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Die „Bosheit“ der Russen 195 EKATERINA POLJAKOVA DIE „BOSHEIT“ DER RUSSEN NIETZSCHES DEUTUNG RUSSLANDS IN DER PERSPEKTIVE RUSSISCHER MORALPHILOSOPHIE 1  Abstract:  Ausgehend von zwei Aphorismen Nietzsches aus der Götzen-Dämmerung  und einer Nach- lass-Notiz zur „Bosheit“ der Russen stellt die Abhandlung Nietzsches Moralkritik der russi- schen gegenüber, der Kritik Dostojewskis und Tolstojs an der ‚westeuropäischen‘ ‚vernünftigen‘ Moral, die wiederum aus Nietzsches Genealogie der Gegensätze der Werte, seiner Deutung der Moral ‚unter der Optik des Künstlers‘ und der Musik als ‚Vorgeschichte‘ der Moral interpretiert  wird. Aus Nietzsches Sicht auf Russland einerseits und der russischen Deutung Nietzsches als dem ‚Russen‘ unter den ‚westlichen‘ Philosophen andererseits erschließt sich der ‚gute‘ Sinn von Nietzsches Aphorismus – und werden die Berührungs- und Reibungspunkte der ‚westlichen‘ und der russischen philosophischen Traditionen sichtbar. Keywords:  Moralkritik, Nietzsche, russische Philosophie, Wahrheitsbegriff, freier Wille  Abstract:  The article focuses on two of Nietzsche’s aphorisms from Twilight of the Idols  and an unpub- lished note where the “evil” of Russians is mentioned. Two critical points are juxtaposed: Nietzsche’s critique of morals and Russian critique of the ‘western’ ‘reasonable’ morality by Dos- toevsky and Tolstoy. The latter in its turn is to be interpreted in the context of Nietzsche’s genea- logical analysis of the oppositions of values, his view on morals ‘in the perspective of the artist’ and on music as ‘prehistory’ of morals. The research aims at demonstrating the ‘good’ sense of Nietzsche’s aphorisms about Russians, as well as the points of accordance and misunderstanding between Nietzsche’s concept of Russia, on the one hand, and the Russian reception of Nietzsche as a ‘Russian’ among ‘western’ philosophers, on the other. Keywords:  Critique of morals, Nietzsche, Russian philosophy, truth, free will „Böse Menschen haben keine Lieder.“ – Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben? (GD, Sprüche und Pfeile 22, KSA 6, S. 62) So überrascht Nietzsche seinen Leser mit einem Spruch, ohne weitere Erklä- rungen dazu zu geben, als ob es selbstverständlich wäre, dass zwischen der Be- hauptung von Johann Gottfried Seume, auf den das Zitat zurückgeht: 1 Der Text wurde als Vortrag an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Instituts für Philosophie, des Graduiertenkollegs und des Insti- tuts für Slawistik am 18. Mai 2004 präsentiert, während eines Forschungsaufenthalts, der durch das Akademische Auslandsamt der Universität Greifswald und die Trebuth-Stiftung im Stifter-  verband für die deutsche Wissenschaft ermöglicht wurde.

7 - Ekaterina Poljakova - Die „Bosheit“ Der Russen

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7 - Ekaterina Poljakova - Die „Bosheit“ Der Russen

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  • Die Bosheit der Russen 195

    EKATERINA POLJAKOVA

    DIE BOSHEIT DER RUSSENNIETZSCHES DEUTUNG RUSSLANDS IN DER PERSPEKTIVE

    RUSSISCHER MORALPHILOSOPHIE1

    Abstract: Ausgehend von zwei Aphorismen Nietzsches aus der Gtzen-Dmmerung und einer Nach-lass-Notiz zur Bosheit der Russen stellt die Abhandlung Nietzsches Moralkritik der russi-schen gegenber, der Kritik Dostojewskis und Tolstojs an der westeuropischen vernnftigenMoral, die wiederum aus Nietzsches Genealogie der Gegenstze der Werte, seiner Deutung derMoral unter der Optik des Knstlers und der Musik als Vorgeschichte der Moral interpretiertwird. Aus Nietzsches Sicht auf Russland einerseits und der russischen Deutung Nietzsches alsdem Russen unter den westlichen Philosophen andererseits erschliet sich der gute Sinn vonNietzsches Aphorismus und werden die Berhrungs- und Reibungspunkte der westlichenund der russischen philosophischen Traditionen sichtbar.

    Keywords: Moralkritik, Nietzsche, russische Philosophie, Wahrheitsbegriff, freier Wille

    Abstract: The article focuses on two of Nietzsches aphorisms from Twilight of the Idols and an unpub-lished note where the evil of Russians is mentioned. Two critical points are juxtaposed:Nietzsches critique of morals and Russian critique of the western reasonable morality by Dos-toevsky and Tolstoy. The latter in its turn is to be interpreted in the context of Nietzsches genea-logical analysis of the oppositions of values, his view on morals in the perspective of the artistand on music as prehistory of morals. The research aims at demonstrating the good sense ofNietzsches aphorisms about Russians, as well as the points of accordance and misunderstandingbetween Nietzsches concept of Russia, on the one hand, and the Russian reception of Nietzscheas a Russian among western philosophers, on the other.

    Keywords: Critique of morals, Nietzsche, Russian philosophy, truth, free will

    Bse Menschen haben keine Lieder. Wie kommt es, dass die Russen Liederhaben? (GD, Sprche und Pfeile 22, KSA 6, S. 62)

    So berrascht Nietzsche seinen Leser mit einem Spruch, ohne weitere Erkl-rungen dazu zu geben, als ob es selbstverstndlich wre, dass zwischen der Be-hauptung von Johann Gottfried Seume, auf den das Zitat zurckgeht:

    1 Der Text wurde als Vortrag an der Ernst-Moritz-Arndt Universitt Greifswald im Rahmen einergemeinsamen Veranstaltung des Instituts fr Philosophie, des Graduiertenkollegs und des Insti-tuts fr Slawistik am 18. Mai 2004 prsentiert, whrend eines Forschungsaufenthalts, der durchdas Akademische Auslandsamt der Universitt Greifswald und die Trebuth-Stiftung im Stifter-verband fr die deutsche Wissenschaft ermglicht wurde.

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    Wo man singet, la dich ruhig nieder,Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;Wo man singet wird kein Mensch beraubt:Bsewichte haben keine Lieder.2

    und der Tatsache, dass die Russen Lieder haben, ein offener Widerspruch be-steht. Warum sollen die Russen bse Menschen sein? Diese Frage entsteht so-fort als Irritation, und darauf wird offensichtlich gezielt. Eine ausfhrlichereDarstellung des Gedankens findet man in Nietzsches Nachlass aus dieser Zeit:

    Die russische Musik bringt mit einer rhrenden Einfalt die Seele des moujik, desniederen Volks ans Licht. Nichts redet mehr zu Herzen als ihre heiteren Weisen, dieallesamt traurige Weisen sind. Ich wrde das Glck des ganzen Westens eintauschengegen die russische Art, traurig zu sein. Aber wie kommt es, da die herrschendenClassen Rulands nicht in seiner Musik vertreten sind? Gengt es zu sagen bseMenschen haben keine Lieder? (Nachla 1888/1889, KSA 13, 18[9])

    Hier liegt ein gutes Beispiel vor, wie sich die nachgelassenen Fragmente beiNietzsche von dem unterscheiden, was er selbst zur Verffentlichung bestimmthat.3 Die Akzente sind anders gesetzt. Der dichterische Spruch wird als ffent-liche und nicht zuverlssige Meinung in Zweifel gezogen und dennoch nichtganz abgewiesen. Das heit: Es ist eine zwar nicht ganz falsche, aber doch un-zureichende Erklrung, zu sagen, dass die Russen bse Menschen sind. WennNietzsche die traurige russische Musik der Musik des ganzen Westens entge-gensetzt, ist ein groes Thema angesprochen, das beim spteren Nietzsche im-mer wieder auftaucht: die traurige Musik, die Musik, die zugleich heiter und trau-rig zu sein wei. Was Nietzsche aber mit dem Satz meint, dass die herrschendenKlassen Russlands in der Musik nicht vertreten sind, bleibt unklar, zumal diezweite Hlfte des 19. Jahrhunderts gerade die Bltezeit der russischen klassi-schen Musik auch in den herrschenden Klassen ist.

    Die Nachla-Notiz kann uns also einerseits fr die Deutung des Spruchesaus der Gtzen-Dmmerung einen Hinweis geben: Die Behauptung, dass dieBsewichte keine Lieder haben, ist zwar nicht vllig falsch, aber sie gengtnicht. Andererseits bringt sie noch mehr Anspielungen hinein, die ihrerseits derInterpretation bedrfen. Nietzsche hat offensichtlich die verffentlichte Formdes Spruches vorgezogen, die die Paradoxie zuspitzt. Die dichterische Behaup-tung wird als Ausgangspunkt der berlegung dargestellt: fr bse Menschen istes unmglich, Lieder zu haben. Nietzsches eigener Ausgangspunkt erscheint da-bei als selbstverstndlich: Dass die Russen bse Menschen sind, obwohl sie doch

    2 Johann Gottfried Seume, Werke in zwei Bnden, Frankfurt am Main 1993, Bd. 2, S. 502.3 Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Philosophie der Kunst und seine Kunst der Philosophie. Zur

    aktuellen Forschung und Forschungsmethodik, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 348374,hier S. 351f.

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    Lieder haben, wird nicht diskutiert. Der allgemeine Anspruch des ersten Satzeswird so durch den irritierenden zweiten in Frage gestellt.

    Warum sind die Russen nun bse Menschen? Was hat die Bosheit mit derMusik, mit Liedern zu tun? Welche Zusammenhnge werden ausgespart und alsselbstverstndlich vorausgesetzt? Der Ansto zum Nachdenken, den der Leserdurch Nietzsches Aphorismus erhlt, wirkt vor allem desorientierend: Man weinicht mehr, was man unter den Wrtern verstehen soll, man wei auch nicht,worauf der Autor selbst hinauswill. Es wre dennoch einem philosophischenText angemessen zu vermuten, dass er in sich selbst konsequent ist und gewisseZiele verfolgt, die vielleicht lediglich nicht klar sind, wenn man ihn fr wider-sprchlich und inhaltslos erklrt. Versuchen wir also, diesen Spruch in denKontext von Nietzsches Deutung Russlands und seines Gebrauchs des starkmoralisch geprgten Begriffs der Bosheit zu stellen, um die mglichen Zusam-menhnge zwischen beiden herauszufinden. Es ist unsere Hypothese, dass mitdieser provozierenden Aussage etwas gemeint ist, was den grundlegenden Un-terschied zwischen der abendlndischen und der russischen Kultur aufzeigenoder, um es mit Nietzsche zu sagen, errathen lassen soll.

    Einen Hinweis darauf gibt ein anderer Aphorismus aus der Gtzen-Dmme-rung, der berschrieben ist Kritik der Modernitt. Es geht dort um die Diffe-renz zwischen Russland und dem Westen, diesmal jedoch nicht in der Musik,sondern in der Bosheit:

    Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, anti-liberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autoritt, zur Verantwortlichkeitauf Jahrhunderte hinaus, zur Sol idar i t t von Geschlechter-Ketten vorwrts undrckwrts in infinitum. Ist dieser Wille da, so grndet sich Etwas wie das imperiumRomanum: oder wie Russland, die e inz ige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, diewarten kann, die Etwas noch versprechen kann, Russland der Gegensatz-Begriff zuder erbrmlichen europischen Kleinstaaterei und Nervositt, die mit der Grndungdes deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist (GD, Streifzgeeines Unzeitgemen 39, KSA 6, S. 140141)

    Die Bosheit wird hier als etwas hchst Positives betrachtet. Aus dem Kon-text kann man ersehen: Die Definition der Russen als bser Menschen impliziertdie Umkehrung es sollen nicht die Russen durch ihre Bosheit, sondern viel-leicht umgekehrt die Bosheit durch die Russen definiert werden. Der morali-sche Sinn des zu Beginn zitierten Spruchs wird dadurch nicht blo widerlegt, eswird ihm auch der allgemeine Anspruch aberkannt. Vielleicht gibt es eine Artvon Bosheit, die noch nicht in Betracht gezogen wurde, die gar nicht der musi-kalischen Begabung widerspricht? Vielleicht sie umgekehrt sogar frdert? Zufragen wre dann nicht mehr, warum die Russen bse Menschen sind, sondernwas es in diesem Fall bedeutet, bse zu sein. Was ist diese Bosheit, fr die Russenvielleicht nur ein Beispiel sind?

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    Ein Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, wird uns tief in denKern von Nietzsches Philosophie fhren. Sie betrifft vor allem Nietzsches Fragenach der Relevanz der Gegenstze der Werte, nach den Entstehungs- und Unter-gangsprozessen der europischen Moral, nach ihren genealogischen Hintergrn-den, die sich u.a. in der Kunst zeigen, nach dem Verhltnis zwischen Musik undDenken, Musik und Moral, tragischer Kunst und Philosophie. Alle diese Fragenknnen jetzt nur insoweit angesprochen werden, als sie Nietzsches DeutungRusslands betreffen. Deswegen ist es angebracht, mit der Bosheit anzufangen.

    Die Bosheit und die Musik unter der Optik der Genealogie der Moral

    Eine ausfhrliche Darstellung des Begriffs gibt Nietzsche in der I. Abhand-lung der Genealogie der Moral mit dem Titel Gut und Bse, Gut und schlecht.Man darf hier jedoch keine schlichte Definition erwarten, denn alle Begriffe,in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich derDefinition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat (GM II 13, KSA 5,S. 317). In der Genealogie der Moral beschreibt Nietzsche die Entstehung der Be-griffe und Gegenstze auseinander. Fr sie ist keine Beschreibung ausreichend.Es handelt sich nicht nur um eine historische Entwicklung, sondern um einenvielschichtigen semiotischen Prozess, der durch den Kampf verschiedenerKrfte gekennzeichnet ist, die ihrerseits einmal als lebensfeindlich, einmal als le-bensfrdernd angesehen werden knnen.4 Wie sie jeweils eingeschtzt werden,hngt auch von der jeweiligen Interpretations-Perspektive ab: Es giebt nur einperspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches Erkennen; und je mehr Af-fekte wir ber eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, ver-schiedne Augen wir uns fr dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollstn-diger wird unser Begriff dieser Sache, unsre Objektivitt sein. (GM III 12,KSA 5, S. 365). Das Wort Begriff steht bei Nietzsche wie das Wort Objekti-vitt in Anfhrungszeichen: wie viele Augen man auch haben mag, es werdennie genug sein.

    Dennoch ist es mglich und im Kampf gegen absolute Ansprche der Moralauch ntzlich, die Gegenstze der Werte aus der Perspektive ihrer Entstehungs-geschichte darzustellen um Zusammenhnge aufzuzeigen, die sonst nicht zusehen sind. So kommt die erste Opposition gut und schlecht nach Nietzscheaus der Unterscheidung zwischen dem Vornehmen, Mchtigen, Hhergestell-ten und Hochgesinnten und dem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinenund Pbelhaften (GM I 2, KSA 5, S. 259). Diese Gegenberstellung ist von der

    4 Zu Nietzsches genealogischer Methode vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Mo-ral, Darmstadt 1994, S. 6093.

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    spteren Moral deutlich zu unterscheiden. In ihr wird sich die Opposition in eineandere verwandeln, da die, die als schlechte oder, der Nietzscheschen Etymo-logie folgend, als schlichte bezeichnet wurden, eine andere Opposition in sieeinfhren: gut und bse. Durch diese Begriffs-Verwandlung (GM I 4, KSA 5,S. 261) oder -Umwertung wird die erste Opposition verkehrt: die Schlechtender ersten Opposition werden zu Guten, die Guten zu Bsen.

    Dies ist aber nur die Oberflche des Nietzscheschen Textes. Die schlichteBehauptung, die Bsen seien gerade die vornehmen Menschen und die Gutender Pbel, wre nur eine bloe Umkehrung und als solche nach Nietzsche eineVereinfachung und Nivellierung des Problems. Es wre ein neuer Anspruch aufallgemeine Gltigkeit und Eindeutigkeit des, nun zwar umgekehrten, morali-schen Urteils. Die Umkehrung ist noch keine Widerlegung. Der Prozess, der sobeschrieben wird, muss dagegen als semiotischer Prozess, als Oberflche desmannigfaltigen Spiels mehrerer Krfte, als ihr Kampf um Durchsetzung undHerrschaft verstanden und dargestellt werden.

    Die zweite Opposition, sagt Nietzsche, sei durch die priesterliche Kasteeingefhrt worden, die das asketische Ideal hervorgebracht habe, in dem sich derGeist des Hasses der Ohnmchtigen ausspreche. Hten wir uns aber auch hiervor voreiligen Einschtzungen:

    Bei den Priestern wird eben Al les gefhrlicher, nicht nur Kurmittel und Heilknste,sondern auch Hochmuth, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht,Tugend, Krankheit; mit einiger Billigkeit liesse sich allerdings auch hinzufgen, dasserst auf dem Boden dieser wesent l ich gefhr l ichen Daseinsform des Menschen,der priesterlichen, der Mensch berhaupt e in interessantes Thier geworden ist,dass erst hier die menschliche Seele in einem hheren Sinne Tiefe bekommen hatund bse geworden ist und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigenberlegenheit des Menschen ber sonstiges Gethier! (GM I 6, KSA 5, S. 266)

    Gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt berhaupt aller brige Geist kaumin Betracht. Die menschliche Geschichte wre eine gar zu dumme Sache ohne denGeist, der von den Ohnmchtigen her in sie gekommen ist (GM I 7, KSA 5, S. 267)

    Erst durch die priesterliche Kaste, durch die Umwertung des Guten, dieUnterscheidung von Gut und Bse, kam die Bosheit als schaffende, als heraus-fordernde Kraft zum Vorschein. Der Mensch ist durch sie zum bsen und tiefenTier geworden, das sich eben dadurch von anderen Tieren unterscheidet. Kurz:Der Mensch ist durch sie zum Menschen geworden. Man greift in der Genealo-gie der moralischen Werte immer zu kurz, wenn man eine der kmpfenden Krf-te als absolut negative oder positive Kraft betrachtet. Beide waren fr den Wer-densprozess, fr die Entwicklung der europischen Kultur notwendig, derenAnfang mit der Unterscheidung, mit der Polarisierung der Werte, mit demKampf um die moralische berlegenheit und den Sieg eigener moralischerWerte zusammenfllt.

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    Ohne weiter auf Nietzsches genealogische Methode einzugehen, kann manvermuten, dass es bei dieser Perspektivierung nicht bleibt. Auch die Bosheitder Priester ist vieldeutig. Sie kann als der Wille zum Nichts, zum Nirwana, alseuropische Form des Buddhismus, als Nein-thun (Nachla 1886/1887,KSA 12, 5[71], S. 216) wirken, aber sie ist auch eine Vertiefung des Menschen alsdes wertschaffenden, distanzschaffenden Subjekts, als des Wertenden.5 Erst ausdiesem Pathos der Distanz (GM I 2, KSA 5, S. 259), aus dem die Gegenstzeder Werte erst erschaffen wurden, wird die Bezeichnung der bse Menschselbst mglich. Diese Bezeichnung kann ihrerseits als Zeichen tiefster Bosheitverstanden werden. Zum bsen Tier wird der Mensch aus der Perspektive dergrundlegenden Bewertung, der Entgegensetzung der Werte, aus der Perspektivedes moralschaffenden Subjekts. Die Bosheit ist also der genealogische Hinter-grund der Moral.

    Die Genealogie sucht also nicht nur nach einem Anfang, aus dem die mora-lischen Werte entstanden sind, oder nach der quasi richtigen, ursprnglichenBedeutung der Wrter, sondern sie zeigt vielmehr, dass die vielseitigen Zusam-menhnge, aus denen sie geboren sind, sich nicht eindeutig interpretieren lassen.Die Gegenstzlichkeit der Werte lsst sich angesichts ihrer Genealogie nicht hal-ten. Man kann nur versuchen, den Punkt ihrer Gegenberstellung aufzuzeigen,wo sie unseren gelufigen Vorstellungen nicht entsprechen, um dadurch ihreSelbstverstndlichkeit zu deplausibilisieren. Diesem Zustand des Noch-nicht-starr-Werdens, Noch-nicht-plausibel-Seins der europischen Moral entsprichtvor allem fr den jngeren Nietzsche die Musik.

    Die Entgegensetzung der Kunst und der Moral, des intuitiven und des theo-retischen Menschen findet man in den frheren Werken Nietzsches in derGeburt der Tragdie und in ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne.6 DieseGegenstze wurden spter von Nietzsche selbst im Sinne der Genealogie umge-deutet.7 Und schon in der Geburt der Tragdie lassen sie sich nicht konsequent

    5 Zu Nietzsches Methode, die Eindeutigkeit in der Einschtzung der kmpfenden Krfte zu ver-meiden, vgl. Marco Brusotti, Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose. Activ und reactiv inNietzsches Genealogie der Moral, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 107132.

    6 Zu diesem umfassenden Thema bei Nietzsche vgl. v.a. Volker Gerhardt, Von der sthetischenMetaphysik zur Psychologie der Kunst, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 374393; TheoMeyer, Nietzsche und die Kunst, Tbingen 1993; Tilman Borsche / Federico Gerratana / AldoVenturelli (Hg.), Centauren-Geburten: Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungenNietzsche, Berlin / New York 1994; Roland Duhamel / Erik Oger (Hg.), Die Kunst der Spracheund die Sprache der Kunst, Wrzburg 1994; Florian Roth, Die absolute Freiheit des Schaffens,in: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 87106; James I. Porter, The Invention of Dionysos. An Es-say on The Birth of Tragedy, Standford 2000; Enrico Mller, Aesthetische Lust und Diony-sische Weisheit. Nietzsches Deutung der griechischen Tragdie, in: Nietzsche-Studien 31(2002), S. 134153; Wiebrecht Ries, Nietzsche zur Einfhrung, 7. Aufl. Hamburg 2004.

    7 Die Geburt der Tragdie war meine erste Umwerthung aller Werthe (GD, Was ich den Altenverdanke 5, KSA 6, S. 160).

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    durchhalten. Wenn sich etwas der Moral entgegensetzen knnte, wre es diespontane Kraft des Dionysischen, in dem es noch keine Trennung, keine Gegen-stze der Werte gibt, das noch nichts mit der Rationalisierung und Polarisierungder Werte zu tun hat. Das Dionysische erweist sich aber als unerreichbare Quellegerade fr die Kunst, da das sthetische notwendig eine Grenzziehung und Dis-tanzschaffung voraussetzt. Der Verrat an der dionysischen Quelle der Kunst hatlange vor Sokrates begonnen.8 In diesem Zusammenhang nun weist Nietzscheden Volksliedern eine besondere Stelle unter den Kunstwerken zu:

    Was aber ist das Volkslied im Gegensatz zu dem vllig apollinischen Epos? Was an-ders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und des Dio-nysischen; seine ungeheure, ber alle Vlker sich erstreckende und in immer neuenGeburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafr, wie stark jenerknstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volks-lied hinterlsst, wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musikverewigen. (GT 6, KSA 1, S. 48)

    Die Volkslieder lassen also den dionysischen Hintergrund noch erraten.Zwar tragen auch sie nur Spuren des knstlerischen Doppeltriebs und Zei-chen des genealogischen Hintergrunds der Kunst, wo es noch keine Kunst, nochkein sthetisches Phnomen gab. Aber sie knnen doch noch die orgiastischenBewegungen eines Volkes, die Musik des Vergessens (FW 367),9 eine Ver-schmelzung des Knstlers mit seinem Kunstwerk zum Ausdruck bringen (GT 1,KSA 1, S. 30). Da die dionysischen Quellen auch fr die Musik unerreichbarsind (das eben ist der Geist der Musik, aus dem sie entsteht), da die Musik alsKunst sich immer schon der Herrschaft des Theaters unterworfen findet,10 kannsie nicht als Gegenmittel der Moral entgegengesetzt werden. In Genealogie derMoral kommt Nietzsche auf diese Frage, indem er das asketische Ideal undvor allem dessen Sieg in der Kunst und Philosophie genealogisch untersucht.11

    Die Musik steht der Moral nicht unbedingt entgegen, wie, laut der Genealogie derMoral, die Sinnlichkeit nicht unbedingt der Keuschheit, dem asketischen Idealentgegensteht. Sie bleibt aber auch beim spteren Nietzsche eine immer noch

    8 Dies behandele ich in: Verf., sthetische Vollendung. Zur philosophischen sthetik Nietz-sches und Bachtins, in: Nietzsche-Studien 33 (2004), S. 205236, bes. S. 210216.

    9 Zu Nietzsches Begriff Musik des Lebens vgl. Werner Stegmaier, Philosophischer Idealis-mus und die Musik des Lebens. Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien. Eine kontextuelleInterpretation des Aphorismus Nr. 372 der Frhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 33(2004), S. 90128, bes. S. 122128.

    10 Zur Analyse von Nietzsches Unterscheidung der Kunstarten vgl. Verf., sthetische Voll-endung, S. 227230.

    11 Auf die Frage Was bedeuten asketische Ideale? antwortet Nietzsche: Bei Knstlern Nichtsoder zu Vielerlei und nimmt Richard Wagner als Beispiel fr dieses Vielerlei, bei dem die Musikzum Mittel, zum Medium und, letztendlich, zur Metaphysik, zur Verehrung des asketi-schen Ideals geworden sei (GM III 15, KSA 5, S. 339346).

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    vorbehaltene Mglichkeit ber diesen Gegensatz hinaus (GM III 2, KSA 5,S. 340).

    Die Bosheit kann also im Bezug auf die Musik in vielerlei Weise gedeutet wer-den. Aus der genealogischen Perspektive sind beide in den Prozess der Entste-hung der Werte einbezogen als Hintergrund der abendlndischen Moral, als ihreVorgeschichte, die die Doppelsinnigkeit der Moral in sich trgt: ein durchhaushistorisch bedingtes, vernderliches Phnomen, das zugleich den Anspruch aufAllgemeingltigkeit und berzeitliche Gegebenheit erhebt.

    Grnde der abendlndischen Moral: die Wahrheit und der freie Wille

    In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie dieses doppelsinnigePhnomen sich selbst zu plausibilisieren vermag. Zwei Aspekte von NietzschesAuslegung sind fr unsere Frage nach der Bosheit der Russen wichtig. Wirwerden sie mglichst kurz in groben Umriss skizzieren.

    Da ist vor allem der Begriff der Wahrheit, der, als Gegensatz zur Lge, einenabsoluten Anspruch auf moralische Gewissheit erhebt. Das Wahre als das Guteund die Lge als das Bse zu verstehen, gehrt zu den grundlegenden Plausibi-litten der sokratisch-abendlndischen Moral, ist Grundlage fr alle Unterschei-dungen und so auch fr alle Gegenstze der Werte. Es ist auch das Hauptvorur-teil der abendlndischen Philosophie, die dadurch ihre moralische Grundlageverrt.

    Der Glaube an unmittelbare Gewissheiten ist eine mora l i sche Naivett, welcheuns Philosophen Ehre macht: aber wir sollen nun einmal nicht nur moralischeMenschen sein! [] Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheitmehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es inder Welt giebt. ( JGB 34, KSA 5, S. 53)

    Ohne nher auf diese fr Nietzsche entscheidende Frage des Gegensatzesvon Wahrheit und Lge einzugehen, verweisen wir auf seine berhmte Ausle-gung der Opposition im aussermoralischen Sinne:

    Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthro-pomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch undrhetorisch gesteigert, bertragen, geschmckt wurden, und die nach langem Gebrau-che einem Volke fest, canonisch und verbindlich dnken: die Wahrheiten sind Illusio-nen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutztund sinnlich kraftlos geworden sind, Mnzen, die ihr Bild verloren haben und nun alsMetall, nicht mehr als Mnzen in Betracht kommen. Wir wissen immer noch nicht,woher der Trieb zur Wahrheit stammt: denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflich-tung gehrt, die die Gesellschaft, um zu existiren, stellt, wahrhaft zu sein, d.h. die usu-ellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrckt: von der Verpflichtung

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    nach einer festen Convention zu lgen, schaarenweise in einem fr alle verbindlichenStile zu lgen (WL 1, KSA 1, S. 880f.).12

    Die Lge im aussermoralischen Sinne ist der genealogische Hintergrund,die Vorgeschichte aller Arten von Wahrheiten, sei es die der Wissenschaft, derPhilosophie oder der Religion, genauso wie die Bosheit im Sinne einer schaffen-den Distanz der genealogische Hintergrund des Guten in der Moral ist.

    Halten wir also fest, dass die Wahrheit und das Gute einander gegenseitigrechtfertigen, indem die Gegenstze Wahrheit Lge, das Gute das Bsesich fr ursprnglich, wahr und moralisch ausgeben. Es ist aber auch derAnspruch auf Allgemeingltigkeit, der die Idee der Wahrheit als des Guten parexcellence ausmacht. Durch den fr alle verbindlichen Stil zu lgen wird demMenschen das unpersnliche allgemeingltige Ma aller Dinge gegeben. Nietz-sche spricht dagegen im Plural von meinen Wahrheiten (vgl. JGB 231; EH,Warum ich so gute Bcher schreibe 1, KSA 6, S. 298), von einzigartigen Tugen-den und einem persnlichem Guten, das mit niemandem zu teilen und keinemandern zuzumuten sei:

    Die Tugend, die Pflicht, das Gute an sich, das Gute mit dem Charakter derUnpersnlichkeit und Allgemeingltigkeit Hirngespinnste, in denen sich der Nie-dergang, die letzte Entkrftung des Lebens, das Knigsberger Chinesenthum aus-drckt. (AC 11, KSA 6, S. 177)13

    Eben der Anspruch auf unpersnliche Allgemeingltigkeit der Wahrheitbildet die Grundlage der Erkenntnis und der Wissenschaft, laut der Geburt derTragdie

    jenes unerschtterlichen Glaubens, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causali-tt, bis in die tiefsten Abgrnde des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nichtnur zu erkennen, sondern sogar zu cor r ig i ren im Stande sei. (GT 15, KSA 1, S. 99)

    12 Zu Nietzsches Wahrheitsbegriff im brigen v.a. Jean Granier, Le problme de la verit dansla philosophie de Nietzsche, Paris 1966; Josef Simon, Grammatik und Wahrheit, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 126; Werner Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, in:Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 6995; Tilman Borsche, Was etwas ist. Fragen nach der Wahr-heit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, Mnchen 1990;Florian Roth, Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner selbstwidersprchlichen Problematik, in:Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 94114; Sigridur Thorgeirsdottir, Vis Creativa. Kunst undWahrheit in der Philosophie Nietzsches, Wrzburg 1996.

    13 Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant vgl. v.a. Bernhard Bueb, Nietzsches Kritik derpraktischen Vernunft, Stuttgart 1970; Olivier Reboul, Nietzsche critique de Kant, Paris 1974;Siegfried Kittmann, Kant und Nietzsche: Darstellung und Vergleich ihrer Ethik und Moral,Frankfurt am Main u.a. 1984; Christoph Schulte, Radikal bse. Die Karriere des Bsen von Kantbis Nietzsche, Mnchen 1991; Gerd-Gnther Grau, Kritik des absoluten Anspruchs. Nietz-sche Kierkegaard Kant, Wrzburg 1993; Walter Patt, Formen des Anti-Platonismus beiKant, Nietzsche und Heidegger, Frankfurt am Main 1997; Alexander Aichele, Philosophie alsSpiel. Platon Kant Nietzsche, Berlin 2000; Josef Simon, Moral bei Kant und Nietzsche, in:Nietzsche-Studien 29 (2000). S. 178198; Kevin R. Hill, Nietzsches Critiques: the KantianFoundations of his Thought, Oxford 2003.

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    Dieser Begriff der Wahrheit, dieser rtselhafte Wahrheitstrieb rechtfertigt da-nach auch die Idee der Kausalitt und wird wiederum selbst durch sie gerecht-fertigt.

    Das ist der zweite entscheidende Punkt fr das Sich-Selbst-Plausibilisierender Moral: alles in der Welt muss erklrt werden, und zwar moralisch, d.h. imSinne der Verantwortung des Menschen. In der zweiten Abhandlung der Genea-logie der Moral zeigt Nietzsche, wie die Moral aus der Grausamkeit entsteht, wiedie Vergesslichkeit durch die Verantwortlichkeit ersetzt wurde. Es werde einThier herangezchtet, das versprechen darf.

    Wie naiv andererseits, wie unschuldig ihr Bedrfniss nach Grausamkeit auftritt, wiegrundstzlich gerade die uninteressiserte Bosheit [] von ihr [von der Grausam-keit] als nor male Eigenschaft des Menschen angesetzt wird : somit als Etwas, zudem das Gewissen herzhaft Ja sagt! (GM II 6, KSA 5, S. 301)

    Aus dieser naiven Bosheit ist die Moral der Verantwortlichkeit und des freienWillens entstanden, die sich spter fr etwas Selbstverstndliches, fr die einzigePerspektive des Lebens ausgibt. Der Mensch kann nur schuldig erklrt und zurVerantwortung gerufen werden, wenn er ber einen freien Willen verfgt. InGtzen-Dmmerung, in der der Spruch ber die Russen erscheint, geht es u.a. auchum die vier grossen Irrthmer, die sich alle auf den Begriff der Kausalitt stt-zen, dessen Inbegriff, Zuspitzung und Vervollkommnung der Begriff des freienWillens ausmacht (GD, Die vier grossen Irrthmer 18, KSA 6, S. 8897).

    Die Menschen wurden frei gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu knnen, um schuld ig werden zu knnen: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ur-sprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden. (GD, Die vier gros-sen Irrthmer 7, KSA 6, S. 95)

    Der Begriff des freien Willens ist damit der Grund aller Moral, aller Verant-wortlichkeit, alles Schuldig-Findens, alles schlechten Gewissens, alles Rechtsund Unrechts auf Erden. Nietzsches Gedanke bezglich jeder Handlung, jederTat ist dagegen, dass immer zu viele Komponenten, zu viele Triebe im Spiel sind,die gar nichts mit der Oberflche des Bewutseins, mit dem Wollen zu tun ha-ben.14 Man sieht blicherweise berall einen Akt des Willens. Wer htte bestrit-ten, dass ein Gedanke verursacht wird? dass das Ich den Gedanken verursacht?(GD, Die vier grossen Irrthmer 3, KSA 6, S. 90), fragt Nietzsche ironisch.

    Wie kann man nun Gedanken verursachen? Nietzsches These ist: Es stehtuns vielleicht gar nicht frei, das zu wnschen, was wir wnschen, oder das zu tun,was wir tun, so zu leben, wie wir leben. Das sogenannte Motiv ist nur ein

    14 Dieser Gedanke scheint auch in Also sprach Zarathustra auf, wo Zarathustra vom bleichen Ver-brecher spricht: Was ist dieser Mensch? Ein Knuel wilder Schlangen, welche selten bei einan-der Ruhe haben, da gehn sie fr sich fort und suchen Beute in der Welt (Za I, Vom bleichenVerbrecher, KSA 4, S. 46).

  • Die Bosheit der Russen 205

    Oberflchenphnomen des Bewutseins, ein Nebenher der That (GD, Die viergrossen Irrthmer 3, KSA 6, S. 91).

    Was kann allein unsre Lehre sein? Dass Niemand dem Menschen seine Eigen-schaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren,noch er se lbst ( der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als intel-ligible Freiheit von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Nie-mand ist dafr verantwortlich, dass er berhaupt da ist, dass er so und so beschaffenist, dass er unter diesen Umstnden, in dieser Umgebung ist. Die Fatalitt seinesWesens ist nicht herauszulsen aus der Fatalitt alles dessen, was war und was seinwird. Er ist n icht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks [].Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht aufeine causa prima zurckgefhrt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, nochals Geist eine Einheit ist, d ies ers t i s t d ie g rosse Befre iung, damit erst istdie Unschuld des Werdens wieder hergestellt Der Begriff Gott war bisher dergrsste Einwand gegen das Dasein Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verant-wortlichkeit in Gott: damit erst erlsen wir die Welt. (GD, Die vier grossen Irrth-mer 8, KSA 6, S. 96f.).

    Im Nachlass drckt Nietzsche diesen Gedanken noch bestimmter aus:

    Das Nachdenken ber Freiheit und Unfreiheit des Willens hat mich zu einerLsung dieses Problems gefhrt, die man sich grndlicher und abschlieender garnicht denken kann nmlich zur Beseitigung des Problems, vermge der erlangtenEinsicht: es g iebt gar ke inen Wi l len , weder e inen fre ien noch e inen un-fre ien . (Nachla 1884, KSA 11, 27[1])

    Die Freiheit des Willens ist genauso wie Gott eine viel zu extreme Hypo-these (Nachla 1886/1887, KSA 12, 5[71], S. 212). Das Wollen als Ursache wirderst spter erdacht, um eine vernnftige Erklrung von Handlungen zu geben,um urteilen und verurteilen zu knnen. Und so entsteht eine imaginre Ursa-chen-Welt, Willens-Welt, Geister-Welt, wo alles Geschehen als Thuneines Subjekts, als Folge eines Willens, als Vielheit der Thter gedacht wird(GD, Die vier grossen Irrthmer 3, KSA 6, S. 91). So kommt man zum cartesi-schen Ich als der ersten und berzeugendsten Realitt, so kommt man zurIdee des Urhebers der Welt. Die Kette der Ursachen geht nicht in infinitum, son-dern gelangt zu einem Punkt, wo die abendlndische Moral ihre Begrndungund Rechtfertigung findet. Durch den Begriff der Wahrheit als des Guten parexcellence und des freien Willens (der Willens-Welt) kommt der Mensch zumBegriff des wahren und guten Gottes, obwohl man hier mit Nietzsche fragenknnte: Was Wunder, dass er spter in den Dingen immer nur wiederfand, waser in s ie gesteckt hat te? (GD, Die vier grossen Irrthmer 3, KSA 6, S. 91).Der Begriff Gottes selbst wurde einst durch die Vorstellungen begrndet, die inihm ihre Begrndung gefunden haben.

    Die abendlndische Moral ist also an die Idee des Wahren als des Guten undan die Idee des freien Willens als Kausalitt der Handlung fest gebunden. In die-

  • 206 Ekaterina Poljakova

    sen zwei entscheidenden Punkten zieht Nietzsche ihre Plausibilitt, ihren abso-luten Anspruch auf die letzte Gewissheit in Zweifel.

    Versuchen wir, um Nietzsches Idee der Bosheit der Russen nher zu kom-men, jetzt eine ganz andere Perspektive in Betracht zu ziehen, und zwar die derrussischen Moralphilosophie in der Auslegung von zwei der grten morali-schen Autoritten Russlands, deren passionierter Leser im Westen wiederumNietzsche war, bis zu dem Grad, dass er ausfhrliche Exzerpte aus ihren Werkengemacht hat:15 Leo Tolstoj und Fjodor Dostojewski, die ihre philosophischenund ethischen Einsichten nicht nur direkt in ihrer Publizistik, sondern v.a. in ih-ren Romanen indirekt in Lebensverhltnissen dargestellt haben. Nietzsche hatDostojewski den einzigen Psychologen genannt, von dem er selbst Etwas zulernen hatte (GD, Streifzge eines Unzeitgemssen 45, KSA 6, S. 147). Auchseine Tolstoj-Lektre ist v.a. in Der Antichrist deutlich zu spren (AC 29). Es istalso hchst wahrscheinlich, dass, wenn es um die Russen geht, Nietzsche dieVorstellung Russlands meint, die er bei den beiden grten Schriftstellern Russ-lands gefunden hat, bei denen moralische Fragen von erstrangiger Bedeutungsind, zugleich aber moralische Gewissheiten eben in den beiden oben genanntenAspekten dem der Wahrheit und dem des freien Willens unter Verdacht ge-stellt und Zweifel unterworfen werden.16

    15 Vgl. v.a. die seitenlangen kommentierten Exzerpte aus Dostojewskis Die Dmonen und Was istmein Glaube? von Tolstoj Nachla 1887/1888, KSA 13, 11[274277], S. 103105; 11[331348],S. 141152. Zu Nietzsches Russland-Bild vgl. Hartwig Frank / Alexej Gorin / AlexanderKupin / Enrico Mller / Werner Stegmaier, Land und Meer in der europischen Philosophie.Orientierung in Metaphern, Kln (im Erscheinen), Abschnitt Die Metapher Russland im Den-ken Nietzsches, auerdem Fritz Ernst, Friedrich Nietzsche und die Russen. Zur Geschichte derdeutschen Russophilie, in: ders., Aus Goethes Freundeskreis und andere Essays, Frankfurt amMain 1955, S. 210226; C. A. Miller, Nietzsches discovery of Dostoevsky, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), S. 202257; Theo Meyer, Nietzsches Rulandbild: Protest und Utopie, in:Mechthild Keller (Hg.), Russen und Ruland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von derBismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg, Mnchen 2000, S. 866903.

    16 Tolstoj und Dostojewski werden traditionell einander als Knstler und Denker entgegengesetzt.Diese Entgegensetzung hat die russische Kultur des sog. silbernen Zeitalters (der Jahrhun-dertwende vom 19. zum 20. Jh) stark geprgt. Vgl.: Andre Bel, Tragedi tvorestva Dostoevski i Tolsto, (Andrej Belyj, Tragdie des Schaffens Dostojewski und Tolstoj),St. Petersburg 1911; Dmitri Merekovski, L.Tolsto i Dostoevski. (Dmitrij Meresch-kowski, L. Tolstoj und Dostojewski), Bd. 12, St. Petersburg 19011902; KonstantinLeontev, Nai nove filosof: F. M. Dostoevski i graf Tolsto, (Konstantin Leont-jew, Unsere neuen Philosophen: F. M. Dostojewski und Graf Tolstoj), Moskau 1882. Ihre Ent-gegensetzung im Bezug auf Nietzsche: Lev estov, Dobro v uenii gr. Tolstogo i Fr.Nice(Filosofi i propoved), (Lew Schestow, Das Gute in der Lehre von Graf Tolstoj undF. Nietzsche), St. Petersburg 1902; ders., Dostoevski i Nice: Filosofi tragedii. (Dos-tojewski und Nietzsche: Philosophie der Tragdie), St. Petersburg 1903. Wir versuchen im Be-zug auf unsere Fragestellung das Gemeinsame bei Tolstoj und Dostojewski aufzuzeigen.

  • Die Bosheit der Russen 207

    Die Wahrheit bei Dostojewski und Tolstoj

    Wenden wir uns zunchst Dostojewski zu. Er hat sich immer wieder zumWahrheitsbegriff geuert. Zuerst in einem privaten Brief: Wenn mir jemandbewiesen htte, da Christus auerhalb der Wahrheit steht, und wenn die Wahr-heit tatschlich auerhalb Christi stnde, so wrde ich es vorziehen, bei Christusund nicht bei der Wahrheit zu bleiben.17 Dann in einem Notizheft: Christushat sich geirrt bewiesen! Ein heftiges Gefhl sagt: ich ziehe es vor, bei demFehler, bei Christus zu bleiben, und nicht bei euch.18 Und dann noch mal in sei-nem Roman Die Dmonen, der Nietzsche wohl bekannt war, an der Stelle, als derin seinen Ansichten rtselhaft vielseitige Stawrogin von Schatow, der die reli-gise Slawophilie vertritt, gefragt wird: Haben nicht Sie einmal zu mir gesagt,wenn man Ihnen mathematisch nachwiese, die Wahrheit fnde sich nur auer-halb Christi, Sie wren eher bereit, mit Christus zu leben als mit der Wahrheit?19

    Das heit: Christus bedeutet mehr als die Wahrheit, ein logisch-mathematischerBeweis kann nicht von ihm trennen. Wenn wir aber die hypothetische Situationdes Whlens zwischen Christus und der Wahrheit genauer ansehen, werden wirfeststellen, dass hier eine fr die abendlndische Moral ganz befremdliche Ver-mutung gemacht wird: dass Gott nicht die Wahrheit, dass die Wahrheit nicht dasGute par excellence sei und damit das Gute kein Gegensatz zur Lge sein knne.Was whlt man in dieser unmglichen Situation? Nicht die Wahrheit, nicht dieunpersnliche, unumstliche, bewiesene Wahrheit, sondern eine Person, Chris-tus, den Unbewiesenen, der sich als Person zuletzt nicht zu rechtfertigen ver-mag, insofern der Gegensatz zur wissenschaftlichen Wahrheit und in deren Sichtdarum die Lge ist. Man knnte, ausgehend von dem Verdacht gegen die mathe-matisch-logische Wahrheit, die fr die russische Kultur grundlegend ist, vermu-ten, dass die persnliche Vollkommenheit, das Gute, gerade die berzeugendsteWahrheit sei. Das ist bei Dostojewski aber auch nicht der Fall.

    Betrachten wir als Beispiel Dostojewskis Roman Der Idiot.20 Der Protagonist,Frst Myschkin, wird als der schne Mensch im Bezug auf Christus gedacht:Die Grundidee ist die Darstellung eines wahrhaft vollkommenen und schnenMenschen. [] Es gibt in der Welt nur eine einzige positiv-schne Gestalt:

    17 Fjodor M. Dostojewski, Gesammelte Briefe 18331881, bers. v. Friedrich Hitzer, Mnchen /Zrich 1986, S. 87.

    18 Fedor M. Dostoevski, Poln. sobr. so. v 30-ti tomah (Fjodor M. Dostojewski, GesammelteWerke in dreiig Bnden), Leningrad 1984, Bd. 27, S. 57.

    19 Fjodor M. Dostojewski, Die Dmonen, bers. v. Gnter Dalitz = Gesammelte Romane und Er-zhlungen, Bd. 1, Berlin / Weimar 1994, S. 324.

    20 Dieser Roman war Nietzsche vermutlich auch bekannt. Eine vermutliche Anspielung findet manin Der Antichrist an der Stelle, wo Nietzsche von Dostojewskis psychologischer Feinheit in derDarstellung des kindischen Idiotismus spricht (AC 2931).

  • 208 Ekaterina Poljakova

    Christus.21 In der Tat erweist sich Myschkin in jeder Situation als guter Mensch,als der Gerechte, der allen andern Verzeihung und Hilfe anbietet, der den Men-schen durchdringen kann22 und alle zur Vershnung bringen will. Er scheitertaber vllig. Zwar meint er es immer gut und behlt auch meistens Recht, den-noch hat sein Wort der Wahrheit keine berzeugende Kraft. Seine Gte, seinWort der Absolution kann den Anderen nicht helfen. Dies liegt vorrangig an derWeise, wie er seine Verzeihung anbietet. Er behauptet stets, dass alle unschuldigsind. So sagt er zu Nastassja Filippovna: Gerade wollten Sie sich selbst zerst-ren, unwiederbringlich, denn Sie htten es sich spter niemals verziehen: AberSie trifft berhaupt keine Schuld []. Sie sind stolz, Nastassja Filippowna, abermglicherweise bereits so unglcklich, da Sie sich fr schuldig halten.23 Undzu Rogoschin, der einen Mordanschlag auf ihn versuchte: Ich sage dir, da ichnur jenen Parfjon Rogoschin kenne, mit dem ich an jenem Tag die Kreuze ge-tauscht habe und der mein Bruder geworden ist []. Denn ich hatte dich ja des-sen [des Mordanschlags] verdchtigt, es ist unser beider Snde, beider!24 DieVerzeihung wird als Behauptung der Unschuld und Krankhaftigkeit der anderenausgegeben (Nastassja Filippovna wird von Myschkin stets als die Verrcktebezeichnet.25) Merkwrdigerweise nehmen die andern diese Verzeihung nicht anund halten sich weiter fr schuldig, wodurch sie und Myschkin selbst zum Zu-sammenbruch, zur unvermeidlichen Katastrophe kommen. Eine solche Wahr-heit kann keinem helfen. Kurz: die Welt ist mchtiger als der schne Menschund seine Gte, als sein Wort der Vergebung und der Liebe. Das Gute, das imschnen Menschen verkrpert wird, ist in dieser Welt zur Ohnmacht und zumKollaps verurteilt. Das Gute ist also nicht nur eine persnliche, sondern aucheine individuell begrenzte Wahrheit, die nicht weiterzugeben ist und die der Lgenicht widerstehen kann.

    Bevor wir uns jetzt Tolstoj und seinem Begriff der Wahrheit zuwenden, mussder Unterschied zwischen zwei russischen Wrtern angesprochen werden, diebeide fr das Wort Wahrheit stehen: istina und pravda. Das erste wirdfr die wissenschaftliche und hohe metaphysische Wahrheit (z.B. im Satz Gottist die Wahrheit) als Gegensatz zum Irrtum benutzt. Das zweite ist mehr um-gangsprachlich und drckt den Gegensatz zur Lge aus, ist manchmal synonymmit dem Wirklichen, Tatschlichen, aber auch im hheren Sinn die Wahr-heit als das Moralische, Wahre, Gerechte. So sind logisch-wissenschaftliche undmoralische Wahrheit sprachlich getrennt. Zwar sind beide fr die Bezeichnung

    21 Dostojewski, Gesammelte Briefe 18331881, S. 251252.22 Fjodor M. Dostojewski, Der Idiot, bers. v. Swetlana Geier, Zrich 1996, S. 449.23 Ebd., S. 245.24 Ebd., S. 527529.25 Ebd., S. 531.

  • Die Bosheit der Russen 209

    der absoluten Wahrheit, Gottes, verwendbar. Dostojewski, der in seinem Satzber Christus die Wahrheit und das Gute definitiv trennt, benutzt das erste Wort,istina. Tolstoj, dem es darum geht, das Gute als das Wahre zu verstehen, ver-wendet hingegen das zweite pravda.

    In Tolstojs Romanen streben einige der handelnden Personen, die offen-sichtlich die Sympathie des Autors genieen, danach, nach der Wahrheit zu le-ben. Wie wichtig diese Idee fr Tolstoj selber war, kann man daran erkennen, wieer die Krise seines eigenen Lebens in seinem Traktat Meine Beichte (Ispoved) be-schrieben hat. Mit 50 Jahren empfand er pltzlich die Sinn- und Zwecklosigkeitseines Lebens. Er hatte das Ziel seines Lebens verloren oder vielmehr: er warpltzlich darauf aufmerksam geworden, dass er niemals ein richtiges Ziel hatte;alle Ziele waren unzureichend, um seinem Leben Sinn zu geben. So kam er eingesunder, reicher, glcklicher Mann, ein guter Familienvater zum Gedanken,sich selbst umzubringen. Was rettete ihn? Zuerst versuchte er bei den ReligionenAntwort zu finden. Er hrte dort ganz Unvernnftiges, was seinen rationalenVorstellungen ber das Leben gar nicht entsprach. Dann wandte er sich der Phi-losophie zu. Die Philosophen (er nennt vor allem Kant und Schopenhauer)schienen ihm auch nicht viel besser, weil sie immer von etwas anderem redetenals dem, wonach er fragte und suchte. Ihre logischen Beweise waren weder ber-zeugend noch ntzlich. Und so fand er den Sinn des Lebens beim russischenMujik bei eben jenem Bauer, von dem Nietzsche in der Gtzen-Dmmerungspricht. Er fand keine rationale Erklrung und nichts, was er selbst nicht schongewusst htte. Es fand einfach das Leben nach der Wahrheit, das allein denMenschen vom Tier unterscheide, das nur der Befehl Gottes sein konnte, so un-vernnftig diese Idee selbst sein mochte, so sehr sie dem Eigennutz des Egois-mus widersprach. Und dies war fr Tolstoj zugleich der Beweis der ExistenzGottes und des Sinns des Lebens.26

    Es sei daran erinnert, dass es nach Nietzsche die Erfindung der priesterlichenKaste ist, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Dies berhrtsich mit Tolstojs Idee des guten Lebens. Die Wahrheit, die Tolstoj selbst gefun-den, die ihm das Leben gerettet hatte, lie er auch seine Helden (z.B. Lewin inAnna Karenina) finden. Die Wahrheit ist auch bei Tolstoj die unlogische, sogarder Logik entgegengesetzte Wahrheit, die das Leben ermglicht. Sie ist dadurchbewiesen, dass sie immer schon da ist, dass man allein aus ihrer Perspektiveleben kann, dass man schon als Kind mit Freude geglaubt hat.27 Ist sie dadurcheine allgemeingltige Wahrheit? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz ein-deutig. Einerseits ist diese Wahrheit mir wie allen anderen Menschen gegeben

    26 Hier ist wohl der Einfluss von Kants moralischem Gottesbeweis stark zu spren, zugleich aberwird er von Tolstoj uminterpretiert.

    27 Leo N. Tolstoj, Anna Karenina, bers. v. Gisela Drohla, Frankfurt am Main 1966, Bd. 3, S. 1176.

  • 210 Ekaterina Poljakova

    worden.28 Sie ist aber nicht ohne weiteres weiterzugeben, vielmehr ist sie geradedie Grenze, wo Menschen aufhren, einander zu verstehen und einander zu hel-fen. So geschieht es mit Lewin, mit Frst Andrej und mit Pierre Bezuchow. Siealle haben diese Wahrheit gefunden, oder sie haben entdeckt, dass sie sie immerunbewusst gewusst hatten. Zwischen ihnen und den anderen Menschen abersteht gleichsam eine Mauer, die nicht zu berwinden ist. So stellt Tolstoj LewinsSituation dar:

    Nein, ich will es ihr doch nicht sagen, dachte er, als sie [seine Frau Kitty] vor ihmherging. Es ist ein Geheimnis, das nur mich allein angeht, nur fr mich allein wichtigist und das sich in Worten nicht ausdrcken lt. Dieses Gefhl hat mich nicht um-gewandelt, glcklich gemacht, erleuchtet []. Ich werde mich ebenso ber den Kut-scher Iwan rgern, ich werde nach wie vor streiten und meine Gedanken zur Unzeitaussprechen, nach wie vor wird zwischen dem Allerheiligsten meiner Seele und ande-ren Menschen, sogar meiner Frau, eine Scheidewand sein []. Aber jetzt ist mein Le-ben, mein ganzes Leben, unabhngig von allem, was mir geschehen kann, jetzt ist jedeMinute dieses Lebens nicht mehr sinnlos wie bisher, sondern hat einen unzweifelhaf-ten Sinn: das Gute, das ich in mein Leben hineinlegen kann.29

    Die letzte Paradoxie ist auch der letzte Satz von Anna Karenina: ich kann denSinn des Guten in mein Leben hineinlegen nur dann, wenn es ihn schon in sichtrgt. Er ist also die neu gefundene, aber keinesfalls neue Wahrheit, die darumauch nichts verndern kann und sich anderen nicht mitteilen lsst.

    Es ist also festzustellen, dass die Wahrheit in der Auslegung von Dostojewskiund Tolstoj eine andere Bedeutung hat, als die, die fr die europische Moraltauglich sein knnte. Das ist auf jeden Fall nicht die beweisbare, wissenschaft-liche Wahrheit (istina), die sich auf die Vernunft sttzt und das Gute recht-fertigt. Bei Dostojewski ist sie auch kein Gegensatz zur Lge und nicht das Gutepar excellence. Sie ist dann ohnmchtig, das Leben zu verndern, weil sie fr diebeiden keine allgemeingltige Wahrheit sein kann, die fr jeden Menschen die-selbe, berpersnlich und absolut ist, sondern ein persnliches Erlebnis, eine in-dividuelle Erfahrung und Lebensperspektive, welche das Leben erst ermglicht.

    Die Idee der Verantwortlichkeit und der freie Wille bei Tolstoj und Dostojewski

    Wenden wir uns jetzt dem zweiten Punkt zu dem Begriff des freien Willensund der damit eng verbundenen Idee der Verantwortlichkeit, die sich beide alsgrundlegend fr die abendlndische Moralphilosophie erwiesen haben. Hierwird die Diskrepanz zweier Denkweisen noch klarer.

    28 Ebd.29 Ebd., S. 1205.

  • Die Bosheit der Russen 211

    Am Anfang des dritten Teils von Krieg und Frieden legt Tolstoj seine Philosophieder Geschichte dar. Er sucht nach der Ursache des Krieges im Willen der Men-schen, die an dem Ereignis teilgenommen haben. Sie ist da aber nicht zu finden.

    Was bewirkte diesen auerordentlichen Vorgang? Welches waren seine Ursachen? DieHistoriker geben mit naiver Sicherheit folgende Ursachen an: das dem Herzog vonOldenburg zugefgte Unrecht, die Durchbrechung der Kontinentalsperre, Napo-leons Machtgier, Alexanders Unbeugsamkeit und die Fehler der Diplomaten. []Man kann es verstehen, da sich dem Blick der Zeitgenossen diese und nochungezhlte hnliche Umstnde als Kriegsursachen darstellten, Umstnde, deren un-bersehbare Menge der unbersehbaren Menge menschlicher Standpunkte und Auf-fassungsmglichkeiten entspricht; uns Nachgeborenen aber, die wir die Ungeheuer-lichkeit des Vorgangs in ihrem ganzen Umfange zu berschauen vermgen und seinefurchtbare, klar zutage liegende Bedeutung erkennen, mssen die angefhrten Um-stnde samt und sonders als unzulnglich erscheinen. Wir knnen es nicht verstehen,da Millionen von Christenmenschen einander nur deswegen gettet und geqult ha-ben sollen, weil Napoleon machtgierig, Alexander unbeugsam, die englische Politikverschlagen war oder weil der Herzog von Oldenburg in seinen Rechten verletztwurde. [] Wir Nachgeborenen, die wir keine Historiker sind und die wir unseren ge-sunden Mesnchenverstand bei Betrachtung dieses Vorgangs von keiner Forscherbe-geisterung umnebeln lassen, erkennen eine unbersehrbare Menge von Ursachen[]. Nichts htte geschehen knnen, wenn auch nur eine einzige dieser Ursachenausgeblieben wre.30

    Halten wir diese gesunde Position fest, aus deren Perspektive man Milli-arden von Ursachen sieht, von denen keine allein als Grund des Geschehensangesehen werden kann, am allerwenigsten aber das Wollen des Menschen.Wenn Napoleon oder Alexander glauben, der Krieg sei nach ihrem Willen ange-fangen worden, sind sie gerade, so Tolstoj, die Sklaven der Geschichte:

    Die Handlungen Napoleons und Alexanders, von denen es anscheinend abhing, obdas Geschehen seinen Lauf nahm oder nicht, waren ebensowenig von ihrem Willenbestimmt wie die Handlungen jedes beliebigen Soldaten, der in den Krieg ging, weilihn das Los zum Militrdienst bestimmt hatte oder weil er ausgehoben worden war.31

    Man kommt in der Geschichte um den Fatalismus nicht herum, wenn man nach Er-klrungen fr unvernnftige Erscheinungen sucht, das heit fr Erscheinungen, de-ren Vernnftigkeit wir nicht zu begreifen vermgen.32

    Die Geschichte ist dieses Fatum, durch das der Mensch zum Werkzeugund seine scheinbar willkrlichen und freien Handlungen zu etwas Vorausbe-stimmtem werden.33 Ob dieses Fatum Gott oder Schicksal oder zuflliges Zu-sammentreffen genannt werden kann, bleibt bei Tolstoj offen.

    30 Lew Tolstoi, Krieg und Frieden, bers. v. Werner Bergengruen = Gesammelte Werke in zwanzigBnden, Bd. 2, 8. Auflage, Berlin 1987, S. 89.

    31 Ebd., S. 9.32 Ebd., S. 10.33 Ebd., S. 10.

  • 212 Ekaterina Poljakova

    Was fr eine Erklrung haben wir dann? Warum hat der Krieg angefangen?Die Menschen des Westens zogen nach Osten, um einander umzubringen. Undnach dem Gesetz des Zusammenfallens der Ursachen fhrten Tausende vonkleineren Ursachen zu diesem Vlkerzug und diesem Krieg.34 Das ist aber keineErklrung. Der Krieg hat begonnen, weil er beginnen sollte, weil die Menschenvon Westen nach Osten wollten, genauso wie spter die Menschen des Ostensnach Westen strebten, um einander zu tten. Das heit: es ist geschehen, weil esgeschehen ist. Wenn der Apfel reif geworden ist und zur Erde fllt warumfllt er? [] Ein Botaniker mag wohl meinen, der Apfel falle, weil sich sein Zell-gewebe zersetzt habe und hnliches, und das Kind unter dem Baum mag sagen,der Apfel sei gefallen, weil es ihn gern essen wollte und darum gebetet hatte, daer fallen mge, und der Botaniker und das Kind haben beide recht.35 Napoleon,der glaubte, er sei nach Moskau gegangen, weil er eben gewollt habe, ist diesesKind.36 Und er hat zu gleicher Zeit Recht und Unrecht. Von seinem Standpunktaus als dem des privaten Menschen hat er wirklich etwas zu entscheiden. SeineEntscheidungen sind aber von so vielen Faktoren abhngig, dass sie genauso gutvorbestimmt wie frei sind. Eine jede ihrer Handlungen, die ihnen als Akt freienWillens und als um ihrer selbst willen getan erscheint, ist historisch betrachtet nicht ein Akt freien Willens, sondern ist mit dem ganzen Ablauf der Geschichteverbunden und von Ewigkeit her vorbestimmt.37 Es gibt also keine freien Ent-scheidungen. Je mehr Napoleon oder jemand anderes sich frei und fr etwas ver-antwortlich whnt, desto mehr ist er unfrei und von den Umstnden abhngig.Sein Antipode, der weise russische Oberkommandierende Kutuzow, tut darumdas einzig Richtige: er gab dem, was sich vollziehen musste, seinen Segen.38

    Wir knnen, so Tolstoj, die Gesetze, welche die Ereignisse lenken, nur dannverstehen, wenn wir die nicht existente Freiheit ablehnen und die von unsnicht empfundene Abhngigkeit anerkennen.39 Das sind die letzten Worte vonKrieg und Frieden, der philosophische Schluss des Romans, und das ist auch dieWiderlegung des freien Willens im Mastab der Geschichte. Die Verbindungzwischen dem Willen des Subjekts, seiner Entscheidung, und der Tat selbst,d.h. seiner Verantwortung fr das historische Ereignis, ist fr Tolstoj hchstfragwrdig.

    Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Dostojewskij genau das Gegenteileines solchen Zweifels an der Verantwortung des Menschen vertrte. Der Autorvon Schuld und Shne (oder genauer bersetzt: Verbrechen und Strafe) wird als Pre-

    34 Ebd., S. 11.35 Ebd., S. 11.36 Ebd.37 Ebd., S. 12.38 Ebd., S. 501.39 Ebd., S. 788.

  • Die Bosheit der Russen 213

    diger der absoluten und fraglosen Verantwortlichkeit betrachtet. Wie Schuld undVerantwortung in diesem Roman zu verstehen sind, ist dennoch nicht eindeutig.Insbesondere erscheint eben die Verbindung zwischen dem Wollen, der freienEntscheidung und der Verantwortung fr die Tat fragwrdig.

    Raskolnikow erscheint im Roman, nachdem er sich schon der Idee des Mor-des unterworfen hat. Diese Idee beherrscht ihn und lsst ihm keine Ruhe. Wasdann spter geschieht, ist eher wie ein Affekt dargestellt, insbesondere als er zu-fllig hrt, dass die Alte, auf die er einen Anschlag vorbereitet, eines Abends al-lein zu Hause bleiben wird. So heit es: Wie ein zum Tode Verurteilter betrat ersein Zimmer. Er dachte an nichts und war auch vllig auerstande zu denken;aber mit seinem ganzen Wesen sprte er pltzlich, da es fr ihn jetzt keine Ent-scheidungsfreiheit und keinen Willen mehr gab und da alles pltzlich und end-gltig entschieden war.40 Die zufllige Information, dass er nun seine Tat voll-bringen kann, ist entscheidend. Danach hat er keine Wahl mehr.

    Heit das, dass dem Verbrecher die Schuld abgesprochen wird? Ganz im Ge-genteil. Die Idee selbst, dass er das tun knnte, die Idee, sich Blut erlauben zuknnen, trennt ihn von der Welt der anderen Menschen und ist die grteSchuld, die man sich vorstellen kann, nicht die Tat selbst, da ihm, nachdem er aufdie Idee gekommen war, sie zu vollbringen, schon nicht mehr frei stand, sie zutun oder nicht zu tun. Er war schon schuldig, als er noch nichts getan, sondernsich nur den Gedanken erlaubt hatte. Man knnte es auch so ausdrcken: die Tatselbst als hchstes Unglck ist die Strafe fr das Wollen, fr den Gedanken.

    Diese fr Dostojewski grundlegende Idee, dass man bereits fr seine Gedan-ken, fr die sich selbst gegebene Erlaubnis, so und so zu denken, schuldig undverantwortlich sei, kann man auch in seinen anderen Romanen finden. Sehrdeutlich wird sie z.B. in Die Brder Karamasow. Beide, Iwan und Dmitrij Karama-sow, sind schuldig am Mord ihres Vaters. Smerdjakow, der die Tat vollgebrachthat, sagt dann zu Iwan: Da ich ihn nicht ermordet habe, das wissen Sie selbstam besten.41 Sie haben gemordet, Sie sind doch der Hauptmrder, und ich warnur Ihr Handlanger, der treue Diener Litscharda, und habe auf ihr Gehei dieseSache ausgefhrt.42 Und Iwan hat zwar den Mord nie befohlen, gesteht aberdennoch seine Schuld ein, auch vor Gericht: Er wollte, dass der Vater von sei-nem Bruder umgebracht wird, durch sein Wollen ist er an der Tat mitschuldig.Er ist sogar der Hauptmrder. Dmitrij, der unter Verdacht steht und verurteiltwird, erkennt seine Schuld ebenfalls an: zwar hat er seinen Vater nicht gettet,hielt jedoch fr mglich, es zu tun. Der einzige, der frei von der Schuld ist, ist

    40 Fjodor Dostojewski, Schuld und Shne, bers. v. Margit und Rolf Bruner, Berlin / Weimar1994, S. 83.

    41 Fjodor Dostojewski, Die Brder Karamasow, bers. v. Swetlana Geier, Zrich 2003, S. 978.42 Ebd., S. 992.

  • 214 Ekaterina Poljakova

    Aljoscha, da er durch diesen Wunsch, dass jemand den Vater umbringt, gar nichtversucht wurde. Er hatte ihn als unzuverlssigen Frevel sofort abgelehnt.

    Das Gericht wird sich vllig irren. Es ist das ungerechte Gericht schlecht-hin. Die Geschworenen, der Richter, der Anwalt werden vom Autor verspottet.Was sollen sie aber damit anfangen, wenn jemand sich fr schuldig erklrt, derzum Zeitpunkt des Mordes in einer anderen Stadt war (Iwan), der andere aber(Dmitrij) seit Monaten allen Bekannten und Unbekannten erklrt hatte, er wolleseinen Vater umbringen, um zu Geld zu kommen, jetzt aber behauptete, er seischuldig fr den Gedanken und nicht fr die Tat und wolle dafr bestraft wer-den? Die Richter knnen nur den ersten fr verrckt und den zweiten frhinterlistig erklren. Bei Dostojewski aber heit es: Der Vorfall eines Justiz-irrtums. Ein Gericht ist in moralischen Fragen ohnmchtig, es ist sogar anti-moralisch, das moralische Unrecht schlechthin. Noch schrfer tritt Tolstoj demGericht in seinem Roman Die Auferstehung entgegen. Es wird da der Brechungder christlichen Gesetze bezichtigt. Wie darf ein Mensch einen anderen richten?Wie kann jemand einen anderen fr schuldig erklren? Darf man andere bestra-fen? Das ist alles Gewalt, das Bse, die Quelle des Bsen in der menschlichenGesellschaft. Die Vorstellung, dass das Gericht immer ungerecht sei, die tief inder russischen Kultur verwurzelt ist, bekommt also von den zwei grten mora-lischen Autoritten Russlands eine starke Untersttzung, dadurch, dass das Mo-ralische radikal dem Recht entgegensetzt wird.

    Ziehen wir Bilanz. Wie wre die Idee des freien Willens bei Dostojewski undTolstoj zu verstehen? Auf den ersten Blick scheint es, als ob die beiden russi-schen Moralisten hier zu gegenteiligen Ergebnissen gekommen wren. Tolstojbestreitet die Unabhngigkeit und Freiheit der persnlichen Entscheidung, d.h.die Idee der Verantwortung schlechthin. Wenn es keinen freien Willen gibt, istder Mensch nicht mehr zu richten, zu verurteilen, hinzurichten. Das heit aberkeinesfalls, dass das Gute vom Bsen nicht zu trennen sei. Der moralische An-spruch ist um so grer, desto weniger freier Raum dem Menschen gegeben ist.Welche Grnde bleiben dann fr richtiges, gutes Handeln? Gerade die Abhn-gigkeit, die Gebundenheit aller Handlungen, die scheinbare Freiheit des Tunsdes Menschen. Man darf, so Tolstoj, gar nicht nach den Grnden fragen, mansoll tun, was einem geheien wird, weil man nur so dem eigenen Leben einenSinn geben und das ist ein entscheidender Punkt bei ihm innerliche Ruhe ge-winnen kann. Der moralische Imperativ wird also nicht aus der Idee der Verant-wortung fr die Tat begrndet. Er ist aber immer da als Gehei und Friedens-versprechen, die abzulehnen nicht in unserer Macht steht.

    Bei Dostojewski wird umgekehrt der Mensch auch dafr verantwortlich ge-macht, was er nur gedacht, gewnscht hat. Aber auch dies ist etwas, was demMenschen nicht frei steht: so zu denken und zu wnschen oder nicht. Aberfr meine Wnsche mchte ich mir in diesem Fall Freiheit bewahren, sagt

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    Iwan Karamasow.43 Er verlangt diese Freiheit von Aljoscha, bei dem er geradeeine moralische Forderung sprt, diesem Gedanken zu widerstehen. Es liegtaber jenseits seines Vermgens, seines Vaters Tod nicht zu wnschen, wiees auch in seinem Gesprch mit dem Teufel klar wird: da ist gerade Iwan der-jenige, der den moralischen Imperativ vertritt, der Teufel aber ist sein anderesIch, das sich die Freiheit nimmt und ihn dadurch in den Wahnsinn treibt. Auchin Der Idiot kann, wie schon gezeigt wurde, eine Rechtfertigung, eine Unschulds-erklrung niemandem helfen. Der berhmte Satz aus Die Brder Karamasow,der von dem auf den Tod erkrankten Bruder des Staretz Sossima stammt: Einjeder von uns ist vor allen an allem schuldig, und ich bin es am meisten.44 ver-deutlicht eben dies: der Mensch ist immer, ganz unabhngig von eigenen Ent-scheidungen, schuldig, auch fr das, was er nicht getan hat.45 Es geht um dieSol idar i t t von Geschlechter-Ketten vorwrts und rckwrts in infinitumund die Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, wie Nietzsche in dem amAnfang zitierten Aphorismus aus Gtzen-Dmmerung sagt.46 Hier treffen sich dieGegenstze, Tolstojs Verneinung der Verantwortung und Dostojewskis allum-fassende Verantwortlichkeit in Hinsicht auf die Grnde der Moral: Es gibt frbeide keine notwendige Verbindung zwischen dem Willen und der Tat, der Ent-scheidung und der Verantwortlichkeit, es gibt berhaupt keinen freien Willen,der das Tun verursacht und moralisch gerichtet werden knnte. Deswegen kannman jemanden genauso fr eine Tat unbestraft lassen wie ihn fr den Wunsch,fr den Gedanken bestrafen. In beiden Fllen gibt es keine Mglichkeit, Rechtzu haben und zu behalten. Die innere Ruhe, das gute Gewissen bleibt unerreich-bar.

    Es ist also festzustellen, dass beide Anhaltspunkte der abendlndischen Mo-ral der der Wahrheit und der des freien Willens fr die beiden russischen Mo-ralisten weder plausibel noch notwendig waren, und dennoch ist der moralischeImperativ bei ihnen unvergleichlich stark, und dies je mehr, desto wenigerGrnde er hat. Diese fremde Art des Moralischen hat Nietzsche zum Vorbildseines Begriffs des Fatalismus genommen. In der Genealogie der Moral weist er aufDostojewskis Notizen aus dem Totenhaus hin: So

    43 Fjodor Dostojewski, Die Brder Karamasow, S. 232.44 Ebd., S. 464.45 ber die unbegrenzte ethische Verantwortung bei Dostojewski, Nietzsche und Levinas siehe:

    Werner Stegmaier, Levinas, Freiburg / Basel / Wien 2002, S. 161171.46 Auch ein anderer Ausdruck Nietzsches aus diesem Aphorismus passt zu Dostojewski: antilibe-

    ral bis zur Bosheit. Dostojewskis antiliberale Ansichten sind im Tagebuch eines Schriftstellers sehrdeutlich. Vgl. etwa Fedor M. Dostoevski, Poln. sobr. so. v 30-ti tomah (Fjodor M. Dosto-jewski, Gesammelte Werke in dreiig Bnden), Leningrad 1983, Bd. 25, S. 23.

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    haben die von der Strafe ereilten bel-Anstifter Jahrtausende lang in Betreff ihresVergehens empfunden: hier ist Etwas unvermuthet schief gegangen, n icht : dashtte ich nicht thun sollen , sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einerKrankheit oder einem Unglcke oder dem Tode unterwirft, mit jedem beherztenFatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Hand-habung des Lebens gegen uns Westlnder im Vortheil sind. (GM II 15, KSA 5,S. 320f.)

    Der Fatalismus ist Nietzsches Begriff fr die Lebensform, in der dieabendlndische Moral ihre Plausibilitt verliert.

    Ein groes Missverstndnis?

    Wie kann man nun aus der Perspektive der russischen Auslegung der MoralNietzsches Wendung von der Bosheit der Russen und seine EntgegensetzungRussland der Westen verstehen? Die Situation in Westeuropa sieht fr ihn soaus:

    Alle aber sind einmthig in der Hauptsache die Moral ist da, die Moral ist gegeben!,sie glauben alle, redlich, unbewut, ungebrochen an den Werth dessen, was sie Moralnennen, das heit, sie stehen unter deren Autoritt. Ja! Der Wer th der Moral! Wirdman es erlauben, da hier jemand das Wort nimmt, der gerade ber diesen WerthZweifel hat? (Nachla 1885/1886, KSA 12, 2[203], S. 166)

    Tolstoj und Dostojewski haben den Werth der Moral nicht bezweifelt, son-dern mit aller Kraft untersttzt. Man findet aber bei ihnen gerade das, was diesenZweifel rechtfertigt, was ihm Kraft verschafft: die Unbegrndbarkeit der Moral.Man sieht sogar noch mehr: der redliche, unbewute, ungebrochene Glaubean die Grnde der abendlndischen Moral wurde in Russland als westliche, alsrationale, das heit ungerechte, nicht berzeugende, unplausible und zum mo-ralischen Zusammenbruch vorbestimmte Denkweise verurteilt. Nietzsches Kri-tik der abendlndischen Moral sah in Russland nicht nur plausibel, sondern inmanchen Hinsichten viel zu selbstverstndlich aus, da gerade die Grnde derabendlndischen Moral, die er stark angegriffen hat das Wahre in seinem all-gemeinen Anspruch, der Gegensatz zur Lge zu sein, der freie Wille als Ursacheder Handlung, worauf sich Schuld und Verantwortung unmittelbar beziehen ,fr die russische Philosophie keine Plausibilitten darstellten.

    Eben das war fr Nietzsche vielleicht eine Entdeckung, einer der schnstenGlcksflle seines Lebens (GD, Streifzge eines Unzeitgemssen 45, KSA 6,S. 147): In der fremden Art des russischen Philosophierens hat er eine immernoch vorbehaltene Mglichkeit fr die Deplausibilisierung der abendlndischenMoral gesehen, die Mglichkeit eines neuen Anfangs und eine Infragestellungdessen, was Jahrtausende lang als selbstverstndlich betrachtet wurde. Von die-

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    ser befremdenden Logik der russischen Moralisten, die er dann in seinem Be-griff der Bosheit im aussermoralischen Sinne erfasst hat, war er fasziniert.Und auf sie hat er sich berufen, als er von der e inz igen Macht Europasgesprochen hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann.

    Um die Jahrhundertwende begann in Russland die sog. religis-philosophi-sche Renaissance, die durch die Namen von Wladimir Solowew, Nikolaj Berdja-jew, Lew Schestow, Wasilij Rozanow, Wjatscheslaw Iwanow und weiterer rus-sischer Philosophen gekennzeichnet ist. Nietzsche, Dostojewski und Tolstojsind die drei groen Figuren gewesen, unter deren direktem Einfluss sich dieseRenaissance in Russland gestaltete. Nietzsche wurde von vielen als Prophet, alsein Russe unter den westlichen Philosophen, als verwandte Seele verstan-den, der der rationalen und irrefhrenden philosophischen Tradition desAbendlandes entgegensteht, der sie an die Quellen des Lebens zurckfhrt. SeinDenken wurde als Wiedergeburt des religisen Geistes in Europa, als lebendigeErneuerung des Moralischen gedeutet.47 Dennoch stellt sich hier eine Frage:War gerade das nicht ein groes gegenseitiges Missverstndnis? Was kann dennferner von Nietzsches Perspektivierung und Deplausibilisierung der abendln-dischen Moral liegen, als die gewaltsame Forderung, trotz der Unbegrndbarkeitund Unplausibilitt des moralischen Imperativs moralisch zu sein? Um den dich-terischen Satz von Seume wieder aufzunehmen, knnte man sagen: Wenn einPhilosoph die Lieder eines fremden Landes hrt, die mit seinen eigenen schein-bar in Einklang stehen, so darf er vielleicht trotzdem nicht ohne Furcht, wenigs-tens nicht ohne Vorsicht, auer acht lassen, was man im Lande glaubt, undsich voreilig von der Seelenverwandtschaft faszinieren lassen.

    47 Zum russischen Nietzsche-Bild vgl. v.a. R. . Danilevski, Russki obraz Nice, (R. J. Dani-lewski, Russische Gestalt Nietzsches), in: Na rubee XIX XX vekov: iz istorii meduna-rodnh svze russko literatur, (Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: aus derGeschichte der internationalen Beziehungen der russischen Literatur), Leningrad 1991, S. 544;Nelli V. Motroilova, Diskussii o filosofii F. Nice v Rossii serebrnogo veka,(Nelli W. Motroschilowa, Diskussionen ber die Philosophie F. Nietzsches in Russland im sil-bernen Zeitalter), in: Nelli V. Motroilova / li V. Sineoka, F. Nice i filosofi vRossii (Nelli W. Motroschilowa / Julia W. Sineokaja (Hg.), F. Nietzsche und die Philosophie inRussland), Moskau 1998; V. Pustarnakov, Bl li kogda.nibud Fridrih Nice sammrusskim iz zapadnh filosofov? (W. Pustarnakow, War Friedrich Nietzsche irgendwann derrussischste von den westlichen Philosophen?), in: Nelli V. Motroilova / li V. Sineo-ka, F. Nice i filosofi v Rossii (Nelli W. Motroschilowa / Julia W. Sineokaja (Hg.),F. Nietzsche und die Philosophie in Russland), Moskau 1998; li V. Sineoka (Hg.), Nice:pro et contra ( Julia Sineokaja, Nietzsche: pro et contra), St. Petersburg 2001. Einen berblickber die Transformation dieses Bildes und seine Erneuerung gibt Boris W. Markow, Das neueNietzsche-Bild in Russland, seine Chancen und Risiken, in: Nietzsche-Studien 29 (2000),S. 355368.