sie gut bezahlen. Reagan hattedas ja schon jahrelang getan. Seine Leistun-gen fanden den Beifall seiner Zahlmeister,und Spaß schien er auch noch daran zu fin-den. So verbrachte er alles in allem eineschöne Zeit; er genoß Prunk und Pomp derMacht und darf sich jetzt des angenehmen

Ruhesitzes erfreuen, den seine dankbarenWohltäter ihm hergerichtet haben. Wennim Gefolge der Bosse Berge verstümmelterLeichen in den Massengräbern der salvado-rianischen Todesschwadronen zurückblei-ben oder Hunderttausende von Obdachlo-sen auf der Straße, dann ist das eigentlichgar nicht sein Bier. Man macht einen Schau-spieler eben nicht für den Inhalt der Wortehaftbar, die über seine Lippen kommen.Deterring Democracy S. 73-74

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IM KAPITOL, WASHINGTON

ReporterDer feierliche Augenblick naht. Aberzunächst wird Don Quayle vereidigt.

AusruferBitte begeben Sie sich auf Ihre Plätze.

George Bush (in seiner Antrittsrede)Zum erstenmal in diesem Jahrhundert,ja vielleicht in der Geschichte, muß dieMenschheit nicht mehr nach einemSystem suchen, das ihr Überlebengarantiert. Wir müssen nicht mehrnächtelang über die beste Regierungs-form diskutieren. Keinem König müssenwir Gerechtigkeit abringen; wir könnensie aus uns selbst heraus abrufen. Heuteist die Zukunft eine Tür, durch die wirungehindert in den Raum, genannt»die Zukunft«, schreiten können.Große Nationen sind auf dem Weg zuDemokratie; sie durchschreiten das Torzur Freiheit. Die Völker der Welt for-dern Redefreiheit und Gedankenfrei-heit, um auf der anderen Seite der Türjene moralische und geistige Genugtu-ung zu finden, wie sie nur die Freiheitbieten kann. Wir wissen, wie wir allenMenschen mehr Gerechtigkeit undWohlstand sichern können: mittelsfreier Märkte, freier Rede, freierWahlen und freier, von keiner Staats-macht behinderter Ausübung ihres Wil-lens. Auch der Welt draußen verheißenwir neue Aktionen und ein erneuertesGelöbnis. Wir werden stark bleiben,zum Schutz des Friedens. Wer aber dieHand ausstreckt, kann sie nur schwerzur Faust ballen. Amerika ist nur daheilig, wo es höchsten moralischenGrundsätzen gehorcht. Unser allerWille ist heute: Der Nation ein freund-licheres Antlitz, der Weh ein angeneh-meres Aussehen.

Da reden die Leute vom »freien Markt«.Aber klar doch. Sie und ich können völligfrei beschließen, eine Autofabrik aufzuma-chen und gegen General Motors zu konkur-rieren. Niemand wird uns daran hindern.Doch diese Freiheit ist ohne Bedeutung.Oder wir könnten, sagen wir mal, eine Zei-tung gründen und darin Sachen schreiben,die die Los Angeles Times nicht bringt. Nie-mand hindert uns daran. Nur sind ganzzufällig die Machtverhältnisse so, daß nurbestimmte Optionen offenstehen - und indem begrenzten Rahmen dieser Optionen,so verkünden die Mächtigen, soll Freiheitherrschen. Das ist aber eine ziemlich einsei-tige Sicht der Freiheit. Der Grundsatz istschon richtig, aber es hängt von den gesell-schaftlichen Strukturen ab, wie sich die Frei-heit auswirken kann. Wenn die einzige Frei-heit darin besteht, daß man objektiv keineandere Möglichkeit hat, als sich irgendei-nem Machtsystem anzupassen, dann ist daskeine Freiheit.Aus einem Interview mit David Barsamian inLanguage and Democracy S. 758

Wie die Wahlen auch ausgehen mögen, dieQuellen der Macht im Lande bleiben imGrunde unverändert. An den Schaltstellender Exekutive, wo die Innen- wie die Außen-politik mehr und mehr bestimmt wird, sit-zen zum größten Teil Vertreter der Großun-ternehmen und einiger Anwaltskanzleien,die sich auf Konzerninteressen spezialisierthaben. Durchgesetzt werden also wenigerdie Bereichsinteressen des einen oder ande-ren Sektors der Privatwirtschaft als vielmehrdie übergreifenden Interessen des Kon-zernkapitalismus. Es wird also niemandenüberraschen, wenn dem Staat im wesentli-chen die Aufgabe verbleibt, die innen- undaußenpolitischen Entwicklungen gemäßden Interessen der Privatwirtschaft undihrer Oberen zu steuern - nur pflegt mandas in der Presse und in gelehrten Kreisengeflissentlich zu übersehen.Aus einem Interview mit dem Telekonfe-renz-Techniker Richard Titus an der Atha-basca University in Edmonton, Kanada, inLanguage and Politics S. 477-486

Zum »freien« Markt, »freien« Unterneh-mertum und zur »Demokratie« in der Drit-ten Welt vgl. Year 501: The Conquest ContinuesKap. 2, 3, 4Zur Demokratie in der Industriegesellschaftvgl. Deterring Democracy Kap. 11

Wir müssen nichtmehr nächtelangüber die besteRegierungsformdiskutieren.George Bush

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UNIVERSITÄTSGELÄNDE, LARAMIE

MannIch komme noch mal auf Ihre frühereBemerkung zurück, daß man dem Kapi-talismus entkommen oder ihn abschaf-fen müßte. Da frage ich mich nun, wasfür ein System Sie an seine Stelle setzenwürden - also eines, das auch funktio-niert.

ChomskyIch? Nun, ich würde ...

MannWenn jemand die Macht besäße, soetwas in Gang zu setzen - wozu würdenSie ihm raten?

ChomskyNun, seit Hunderten von Jahren spre-chen wir von der »Lohnsklaverei«, unddie jedenfalls ist unerträglich. Es darfdoch nicht sein, daß die Menschen sichselbst vermieten müssen, nur um zuüberleben. Meines Erachtens müßtendie Wirtschaftsunternehmen demokra-tisch betrieben werden, also von denBeteiligten, von den Gemeinden, indenen sie angesiedelt sind, und wohlauch über freie Zusammenschlüsse.

Es darf doch nicht sein, daß Menschensich selbst vermieten müssen, um über-leben zu können.

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AUS »THE JAY INTERVIEW«,WEEKEND TV, LONDON (1974)

Peter JayHat es in der Geschichte schon einmalnennenswerte und länger andauerndeAnnäherungen an das anarchistischeGesellschaftsideal gegeben?

ChomskyEs gab kleine, also nicht sehr kopfstarkeGruppierungen, die darin ganz erfolg-reich waren. Aber es gibt auch einigeBeispiele für libertäre Revolutionen ingroßem Maßstab und mit weitgehendanarchistischem Charakter. Bei denersteren, also den kleinen langlebigenEinheiten, denke ich vor allem an dieisraelischen Kibbuzim. Diese wurdenüber lange Jahre - ob es heute nochder Fall ist, weiß ich nicht - nach anar-chistischen Prinzipien betrieben.Es gab also eine direkte Leitung durchdie Werktätigen; Landwirtschaft,Gewerbe, Dienstleistungen und Privat-leben bildeten eine Einheit; alle betei-ligten sich aktiv und egalitär an derSelbstverwaltung. Ich meine schon,daß sie außerordentlich erfolgreichwaren. Und ein gutes Beispiel - eigent-lich das beste, das ich kenne - für einewirklich große anarchistische oder dochstark anarchistisch geprägte Umwälzungist die Spanische Revolution von 1936.Man weiß leider nicht, was dort nochhätte kommen können, denn dieseanarchistische Revolution wurde jagewaltsam unterdrückt; aber solangesie im Gange war, demonstrierte siedoch in überzeugender Weise, daßeine mittellose Arbeiterschaft dazufähig war, sich ganz ohne Zwang undFührung zu organisieren und ihr Lebenhöchst erfolgreich selbst in die Handzu nehmen.

Das Kibbuz, in dem wir damals wohnten,war etwa 20 Jahre alt und sehr arm. Es gabnur harte Arbeit und wenig zu essen. Aberes gefiel mir in vielerlei Hinsicht. Wenn ichmal vom gesamten Umfeld absah, empfandich es einfach als eine erfolgreich funktio-nierende libertäre Gemeinschaft. Ich hoffteauch auf eine gesunde Mischung von kör-perlicher und geistiger Arbeit.Meine Frau wollte damals auf jeden Fall wie-der dorthin, und viel fehlte nicht daran, daßwir es getan hätten. Hier bei uns gab esnichts, was mich besonders gehalten hätte.Auf eine akademische Karriere konnte ichnicht rechnen, mir war auch nicht viel dar-an gelegen. Eigentlich hielt mich also nichtszurück. Demgegenüber interessierten michdie Kibbuzim sehr, denn es hatte mir dortgut gefallen. Allerdings gab es auch Dinge,die mir weniger gefallen hatten. Insbeson-dere herrschte ein erschreckender ideologi-scher Konformismus. Ich hätte vermutlichnicht lange in dieser Umgebung leben kön-nen, denn ich war ein radikaler Anti-Leni-nist und Nonkonformist; was mich außer-dem störte - eigentlich noch zu wenig -waren die Exklusivität und der institutiona-lisierte Rassismus.The Chomsky Reader S. 9

»The Jay Interview« ist abgedruckt unterdem Titel »The Relevance of Anarcho-Syn-dicalism« in Radical Priorities S. 245-261

Zur »Lohnsklaverei« vgl. The Chomsky Rea-der S. 139-155

Vgl. auch:»Notes on Anarchism« in For Reasons of StateS. 370-384Die Debatte Chomsky/Foucault in ReflexiveWater (a. a. O.) S. 169-175»Noam Chomsky's Anarchism« von PaulMarshall in Our Generation Bd. 22 Nr. 1+2,Herbst 1990/Frühjahr 1991, S. 1-15

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Peter JayWenn der libertäre Sozialismus oderAnarchismus als Lebensweise Erfolghaben soll - wie sehr hängt das danndavon ab, daß der Mensch seine Naturgrundlegend verändert, sei es nun inseiner Motivation, im Altruismus, inseinen Kenntnissen oder auch in seinerRaffinesse?

ChomskyNicht nur hängt es von dieser Umstel-lung ab, sondern in meinen Augendient der libertäre Sozialismus alleindem Ziel, hierzu einen Beitrag zu lei-sten. Er wird zu einem geistig-spirituel-len Wandel beitragen, nämlich genauzu jener großen Wende in dem Bild, dasdie Menschen von sich selbst haben,und in ihrer Fähigkeit zum Handeln,zum Entscheiden, zum Erschaffen, zumProduzieren und zum Forschen. Also zueben jener geistigen Wende, der die inder linksmarxistischen Tradition stehen-den Denker - von Rosa Luxemburg biszu den Anarchosyndikalisten - stets sogroßes Gewicht beimaßen. Man ist alsoeinerseits auf den Geisteswandel ange-wiesen und will andererseits Institutio-nen aufbauen, die zu diesem Wandelbeitragen (...)

Im Original-Interview fährt Chomsky fort:(...) zu einem Wandel im Charakter unse-rer Arbeit und unserer schöpferischen Tä-tigkeiten, auch indem neue soziale Bindun-gen und Interaktionen zwischen den Men-schen zu neuen. Institutionen führen, diewiederum neue Züge in ihnen erblühen las-sen. Hieraus entstehen dann weitere liber-täre Gebilde, in denen die befreiten Men-schen mitarbeiten können. So sehe ich dieEvolution des Sozialismus.Das gesamte einstündige Interview ist abge-druckt in Radical Priorities S. 245-261

James Peck (Herausgeber des Chomsky Reader)Welche Rolle würde denn in einer anarchi-stischen Gesellschaft den Intellektuellen zu-kommen?

Chomsky

Das wären Arbeiter des Geistes-Menschen,die eben mehr mit dem Kopf als mit denHänden arbeiten. Ich meine aber, in eineranständigen Gesellschaftsordnung müßtees eine Mischung der Aufgaben geben; da-mit wäre auch Marx grundsätzlich einver-standen. Ein anarchistisch geprägtes Gesell-schaftsmodell hält für die organisierte Gei-steswelt, für die Berufsintellektuellen, keineprivilegierte Rolle bereit, sondern führt zueiner Verwischung der Unterschiede zwi-schen Kopf- und Handarbeitern. Letzteresollen auch aktiv bei der geistigen Bewälti-gung ihrer Arbeitsprozesse mitmachen, alsobei der Setzung der Ziele, der Organisation,der Planung usw. Die, die berufsmäßig Wis-sen ansammeln und anwenden, hätten keinbevorzugtes Anrecht auf die Führung derGesellschaft; allein aus der Tatsache, daß siediese Ausbildung oder Begabung haben,könnten weder Macht noch Prestige abge-leitet werden. Natürlich üben derartige An-sichten nicht gerade eine besondere Anzie-hungskraft auf die Intelligenzschicht aus.

The Chomsky Reader »Interview« S. 21

Zu Humboldts »Freiheitsinstinkt« beimMenschen vgl.»Language and Freedom« in The ChomskyReader S. 148-149»Humboldt« in Language and Politics S. 386,468, 566, 756

Zur linksmarxistischen Tradition vgl.»Interview«, The Chomsky Reader S. 19-23Chomskys Einleitung zu: Daniel Guérin,Anarchism (Monthly Review Press 1970)Rudolph Rocker, Anarcho-Syndicalism (PlutoPress 1989)

Millionen von Menschen auf der ganzenWelt suchen nach besseren Lebensverhält-nissen, denn ihre Grundbedürfnisse kön-nen innerhalb der überkommenen gesell-schaftlichen, ökonomischen und techni-schen Strukturen nicht mehr gestillt wer-den. Es gibt aber durchaus lebensfähigeAlternativen, von denen eine Linderung die-ser Probleme erwartet werden kann. EinBeleg dafür sind die Tausende erfolgrei-cher intentional communities, die überall ent-standen sind.Für diejenigen, die in Gemeinschaften le-ben oder damit sympathisieren und die Ver-bindung und Kooperation suchen, will dieFellowship for Intentional Communities alsNetzwerk zur gegenseitigen Vertrauensbil-dung und Information unter diesen Ge-meinschaften dienen. Wir wollen auch derWelt von Erfahrungen mit Kooperation inder Praxis berichten; dazu gibt es Bücher,Workshops, Diskussionsforen und andereProjekte. Wir möchten, daß den alternati-ven Gemeinschaften überall auf der Erdebewußt wird, wie zahlreich sie schon sind, sodaß auch diejenigen, die mit einer solchenKooperative arbeiten möchten oder für sichpersönlich dort eine Heimat suchen, sich anuns wenden können.Aus einer Information der Fellowship forIntentional Communities

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StudentWas halten Sie vom Sozialismus und Kom-munismus?

ChomskyDas kommt darauf an, was Sie damit mei-nen. Die meisten dieser Begriffe haben japraktisch jede Bedeutung verloren; wir müs-sen das also erst mal festlegen. Wenn Sozia-lismus und Kommunismus das bedeuten,wofür sie einmal standen, dann bin ich sehrdafür - und die überwältigende Mehrheitder Amerikaner auch. Sowas wird einemnatürlich im Staatsbürgerkunde-Unterrichtnicht erzählt. Es gibt ja oft Umfragen überalles mögliche. Manchmal werden auch Fra-gen zur Verfassung gestellt; die Ergebnissesind ziemlich erheiternd. Die Menschenhaben die merkwürdigsten Vorstellungenüber die Verfassung. So hat man 1987gefragt, ob sich in der Verfassung das fol-gende Gesellschaftsprinzip findet: »Jedernach seinen Fähigkeiten, jedem nach sei-nen Bedürfnissen.« 75 Prozent [glaubten,es stünde drin].Genau das aber ist Kommunismus. Im Kom-munismus gilt für die Gesellschaft das Prin-zip, man müsse so produktiv arbeiten, wieman kann, und würde dafür das erhalten,was man benötigt. Ein einfacher Gedanke(die obige Formulierung stammt von KarlMarx). Niemand sagt es, man darf es garnicht aussprechen, und doch hält die großeMehrheit es für ein so gutes Prinzip, daß sieglaubt, es stünde in der Verfassung. Mankann sich auch andere Bereiche anschauen- beispielsweise die Sozialpolitik. Das ist nunweder Kommunismus noch Sozialismus,sondern ganz gemäßigte Sozialdemokratie.Was halten die Leute davon?Man kann fragen: »Was ist Ihnen lieber,Sozialausgaben oder Militärausgaben?« DieRegierung hat also X Dollars und soll siezwischen Militär und z. B. Gesundheit auf-teilen. Dann ergibt sich ein enormes Über-gewicht zugunsten der Sozialausgaben: 4:1,

7:1, je nachdem, wie die Frage formuliertwurde. Die Bevölkerung tendiert insgesamtzu einer liberalen Sozialdemokratie à laNew Deal.Wenn man unter Sozialismus und Kommu-nismus versteht, daß die Werktätigen überdie Produktion entscheiden und jede Ge-meinde über das, was in ihr vorgeht; wennman damit Demokratie meint, das Ende derLohnsklaverei, eine rationale Planung derGesellschaft, jeder nach seinen Fähigkeitenetc.: Ja, dann halte ich alle diese Dinge fürgut und wünschenswert, denn in ihnen ver-körpern sich die Ideale der politischenRevolutionen des 18. Jahrhunderts - Ideale,die zwar formuliert, aber nie geglaubt wur-den. Eine derartige Entwicklung hielte ichfür sehr gesund. Doch bedenken Sie bitte:Hier in den USA kann man darüber nichteinmal diskutieren; niemand hat sich damitzu befassen. Das ist sehr wichtig, und esführt uns auf die Frage zurück, die anfangsgestellt wurde. Würden diese Dinge inunsere Lehrpläne Eingang finden, dürfteman darüber nachdenken und reden undseine unausgesprochenen Gefühle äußern,dann würde man für die etablierten Mächtesofort eine Bedrohung darstellen. Und dar-um verschließt sich unser Bildungssystemvor ihnen.»Fragen und Antworten für Soziologie-Anfänger«, aufgenommen von David Barsa-mian an der University of Wyoming, Lara-mie, 21.02.89

Was Bakunin und Kropotkin und auch ande-ren (...) vorschwebte, war eine durchorgani-sierte Gesellschaftsform, allerdings eine,die auf organischen Einheiten oder Ge-meinschaften aufgebaut war. Hierunter ver-stand man im allgemeinen den Arbeitsplatzund das Wohnviertel, aus denen sich dannüber föderale Gebilde eine hochintegrierteGesellschaft definierte, im nationalen Rah-men oder sogar darüber hinaus. Es können

auch vielfältige und weitreichende Ent-scheidungen getroffen werden, aber diesgeschieht durch Delegierte, die sich stetsihrer jeweiligen Gemeinschaft zugehörigfühlen, aus der sie kommen, zu der siezurückkehren und in der sie leben (...)Gegen die repräsentative Demokratie wieetwa in den USA oder in Großbritannienrichten Anarchisten dieser Richtung einezweifache Kritik. Erstens herrscht in diesemSystem ein zentrales Machtmonopol desStaates, und zweitens beschränkt sich - wasschlimmer ist - die repräsentative Demo-kratie auf die politische Ebene und bleibtohne nennenswerten Einfluß auf die wirt-schaftliche Ebene. Für diese Anarchistenwar immer klar, daß der Kern einer ernst-haften Befreiung des Menschen - ja, jederdemokratischen Praxis, die diesen Namenverdient - nur in einer demokratischen Mit-bestimmung über die eigene produktiveSphäre liegen kann. Solange also der Ein-zelne gezwungen ist, sich auf dem Arbeits-markt an jeden zu verdingen, der beliebt,ihn zu nehmen; solange der Einzelne in derProduktion nur die Rolle eines Hilfswerk-zeugs spielen kann - so lange bestimmenZwang und Repression derart das Bild, daßman nur in einem äußerst eingeschränktenSinn von Demokratie sprechen kann -wenn überhaupt.Infolge der Industrialisierung und des all-gemeinen technischen Fortschritts bietensich jetzt Möglichkeiten für Selbstverwal-tung in einem nie zuvor gekannten Ausmaß.Hier liegt nämlich der rational begründ-bare Weg einer komplexen Industriegesell-schaft. Die Werktätigen können ohne weite-res über ihre eigenen Angelegenheiten amArbeitsplatz bestimmen; darüber hinauskönnen sie aber auch weiterreichende Ent-scheidungen über die Wirtschaftsstruktur,die gesellschaftlichen Institutionen, dieRegionalplanung usw. fällen.Radical Priorities S. 245-249

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»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

Karine KleinhausSie haben ja mal geschrieben, manmüsse an die Geistesprodukte begabterKöpfe immer so herangehen, daß mansie erstens richtig versteht und zweitensvon den darin befindlichen Irrtümernsäubert. Wie ist denn das nun mit IhrenIdeen - was glauben Sie, was wird wahr-scheinlich untergehen und was wird vonden Denkern der Zukunft aufgegriffenwerden?

ChomskyNa, ich denke, fast alles wird unter-gehen. Beispielsweise - also man mußschon unterscheiden. In meinemHauptgebiet, wenn ich da immer nochauf dem Stand von vor 10 Jahren wäre,würde ich vermuten, es sei tot. Inzwi-schen bin ich weiter, ich lese den Artikeleines Studenten, ich sehe, daß ich etwasändern muß, und so erlebe ich denFortschritt. In den gesellschaftlichenund politischen Fragen andererseitsmeine ich, daß die einfachen Dingeeinigermaßen klar sind. Ich glaubenicht einmal, daß ... gut, vielleicht sindeinige Sachen wirklich schwierig undkompliziert, aber die haben wir jeden-falls noch nicht verstanden. Was wir vonder Gesellschaft wissen, ist alles ganzeinfach zu verstehen. Und an diesensimplen Dingen wird sich wohl auchnicht viel ändern.

Viele, die sich über den Anarchismusäußern, tun ihn leichthin ab. Er sei utopisch,formlos, primitiv, sei überhaupt mil den Re-alitäten einer komplexen Gesellschaft un-vereinbar. Nur könnte man gerade anders-herum argumentieren: Wir sehen uns injeder Phase der Geschichte vor die Aufgabegestellt, diejenigen Formen von Autoritätund Unterdrückung zu beseitigen, die unsaus einer früheren Periode überliefert sind,inzwischen aber zum Überleben, zur Absi-cherung oder zur ökonomischen Entwick-lung nicht mehr benötigt werden, und diedie vorhandenen materiellen und zivilisato-rischen Mangelerscheinungen - statt sie zulindern - eher noch verstärken. Wenn diesaber so ist, dann gibt es kein jetzt und füralle Zukunft gültiges Rezept für gesell-schaftlichen Wandel, so wenig, wie die je-weils anzustrebenden Ziele unverändertbleiben können. Wir wissen doch nochkaum etwas über die Natur des Menschenund über die Bandbreite der gesellschaftli-chen Möglichkeiten, so daß bei jeder Dok-trin mit Langzeit-Anspruch äußerste Skepsisangebracht ist. Es ist dieselbe Skepsis, diewir empfinden sollten, wenn man uns ir-gendwelche Formen von Unterdrückungoder autokratischer Herrschaft mit der»Natur des Menschen« oder mit den »Be-dingungen der Effizienz« oder mit der»Komplexität des modernen Lebens« zubegründen sucht.Auf der anderen Seite haben wir zu allenZeiten Anlaß, nach bestem Wissen an derjeweils gerade aktuellen Umsetzung undWeiterführung dieses eindeutigen Trendsder Menschheitsentwicklung mitzuwirken.For Reasons of State S. 371

Ein Experte ist ein Mensch, der denKonsens der Mächtigen in Worte faßt.

Für mich gehört der Marxismus in dieGeschichte der organisierten Religionen.Man könnte überhaupt die Faustregel auf-stellen: Ist ein Begriffssystem nach einemMenschen benannt, dann unterliegt es kei-nem rationalen Diskurs, sondern ist ebenReligion. Kein Physiker bezeichnet sich alsEinsteinianer. Genauso wäre es verrückt,sich einen Chomskianer zu nennen. InWirklichkeit gibt es eben Individuen, diezur rechten Zeit am rechten Ort waren odervielleicht zufällig die richtigen Gehirnwel-len hatten, und die dann etwas Interessan-tes unternommen haben. Aber ich kennekeinen, dem nicht auch irgendwelche Feh-ler unterlaufen wären und dessen Resultatenicht umgehend von anderen verbessertworden sind. Wer sich also als Marxist oderFreudianer oder so etwas sieht, der betetnur vor irgendeinem Altar.Von Marx weiß ich, daß er eine ganz inter-essante Theorie über ein ziemlich abstrak-tes Modell des Kapitalismus im 19. Jahrhun-dert aufgestellt hat. Er war ein fähiger Jour-nalist. Auch zu Fragen der Geschichte hatteer einige reizvolle Ideen. Aber wenn mannach Aussagen darüber sucht, wie eine post-kapitalistische Gesellschaft aussehen könn-te, dann findet man in seinen gesammeltenWerken vielleicht fünf Sätze.»Noam Chomsky: Anarchy in the USA« vonCharles M. Young in Rolling Stone 28.05.92S. 47

Wie Henry Kissinger einmal treffend be-merkt, hat in unserem »Zeitalter der Exper-ten auch der Experte seine Wählerschaft -nämlich diejenigen, deren Interessen dieallgemein verbreiteten Meinungen zu die-nen haben. Denn schließlich ist er ja geradedadurch zum Experten geworden, daß erden Konsens auf hohem Niveau definiertund ausgearbeitet hat.«Towards a New Cold War S. 91

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AUS »NON-CORPORATE NEWS«,LYNN (1990)

ChomskyDer Punkt ist doch: Jeder muß arbeiten.Und genau deshalb ist das Propaganda-system so erfolgreich. Wer hat schon dieZeit und die Energie und das Engage-ment für diesen ständigen Kampf, denes kostet, um solchen Figuren wie Mac-Neil/Lehrer oder Dan Rather zu ent-kommen. Da ist es doch viel leichter,man kommt von der Arbeit, man istmüde nach dem harten Tag, man sitztabends nicht noch über einem For-schungsprojekt— also stellt man dieGlotze an und denkt sich nichts dabei,oder man überfliegt die Schlagzeilen inder Zeitung und dann guckt man dieSportsendung. So funktioniert imGrunde diese systematische Indok-trinierung. Natürlich sind die anderenSachen auch vorhanden, aber es kosteteben Mühe, sie aufzufinden.

Der nebenstehende Ausschnitt aus einemInterview mit »Non-Corporate News« wurdevon uns wie folgt zubereitet: Zunächst siehtman die Kamera auf ihrem Gestell sowieden Kameramann.Anschließend erfolgt ein Schnitt zum Blick-winkel der Videokamera: Chomsky er-scheint auf einem TV-Schirm; er sprichtüber die geistige Disziplin, die erforderlichist, um die von Leuten wie MacNeil/Lehreroder Dan Rather aufgerichteten Denkbar-rieren zu überwinden. Indem die Kameralangsam zurückfährt, werden auf einerVideowand 39 andere TV-Schirme sichtbar;sie umgeben das Bild, auf dem Chomskyspricht, und sind sämtlich auf verschiedeneSender eingestellt. Während nun aberChomsky normal spricht, scheinen die Pro-gramme der 39 übrigen Geräte im Zeitraf-fer abzulaufen.Der entstehende starke visuelle Effekt illu-striert Chomskys Aussage, daß es großerAnstrengungen bedarf, um in der Flut vonInformation und Desinformation die sinn-vollen Inhalte zu erkennen, und daß bei

jeder Begegnung mit den Medien kritischeWachsamkeit geboten ist — ManufacturingConsent: Noam Chomsky and the Media nichtausgenommen.

Und so sind wir vorgegangen:Brian Duchscherer, unser Animationsspe-zialist, hatte die technische Leitung dieserAufnahme. Auf eine Schiene, die auf dieVideowand zuführte, hatten wir eine Einzel-bild-Filmkamera montiert. Nach jedem Ein-zelbild (F8, 1 sec) verschob Brian die Ka-mera von Hand um einige Millimeter aufder Schiene nach hinten. Die genaue Di-stanz war mit einem Computerprogrammvon David Verrall so berechnet worden, daßdie gesamte »Bewegung« der Kamera indrei Phasen zerfiel: eine Beschleunigungs-phase, eine Phase mit konstanter Rück-wärtsgeschwindigkeit und eine Abbrems-phase. Robin Bain, der Kameraassistent,achtete auf die Scharfeinstellung. Das Vi-deoband mit Chomsky auf dem zentralenSchirm winde für jede Aufnahme der Film-kamera um ein Standbild weitergeschaltet.Die Qualität des altmodischen Panasonic-Videogerätes (Standbildstabilität, Bildzäh-lung) übertraf alle modernen Heimgeräte.Zum Ausgleich der Bildfrequenzen vonVideo- und Filmkamera (30/sec gegenüber24) wurde jedes 3. oder 4. Videobild über-sprungen. Pro Einzelbild benötigten wiretwa 30 Sekunden; derweil liefen auf den 39umgebenden Bildschirmen die großen TV-Programme normal weiter. Die gesamteSzene, die 40 Sekunden läuft, also aus 960Einzelbildern besteht, kostete uns 2 Wo-chen Vorbereitungszeit und beschäftigte 6Personen 15 Stunden lang. - MA

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AMERICAN CIVIL. LIBERTIES UNION,ROCHESTER

ChomskyDie Entwicklung der modernen indu-striellen Zivilisation vollzieht sich inner-halb eines Systems passend gewählterMythen. Angetrieben wird sie vomGewinnstreben des Einzelnen, dieseswird für legitim, sogar für lobenswertangesehen, denn wie der Klassikergesagt hat: Das Laster des einzelnendient dem Nutzen aller. Wir wissen aberseit langem, daß jede Gesellschaft, dieauf diesem Grundsatz aufgebaut ist, sichim Lauf der Zeit selbst zerstören muß.Sie kann mit der inhärenten Ungerech-tigkeit und allem Leiden nur so langeexistieren, wie sie glauben machenkann, zwar seien der menschlichenZerstörungskraft Grenzen gesetzt, dieErde hingegen sei eine unerschöpflicheRohstoffquelle und eine Mülltonne vonunbegrenztem Fassungsvermögen.In unserer Epoche kann nur eine vonzwei Alternativen eintreffen: Entwedernimmt das Volk seine Geschicke selbstin die Hand, stellt das Interesse derGemeinschaft in den Vordergrund undläßt sich durch Werte wie Solidarität,Mitgefühl und Anteilnahme leiten -oder bald wird niemand mehr einGeschick in die Hand nehmen können.Solange eine spezialisierte Klasse überMacht verfügt, wird ihre Politik vonden Partialinteressen, denen sie dient,bestimmt sein. Wenn wir aber über-leben wollen - und erst recht, wennGerechtigkeit herrschen soll - dannbenötigen wir eine rationale Planungder Gesellschaft unter Berücksichtigungder Interessen der Gemeinschaft - unddas ist heute die Menschheit als ganzes.

Der Raubkapitalismus hat ein komplexesIndustriesystem und eine hochentwickelteTechnik hervorgebracht. Er hat demokrati-sche Praktiken verbreitet und einige libe-rale Wertvorstellungen gefördert - beidesallerdings mit Einschränkungen, die in/wi-schen unter Druck stehen und eines Tagesbeseitigt werden müssen. Das System paßteinfach nicht mehr in die Mitte des 20. Jahr-hunderts. Menschliche Bedürfnisse, diesich nur kollektiv definieren lassen, kann esnicht befriedigen; stattdessen verkündet esdie zutiefst unmenschliche, unerträglicheLehre vom Menschen als Konkurrenzwe-sen, das nur Reichtum und Macht für sichzu maximieren sucht und sich den Markt-beziehungen, der Ausbeutung und ver-schiedenen Herrschaftsansprüchen unter-wirft. Aber ein autokratischer Staat ist auchkeine annehmbare Ersatzlösung, so wenigwie der in den USA hervorgetretene milita-

ristische Staatskapitalismus oder der büro-kratische Wohlfahrtsstaat das Wunschzielmenschlichen Trachtens sein kann.Aus Language and Freedom, abgedruckt imChomskyReader S. 153 (Vgl. auch S. 139-155)Im Wirtschaftsteil der New York Times findetsich eine Notiz über ein vertrauliches Me-morandum der Weltbank, das dem Econo-mist zugespielt worden war und in dem es[aus der Feder des Weltbank-Chefökono-men Lawrence Summers] heißt: »Mal ganzunter uns: Müßte nicht die Weltbank eigent-lich eine verstärkte Verlagerung von schmut-zigen Industrien [in die Dritte Welt] för-dern?« Summers erklärt uns auch, warumdas sinnvoll wäre: So würde beispielsweiseein krebserregender Schadstoff viel schlim-mere Folgen »in einem Land haben, wo dieMänner das Alter erreichen, in dem manProstatakrebs bekommt, als in einem Land,wo 20 Prozent der Menschen vor Vollen-

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GRONINGEN

ChomskyEs stellt sich also die Frage: Dürfen privi-legierte Eliten die Massenkommunikati-onsmittel beherrschen, und dürfen siediese Macht so einsetzen, wie es angeb-lich geboten ist - nämlich um notwen-dige Illusionen zu schaffen und um diedumpfe Mehrheit zu manipulieren, zutäuschen und von der politischenBühne fernzuhalten?Oder kürzer formuliert: Stellen Demo-kratie und Freiheit Risiken dar, dieabgewendet werden müssen, oder sindes Werte, die zu bewahren sind?

dung des fünften Lebensjahres sterben«. Dadie armen Länder »unter-verschmutzt« sind,ist es nur vernünftig, den »schmutzigenIndustrien« einen Umzug dorthin nahezu-legen (...)Wie wahr. Wir können entweder diesesArgument als reductio ad absurdum auffassen,also als gegen die Ideologie gerichtet, oderes logisch zu Ende führen. Dann müßtendie reichen Länder schon aus ökonomi-scher Ratio ihre Umweltverschmutzung indie Dritte Welt exportieren, und dort müßteman auf solche »Irrwege« wie etwa die Be-mühungen um wirtschaftliche Entwicklungoder um den Schutz der Bevölkerung ver-zichten. Der Kapitalismus jedenfalls könnteso die Umweltkrise überstehen (...)Als man Summers das Memorandum vor-hielt, erwiderte er, er hätte damit nur »dieDiskussion etwas in Schwung bringen wol-len»; bei anderer Gelegenheit sollte es eine»sarkastische Reaktion« auf einen anderenTextentwurf der Weltbank gewesen sein.Year 501: The Conquest Continues S. 107-108

Der Kapitalismus kann sich ohne weiteresmit dem Gedanken befreunden, daß zwarder einzelne Mensch als Produktionswerk-zeug austauschbar ist, daß aber die Existenzder Umwelt sichergestellt werden muß;denn sie soll ja durch die Herren von Wirt-schaft und Politik ausgebeutet werden. Ra-dikal-emanzipatorische Bewegungen sindnicht notwendig antikapitalistisch; Autoritätund Herrschaft gibt es nicht nur im Kapita-lismus.Aus einem Interview in Open Road (Vancou-ver, Kanada), abgedruckt in Language andPolitics S. 391

Es leuchtet ein, daß eine Ideologie im allge-meinen die Maske liefert, hinter der sichdas Eigeninteresse verbirgt. Intellektuellewerden demnach in Fragen der Geschichteoder Politik einer elitären Position zunei-gen: Sie werden Volksbewegungen, die füreine Mitwirkung der Massen an Entschei-dungen eintreten, ablehnen und sich statt-dessen dafür stark machen, die Aufsichts-funktion über den gesellschaftlichen Wan-del denen zu übertragen, die über dasangeblich dazu erforderliche Wissen verfü-gen. Einer der wesentlichsten Kritikpunkteder Anarchisten am Marxismus wurde vonBakunin so formuliert: »Würde das Volk derTheorie des Herrn Marx folgen, danndürfte es [den Staat] nicht zerstören, son-dern müßte ihn im Gegenteil stärken undgänzlich in die Hände seiner Wohltäter,Vormunde und Lehrer legen - der Führerder Kommunistischen Partei, also vonHerrn Marx und seinen Freunden, welchedann die Befreiung [der Menschheit] aufihre Weise herbeiführen werden. Die Zügelder Regierung werden einer starken Handübergeben, bedarf doch das unwissendeVolk einer äußerst gestrengen Vormund-schaft (...)«Auch in der liberalen Ideologie unserer Zeitspielt die Abneigung gegenüber Massenbe-wegungen und insbesondere gegen jede Artgesellschaftlichen Wandels, der nicht derKontrolle durch privilegierte Eliten unter-liegt, eine tragende Rolle.The Chomsky Reader S. 83-85

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ChomskyIn unserer Zeit, die vielleicht das End-stadium der Menschheit darstellt, sindFreiheit und Demokratie nicht nurWerte, die wir hochhalten müssen - siekönnten Vorbedingung für unser Über-leben sein. Vielen Dank.

ROWE CONFERENCE CENTER

Linda Trichter-MetcalfEr ist da oben und denkt nach. Er ent-schlüsselt diesen tonnenschweren Infor-mationsblock und bringt ihn in ein Ord-nungssystem, und dadurch erweckt er ineinem das Gefühl: Das kannst du auch,es gibt also doch einen Schlüssel dazu.Und man meint zu spüren, da ist eineQuelle, ein Sammelpunkt, ein ... na ja,für die Leute, die eine eigene Meinunghaben, bei denen man aber keinenSammelpunkt sieht. Und da ist in mirder Wunsch erwacht, noch einmal indie politische Szene einzusteigen, derich doch 30 fahre lang völlig entfremdet

Linda Trichter Metcalf, Ph. D., nahm aneinem Seminar im Rowe Conference Centerteil, bei dem 60 Menschen drei Tage langmit Noam Chomsky diskutierten.Zusammen mit Tobin Simon, Ph. D. , hältsie am Rowe Center Seminare über Textezur sogenannten Propriozeption. Hierunterversteht man in der Physiologie die Kinäs-thesie oder Tiefensensibilität - also Emp-findungssignale aus dem Körperinnern. MitHilfe der Signale, die bestimmte Nerven(Propriorezeptoren) zum Gehirn leiten,wird der Körper über seine eigene Stellung,Bewegung und Kraftausübung orientiert.Analog zur Propriozeption wollen TrichterMetcalf und Simon in dem, was andere alsSpiritualität bezeichnen, eine Art innererIntelligenz sehen. Ihrer Auffassung nach istes diese innere Intelligenz, die uns den Zu-gang zu unseren eigenen Gedanken ver-schafft und uns erlaubt, diese voneinanderzu unterscheiden - kurz, durch die wir unsselbst erkennen können.

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BÜRO IM MIT

David BarsamianSie geben doch Hunderte von Inter-views und Vorträgen, Sie schlagen sichmit Massakern in Osttimor und Invasio-nen in Panama herum, mit Todesschwa-dronen und anderen Schrecklichkeiten.Wie schaffen Sie es, immer weiterzuma-chen? Brennen Sie nicht langsam aus?

Fortsetzung rechts

(die fett gedruckte Passage ist im Film enthalten)

ChomskyIch könnte jetzt etwas über meine persönli-chen Gefühle sagen, aber auch hier frageich mich, ob das irgend jemanden interes-siert.

David BarsamianAuf welches Reservoir in Ihrem Innerengreifen Sie zurück, wenn Sie mal verzweifeltsind?

ChomskyNa ja, man möchte doch noch in den Spie-gel schauen können. Es gibt immer Mög-lichkeiten, sich Mut zuzusprechen, wenn esmal nötig ist. Heute ist es doch schon vielbesser als vor 25 Jahren, ja selbst als nochvor 10 fahren. Beispielsweise hätte ich vor20 fahren nicht in irgendeinem Nest in Kan-sas auf Leute treffen können, die so aktivund engagiert waren, daß sie besser Be-scheid wußten als ich selbst. Als ich so um1964 mit meinen Vorträgen anfing, sah esabsolut hoffnungslos aus. Einen Vortrag zuhalten, das hieß, jemand lud zwei Nachbarnein und ich unterhielt mich mit denen imWohnzimmer; oder ich kam in eine Kircheund da war ein Betrunkener und einer, derauf mich losgehen wollte, und sonst nurnoch die Organisatoren. Oder wenn wirdamals eine öffentliche Versammlung ander Universität machten - ich weiß noch,am MIT hatten wir etwas über Vietnam, Ve-nezuela usw. angekündigt - dann konntenwir nur hoffen, daß wenigstens mehr Zuhö-rer als Organisatoren kommen würden.Und dann diese wahnsinnige Feindselig-keit. Die erste öffentliche Versammlung un-ter freiem Himmel, auf der ich sprach, fandim Oktober 1965 auf dem Boston Commonstatt; das war ein internationaler Protesttaggegen den Indochinakrieg, organisiert vonStudenten, wie das meiste damals. Es warwirklich die erste größere öffentliche Ver-

sammlung, auch mit einem Demonstrati-onszug zum Common. Es waren wohl 200bis 300 Polizisten da, und ich muß sagen, wirwaren sehr froh darüber, denn sie warenunser einziger Schutz gegen einen gewaltsa-men Tod. Die Menge war überaus feindseligeingestellt. Es waren meistens Studenten,die von der Universität herüber kamen unddrauf und dran waren, uns umzubringen.Dabei waren unsere Forderungen wirklichsehr zahm - man genierte sich beinahe, sieauszusprechen. Wir sagten nämlich nur:»Stoppt die Bombardierung von Nordviet-nam.« Denn was war mit den dreimal so in-tensiven Bombardements in Südvietnam?Davon durfte man nicht einmal sprechen.So ging das bis Mitte 1966. Versammlungenunter freiem Himmel in Boston waren un-möglich, man wäre von Studenten - undanderen - umgebracht worden. Ich habemich damals total hilflos gefühlt; ich dachtemir, das hat doch alles keinen Zweck.

David BarsamianUnd jetzt haben Sie also mehr Hoffnung?

ChomskyOb man mehr Hoffnung hat oder nicht,hängt nicht von den Gegebenheiten ab,sondern ist eine Sache der Persönlichkeil.In vieler Hinsicht liegen die Dinge jetzt bes-ser als früher. Ich denke, das allgemeinekulturelle Niveau im Lande ist erheblichgestiegen, also das Diskursniveau und derKenntnisstand der Öffentlichkeit. Freilichnicht bei den gebildeten Schichten - da hatsich nichts geändert. Aber über die Verbes-serung bei den übrigen kann es gar keinenZweifel geben, und das wirkt natürlichermutigend. Sicher, man kann sich auchdemotivieren lassen - man braucht nur andas geradezu geologisch langsame Kriech-tempo der Entwicklung denken und an denendlosen Weg, der noch vor uns liegt, bissich das Ganze in der praktischen Politikbemerkbar macht. Aber das ist eben eine

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BAHNHOF IN MEDIA

SchaffnerUff. Ich muß los. Muß die Leute in dieStadt bringen.

Peter WintonickOK. Vielleicht könnten Sie für uns»Einsteigen bitte!« rufen.

SchaffnerOK. Einsteigen bitte!

Peter WintonickBye bye!

SchaffnerBye bye!

(Abspann setzt ein)

PETER WINTONICK FUMMELT ANDER KLAPPE HERUM

Piep!

(Die Glühbirne an der elektronischen Klappeleuchtet nicht)

Mark Achbar

Nee. Ich hab' nichts gesehen. Klopf

doch mal ans Mikro.

(Peter klopft ans Mikrofon)

Bumm.

VOR DEM GERICHTSGEBÄUDEIN MEDIA

MannVielen Dank. Good bye, Kanada!

FrauBye!

Sache der Stimmung, nicht der objektivenRealität. Ich meine auch nicht, daß mansich groß darüber den Kopf zerbrechensollte. Denn auch wenn man gar nichts tut,geht man doch eine Art Pascalscher Wetteein. In der Umwelt zum Beispiel: Objektivgesehen, lassen sich gute Argumente dafürangeben, daß es in hundert oder zweihun-dert Jahren nur noch Küchenschaben ge-ben wird. Das ist gut möglich - ganz gleich,was wir anstellen. Andererseits könnte mandoch wenigstens versuchen, irgend etwas zuunternehmen, um den Lauf der Dinge zuändern. Man steht eben vor der Alternative:Tut man nichts, dann weiß man schon vor-her, was passieren wird. Tut man aber etwas,dann hat man vielleicht eine Chance.

David BarsamianUnd Sie treten dafür ein, etwas zu tun.

ChomskyIch versuche es.

Unter dem Titel »Substitutions for the EvilEmpire.« abgedruckt in Chronicles of Dissent

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BÜRO IM MIT

Ed RobinsonJetzt habe ich die Stunde, die wir ver-einbart hatten, schon überzogen.Ich danke Ihnen.

HUMANIST TV, NIEDERLANDE

MannAls Sie ihn vorstellten, sagten Sie, erkäme von Harvard.

ChomskyOh, das hab' ich bemerkt.

Joop van TijnOh ja - tatsächlich. Wir werden's raus-schneiden.

RADIO KUWR, LARAMIE

Marci Randall MillerTut mir leid, daß ich Ihnen nur sowenig Zeit zum Antworten lassenkonnte.

ChomskyIst schon OK. Es ging ja. Sind wir in zweiMinuten durchgekommen, oder ...

Marci Randall MillerDoch, wir sind ganz gut zurechtgekom-men. Außerdem gibt es dadurch weni-ger Sport, das kann mir nur recht sein.

NATIONAL PRESS CLUB,WASHINGTON

Sarah McCIendonDiese armen Menschen da draußen -die haben doch keine Ahnung, was losist. Wenn die wüßten, was Sie hier heuteerzählt haben, dann würd's aber anders.

ChomskyDann gäb's 'ne Revolution.

Sarah McCIendonVielen Dank.

Die Universitäten haben die Aufgabe, fürdas Wissen und die Ausbildung zu sorgen,ohne die eine hochentwickelte Industriege-sellschaft nicht überleben kann. Dazu müs-sen sie aber dem nicht unbeträchtlichen Teilder Jugend, der sie durchläuft, ein hinrei-chendes Maß an Freiheit und Offenheit bie-ten (...)In einer modernen Industriegesellschaftbesteht ein Bedarf an vergleichsweise freienund offenen Zentren des Studierens unddes Denkens. Dies bedeutet jedoch, daßIrrationalismen, autokratische Strukturen,Täuschung und Ungerechtigkeit auf immerstärkeren Widerstand stoßen werden. Nach-schub an Menschen und Ideen wird aus die-sen Zentren in die radikalen oder reformi-stischen sozialen Bewegungen fließen;gleichzeitig werden sie sich über die Aus-sichten auf ein sinnerfülltes gesellschaft-liches Handeln »radikalisieren«.Jede Initiative für sozialen Wandel mußerfolglos bleiben, es sei denn, sie machesich die modernsten geistigen und techni-schen Errungenschaften zu eigen und wur-zele in den produktivsten und kreativstenVolksschichten. Viel wird insbesonderedavon abhängen, wie die Intelligenzschichtihre Rolle sieht: als Sozialingenieure oderaber als Teil der Werktätigen. Wenn frühereRevolutionen ihren Verheißungen untreugeworden sind, dann häufig infolge derBereitschaft der Intelligenz, sich der neuenherrschenden Klasse anzuschließen - imStaatskapitalismus westlicher Prägung alsoden staatlichen und privaten Mächten. Indem Maße, wie in der Industriegesellschaftzunehmend Facharbeiter, Ingenieure, Wis-senschaftler und andere Kopfarbeiter eineRolle in der Produktion spielen, könnteeine neue revolutionäre Massenbewegungentstehen. Neu wäre an dieser Bewegunginsbesondere, daß ihr nicht die Gefahrdroht, durch eine Avantgarde-Intelligenzverraten zu werden, die sich von der Arbei-terschaft abwendet und lieber an ihrer Kon-

trolle mitwirkt, direkt oder unter Einsatzder von ihr selbst entwickelten ideologi-schen Hilfsmittel. Man möchte wenigstenshoffen, daß es so kommt.Radical Priorities S. 234-235

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AUS »THIRD EAR«

Jonathan SteinbergUnd in diesem optimistischen Tonhaben Sie vielen herzlichen Dank,Professor Chomsky.

»AMERICAN FOCUS«, WASHINGTON

Bill TurnleyNa, wie ist es denn gelaufen?

Elizabeth SikorovskyIch glaube, es war irgendwie - hat sichalles ziemlich technisch angehört. Undes hat auch keinen Rhythmus gehabt.

GEORGETOWN UNIVERSITY,WASHINGTON

MannHaben Sie schon mal daran gedacht,Präsident zu werden?(Gelächter)

ChomskyWenn ich Präsidentschaftskandidatwäre, würde ich den Leuten als erstesempfehlen, mich nicht zu wählen.

VOR DEM MIT

Carol ChomskyDieser Mensch muß jetzt nach Hause,aber wirklich.

MannUnd die Leute halten immer noch dieBoston Celtics für die Weltmeister.

Carol ChomskyKönnten Sie ... würden Sie ihn bittegehen lassen?

ChomskyDanke.

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DE ANTONIO, EMILE (1920-1989)

Nennt mich einfach »d«

Emile de Antonio, der Erzvater des politi-schen Dokumentarfilms, ist in der ganzenWelt nur als »d« bekannt. Aus den Nachru-fen und offiziellen Personalien erfahrenwir, daß er am 15. Dezember 1989 starb. DerBoston Globe nannte ihn ein »radikalesLeuchtfeuer«, der sich seiner »linken politi-schen Einstellung nie schämte«. Die NewYork Times, das Blatt, in dem Geschichte ge-schrieben wird, brachte eine Notiz über denHerztod eines 70jährigen unorthodoxenFilmemachers vor seiner Wohnung in EastVillage, während der zweite Schiedsrichterin Geschmacksfragen, die FilmzeitschriftVariety, in großen Lettern verkündete: »Do-kumacher de Antonio mit 70 gestorben - erattackierte das System«.Ich selbst habe de Antonio ein wenig andersin Erinnerung. Zum erstenmal begegneteich dem »maitre d« vor einigen Jahren inToronto, wo er sich einige Tage aufhielt,um mit uns zusammen Ron Manns FilmPoetry in Motion fertigzustellen. Seine ein-leuchtenden Ideen über Filmstrukturenhinterließen ihre Spuren in meinem Kopfund auch in dem Film. Jeder der vielen jun-gen politischen Filmemacher, die ständig inseinem New Yorker Büro auftauchten,konnte auf seinen Beistand zählen.De Antonio war ein geborener Kämpfer. Alseinziger Filmemacher stand er auf RichardNixons Liste Amtlicher Feinde. Zuweilenlegte er sich mit dem gesamten Hofstaat an.Wiederum gab es Zeiten, da er einzig gegenseine persönlichen Dämonen kämpfte. Hät-te es jemals den radikalen Heerzug gege-ben, dann wäre ein progressiver General deAntonio an der Spitze der »KampfgruppeMedien« in die Schlacht gegen die Unter-drücker marschiert. Sein Krieg - das war derunablässige Kampf für die Freiheit undUnabhängigkeit der Meinungsäußerung. Es

war der Krieg, der die verborgenen Wahr-heiten sichtbar macht und dadurch dieüberlieferte, die offizielle Geschichtsschrei-bung zu Fall bringt und der die Katastrophestoppt, die eine wildgewordene Staatsmachtauslöst. Seine Stärke lag in seinem Sinn fürden historischen Augenblick und in seinerLiebe zum Leben. Er konnte wunderbar er-zählen, er war gleichermaßen Archivar undAnthropologe, er wußte die Reichen zu um-spielen und schlug sich doch nicht leichterdurch als wir alle. Wo immer die Theorievon den »Großen Männern« unpopulär ge-worden ist, gibt er ein gutes Feindbild ab.d entstammt privilegierten Kreisen; in Har-vard gehörte er demselben Jahrgang an wieJohn F. Kennedy (1940). Er sah sich selbstals einen »Marxisten unter Kapitalisten«,wurde Mitglied der Liga Junger Kommuni-sten und der John Reed Society. (Doch spä-ter distanzierte er sich vom orthodoxenMarxismus bereits zu einem Zeitpunkt, alsdas noch längst nicht zum guten Ton ge-hörte). Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er inder US Army gegen die Faschisten. Wäh-rend seiner Militärzeit las er viel. »Vor vielenJahren, als ich noch jung war, las ich einmaleinen Essay über Descartes von Sartre, dermit den Worten schließt: >Nicht indem wirder Unsterblichkeit nachjagen, gewinnenwir das ewige Leben; nicht in der Abarbei-tung ausgedörrter Prinzipien, die nur dankihrer negativen Leere die Jahrhunderteüberdauern, können wir das Absolute errei-chen. Nein, es ist unsere eigene Zeit, in derwir leidenschaftlich kämpfen müssen, diewir leidenschaftliche lieben müssen und mitder zugleich unterzugehen wir bereit seinmüssen. <«ds weitere Karriere stellt sich so dar: Dokto-rand für Englische Literatur, Lehrer, Über-setzer von Opernlibretti, Agent eines Künst-lers und eines Fotografen, Hafenarbeiter,Binnenschiffer. Berühmte und berüchtigteNamen der New Yorker Kunstszene warenunter seinen Freunden -John Gage, Robert

Die Idee zu einem Film über Noam Chom-sky war drei Männern unabhängig voneinan-der gekommen: Emile de Antonio, PeterWintonick und mir. Glücklicherweise lebtenzwei von ihnen lange genug, um den Plan indie Tat umzusetzen. Dem, der es nicht mehrerleben sollte, und dem Volk von Osttimorist unser Film gewidmet. - MA

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Frank, Frank Stella und und und. Sein Le-ben war das eines Bohémien, chaotisch,kreiste um Alkohol und Frauen. Er warmehrmals verheiratet. Warhol drehte ein-mal einen Film darüber, wie er in Echtzeiteinen ganzen Liter Whisky herunterkippte- und dann fast an Alkoholvergiftung starb.Er hatte bereits die Midlife-40 erreicht, alser sich dem Filmen zuwandte - lebenderBeweis, daß niemand die Hoffnung aufge-ben sollte.Als er mit ansehen mußte, wie Kennedy demGipfel der Macht zustrebte, richtete er seineradikalen Überzeugungen gegen die ameri-kanische Regierung; er bediente sich dazudes Mediums Film, für das er bis dahin nieetwas übrig gehabt hatte. Zunächst arbeiteteer vorhandenes Material in komplexe Colla-gen um; einen Sprecher gab es nicht, daswäre ihm faschistisch und herablassend vor-gekommen. Was er schließlich fertigbrach-te, war nichts weniger als eine kompletteNeudefinition des Genres »Dokumentar-film«. So schreibt er einmal: »Der Doku-mentarfilm ist entweder politisch und sub-versiv, oder er ist überhaupt nichts. Ineinem reichen Gewerbe muß er eine armeKunstgattung darstellen. Er muß das Ge-schöpf eines einzelnen sein, kein Industrie-produkt. Und er muß arm bleiben, denn erdarf sich nicht am Eskapismus der Reichenbeteiligen, der sich mit Hunger, Woh-nungselend, imperialistischen Kriegen undeiner alles zerfressenden Drogenkulturarrangiert hat (...) Wir haben geradezu diePflicht, streitige, zutiefst politische Themenaufzugreifen. Objektiv zu sein, ist ein Dingder Unmöglichkeit; wir sollten es gar nichterst versuchen. Es gilt, neue Formen zu ent-decken, aggressiv zu sein, alles in Frage zustellen. Niemand sollte sich davor fürchten,Fehler zu machen, denn Fehler sind Lehr-meister (...) Wo kein Freiraum für Fehleroffensteht, herrscht abstrakte technischePerfektion; das zeigen übrigens auch diemeisten Filme. Darum lasse ich meine Filme

absichtlich roh und ungezuckert - meineFreunde nennen so etwas l'art brut.« SeineFilme bezeichnete er als »politisches Thea-ter. Für mich liegt die wichtigste Oppositionin der Form. Mir ist die art brut immer liebergewesen als alles Polierte, nicht nur inHollywood, sondern in allen >gut gemach-ten< Filmen.«Gleich sein erster Film war ein großer Er-folg: Point of Order (1963, 97 Min., S/W).Der Film behandelt die Anhörungen, dieder rechte Senator Joseph McCarthy 1954in der Armee veranstaltete; Grundlage wa-ren 188 Stunden Verschnitt der CBS-Tages-schau und die Hilfe des Verleihers Dan Tal-bot. Es war der erste Nachkriegs-Dokumen-tarfilm ohne Sprecher; er verdankte sichwesentlich John Cages Idee, daß alles Kunstsein könne. 1966 entstand That's Where theAction Is, ein S/W-Film über den Wahl-kampf von 1965 um das New Yorker Bür-germeisteramt. Dann kam Rush to Judg-ment (1967, ) 10 Min., S/W), ein Film, derdie falschen Fragen zu Kennedys Ermor-dung und zu dem diesbezüglichen Berichtder Warren-Kommission stellte und der ihmNachstellungen von selten des FBI und di-verser Polizeitruppen einbrachte.In dem Klassiker In the Year of the Pig(1969, 101 Min., S/W) hob d die Kunst derCollage auf eine neue Ebene. Wie kein Filmdavor oder danach durchdringt er die Vor-geschichte und den Charakter der kriegeri-schen Verwicklung der USA in Vietnam. Eswar ein brillant aufgebautes Plädoyer undwurde für einen Academy Award nominiert.Über diese »Ehre« sagte d: »Ich sollte einenschwarzen Schlips tragen und ein Lächelnaufsetzen. Ich bin nicht hingegangen. Ichhabe den Preis auch nicht bekommen (...)Hätte ich ihn bekommen, wäre der Kriegvielleicht früher zu Ende gegangen. Gele-gentlich lösen Dokumentarfilme ja wirklichehrliche Kritik aus. In Los Angeles gab eseinen Einbruch in das Kino; man ruiniertedie Leinwand mit Teer durch das Wort VER-

RÄTER. Daraufhin sagte der Veranstalterdie Vorführung ab.«America Is Hard to See (1970, 101 Min.,S/W) drehte sich um die Präsidentschafts-kandidatur Eugene McCarthys, 1968 derHoffnungsträger der Demokratischen Par-tei. In Millhouse: A White Comedy (1971,93Min., S/W) wurde anhand von Nixons Kar-riere demonstriert, wie die Medien demo-kratische Prozesse manipulieren können.Dazu d: »Kann man nicht die Filme, die imWeißen Haus so viel Furore gemacht haben,an einer Hand aufzählen? (...) Die Tatsa-che, auf Nixons Liste Amtlicher Feinde zukommen, bedeutete für mich eine größereEhre als jeder Academy Award.«In Painters Painting (1972, 116 Min., S/Wund C) treten die modernen Künstler aus dsFreundeskreis auf: Rauschenberg, Johns,Stella, Warhol usw. - also die Männer undFrauen, die New York zur internationalenKunstmetropole gemacht hatten. Auf Kri-tik, dieser Film sei apolitisch, erwiderte er:»Ob das politisch ist? Das Leben bestehtnicht nur aus Politik. Ich bin nicht Lenin.Ich liebe meine Frau; ich lese; ich habe auchgetrunken und bin ins Schwimmbad gegan-gen. Ich bin nicht immer konsequent (...)«Underground (1976, 88 Min., C; mit HaskellWexler und Mary Lampson) entstand unterkonspirativen Bedingungen in einemFluchtversteck für untergetauchte Mitglie-der der Revolutionsbewegung Weather Un-derground. Der Film löste eine Schlacht mitdem FBI aus, die enormen Widerhall in derÖffentlichkeit fand. Das FBI suchte nachden Kontaktpersonen der Filmemacherund schreckte dabei auch nicht vor Per-sonenüberwachung, Telefonabhören undEinbrüchen zurück. Trotz gerichtlicherStrafandrohungen verweigerten d und sei-ne Leute die Herausgabe des Films. Holly-wood eilte ihnen zu Hilfe; in einer Solida-ritätserklärung, die unter anderen die Un-terschriften von Warren Beatty, Sally Fieldund Jack Nicholson trug, wurde das Vorge-

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heu der Regierung bedauert und das Rechtverteidigt, Filme über jedes beliebige The-ma zu drehen.In dem Streifen In the King of Prussia (1983,92 Min., C, Video/35mm) wird der Prozeßgegen die »Plowshares 8« nachgestellt. Eswar dies eine Gruppe radikaler Katholiken,die als Ausdruck ihres zivilen Ungehorsamversucht hatten, die Verkleidungen an derSpitze zweier Atomraketen zu zerstören.In seinem letzten Film, Mr.Hoover and I,legt de Antonio eine Art Autobiographievor. Er beruht auf ds Lebensgeschichte so-wie auf 10.000 Blatt seiner FBI-Akten, dieihm aufgrund des Freedom of Information Adoffenbart worden waren. Hier zeigt d sich -und die Form des Mediums Film - sozusa-gen nackt.»In den USA versieht man das Wort >radi-kal< mit dem Anstrich des Unausgegliche-nen; ein Radikaler, das ist jemand, der umeiner abstrakten, abseitigen, unsichtbarenIdee willen alles andere preisgeben würde.Dabei läßt sich >radikal< auf einen völligakzeptablen lateinischen Begriff zurück-führen - den der >Grundlage<. Ein radikalerLösungsvorschlag ist nicht etwas Verrücktes,sondern ist einer, der an der Wurzel ansetzt,am Kern der Sache. Eine solche radikaleLösung brauchen wir in diesem Land, indem die Wirtschaft in Trümmer fällt unddie Außenpolitik auf der Drohung ruht, dieWelt auszulöschen. Es ist Allgemeingut ge-worden, die Tugend in Geld zu messen: Jereicher, desto tugendhafter. Also sollen dieArmen leiden, und zwar indem sie den Rei-chen dienen. Für mich ist das einfach derobszönste Gedanke, den dieses Land zumeinen Lebzeiten hervorgebracht hat. Ge-gen solche Ideen kämpfe ich. Und sollte esmein Leben kosten, dann war es das wert -jedenfalls mein Leben.«Meine Erinnerungen bleiben frisch wie dsWorte. Eine Woche nach seinem Tod wollteich seine Witwe Nancy anrufen, wählte aberaus einem schicksalhaften Irrtum heraus

seine Büronummer. Der Anrufbeantwortertönte gespensterhaft: »Hier spricht Emilede Antonio. Ich bin gerade nicht da ...« dmochte seinen Körper und diesen Planetenverlassen haben - doch nicht dauerhaft. Erlebt weiter in seinem großen Werk, das erder Welt als Beispiel und als Anstoß zumNachdenken hinterlassen hat. Er war eingroßartiger Lehrer. Seiner Inspiration ha-ben wir es zu danken, wenn wir jetzt diehohlen Ideale der bürgerlichen Filmkunsthinterfragen und uns lieber darauf konzen-trieren, in unseren Filmen kompromißlosdie Wirklichkeit zu durchleuchten, mitihnen den Unterdrückten dieser Erde zudienen und zugleich die selbstauferlegteUnterdrückung aufzuheben, die den Aus-drucksformen unserer eigenen VisionenGrenzen setzt.Peter Wintonick

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Chronologie der Entstehung

des Films

21. Oktober 1967: Gerade den Kinderschu-hen entwachsen, hört Peter Wintonick vonder Verhaftung des berühmten amerikani-schen Kinderarztes Benjamin Spock (wäh-rend einer Protestveranstaltung gegen denVietnamkrieg vor dem Pentagon in Wash-ington). Schriftsteller Norman Mailer undLinguist Noam Chomsky teilen sich eineGefängniszelle, nachdem sie sich zusam-men mit einigen hundert Demonstrantentrotz mehrmaliger Aufforderung weigern,»sich zu entfernen«.

1984: Peter Wintonick und Mark Achbarbegegnen sich zum erstenmal in Torontobei einem Treffen der Mitwirkenden anPeter Watkins' 14-stündigem Filmprojekt»The Journey«, das vom atomaren Friedenund den Massenmedien handelt.

1985: An der Unversität Toronto erfolgt einerstes Gespräch zwischen Mark Achbar undNoam Chomsky, nachdem dieser seinenVortrag mit dem Titel »Auf dem Weg zumglobalen Krieg« beendet hat. Achbar istzunächst recht nervös, doch findet er deneinst von der New York Times als »möglicher-weise bedeutendsten Intellektuellen derGegenwart« bezeichneten Chomsky gerade-zu entwaffnend zugänglich.

1986: Peter Wintonick ist (ohne AchbarsWissen) unter den Zuhörern eines Vortragsvon Chomsky an der Universität von King-ston. Daraufhin schlägt er einem Produzen-ten bei der Nationalen Filmbehörde (NFB)»ganz nebenbei« einen Film über Chomskyvor; der Vorschlag wird »ganz nebenbei«abgelehnt.

1987: Mark Achbar ist davon überzeugt, daßdie Massenmedien Chomsky weitgehendtotschweigen. Gemeinsam mit Freunden(und ohne Wissen von Wintonick) beginntAchbar in Toronto, einen Film über Chom-sky zu entwerfen. Die Zusammenarbeit

scheitert jedoch schmerzhaft an grundsätz-lichen Meinungsunterschieden.11. Mai 1987: Chomsky begrüßt den Vor-schlag für einen Film über seine politischenAnalysen: »Ich habe mit Interesse von Ih-rem Filmprojekt gehört. Ich freue michselbstverständlich darüber und halte es füreine nützliche Idee.«

1988: Wintonick und Achbar entdecken beieiner Flasche Scotch endlich die Gemein-samkeit ihrer Absichten und beschließen,das Filmprojekt von Montreal aus weiterzu-führen. Sie lassen ihre Produktionsfirmaunter dem Namen Necessary Illusions regi-strieren und verbringen den Rest desJahresdamit, Filmentwürfe zu schreiben, Unter-stützerbriefe zu sammeln und Förderan-träge auszufüllen. Der staatliche kanariischeKulturfonds gibt Achbar 16.000 kan. Dollar,Wintonick erhält 5.000 kan. Dollar voneinem Privatmann. Der US-Schauspieler EdAsner schickt einen begeisterten Unterstüt-zerbrief und 250 US-Dollar.

1988: Im August begeben sich die beidenFilmemacher mit zwei handbetriebenenI6mm-Bolex-Kameras im Gepäck nachLong Island, um den Druck des BuchesManufacturing Consent: The Political Economyof the Mass Media zu filmen. In Japan wirdmit Hilfe eines örtlichen Drehteamsgefilmt, wie Chomsky den mit 350.000 US-Dollar dotierten Kyoto-Preis, den höchstenjapanischen Wissenschaftspreis, entgegen-nimmt. Im Oktober erstehen die Filmema-cher aus Regierungsbeständen eine motori-sierte 16mm-Filmkamera, die zuvor denkanadischen »Mounties« gedient hatte.Drehorte sind Toronto und Hamilton, woChomsky die angesehenen »Massey Lectu-res« für das CBC-Rariio aufzeichnet (späterunter dem Titel Necessary Illusions: ThoughtControl in a Democratic Society ein kanadischerPaperback-Bestseller).

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März 1989: Wintonick und Achbar treffenwährend der kanadischen Filmpreisverlei-hung auf einen Mann mit Hörgerät, der ander Zeremonie kein Interesse zu habenscheint. Das Hörgerät stellt sich als Walk-man-Radio heraus, auf dem der »Schwer-hörige« ein Baseballspiel verfolgt. Es ist derPhilantrop Nick Laidlaw, der in der Vergan-genheit Künstler, Sportler und Intellektu-elle unterstützt hat. Die beiden Filmema-cher erhalten von ihm ein Jahr lang monat-lich je 1000 kan. Dollar. Leider sollte NickLaidlaw die Vollendung des Films nichtmehr erleben.

April 1989: Francis Miquet, ein Schüler Win-tonicks, steigt bei Necessary Illusions ein; erarbeitet als Koordinator, in Archiven, in derFinanzierung, als Kameramann, beim Tonund Schnitt, schließlich als Zweiter Produ-zent. Am PC wird eine 40-seitige Projektbe-schreibung entworfen. 4000 persönlich ge-haltene Schreiben gehen an kanadischeAdressen und ins Ausland - an alle erdenk-lichen Firmen und Privatstiftungen, anwohlhabende Filmproduzenten sowie ansämtliche nordamerikanische und euro-päische Fernsehanstalten. George Lucas,Steven Spielberg, CBS, CBC und Coca-Colalehnen höflich, aber bestimmt ab, währenddas niederländische, finnische und norwe-gische Fernsehen den Film blind bestellen(»Zahlung bei Lieferung«),

Oktober 1989: Den Filmemachern geht dasGeld aus. Dutzende von Filmdosen mit ab-gedrehtem, aber unentwickeltem Filmmate-rial stapeln sich in Achbars Wohnzimmer.Die beiden bauen die Dosen ansprechendauf, machen einige verschwommene Pola-roidfotos davon und schicken diese an dieStudiochefs des NFB, zusammen mit einemBittbrief, man möge doch helfen, die Bilderans Licht zu bringen.

Januar 1990: Das NFB stellt seine techni-schen Dienste zur Verfügung; die Filmekönnen endlich entwickelt werden.

1990-1991: Die Filmemacher verzichten aufdie Hälfte ihres ohnehin mageren Gehaltsund drehen sporadisch in Großbritannien,Frankreich, Deutschland, den Niederlan-den sowie in den USA und im kanadischenNanaimo. Zwischendurch bemühen sie sichum weitere Finanzquellen. Sie erhaltenUnterstützung von Media Network, einer ge-meinnützigen Spendenverwaltungsorgani-sation in New York, sowie in ähnlicher Wei-se von der kirchlichen TV-Station Vision/TVin Kanada. Eine Lizenzvorauszahlung löstweitere Beiträge von Investoren aus. Außer-dem steuern Hunderte von Organisationenund Einzelpersonen Anteile bei.Während des Internationalen Filmfestivalsin Guelph, Kanada, erhält eine zweieinhalb-stündige Video-Grobfassung des Films denhöchsten Publikumszuspruch. Bei einemzufälligen Gespräch mit dem Vorführer fälltder Hinweis auf die »weltweit größte festinstallierte Kaufhaus-Videowand«, die ineinem nahegelegenen Einkaufszentrum zufinden sein soll. Zu einer Besichtigung desRedaktionsgebäudes der New York Times imFebruar 1991 sind Kameras nicht zugelas-sen. Ein Gespräch mit dem Redakteur KarlE. Meyer wird jedoch gestattet. Nach demInterview filmt das Team im Gebäude heim-lich weiter.

1991-1992: Während Wintonick weiter amFilm schneidet, werden die frei gestaltetenSzenen entworfen und gedreht. In einemAbschnitt kleiden sich die Filmemacher inArztkittel und »sezieren« einen ursprüng-lich in der Londoner Times erschienenenArtikel über Osttimor; sie stellen damit gra-fisch dar, wie entscheidende Passagen vordem Abdruck in der New York Times zensiertwurden. Anschließend vergessen sie, sichwieder umzuziehen, was bei den NFB-Tech-nikern ziemliche Verwirrung hervorruft. Inden Film werden Tricksequenzen eingear-beitet, und bereits vorliegende Szenen wer-den in neue Zusammenhänge gebrachtoder auf öffentlichen Bildschirmen in Ein-kaufszentren oder im Sportstadion abge-filmt. Der Schnitt des Films zieht sich einweiteres Jahr hin. Schnittassistentin Katha-rine Asals und Francis Miquet, der mittler-weile am Tonschnitt arbeitet, setzen dieSuche nach weiterem Archivmaterial fortund kümmern sich um die Urheberrechte.

Anfang 1992: Die Filmemacher stellen fest,daß sie genügend Filmmaterial für einenabendfüllenden Dokumentarfilm und füreine mehrteilige Fernsehserie haben. DerFilm verlängert sich von 75 auf 165 Minutenund erhält eine Pause.

18. Juni 1992: Die erste Kopie des Films er-lebt ihre Premiere beim InternationalenFilmfestival in Sydney. Manufacturing Con-sent erhält unter 47 Filmen den Publikums-preis - dem auf weit über 50 Festivals welt-weit noch viele Preise folgen werden.

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Peter Wintonick ist seit über zwanzig Jahrenim Filmgeschäft. In Manufacturing Consent:Noam Chomsky and the Media verbindet erseine Erfahrungen in verschiedenen Berei-chen des Filmemachens und seinen politi-schen Aktivismus mit seinem Interesse anden Medien.In den letzten Jahren war er: Produzent fürdie kanadischen Drehaufnahmen und Lei-ter der Nachbereitung von Peter Watkins'14-stündigem Mega-Dokumentarfilm TheJourney über den nuklearen Frieden, Ent-wicklungspolitik und die Medien; Associate-Producer und für den Schnitt verantwort-lich bei Nettie Wilds A Rustling of Leaves:Inside the Philippine Revolution über dieSituation auf den Philippinen (»Beliebte-ster Film« Berlin 1989; »People's Choice«Montreal 1989); ebenfalls für den Schnittverantwortlich bei Ron Manns Experimen-talfilm Comic Book Confidential (»BestDocumentary« Kanada; »Hugo Award« Chi-cago); Produzent und Regisseur von TheNew Cinema, einer Videodokumentationüber den Unabhängigen Film (»Blue Rib-bon Award« des American Film Festival).Ganz früher führte er Regie bei Industriefil-men und anderen audiovisuellen Produk-tionen; außerdem hat er Spielfilme ge-schnitten. Für Kanadas führende Filmzeit-schrift Cinema Canada schrieb er viele geist-volle Beiträge über neue Trends im jungenunabhängigen Film und über die Zukunftder kanadischen Filmindustrie. Zudem ge-hörte er der Auswahljury des InternationalFestival of New Cinema & Video in Montrealan. An der dortigen Universität hält er Vor-lesungen über Filmgeschichte.Während seiner Zeit im Dschungel deskommerziellen Filmgeschäfts arbeitete eran der Seite einiger der dort heimischenTiger (und auch einiger Schlangen). Nach-dem er das Filmhandwerk am AlgonquinCollege in Ottawa gelernt hatte, erfolgteseine Einführung in die Welt des Films undder Politik durch den Schnitt von Wahl-

kampffilmen des damaligen Premiermini-sters Pierre Trudeau. Peter hat im Lauf derJahre vielen jungen, unabhängigen Filme-machern bei der Produktion und beimSchnitt mit Rat und Tat zur Seite gestanden.

Mark Achbar hat seine umfassenden kreati-ven und technischen Fähigkeiten seit 1975in über 50 Filmen, Videos und Büchernunter Beweis gestellt.In einer Reihe von Produktionen (Experi-mentalfilme und -videos, Dokumentationenzur gesellschaftlichen Aufklärung, selbstIndustriefilme) agierte er in unterschiedli-chen Kombinationen als Regisseur, Produ-zent, Autor, Kameramann und (-utter.Er begann mit Verwaltungs- und techni-schen Tätigkeiten (Kamera, Mikrofon,Schnitt) bei: Family Bay, einer Familiense-rie für das kanadische öffentliche Fernse-hen CBC und den amerikanischen Disney

Channel; Spread Your Wings, einer kreati-vitätsfördernden Jugendserie für das CBC;Partners in Development, einem Werbefilmfür die staatliche kanadische Entwicklungs-hilfeorganisation; When We First Met fürden US-Sender HBO.Sein Filmdiplom erwarb Mark an der Syra-cuse University (USA); anschließend über-stand er seine Lehrzeit in Hollywood bei BillDaily 's Hocus Pocus Gang. Seitdem arbeitet erkontinuierlich mit kritischen Filmema-chern zusammen, etwa: als Kameramannbei Keith Hladys There Is a Rally über diegroße Friedensdemonstration 1982 in NewYork; als Kameramann und Associate Produ-cer in Jim Morris' Stag Hotel über das Lebenin einem verkommenen Hotel (»BesterDokumentarfilm« Athen); für den Schnittverantwortlich bei Peter Monets EastTimor, Betrayed But Not Beaten (mit NoamChomsky) über Kanadas Rolle beim Völker-mord in Osttimor.Schließlich arbeitete er drei Jahre lang anPeter Watkins' Friedensepos The Journeymit; er filmte, interviewte, recherchierte,kümmerte sich um die Finanzierung undentwarf das EDV-System. Zudem recher-chierte, koordinierte und redigierte er dasBuch At Work in the Fields of the Bomb vonRobert Del Tredici (dt. »Unsere Bombe«,Zweitausendeins 1988), ein Bild- und Text-band über die Wasserstoffbombe. Das Buchwurde mit dem begehrten »Olive Branch«ausgezeichnet.1986 wurden Mark und sein Mitautor undRegisseur Robert Boyle mit ihrem 75-Minu-ten-Film The Canadian Conspiracy (übereine satirisch-fiktive kanadische Machter-greifung in den USA) für einen Fernseh-preis für das »Beste Drehbuch« nominiert.Der Film errang auch den Gemini-Preis als»Best Entertainment Special« und wurdefür einen »International Emmy« nominiert.Manufacturing Consent: Noam Chomsky and theMedia ist Marks erster abendfüllender Do-kumentarfilm.

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Dank Dieses Buch verdankt seine Entstehung vie-len Menschen. Mein besonderer Dank gilt:

Peter Wintonick und Francis Miquet, meineFreunde und Partner, für den Einsatz derknappen Mittel von Necessary Illusions indiesem Projekt; Linda Barton und DimitriosRoussopoulos von Black Rose Books für Ver-trauen und Zuspruch; Rodolfo Borello undAndrew Forster für einfühlsame und profes-sionelle Gestaltungsarbeit unter unmensch-lichem Zeitdruck; Jane Broderick für dieSchlußredaktion und die Erstellung desIndex unter demselben Zeitdruck; MerrilyWeisbord und Robert Del Tredici, die michin die Printmedien einwiesen; CarolineVoight, Stacy Chappel und Roben Kwak fürihre Tastenkunst am Satzcomputer sowieSusan Grey für zusätzliche Recherchen;Blake Gulband und Nat Klym für praktischeRatschläge; dem National Film Board ofCanada - dort vor allem Steven Morris. Tre-vor Gregg, Maurice Paradis und David Ver-rall - für Kooperation und technische Hilfe;David Pollack von Inframe Productions so-wie Colin Pearson für ihre großzügige tech-nische Unterstützung bei der Umwandlungvon Videobildern, außerdem Jason Levy fürseinen Zeitaufwand; Martine Cote und KateMcDonell für Hilfe bei der Bildverarbei-tung; Cha Cha Da Vinci und Leah Leger, diedas Leben der »Simpsons« am Bildschirmverfolgten; Christine Burt für taktvolle Ur-teile; Elaine Shatenstein und Cleo Paskai fürwertvolle redaktionelle Hinweise; JohnSchoeffel für laufende nützliche Anregun-gen; David Barsamian für seine Interviews,die so viel für den Film und das Buch bedeu-ten; Carlos Otero für sein Vorbild und fürdie Scheidung des Wichtigen vom Unwich-tigen; Sabrina Mathews, deren Neugier dieAuswahl des Hintergrundmaterials be-stimmte und deren Energie den Laden amlaufen hielt; Edward S. Herman, dessenKapitel in Manufacturing Consent >The Poli-tical Economy of the Mass Media< unserem

Film ein inhaltliches Konzept lieferten;Carol Chomsky, die uns großzügig Famili-enfotos für den Film überließ und uns sehrbei der Bearbeitung der Rohfassungenunterstützte; und an Noam Chomsky, des-sen Lebenswerk sechs Jahre lang im Zen-trum meiner Arbeit stand, für seinenZuspruch, seine unerschöpfliche Energie,die bereitwillige Beantwortung aller Fragenund Bitten und schließlich die distanzierteToleranz, mit der er unsere Kameras ertrugund dadurch den Film erst möglich machte,der diesem Buch zugrundeliegt.

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Freies Radio Schwäbisch HallLange Str. 13D-74523 Schwäbisch Hall

Das Quellenverzeichnis führt eine Auswahlbekannterer und weniger bekannter Orga-nisationen im deutschsprachigen Raum aufund erhebt keinen Anspruch auf Vollstän-digkeit.Auf die Angabe der Originalquellen, diezum Teil im Buch genannt sind, wurde ver-zichtet; sie können beim Marino Verlag,München, oder beim Trotzdem Verlag,Grafenau, erfragt werden.

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FAU Regionalkoordination Ostc/o InfoladenKellnerstraße 10aD-06108 Halle

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Auswahlbibliografie Aspekte der SyntaxtheorieFrankfurt a. M.

Im Krieg mit Asien(2 Bde.) Frankfurt a. M. 1972/73

Studien zu Kragen der SemantikBerlin

Über Erkenntnis und FreiheitFrankfurt a. M. 1973

Cartesianische LinguistikTübingen 1971

Strukturen der SyntaxBerlin 1973

Aus StaatsraisonFrankfurt a. M. 1973

Die Verantwortlichkeit der IntellektuellenFrankfurt a. M. 1981

Sprache und GeistFrankfurt a. M. 1973

Vom politischen Gebrauch der WaffenWien 1988

Reflexionen über SpracheFrankfurt a. M. 1977

Arbeit - Sprache - FreiheitWien 1988

Regeln und RepräsentationenFrankfurt a. M. 1981

Thesen zur Theorie der GenerativenGrammatikWeinheim 1995

Die fünfte Freiheit. Über Macht undIdeologieHamburg 1988

Die neue Weltordnung und der GolfkriegGrafenau 1992

Sprache als Organ - Sprache als Lebens-formFrankfurt a. M. 1995

Probleme sprachlichen WissensWeinheim 1996

Was Onkel Sam wirklich willZürich 1993

Wirtschaft und GewaltLüneburg 1993

Die Herren der WeltBerlin 1993

Die Herren der WeltBerlin 1993

Amerika und die neuen MandarineFrankfurt a. M. 1969

Schöne neue WeltordnungFrankfurt a. M.

Clintons VisionGrafenau 1994

Dinge der ZeitGrafenau 1994

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Page 240: Seit Noam Chomsky Mitte der sechziger Jahre …...Seit Noam Chomsky Mitte der sechziger Jahre seinen Elfenbeinturm als Linguist am Massachussetts Institute of Technologie (MIT) verließ,

Der große Intellektuelle und

Kritiker dieses Jahrhunderts:

NOAMCHOMSKY.

In einer eindrucksvollen Montage

von Bildern und Worten stellt

dieser fesselnde Film Werdegang

und Denken des kontroversen

Autors, Linguisten und radikalen

Denkers vor.

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Tel.: 05521/735 02Fax: 05521/735 03

KaufkassetteVÖ: 02.09.1996EVP: DM 49,95Bestellnummer:AH 00204

Titel: Manufacturing Consent -Noam Chomsky und die Medien

FSK: 12Regie: Mark Achbar und Peter WintonickLänge: 164 Min.