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Mathematik f¨ ur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6 $Id: mdiffb.tex,v 1.30 2019/06/19 12:32:14 hk Exp $ §5 Differentialrechnung im R n 5.1 Kurven und Richtungsableitungen In der letzten Sitzung hatten wir die Richtungsableitungen einer auf einer offenen Menge U R n definierten Funktion f : U R m in einem Punkt x U und in Richtung eines Vektors v R n als v f (x)= d dt t=0 f (x + tv) definiert und auch schon einige Beispiele hierzu gerechnet. Als ein etwas komplizier- teres Beispiel denken wir uns R n×n = R n 2 und wollen die Richtungsableitungen der Determinante det : R n×n R berechnen. Als Punkt in dem abgeleitet wird, wollen wir die n × n-Einheitsmatrix E n verwenden. Sei A R n×n die betrachtete Richtung. ur jedes t R\{0} gilt dann nach §4.Satz 2 det(E n + tA)= t n det 1 t + A = t n χ -A 1 t = 1 + tr(A)t + ··· + det(A)t n , und die Ableitung in t = 0 wird zu A det(E n ) = tr(A). Auch die Richtunsableitungen sind damit rechnerisch unproblematisch. An dieser Stelle wollen wir auch noch kurz die Interpretation der partiellen Ableitungen als Tangen- tenvektoren erw¨ ahnen. Angenommen wir haben n N mit n 1 und eine Funktion f : U R auf einer offenen Menge U R n . Weiter sei x U ein Punkt, in dem alle partiellen Ableitungen ∂f ∂x 1 (x),..., ∂f ∂x n (x) existieren. F¨ ur jedes 1 i n haben wir dann die Kurve g i : I R n+1 ; t (x + te i ,f (x + te i )) = x 1 . . . x i + t . . . x n f (x 1 ,...,x i + t,...,x n ) , 17-1

5 Differentialrechnung im Rn - math.uni-kiel.de · Mathematik f¨ur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6 die den Graphen von f in Richtung der i-ten Koordinatenachse durchl¨auft

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Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

$Id: mdiffb.tex,v 1.30 2019/06/19 12:32:14 hk Exp $

§5 Differentialrechnung im Rn

5.1 Kurven und Richtungsableitungen

In der letzten Sitzung hatten wir die Richtungsableitungen einer auf einer offenenMenge U ⊆ Rn definierten Funktion f : U → Rm in einem Punkt x ∈ U und inRichtung eines Vektors v ∈ Rn als

∂vf(x) =d

dt

∣∣∣∣t=0

f(x + tv)

definiert und auch schon einige Beispiele hierzu gerechnet. Als ein etwas komplizier-teres Beispiel denken wir uns Rn×n = Rn2

und wollen die Richtungsableitungen derDeterminante det : Rn×n → R berechnen. Als Punkt in dem abgeleitet wird, wollenwir die n × n-Einheitsmatrix En verwenden. Sei A ∈ Rn×n die betrachtete Richtung.Fur jedes t ∈ R\{0} gilt dann nach §4.Satz 2

det(En + tA) = tn det

(1

t+ A

)= tnχ−A

(1

t

)= 1 + tr(A)t + · · ·+ det(A)tn,

und die Ableitung in t = 0 wird zu

∂A det(En) = tr(A).

Auch die Richtunsableitungen sind damit rechnerisch unproblematisch. An dieser Stellewollen wir auch noch kurz die Interpretation der partiellen Ableitungen als Tangen-tenvektoren erwahnen. Angenommen wir haben n ∈ N mit n ≥ 1 und eine Funktionf : U → R auf einer offenen Menge U ⊆ Rn. Weiter sei x ∈ U ein Punkt, in dem allepartiellen Ableitungen

∂f

∂x1

(x), . . . ,∂f

∂xn

(x)

existieren. Fur jedes 1 ≤ i ≤ n haben wir dann die Kurve

gi : I → Rn+1; t 7→ (x + tei, f(x + tei)) =

x1...

xi + t...

xn

f(x1, . . . , xi + t, . . . , xn)

,

17-1

Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

die den Graphen von f in Richtung der i-ten Koordinatenachse durchlauft. Dabeiist I = (−ε, ε) ein ausreichend kleines, offenes Intervall um den Punkt 0. Da dieseKurve ganz im Graphen von f verlauft sind die Tangentenvektoren der Kurve gi auchtangential am Graphen von f . Der Tangentialvektor in t = 0 berechnet sich zu

g′i(0) =

0...1...0

∂f∂xi

(x)

,

und wir erhalten n Vektoren10...0

∂f∂x1

(x)

, . . . ,

0...01

∂f∂x1

(x)

im Rn+1. Diese Vektoren sind offenbar linear unabhangig, und erzeugen eine Hyperebe-ne im Rn+1. Diese Hyperebene ist die sogenannte Tangentialebene an die Funktion f imPunkt x ∈ U . Dabei unterscheidet man ublicherweise nicht zwischen diesem Teilraumdes Rn+1 und dem durch (x, f(x)) gehenden, verschobenen, affinen Teilraum des Rn+1.Besonders anschaulich ist dies im Fall n = 2 zweier Variablen. Dann ist der Graph vonf eine Flache im R3 und die Tangentialebene ist eine wirkliche Ebene, namlich⟨ 1

0∂f∂x

(x, y)

,

01

∂f∂y

(x, y)

beziehungsweise xy

f(x, y)

+

⟨ 10

∂f∂x

(x, y)

,

01

∂f∂y

(x, y)

⟩ .

Nehmen wir als ein Beispiel einmal die Funktion f : R2 → R; (x, y) 7→ sin(xy)+x2−y2.Die partiellen Ableitungen sind dann ∂f/∂x(x, y) = y cos(xy) + 2x und ∂f/∂y(x, y) =x cos(xy)− 2y und die Tangentialebene wird zu x

ysin(xy) + x2 − y2

+

⟨ 10

y cos(xy) + 2x

,

01

x cos(xy)− 2y

⟩ .

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–4

–2

0

2

4

t

–20

24

68

s

–60

–40

–20

0

20

–4

–2

0

2

4

6

t

–4

–2

0

2

4

6

s

–30

–20

–10

0

10

20

30

(x, y) =(

13, π)

(x, y) = (1, 1)

Beispielsweise ist die Tangentialebene bei (x, y) = (1/3, π) gleich⟨ 10

π2

+ 23

,

01

16− 2π

⟩ .

5.2 Die totale Ableitung

Wir kommen jetzt zur Ableitung von Funktionen f : Rn → Rm. Bei der Einfuhrungder eindimensionalen Ableitung in I.§10 hatten wir die drei Interpretationen des eindi-mensionalen Ableitungsbegriffs erwahnt:

1. Die Ableitung als Anderungsrate, wie zum Beispiel die Beschleunigung als Ande-rungsrate der Geschwindigkeit.

2. Die geometrische Interpretation der Ableitung als Tangentensteigung.

3. Schließlich konnten wir die Ableitung auch noch als eine lineare Approximationder Funktion auffassen.

Die ersten beiden dieser Interpretation sind uns auch in diesem Kapitel bereits wieder-begegnet, die Ableitung einer Kurve konnten wir sowohl als vektorielle Anderungsra-te deuten, als auch geometrisch als einen Tangentenvektor auffassen. Fur Funktionenf : Rn → R haben wir im vorigen Abschnitt die eindimensionale Tangente zu einerTangentialebene verallgemeinert. Als der wichtigste Standpunkt wird sich nun unseredritte Interpretation herausstellen, diese fuhrt direkt zum allgemeinen Ableitungsbe-griff.

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Definition 5.3 (Die totale Ableitung)Seien n, m ∈ N mit n, m ≥ 1, U ⊆ Rn offen und f : U → Rm eine Funktion. Wir nennenf in einem Punkt x0 ∈ U differenzierbar, wenn es eine lineare Abbildung T : Rn → Rm

gibt so, dass fur jeden Vektor h ∈ Rn mit x0 + h ∈ U stets

f(x0 + h) = f(x0) + Th + τ(h)

gilt, wobei der Approximationsfehler τ : U − x0 → Rm die Bedingung

limh→0

||τ(h)||||h||

= 0

erfullt.

Da alle Normen im Rn beziehungsweise Rm aquivalent sind, kommt es auf die hierkonkret verwendeten Normen nicht an. Wir wollen also genau wie im eindimensionalenFall die Funktion f lokal als

f(x0 + h) = Linearer Teil + Fehler

schreiben, wobei der Fehler τ(h) zu ||h|| proportional ist und wir die Proportionalitats-konstante beliebig klein machen konnen. Wollen wir die Fehlerfunktion τ nicht explizitbenennen, so kann man in der Definition aquivalent auch

limh→0

||f(x + h)− f(x)− Th||||h||

= 0

schreiben. Beachte das dieser Grenzwert immer sinnvoll ist, da die Menge U offen istgibt es namlich einen Radius ε > 0 mit Bε(x0) ⊆ U , d.h. τ(h) ist fur jedes h ∈ Rn mit||h|| < ε definiert. Verwenden wir im Rm die Norm || ||∞ so sehen wir sofort das dieFunktion f genau dann in einem Punkt x ∈ U differenzierbar ist, wenn samtliche Kom-ponentenfunktionen f1, . . . , fm : U → R im Punkt x differenzierbar sind. In Aussagenuber Differenzierbarkeit kann man sich daher meist auf den Fall m = 1 reellwertigerFunktionen beschranken. Insbesondere ist damit eine Kurve f : I → Rn definiert aufeinem offenen Intervall I ⊆ R genau dann in t ∈ I im Sinne der obigen Definitiondifferenzierbar wenn sie es im Sinne des vorigen Abschnitts ist. Bald werden wir sehendas auch die Ableitungen in einem geeigneten Sinn

”ubereinstimmen“.

Wir wollen uns ein paar einfache einleitende Beispiele anschauen.

1. Konstante Funktionen sind trivialerweise in jedem Punkt ihres Definitionsbe-reichs differenzierbar, wobei fur die lineare Abbildung T stets T = 0 verwendetwerden kann.

2. Sei f : R2 → R; (x, y) 7→ xy. Schreibe x0 = (a, b) und h = (u, v). Dann ist

f(x0 + h) = f(a + u, b + v) = (a + u) · (b + v) = ab + av + bu + uv

= f(a, b) + T (u, v) + τ(u, v)

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mit der linearen Abbildung T (u, v) := av + bu und dem Fehler τ(u, v) = uv. Fur(u, v) 6= (0, 0) haben wir dabei

|τ(u, v)|||(u, v)||∞

=|u| · |v|

max{|u|, |v|}= min{|u|, |v|} ≤ ||(u, v)||∞,

und somit gilt

limh→0

|τ(h)|||h||∞

= 0.

Damit ist f differenzierbar, bezuglich der linearen Abbildung T (u, v) = av + bu.

3. Ist n, m ∈ N mit n, m ≥ 1, f : Rn → Rm linear und x0 ∈ Rn, so gilt fur jedesh ∈ Rn auch f(x0 +h) = f(x0)+ f(h), also ist f in x0 differenzierbar mit T = f .

4. Seien jetzt p, q, r ∈ N mit p, q, r ≥ 1 und betrachte die Matrixmultiplikation

µ : Rp×q × Rq×r → Rp×r; (A, B) 7→ A ·B.

Dabei denken wir uns Rp×q × Rq×r = Rpq+qr und Rp×r = Rpr, indem die Matri-xeintrage in irgendeiner festen Reihenfolge in einen entsprechend grossen Vektorgeschrieben werden. Wir wollen die Differenzierbarkeit von µ in einem Punkt(A, B) ∈ Rp×q×Rq×r untersuchen. Als Vektor h nehme h = (X, Y ) ∈ Rp×q×Rq×r.Es ist

µ((A, B)+(X, Y )) = µ(A+X, B+Y ) = (A+X)·(B+Y ) = AB+AY +XB+XY

= µ(A, B) + T (X, Y ) + τ(X, Y )

mit T (X, Y ) = AY + XB und dem Fehler τ(X, Y ) = XY . Fur (X, Y ) 6= (0, 0)gelten offenbar

||(X, Y )||∞ = max{||X||∞, ||Y ||∞} und ||XY ||∞ ≤ q||X||∞||Y ||∞,

also folgt analog zum ersten Beispiel

||τ(X, Y )||∞||(X, Y )||∞

≤ q min{||X||∞, ||Y ||∞},

also limh→0 ||τ(h)||∞/||h||∞ = 0. Damit ist µ bezuglich des obigen T in (A, B)differenzierbar.

5. Zwei Spezialfalle des eben gerechneten Beispiels werden wichtig sein. Sei wiedern ∈ N mit n ≥ 1 gegeben. Zum einen ist die Abbildung

f : R× Rn → Rn; (λ, u) 7→ λu

in jedem Punkt (λ, x) ∈ R×Rn differenzierbar mit zugehoriger linearer AbbildungT (θ, u) = λu + θx. Zum anderen ist das Skalarprodukt

〈 | 〉 : Rn × Rn → R

in jedem Punkt (x, y) ∈ Rn × Rn differenzierbar mit zugehoriger linearer Abbil-dung T (u, v) = 〈x|v〉+ 〈u|y〉.

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Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

Wir kommen jetzt zu einigen theoretischen Tatsachen, die uns letztlich auch die Be-handlung interessanterer Beispiele erlauben werden. Beachte das wir bisher nur vonder

”Differenzierbarkeit“ der Funktion f im Punkt x0 sprechen, nicht aber von der

entsprechenden Ableitung. Diese soll die lineare Abbildung T in der Definition derDifferenzierbarkeit sein, wir wissen aber bisher noch nicht ob diese eindeutig festgelegtist. All dies wird im folgenden Lemma geklart.

Lemma 5.3: Seien n ∈ N mit n ≥ 1, U ⊆ Rn offen und f : U → Rm eine in einemPunkt x ∈ U differenzierbare Funktion. Dann gelten:

(a) Die Funktion f ist in x auch stetig.

(b) Es gibt genau eine lineare Abbildung T =: f ′(x) : Rn → Rm mit

limh→0

||f(x + h)− f(x)− Th||||h||

= 0.

(c) Fur jeden Vektor v ∈ Rn existiert die Richtungsableitung von f in Richtung v imPunkt x und es ist ∂vf(x) = f ′(x)v.

Beweis: Es gibt eine lineare Abbildung T : Rn → Rm so, dass fur alle h ∈ Rn mitx + h ∈ U stets

f(x + h) = f(x) + Th + τ(h) mit limh→0

||τ(h)||||h||

= 0 gilt.

(a) Wegen

limh→0

||τ(h)|| = limh→0

||τ(h)||||h||

· ||h|| = 0 ist limh→0

τ(h) = 0.

Da die lineare Abbildung T : Rn → Rm stetig ist (jede Komponente von T ist ja einelineare Formel in x1, . . . , xn), folgt somit auch

limh→0

f(x + h) = limh→0

(f(x) + Th + τ(h)) = f(x),

d.h. f ist in x stetig.(c) Sei 0 6= v ∈ Rn. Dann gibt es ein ε > 0 mit x + tv ∈ U fur alle t ∈ (−ε, ε) und furjedes t ∈ (−ε, ε) ist

f(x+tv) =f(x)+T (tv)+τ(tv) =f(x)+tTv+τ(tv),undf(x + tv)− f(x)

t= Tv+

τ(tv)

t.

Dabei gilt

limt→0

∣∣∣∣∣∣∣∣τ(tv)

t

∣∣∣∣∣∣∣∣ = limt→0

||τ(tv)||||tv||

· ||v|| = limh→0

||τ(h)||||h||

· ||v|| = 0,

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Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

und somit ist

∂vf(x) = limt→0

f(x + tv)− f(x)

t= lim

t→0

(Tv +

τ(tv)

t

)= Tv.

(b) Klar nach (c).

Die in Teil (a) des Beweises verwendete Stetigkeit linearer Abbildungen T : Rn → Rm

kann man naturlich auch direkter einsehen, tatsachlich ist sogar jede lineare AbbildungT : Rn → E in einen beliebigen normierten Raum E stetig. Setzen wir namlich

C := ||Te1||+ · · ·+ ||Ten|| ≥ 0,

so gilt fur jedes x ∈ Rn stets

||Tx|| =∣∣∣∣∣∣∣∣ n∑

i=1

xiTei

∣∣∣∣∣∣∣∣ ≤ n∑i=1

|xi| · ||Tei|| ≤

(n∑

i=1

||Tei||

)||x||∞ = C||x||∞,

und nach §3.Lemma 15 ist T stetig.Wir werden die Ableitung f ′(x) einer Funktion f in einem Punkt x jetzt als eine

lineare Abbildung f ′(x) : Rn → Rm definieren. Dass die Ableitung von f in x da-mit selbst eine Funktion ist, fuhrt zu einigen Schreibweisen die zunachst ungewohntausschauen. Beispielsweise wird ein Ausdruck f ′(x)(u) bedeuten

”Wende die lineare

Abbildung f ′(x) : Rn → Rm auf den Vektor u ∈ Rn an“. Da bei der Anwendunglinearer Abbildungen die Klammern um das Argument meistens weggelassen werden,werden wir dies oft auch in der kurzeren Form f ′(x)u = f ′(x)(u) schreiben. Unsereoben behandelten Beispiele konnen wir in dieser Notation auch in der folgenden Formschreiben:

1. Ist f : U → Rm konstant, so ist f ′(x) = 0 fur jedes x ∈ U .

2. Ist f : R2 → R; (x, y) 7→ xy die Multiplikation, so gilt

f ′(x, y)(u, v) = xv + yu

fur alle x, y, u, v ∈ R.

3. Ist f : Rn → Rm linear, so gilt f ′(x) = f fur jedes x ∈ Rn.

4. Ist µ : Rp×q × Rq×r → Rp×r; (A, B) 7→ AB die Matrixmultiplikation, so gilt

µ′(A, B)(X, Y ) = AY + XB

fur alle A, X ∈ Rp×q, B, Y ∈ Rq×r.

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Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

Erinnern wir uns daran das wir in I.§12.2 eingesehen hatten, dass man jede lineareAbbildung Rn → Rm auch als eine m × n-Matrix interpretieren kann, so konnen wiruns auch die Ableitung f ′(x) als eine solche m × n-Matrix denken, dies ist dann diegleich zu definierende Jacobi-Matrix.

Definition 5.4 (Die Jacobi-Matrix)Seien n, m ∈ N mit n, m ≥ 1, U ⊆ Rn offen und f : U → Rm eine in einem Punktx ∈ U differenzierbare Funktion. Dann ist die lineare Abbildung T : Rn → Rm mit

limh→0

||f(x + h)− f(x)− Th||||h||

= 0

eindeutig bestimmt, und heißt die Ableitung, oder totale Ableitung, von f in x, ge-schrieben als f ′(x). Weiter gibt es nach I.§12.2 eine eindeutig bestimmte m×n-MatrixJ mit

f ′(x)h = Jh

fur jedes h ∈ Rn genannt die Jacobi-Matrix von f in x. Auch fur die Jacobi-Matrixverwenden wir das Symbol f ′(x).

Als nachsten Schritt wollen wir die Jacobi-Matrix explizit berechnen. Erinnern Siesich hierzu daran, dass die Matrix A = (aij)1≤i≤m,1≤j≤n einer linearen Abbildung T :Rn → Rm durch die Bedingungen

Tej =m∑

i=1

aijei

fur 1 ≤ j ≤ n festgelegt ist, d.h. die Spalten von A sind die Bilder der Standardbasisunter T .

Lemma 5.4 (Bestimmung der Jacobi-Matrix)Seien n, m ∈ N mit n, m ≥ 1, U ⊆ Rn offen und f : U → Rm eine in einem Punktx ∈ U differenzierbare Abbildung. Dann existieren in x auch samtliche partiellen Ab-leitungen der Komponenten von f und die Jacobi-Matrix f ′(x) ∈ Rm×n ist gegebenals

f ′(x) =

∂f1

∂x1(x) · · · ∂f1

∂xn(x)

.... . .

...∂fm

∂x1(x) · · · ∂fm

∂xn(x)

.

Beweis: Nach Lemma 3.(c) existiert fur jedes 1 ≤ j ≤ n die Richtungsableitung

∂f

∂xj

(x) = ∂ej(f)(x) = f ′(x)ej,

d.h. die Spalten der Jacobi-Matrix sind die partiellen Ableitungen von f in x wiebehauptet.

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Mit dieser Beobachtung stehen wir kurz davor die Ableitung auch kompliziertererFunktionen ausrechnen zu konnen. Eine wichtige Zutat fehlt uns allerdings noch, wirhaben noch kein vernunftiges Kriterium die Differenzierbarkeit einer Funktion f nach-zuweisen. Prinzipiell konnten wir naturlich hierzu die Definition verwenden, diese laßtsich allerdings oft nicht direkt nachweisen. Wie sich herausstellt sind Funktionen derensamtliche Komponenten durch Formeln in den Grundfunktionen gegeben sind immerdifferenzierbar. Fur partielle Ableitungen wissen wir dies schon, und das folgende Lem-ma erlaubt es uns diese Tatsache auf die allgemeine Differenzierbarkeit auszudehnen.

Lemma 5.5 (Hinreichendes Kriterium fur Differenzierbarkeit)Seien n, m ∈ N mit n, m ≥ 1, U ⊆ Rn offen und f : U → Rm eine Funktion, derensamtliche partielle Ableitungen ∂fj/∂xi fur 1 ≤ j ≤ m, 1 ≤ i ≤ n in ganz U existieren.Weiter sei x ∈ U und die partiellen Ableitungen ∂fj/∂xi seien fur alle 1 ≤ j ≤ m,1 ≤ i ≤ n in x stetig. Dann ist f in x auch differenzierbar.

Beweis: Wir konnen m = 1 annehmen und verwenden auf dem Rn die Norm || ||∞.Sei ε > 0 gegeben. Da U offen ist und die partiellen Ableitungen von f in x alle stetigsind, gibt es ein δ > 0 mit Bδ(x) ⊆ U und∣∣∣∣ ∂f

∂xi

(y)− ∂f

∂xi

(x)

∣∣∣∣ < ε

n

fur alle y ∈ Rn mit ||y − x||∞ < δ. Sei 0 6= h ∈ Rn mit ||h||∞ < δ. Dann schreiben wir

f(x + h)− f(x) =n∑

i=1

[f

(x +

i∑j=1

hjej

)− f

(x +

i−1∑j=1

hjej

)],

und fur jedes 1 ≤ i ≤ n existiert nach dem Mittelwertsatz ein ξi ∈ (0, 1) mit

f

(x +

i∑j=1

hjej

)− f

(x +

i−1∑j=1

hjej

)=

∂f

∂xi

(x +

i−1∑j=1

hjej + ξihiei

)hi.

Es folgt

f(x + h)− f(x)−n∑

i=1

∂f

∂xi

(x)hi =n∑

i=1

[∂f

∂xi

(x +

i−1∑j=1

hjej + ξihiei

)− ∂f

∂xi

(x)

]· hi,

und fur jedes 1 ≤ i ≤ n gilt dabei wegen∣∣∣∣∣∣∣∣(

x +i−1∑j=1

hjej + ξihiei

)− x

∣∣∣∣∣∣∣∣∞

= max{|h1|, . . . , |hi−1|, ξi|hi|} ≤ ||h||∞ < δ

stets ∣∣∣∣∣ ∂f

∂xi

(x +

i−1∑j=1

hjej + ξihiei

)− ∂f

∂xi

(x)

∣∣∣∣∣ < ε

n.

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Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

Insgesamt ist ∣∣∣∣∣f(x + h)− f(x)−n∑

i=1

∂f

∂xi

(x)hi

∣∣∣∣∣ <n∑

i=1

ε

n|hi| ≤ ε||h||∞,

und somit ∣∣∣∣f(x + h)− f(x)−n∑

i=1

∂f∂xi

(x)hi

∣∣∣∣||h||∞

< ε.

Dies beweist die Differenzierbarkeit von f in x.

Beachte das die Existenz der partiellen Ableitungen auf ganz U eigentlich nicht ge-braucht wird, es reicht diese in einer kleinen Umgebung von x vorauszusetzen. Istnamlich V ⊆ Rn eine weitere offene Menge mit x ∈ V ⊆ U , so ist eine Funktionf : U → Rm genau dann in x differenzierbar wenn die Einschrankung f |V auf V diesist, und in diesem Fall gilt (f |V )′(x) = f ′(x). Dies ist klar, da die entsprechende Aus-sage fur Funktionsgrenzwerte wahr ist. Man sagt hierzu auch, dass Differenzierbarkeitund die Ableitung lokale Begriffe sind.

Ausgerustet mit unserem Kriterium konnen wir weitere Beispiele behandeln. Seietwa

f : R3 → R3;

xyz

7→

sin x+y1+z2

sin(xyz)− cos(2z)x cos(y)

.

Die partiellen Ableitungen sind dann

∂f1

∂x= cos x

1+z2 ,∂f1

∂y= 1

1+z2 ,∂f1

∂z= −2(sin x+y)z

(1+z2)2,

∂f2

∂x= yz cos(xyz), ∂f2

∂y= xz cos(xyz), ∂f2

∂z= xy cos(xyz) + 2 sin(2z),

∂f3

∂x= cos y, ∂f3

∂y= −x sin y, ∂f3

∂z= 0.

Diese sind allesamt stetig, und als totale Ableitung erhalten wir

f ′(x, y, z) =

cos x1+z2

11+z2 −2(sin x+y)z

(1+z2)2

yz cos(xyz) xz cos(xyz) xy cos(xyz) + 2 sin(2z)cos y x sin y 0

.

Mit derselben Argumentation sind wie schon bemerkt alle durch Formeln in den Grund-funktionen definierten Funktionen differenzierbar. Als zweites Beispiel nehmen wir dieDeterminante

det : Rn×n → R.

Diese ist durch die Leibniz-Formel

det(x) =∑π∈Sn

(−1)πx1π(1) · . . . · xnπ(n)

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Mathematik fur die Physik II, SS 2019 Mittwoch 19.6

gegeben und somit uberall differenzierbar. Die Ableitung in der Einheitsmatrix berech-net sich als

det ′(1)A = ∂A det(1) = tr(A)

fur jede n× n-Matrix A, d.h.det ′(1) = tr .

Wir wollen noch eine weitere Anmerkung zur Jacobi-Matrix machen. Angenommen wirhaben ein offenes Intervall I ⊆ R und eine Kurve f : I → Rn. Dann konnen wir die Ab-leitung f ′(t) einmal wie im vorigen Abschnitt als Tangentialvektor interpretieren, oderalternativ als lineare Abbildung R → Rn. Wir hangen diese beiden nun zusammen?Der Satz uber die Jacobi-Matrix sagt das die Jacobi-Matrix gleich dem Tangentialvek-tor ist, und damit ist f ′(t) als lineare Abbildung einfach die Multiplikation mit demTangentialvektor. Umgekehrt ist der Tangentialvektor dann auch gleich der totalenAbleitung angewandt auf 1, d.h.

f ′(t)︸︷︷︸als Tangentialvektor

= f ′(t)(1)︸ ︷︷ ︸als totale Ableitung

.

Wir wollen auch noch eine weitere Folgerung aus Lemma 5 festhalten.

Definition 5.5 (Differenzierbarkeit und stetige Differenzierbarkeit)Seien n, m ∈ N mit n, m ≥ 1, U ⊆ Rn offen und f : U → Rm eine Funktion. Dannheißt f differenzierbar wenn f in jedem Punkt x ∈ U differenzierbar ist und f heißtstetig differenzierbar wenn zusatzlich die Ableitung

f ′ : U → Rm×n

stetig ist.

Dabei fassen wir f ′(x) als die Jacobi-Matrix auf. Da eine Abbildung in einen Rd

genau dann stetig ist wenn samtliche Komponentenfunktionen stetig sind, und dieKomponenten der Jacobi-Matrix nach Lemma 4 genau die partiellen Ableitungen sind,ergibt sich mit Lemma 5 auch

f : U → Rm ist stetig differenzierbar ⇐⇒

Fur alle 1 ≤ i ≤ n, 1 ≤ j ≤ mexistiert die partielle Ableitung∂fj

∂xiin U und ist stetig.

17-11