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© Berghold/Schaffert 2012 167 7. Therapie der akuten Höhenkrankheit 7.1. Ruhe / Abstieg / Abtransport / Wärme 7.1.1. Wie weit muss abgestiegen werden ? 7.1.2. Wann darf wieder aufgestiegen werden ? 7.2. Überbrückende Notfalltherapien 7.3. Weitere Medikamente bei akuter Höhenkrankheit 7.4. Übersicht: Maßnahmen bei AMS / HACE / HAPE 7.5. Der Umgang mit dem bewusstlosen Patienten 7.6. Zulassung und Aufklärungspflicht 7.7. Selbstmedikation durch Nicht-Ärzte Die wirksamste Behandlung aller Formen der akuten Höhenkrankheit heißt immer Sauerstoff - entweder durch Abstieg/Abtransport in tiefere Höhenlagen, mittels Fla- schensauerstoff oder mittels Überdrucksack. Die Sofortmassnahmen bei AMS, HACE und HAPE bestehen einerseits aus kör- perlicher Ruhe, Abstieg/Abtransport und Wärme sowie andererseits aus den Notfall- therapien Sauerstoff, Überdrucksack und aus einigen höhenspezifischen Medikame- nten. Die richtige Anwendung sowie die bedarfsweise Kombination dieser Massnah- men können für das Überleben entscheidend sein.

7. Therapie der akuten Höhenkrankheit - Salzburg 7 Therapie.pdf · © Berghold/Schaffert 2012 169 → Ein Höhenkranker muss bei Abstieg bzw. Ruhetag immer von einem höhen-erfahrenen

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7. Therapie der akuten Höhenkrankheit

7.1. Ruhe / Abstieg / Abtransport / Wärme

7.1.1. Wie weit muss abgestiegen werden ?

7.1.2. Wann darf wieder aufgestiegen werden ?

7.2. Überbrückende Notfalltherapien

7.3. Weitere Medikamente bei akuter Höhenkrankheit

7.4. Übersicht: Maßnahmen bei AMS / HACE / HAPE

7.5. Der Umgang mit dem bewusstlosen Patienten

7.6. Zulassung und Aufklärungspflicht

7.7. Selbstmedikation durch Nicht-Ärzte

Die wirksamste Behandlung aller Formen der akuten Höhenkrankheit heißt immer

Sauerstoff - entweder durch Abstieg/Abtransport in tiefere Höhenlagen, mittels Fla-

schensauerstoff oder mittels Überdrucksack.

Die Sofortmassnahmen bei AMS, HACE und HAPE bestehen einerseits aus kör-

perlicher Ruhe, Abstieg/Abtransport und Wärme sowie andererseits aus den Notfall-

therapien Sauerstoff, Überdrucksack und aus einigen höhenspezifischen Medikame-

nten. Die richtige Anwendung sowie die bedarfsweise Kombination dieser Massnah-

men können für das Überleben entscheidend sein.

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7.1. Ruhe / Abstieg / Abtransport / Wärme

→ Bereits bei AMS kein weiterer Aufstieg , sondern einen Ruhetag einlegen: Völli-

ge körperliche Inaktivität und „bewusste“ Hyperventilation (s.u.). In der Regel ver-

schwinden die Symptome von AMS innerhalb von 1 bis 2 Tagen. Verschlimmern

sich die Symptome bis zum nächsten Morgen, muss sofort unter Begleitung abge-

stiegen werden. Kein Alkohol, keine Sedativa, kein Schlafmittel. Kinder müssen

bereits beim ersten Verdacht auf AMS hinunter getragen werden.

„Bewusste“ Hyperventilation ist bei AMS erfahrungsgemäß eine zusätzliche

Hilfe, da es zumindest vorübergehend die Sauerstoffversorgung verbessert und

die gesteigerte Gehirndurchblutung sowie den Hirndruck senkt. Hyperventilation

führt in der Höhe zu keinen Tetanien.

→ Bei schwerer AMS sofortiger Abstieg . Ist ein Abstieg mit Anstrengungen für den

Betroffenen verbunden, muss der Patient wenn irgendwie möglich abtranspor-

tiert (hinunter getragen) werden, denn jede körperliche Aktivität kann das Krank-

heitsbild bedrohlich verstärken. Kälteschutz !

→ Bei Verdacht auf HACE und/oder HAPE sofortiger Abtransport in sitzender Po-

sition und Kälteschutz . Selbst geringe körperliche Anstrengungen erhöhen das

Herzminutenvolumen und den pulmonalarteriellen Druck (PaP), wodurch das

HAPE-Risiko beträchtlich zunimmt. Ähnliches gilt für Kältestress. Bei rechtzeitig

erkanntem HAPE führt ein sofortiger Abtransport, wenn noch keine Komplikatio-

nen aufgetreten sind, innerhalb weniger Stunden zur Besserung der Symptome

des HAPE, zur Rückbildung der Gasaustauschstörungen und innerhalb von weni-

gen Tagen zum Verschwinden der radiologischen Veränderungen.

→ Immer aufrechter Oberkörper: Bei allen Formen der akuten Höhenkrankheit, be-

sonders aber beim HAPE, muss der Oberkörper möglichst aufrecht positioniert

werden (mindestens 30° Neigung), da dies den PaP se nkt. Daher auch keinen

Liegendtransport, sondern Tragen auf dem Rücken eines Trägers.

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→ Ein Höhenkranker muss bei Abstieg bzw. Ruhetag imme r von einem höhen-

erfahrenen Gruppenmitglied begleitet bzw. betreut w erden. Niemals nur mit

einem Träger / Einheimischen absteigen lassen bzw. zurück lassen! Das kann zu

lebensbedrohlichen Situationen bei Zustandsverschlechterung des Patienten füh-

ren (sprachliche Verständigungsschwierigleiten, Unkenntnis über spezifische Ge-

genmaßnahmen).

Abtransport : Jeder Höhenkranke, der abtransportiert wird, muss immer mit aufrech-

tem Oberkörper getragen werden. Träger adaptieren dafür einen Tragkorb durch

Aufschneiden von Beinschlitzen. Hat man für das Gepäck Tragtiere zur Verfügung,

empfiehlt sich die vorsorgliche Mitnahme eines eigenen „Emergency Horse“.

7.1.1. Wie weit muss abgestiegen bzw. abtransporti ert werden ?

Möglichst bis zu jener Höhe, auf welcher der Patient zuvor eine Nacht symptomfrei

verbracht hat. Ist das unklar, zumindest bis zu jener Höhe hinab, auf der zwei Nächte

davor geschlafen wurde. Dabei wird deutlich, wie bedeutsam die Taktik des symp-

tomfreien Höhersteigens ist. Wer nämlich schon tagelang an höhenbedingten Be-

schwerden gelitten hat und trotzdem weiter hochgestiegen ist, muss jetzt über oft

beträchtliche Höhenunterschiede evakuiert werden.

7.1.2. Wann darf wieder aufgestiegen werden ?

Wenn die Symptome einer Höhenkrankheit nach Abstieg bzw. Abtransport völlig

verschwinden, ist ein langsamer Wiederaufstieg meist schon nach kurzer Erholung

möglich. Symptomfreiheit bedeutet ja, dass man jetzt auf dieser Höhe akklimatisiert

ist. Ataxie (HACE) kann allerdings Tage, ja sogar Wochen andauern.

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Folgendes Prinzip ist der Leitsatz jeder Therapie d er Höhenkrankheit :

• Der rasche Wechsel in tiefere Höhenlagen ist stets die entscheidende

Therapiemaßnahme und kann durch keine andere Th erapie ersetzt werden.

Im Zweifel immer hinunter !

Der sofortige und rasche Abtransport in tiefere Höhenlagen ist bei den ersten Anzei-

chen einer schweren Höhenkrankheit (HAPE, HACE) die kausale Therapie schlecht-

hin und allen anderen Therapiemassnahmen weit überlegen. Rasches Handeln und

größtmögliche Geschwindigkeit beim Abtransport sind oberstes Gebot.

Daher darf ein Abtransport nur bei extremer Gefährd ung aufgeschoben wer-

den: Ein abends ataktischer Patient kann am nächsten Morgen bereits komatös und

damit rettungslos verloren sein.

Nicht auf Rettung von außen warten: Bereits etliche an HACE oder HAPE erkrank-

te Personen sind beim tagelangen Warten auf den angeforderten Helikopter verstor-

ben und hätten durch raschen terrestrischen Abtransport in tiefere Lagen gerettet

werden können. Durch das Warten auf Besserung oder auf Rettung von außen wird

meist wertvolle Zeit verschenkt, die über Leben und Tod entscheiden kann.

Hubschrauberabtransport hat bei HACE und HAPE (außer in den Alpen) keine Priori-

tät mehr und ist daher „out“. Während nämlich das Warten auf einen Helikopterab-

transport eine stets lebensbedrohliche Zeitverzögerung darstellt, kann, wenn statt-

dessen terrestrisch abtransportiert wird, wahrscheinlich das Leben des Patienten

gerettet werden.

7.2. Überbrückende Notfalltherapien

Diese therapeutischen Möglichkeiten stellen keine Alternativen zu den Sofort-

massnahmen Ruhe/Abstieg/Abtransport dar , sondern dienen zur lebensrettenden

Überbrückung in einer Situation, in der ein Wechsel in tiefere Lagen wegen gelän-

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de- oder witterungsbedingter Widrigkeiten vorerst nicht rasch genug erfolgen kann.

Die oft dramatische Besserung des Zustandes nach Anwendung dieser Medikamen-

te (z.B. Überdrucksack, Nifedipin oder Dexamethason) bedeutet aber nicht, dass

damit ein ausreichender Heilungsprozess beginnt, sondern muss vielmehr ra-

schestmöglich zum Abstieg bzw. Abtransport genutzt werden.

Im Folgenden die derzeit gängigen Möglichkeiten zur Notfalltherapie der verschiede-

nen Formen der akuten Höhenkrankeit, wobei auch die Hinweise bezüglich Medika-

mentzulassung, Aufklärungspflicht und Selbstmedikation durch Nicht-Ärzte beachtet

werden sollten:

Sauerstoff (schwere AMS, HAPE, HACE)

Flaschensauerstoff gilt nach wie vor als das wichtigste Medikament zur Verbesse-

rung der Gewebsoxygenisierung und zur Drucksenkung bei allen schweren Formen

der akuten Höhenkrankheit. Ein Abstieg bzw. Abtransport unter Sauerstoffatmung

gilt als die optimale Therapie.

Es gibt derzeit die klassischen sog. offenen Systeme sowie das sog. Demand-

System.

1. Beim Höhentrekking bzw. Höhenbergsteigen sind fast ausschließlich offene

Sauerstoffsysteme mit konstantem Sauerstofffluss in Verwendung. Dabei

wird der Sauerstoff kontinuierlich aus der Druckflasche über einen Druckmin-

derer an ein Masken-Beutel-System abgegeben. Der Patient atmet aus dem

Reservoirbeutel über die Maske ein Gemisch aus Sauerstoff und Umgebungs-

luft ein. Der Reservoirbeutel wird durch den konstanten Sauerstoffluss ständig

mit Sauerstoff befüllt.

Mit den üblichen 2 Liter-Stahlflaschen und einer standardmäßigen Befüllung von 200

bar kann bei einer Flussrate von 10 Litern pro Minute (s.u.) ein Patient 40 Minuten

mit Sauerstoff versorgt werden (Gesamtgewicht etwa 7,5 kg).

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Sauerstoffbeatmung senkt den erhöhten PaP, normalisiert ihn aber nicht. Zink wies

bereits 1985 darauf hin, dass HAPE-Patienten, die ohne Sauerstofftherapie der Hö-

he ausgesetzt blieben, 15 mal häufiger verstarben als diejenigen, die sofort unter

Sauerstoffatmung abtransportiert wurden.

Dosierung der Sauerstoffatmung mit Maske:

• Anfangs höchstmögliche Flussrate (6 bis 10 Liter pr o Minute), bis sich die

Zyanose bessert bzw. eine SaO 2 von mehr als 90 % messbar ist.

• Dann mit einer Flussrate von etwa 2 bis 4 Litern pr o Minute konstant oder

intervallartig weiteratmen.

Vor allem bei Gruppentouren mit größeren Aufstiegsr aten (Höhentrekking, Flug

oder Straßenauffahrt) sollte stets ausreichend Flas chensauerstoff für minde-

stens 12 Stunden Sauerstoffbeatumg mitgeführt werde n. Jede Flasche soll mit

1.000 Liter gefüllt sein und muss neben einem Manometer auch ein Flussraten-

Messgerät aufweisen. Man sollte vor Aufbruch unbedingt den Füllungszustand aller

Flaschen überprüfen und wenn möglich jede einzelne Einheit unter extremen Kälte-

bedingungen (Kühltruhe) testen.

Festsauerstoffgeräte sowie sogenannte Sauerstoffpatronen haben zu wenig Inhalt

und sind wegen der unkontrollierbaren Flussraten nicht geeignet.

Sauerstoffdepots für den Notfall sollten beim Höhenbergsteigen eigentlich in jedem

Hochlager bereit liegen (allerdings oft eine illusorische Forderung). Ohne diese Vor-

sorge, so zeigt die Erfahrung bedauerlicherweise immer wieder, befindet sich der

rettende Sauerstoff oft nicht dort, wo man ihn gerade benötig.

Man kann (gefüllte) Sauerstoffflaschen von zu Hause mitnehmen oder im Zielland

ausleihen. Im ersteren Fall kann man wohl mit der technisch einwandfreien, also ver-

läßlichen Funktionstüchtigkeit rechnen. Aber ein Flugtransport ist teuer und pro-

blematisch, da der Transport von Flaschensauerstoff auf vielen (nicht allen) Linien-

flugzeugen, von einem speziellen Sauerstoffset für Tauchunfälle (Wenoll-System)

abgesehen, verboten ist.

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Andererseits weisen auch vor Ort geliehene Sauerstoffflaschen häufig Mängel auf,

weshalb es bei der Übernahme nötig ist, nicht nur deren Füllungszustand, sondern

auch den einwandfreien Zustand der Ventile, der Maske und vor allem der beiden

Messinstrumente sicherzustellen.

Wegen der Beeinträchtigung der natürlichen Akklimatisation sollte Flaschensauer-

stoff ausschließlich für den Notfall und nie als Prävention, Steig- oder Schlafhilfe ver-

wendet werden.

2. Das Sauerstoff-Demandsystem WS 120: 2008 wurde ein System vorge-

stellt, das den Sauerstoff nicht kontinuierlich, sondern sensorgesteuert nur in

der Phase der Inspiration abgibt. Sein sehr leichter Druckgasbehälter besteht

aus Karbonfasermaterial (2 Liter / 300 bar / 1,4 kg) mit integriertem Druckreg-

ler, einer elektronischen Steuereinheit (INSPO2) und einer Nasenbrille samt

Pulsoxymeter und Transporttasche. Das WS 120 wird von der Firma EMS in

Möhrendorf (D) hergestellt und findet auf Flügen zur Versorgung von sauer-

stoffpflichtigen Passagieren Verwendung.

Damit stünde in Abhängigkeit von der Flussrate wesentlich länger Sauerstoff zur Not-

fallbehandlung zur Verfügung (10 bis 20 Stunden versus 40 Minuten) als mit den

herkömmlichen Systemen. Es wiegt weniger (Gesamtgewicht 4,4 kg) und ist zum

Transport in Verkehrsflugzeugen zugelassen:

Anwendungszeiten und Vergleichswerte zu herkömmlichen Systemen (nach Lämmle et al, 2008)

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Überdrucksack (Mobile hyperbare Kammer)

Feste Überdruckkammern werden seit längerem von Militärs in den Hochgebirgen

Indiens, Nepals, Tibets und Chinas zur Therapie der akuten Höhenkrankheit einge-

setzt. Ein erstes Modell einer tragbaren Überdruckkammer wurde bereits 1919 in

Deutschland vorgestellt. Aber erst seit 1988 gibt es transportable Überdrucksäcke,

die strapazfähig und handlich genug sind - eine Erfindung von Igor Gamow (Colora-

do). Dieser erste Gamow-Bag bestand aus einem zylinderförmigen Polyamid-Trag-

sack mit etwas über 2 Meter Länge und etwa 65 cm Durchmesser und existiert mitt-

lerweile bereits in einer wesentlich leichteren und widerstandsfähigeren Version.

Ähnliche Geräte wurden mittlerweile auch in Frankreich, Australien, Kanada und

Norwegen entwickelt.

B.Seidl

Der Überdrucksack gilt als Alternative zur therapeutischen Sauerstoffatmung. Das

Funktionsprinzip ist einfach: Der Erkrankte wird in den Überdrucksack gelegt, die-

ser wird luftdicht verschlossen, und daraufhin wird der Kammerinnendruck mittels

Pumpe bis auf eine simulierte Höhe von - je nach Ausgangshöhe - 1650 bis 4500 m

(Maximaldruck 220 mb) gesteigert. Der Patient verbleibt nun meist ein bis zwei Stun-

den im Sack. Eine längere Verweildauer zeigt keine Wirkungssteigerung.

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Wegen der mit zunehmender Höhe exponentiellen Druckabnahme ist der durch den

Überdruck simulierte „Abstieg" umso größer, je höher man sich mit dem Überdruck-

sack befindet (Beispiel Gamow-Bag):

TATSÄCHLICHE HÖHE in m SIMULIERTE HÖHE in m

4000 1650

5000 2450

6000 3100

7000 3850

8000 4500

In einigen Studien und in zahlreichen Fallberichten wurde festgestellt, dass eine

kurzfristige Überdruckbehandlung einen raschen Rückgang der Symptome vor allem

von HAPE, möglicherweise aber auch von HACE bewirkt. Der positive Effekt ist aller-

dings zeitlich begrenzt und ersetzt keineswegs einen raschen Abtransport in tiefere

Höhenlagen.

Einige wesentliche Fragen sind noch offen, etwa bezüglich des häufigen Rebound-

Effektes: Bei HAPE verschwindet der Therapieerfolg nach Verlassen des Über-

drucksackes sofort, wenn der Patient sich auch nur minimal anstrengt (etwa durch

die paar Schritte hinters Zelt, um zu urinieren). Das Hauptproblem liegt aber in der

richtigen Indikationsstellung sowie in der richtigen Handhabung , die Einschu-

lung, regelmäßige Übung und Erfahrung erfordert. Gefährlich wäre es, den Über-

drucksack als vermeintliche Akklimatisationshilfe zu missbrauchen.

Einschulung und Training: Die Behandlung im Überdrucksack muss ausschließlich

geübten Helfern vorbehalten bleiben. Nur nach fachgerechter Schulung und bei rich-

tiger Handhabung ist ein Überdrucksack auch durch Laien anwendbar. Vor Beginn

einer Trekkingtour bzw. einer Höhenunternnehmung ist daher eine intensive prakti-

sche Übung aller Teilnehmer erforderlich: Jeder Teilnehmer muss jede der drei

Funktionen (Patient, Betätigung der Pumpe, Betreuer - s.u.) durchüben. Auch die

Rolle des Patienten muss geübt werden, denn wer schon einmal übungshalber im

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aufgepumpten Sack gelegen ist, dem wird es später als Höhenkranker trotz Atemnot

leichter fallen, den engen Sack zu ertragen.

Als überbrückendes Notfallsgerät bei HAPE und HACE dürfte sein stationärer

Einsatz auf besonders neuralgischen Punkten, etwa auf hochgelegenen Berghütten,

in höhenmedizinischen Ambulatorien oder vielleicht auch im Hochlager einer Groß-

expedition vorteilhaft sein. Ob es dagegen wirklich sinnvoll ist, einen Überdrucksack

routinemäßig auch auf Trekkingtouren oder auf Kleinexpeditionen mitzuführen, ist

umstritten. Im Zweifelsfall entscheide man sich jedenfalls eher für die Mitnahme von

Flaschensauerstoff. Dieser ist immer einfach und auch von Laien risikolos anwend-

bar, aber nur begrenzt verfügbar, während der Überdrucksack im Prinzip beliebig oft

anwendbar ist. Eine Therapie mit Flaschensauerstoff plus Medikamenten ist vor al-

lem bei schwersten Formen der Höhenkrankheit (Bewusstlosigkeit) vorteilhafter.

Ein taktisch sinnvolles Vorgehen besteht darin, einen an HAPE oder HACE Erkrank-

ten zusätzlich zu Nifedipin bzw. Dexamethason (s.u.) intermittierend hyperbar zu

behandeln: Eine ein- bis zweistündige Überdruckbehandlung kann den Zustand des

Patienten soweit bessern, dass er unmittelbar darauf unter Sauerstoffatmung von 1

bis 2 Liter/Minute abtransportiert werden kann. Nach ein bis zwei Stunden bzw. wenn

sich der Zustand des Patienten neuerlich verschlechtert, was üblicherweise zu er-

warten ist, wird pausiert und dabei neuerlich die Überdruck-Therapie angewendet.

Da eine Überdruckbehandlung nur eine kurzfristige Besserung des Beschwerde-

bildes bewirkt, muss die Zeit unmittelbar danach zum sofortigen Abtransport in tiefe-

re Regionen genützt werden. Eigenes Gehen des Patienten, besonders aber weitere

Aufstiege (z.B. Gegenanstiege) müssen unterbleiben.

Zusätzliche Sauerstoffatmung im Überdrucksack: In einer starren Überdruckkam-

mer ist die Inhalation von Flaschensauerstoff insofern problematisch, als die Sauer-

stoffkonzentration in der Kammer ansteigen kann und dieser Effekt zusätzlich durch

den erhöhten Partialdruck verstärkt wird. Das kann nicht nur zu toxischen Sauerstoff-

konzentrationen führen, sondern erhöht auch die Brandgefahr erheblich. Aus diesen

Grün-den ist die Sauerstoffatmung in starren Überdruckkammern ausdrücklich ver-

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boten. Im Überdrucksack kann aber selbst auf Meereshöhe nur ein maximaler

Druck von etwa 1.3 bar produziert werden. Eine Explosionsgefahr besteht aber erst

ab 2 bar, und außerdem ist nicht davon auszugehen, dass ein Patient während der

Behandlung im Überdrucksack mit offenem Feuer hantiert. In schweren Fällen

(HAPE, HACE) kann daher eine Zusatzatmung mit Sauer stoff im Überdrucksack

sinnvoll sein.

Wichtige Kriterien der Überdruckbehandlung:

• Die Reihenfolge der Dringlichkeit von Notfallmaßnahmen bei schwerer Höhen-

krankheit lautet: 1. Abstieg / Abtransport - 2. Sauerstoff / Medikamentöse Notfall-

therapie - 3. Überdrucksack.

• Eine Überdrucksack-Behandlung ersetzt vor allem nicht den Abstieg bzw. Ab-

transport, verbessert aber den Zustand des Patienten für den im Anschluss an die

Überdrucksack-Behandlung immer obligaten Abtransport in tiefere Höhenlagen.

• Ein akklimatisationsgerechtes Aufstiegskonzept beim Höhenbergsteigen (langsa-

mes Höhersteigen, moderate Schlafhöhendistanzen) bedeutet stets eine wesent-

lich bessere Sicherheit als die Mitnahme eines Überdrucksackes.

• Der Überdrucksack ist weder zur Vorbeugung noch zur Behandlung der milden

AMS geeignet, weil die mangelhafte Akklimatisaton (sonst hätte man ja keine

AMS-Beschwerden) dadurch verzögert würde.

• Bei schweren Verlaufsformen der AMS und bei HAPE belegen zahlreiche erfolg-

reiche Behandlungen im Überdrucksack dessen Wirksamkeit.

• Im Zweifelsfall gibt es außer Atem-Herzkreislauf-Stillstand keine Kontraindikation

zur Überdruckbehandlung. Auch der bewusstlose Patient kann in stabiler Seiten-

lage grundsätzlich im Überdrucksack behandelt werden. Eine gleichzeitige Intuba-

tionsbeatmung ist undurchführbar.

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• Eine Überdruckbehandlung soll stets in Kombination mit höhenspezifischen Not-

fallmedikamenten sowie mit erhöhtem Oberkörper erfolgen und muss nach spä-

testens 90 – 120 Minuten zu einer deutlichen Besserung führen.

• Wenn nach maximal zwei Stunden Überdrucksack-Behandlung keine Besserung

eingetreten ist, kann das folgende Ursachen haben:

4 Das Krankheitsbild ist zu weit fortgeschritten, es sind bereits Spätkom-

plikationen (z.B. cerebrale, pulmonale Thrombembolien) aufgetreten.

4 In extremen Höhen muss auch an eine schwere Deterioration mit

subakuter Hypothermie und progredienter Exsikkose gedacht werden.

In diesen Fällen sollte die hyperbare Notfallbehandlung über mehrere Stunden

fortgesetzt werden und durch eine entsprechende Zusatztherapie ergänzt werden.

• Die logistischen Probleme des Flaschensauerstoffs ebenso wie des Überdruck-

sackes bestehen darin, dass beides meist nicht dort gelagert ist, wo es im Notfall

benötig wird. Beides soll daher möglichst im höchsten Lager deponiert werden.

• Das Mitführen eines Überdrucksackes gilt heute zumindest auf kommerziellen

Unternehmungen auch als haftungsrechtliche Absicherung, obwohl dazu bislang

weder entsprechende rechtliche Bestimmungen bzw. Verkehrsnormen existieren

noch eine Judikatur bekannt ist.

• Besonders sinnvoll ist ein Überdrucksack in Gebieten, die einen raschen Abstieg

geländebedingt weitgehend ausschließen.

• Die Behandlung im Überdrucksack sollte grundsätzlich geschulten Helfern vorbe-

halten bleiben. Nach fachgerechter Schulung und bei richtiger Handhabung ist ein

Überdrucksack auch durch Laien anwendbar.

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• Die zumutbare Obergrenze der Einsatzfähigkeit eines Überdrucksackes liegt we-

gen des anstrengenden Pumpens bei etwa 7000 Meter. Oberhalb dieser Höhe

sind im Notfall nur Flaschensauerstoff und Notfallmedikamente praktikabel.

Gebrauchsrichtlinien:

• Jede Überdruckbehandlung erfordert zumindest zwei geschulte und trainierte Hel-

fer: Eine Person beobachtet und betreut ständig den Patienten und dirigiert die

Pumpfrequenz, und eine Person bedient nach Anleitung die Pumpe. Beides kann

nur funktionieren, wenn die folgende Prozedur vorher ausreichend geübt wurde.

• Vor der Behandlung muss geprüft werden, ob die Verbindung zwischen Mittelohr

und Rachenraum nicht durch Verschleimung, etwa bei Erkältungen im Nasen-

Rachenraum, verlegt ist: Man fordert den Patienten auf, Mund und Nase zu schlie-

ßen und die eingeatmete Luft zu pressen (Druckausgleich). Wird dabei ein Druck

auf das Trommelfell spürbar, ist die Verbindung zum Mittelohr durchgängig, und

der Patient kann einer Überdruckbehandlung ausgesetzt werden.

• Sind die Schleimhäute jedoch geschwollen, fühlt der Patient keinen Druck auf das

Trommelfell. Ein aktiver Druckausgleich ist also nicht möglich. Solche Patienten

erhalten vor der Überdruckbehandlung abschwellende Nasentropfen. Die Behand-

lung darf anschließend erst begonnen werden, wenn die beschriebene Durchgän-

gigkeitsprüfung erfolgreich ist. Die Nasentropfen verbleiben während der folgen-

den Behandlung im Überdrucksack, damit sie bei Bedarf neuerlich verwendet wer-

den können.

• Vor dem Einstieg in den Überdrucksack sollte der Patient wenn irgendwie möglich

urinieren bzw. seine Notdurft verrichten.

• Den Überdrucksack auf einem möglichst flachen Boden - aber nicht horizontal,

sondern schräg geneigt (ca. 30 Grad) - auf einer Isomatte oder auf einer anderen

verlässlich wärmeisolierenden Schutzunterlage ausbreiten. Wegen Beschädi-

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gungsgefahr scharfkantigen Untergrund meiden. Zweite Isomatte und Schlafsack

in den Überdrucksack legen. Sack gegen ein Abrutschen sichern.

• Bei direkter Sonnenbestrahlung kann die Innentemperatur im Überdrucksack

schnell bis zur Unerträglichkeit steigen. Daher muss der Überdrucksack unbedingt

im Schatten plaziert werden.

• Sollte es unvermeidlich sein, dass die Überdruckbehandlung in einem Zelt (z.B. im

Küchenzelt) erfolgen muss, muss auf eine ausreichende Belüftung geachtet wer-

den, da sich verbrauchte Luft (Kocher, Gaslampen, Personen) im Sack allmählich

gefährlich anreichern würde.

• Mit zunehmender Verweildauer im Sack steigt die Luftfeuchtigkeit enorm an. Dau-

nenbekleidung oder Schlafsack feuchten sich dabei stark an und können meist

tagelang nicht mehr getrocknet werden. Deshalb sind Goretex- oder Fleecebe-

kleidung vorteilhafter.

• Reißverschluß bis zum Anschlag schließen, Pumpe anschließen, Anschlusshahn

öffnen und Druckablasshähne schließen. Unverdrehte Gurte schließen.

• Pumpe betätigen, und zwar anfangs etwas schneller, aber bei Beginn des Druck-

anstieges betont langsam (maximal zehnmal pro Minute). Verspürt der Patient da-

bei Ohrenschmerzen, muss noch langsamer gepumpt werden, und der Patient

muss zusätzlich einen aktiven Druckausgleich (siehe oben) durchführen.

• Bis zum Maximaldruck aufpumpen, was sich auch durch deutliches Zischen an

den Überdruckventilen äußert. Der Druckanstieg kann sowohl am Manometer als

auch an einem im Sack plazierten Höhenmesser beobachtet werden.

• Luftumwälzung: Damit der Patient in der Folge ausreichend mit Sauerstoff ver-

sorgt wird und auch die abgeatmete Kohlendioxydkonzentration unter 1 Prozent

bleibt, muss der Sack, nachdem der Maximaldruck erreicht wird, ständig mit 10 bis

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15 Pumpvorgängen pro Minute (etwa ein Pumpstoss alle 5 Sekunden) belüftet

werden. Das Zischgeräusch des Ventiles muss dabei ununterbrochen hörbar sein.

• Durch das Sichtfenster hält ein erfahrener Helfer, möglichst ein Arzt, ständig opti-

schen bzw. akustischen Kontakt mit dem Patienten. Dieser permanente Kontakt

ist enorm wichtig. Man soll nämlich den Patienten während der gesamten Behand-

lung immer wieder ansprechen, um ihn zu beruhigen und um festzustellen, ob er

Druckausgleichprobleme hat bzw. ob er bei Bewusstsein ist. Dieser Helfer dirigiert

auch den Pumpvorgang. Darüberhinaus sollten sich die Umstehenden leise ver-

halten und nicht herumlaufen, da im Inneren des Sackes ein hoher Schallpegel

herrscht und der Patient dadurch zusätzlich gestresst wird.

• Nach 60- bis 90-minütiger Überdruckbehandlung wird der Druck sehr langsam,

das heißt innerhalb von 5 bis 10 Minuten, abgelassen. Nach dem Ausstieg des

Patienten die nasse Innenseite des Sackes trocknen.

• Sollte notfallmäßig ein rascher Druckablass erforderlich sein, muss der Behandel-

te dabei langsam, aber ohne Unterbrechung ausatmen.

Häufige Probleme:

• Angstzustände und Klaustrophobie

• Erbrechen während der Überdruckbehandlung

• Eine zu geringe Frischluftzufuhr (< 40 l/min) kann zu einem toxischen CO2-Anstieg

führen.

• HAPE-Patienten tolerieren keine horizontale Flachlagerung.

• Die anstrengende Pumptätigkeit kann vor allem in extremer Höhe die Kräfte der

Helfer überfordern.

• Reissverschluss und Ventile können undicht werden, wenn der Überdrucksack

nicht behutsam transportiert und benützt wird (Vorsicht bei Leihgeräten !).

Derzeit stehen weltweit mehrere Modelle des Überducksackes zur Verfügung: GAMOW BAG: Dieses

in den USA hergestellte Modell wird mittels einer Fußpumpe aufgeblasen. Der Gamow Bag kann auch

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gemietet werden. (Kontaktadresse: CHINOOK MEDICAL GEAR Inc., P.O.Box 3300, 725 Chambers

Ave. # 12, Eagle, Colorado 81631, FAX USA 970-328-4404). CERTEC: Dieses französische Produkt

ist in verschiedenen Versionen erhältlich. Es simuliert einen tieferen Abstieg als der Gamow Bag (165

gegenüber 104 Torr), verfügt über eine Handpumpe und ist mit einem Gewicht von 5,6 kg samt Zube-

hör etwas leichter als der Gamow Bag (8 kg). Auch ist beim Certec der Einstieg in den Sack einfacher

zu bewerkstelligen. (Kontaktadresse: Société CERTEC, Sour-cieux-les-Mines, F-69210 L`Arbresle,

FAX 74 70 37 66.). Weitere Modelle werden in Kanada, Australien und Norwegen produziert.

Die günstigste Ausführung des Certec Bag, „Trekking“, kostet EUR 1871,--, die teuerste EUR 3277,--

(2012; www.boutique-certec.fr/Trekking)

EPAP-Maske und PEEP-Ventil, VPPB und PLB

Ein positiv-endexpiratorischer Druck mittels Atemventil verbessert kurzfristig die Sau-

erstoffversorgung von HAPE-Patienten möglicherweise durch Eröffnung atelekta-

tischer Areale sowie durch Verbesserung des Gasaustausches. Bereits eine zehn-

minütige Atmung gegen einen positiv-endexpiratorischen Druck von 5 bis 10 cm H20

ergibt eine Verbesserung der Sa02 um 10 bis 20 %.

Nachteile: Eine längere Anwendung ist anstrengend, und höhere Druckwiderstände

sind riskant (Barotrauma, Verminderung des venösen Rückflusses und der Herzlei-

stung, Retinablutungen). Bei einem Fall einer längeren Anwendung wurde die Ent-

wicklung eines HACE beobachtet.

Der kurzfristige intermittierende Einsatz dieser Überbrückungsmassnahme bis zum

Erreichen eines Überdrucksackes, bis zum Eintreffen von Sauerstoff oder bis ein

Abtransport möglich ist, kann aber durchaus eine Verbesserung der Sauerstoff-

sättigung bei HAPE bewirken. Der Patient atmet dabei normal ein, während die Aus-

atmung durch ein Ventil gebremst wird. Die daraus resultierende leichte Druck-

erhöhung soll zu einem Anstieg des Lungenvolumens zwischen den Atemphasen

führen.

Eine expiratorische Druckerhöhung kann mit etwas Übung und bei noch vorhandener

Handlungsfähigkeit des Patienten auch ohne Atemventil durchgeführt werden. Da-

zu existieren drei Methoden:

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• Gegen den Widerstand der zugehaltenen Nase und der nahezu geschlossenen

Lippen langsam ausatmen.

• Voluntary positive pressure breathing (VPPB): 3 Sekunden einatmen, 3 Se-

kunden die Luft anhalten, 4 Sekunden ausatmen, dann 2 Minuten Normalatmung.

•••• Pused-lip breathing (PLB): 3 Sekunden einatmen, 7 Sekunden ausatmen.

Unter Laborbedingungen erbrachten VPPB und PLB eine Erhöhung der SaO2 von 79

% auf 87 %. Ob diese Methoden als Therapiestandard empfohlen werden können,

ist umstritten. Wir haben deren Anwendung in der Höhe noch nirgends beobachtet.

IBUPROFEN, NAPROXEN (Höhenkopfschmerz, HAH)

Man fand heraus, dass Ibuprofen zur Behandlung des sehr häufigen Höhen-

kopfschmerzes als wirkungsvolles und nebenwirkungsarmes Medikament bevorzugt

werden kann. Es wirkt rein symptomatisch. Ibuprofen darf nicht zur Vorbeugung

verwendet werden: Die gastrointestinalen Nebenwirkungsrisiken von NSAR sind be-

kanntlich dosisabhängig, und es wurde über vermehrte Retinablutungen unter Ibu-

profen in der Höhe berichtet. Schließlich hat gerade der Höhenkopfschmerz als

meist initiales Leitsymptom der Höhenkrankheit eine wichtige Warn- bzw. „Brems"-

funktion inne.

Ibuprofen in einer Einmaldosierung von 400 bis 600 mg ist ein sehr häufig verwende-

tes höhenspezifisches Medikament. Ein weiteres NSAR, Naproxen, wirkt beim Hö-

henkopfschmerz ähnlich wie Ibuprofen. Wegen einer mit dem Höhenkopfschmerz

häufig verbundenen Neigung zum Erbrechen empfiehlt sich eventuell eine orale

Prämedikation mit Domperidon (MOTILIUM®).

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NIFEDIPIN (HAPE)

Der Kalzium-Antagonist Nifedipin gilt heute beim akuten HAPE als Notfalltherapeu-

tikum der Wahl, auch wenn diese pharmakologische Substanz für diese Indikation

offiziell nicht zugelassen ist. Nifedipin führt zu einer raschen Senkung des pulmonal-

arteriellen Drucks, zu einer Verbesserung des alveolararteriellen Sauerstoffgradien-

ten und ermöglicht so über eine Stabilisierung der Sauerstoffsättigung eine verbes-

serte Oxygenisierung (Anstieg der pulsoxymetrisch bestimmbaren SaO2). Die Alveo-

larödeme bilden sich zurück. Dass diese Substanz schon häufig mit beeindru-

ckendem Erfolg bei HAPE eingesetzt werden konnte, wurde vielfach dokumentiert.

Erfahrungsgemäß kann mit Nifedipin zumindest eine Verschlechterung des HAPE

verhindert werden. Bei AMS und HACE ist Nifedipin unwirksam.

Wegen des nicht auszuschließenden Risikos hypotoner Reaktionen sollte auschließ-

lich die Retardform Verwendung finden:

Sofort und dann bei Bedarf alle 6 Stunden 1 Nifedip in retard 20mg Filmtablette

Hierbei ist das Nebenwirkungsrisiko geringer, und außerdem ist ja eine sehr rasche

Wirkung gar nicht unbedingt erforderlich. Nifedipin 10 mg in der rasch resorbierbaren

Kapselform soll auch nicht bei bewusstlosen Patienten verabreicht werden, da bei

Applikation des Kapselinhaltes keine hinreichende Resorption gewährleistet ist.

DEXAMETHASON (HACE, HAPE)

Bei HACE ist Dexamethason seit Jahren das Mittel der Wahl. Es gilt als das derzeit

einzige wirksame Medikament bei der Notfallbtherapie von HACE, auch wenn es

dazu bis dato keine Studien gibt.

Wie es wirkt, darüber tappt man im Dunkeln: Es stabilisiert vermutlich die Blut-Hirn-

Schranke und verbessert damit die einschlägigen Symptome eindrucksvoll. Weiters

blockiert es die Angioneogenese und die Lipidperoxydation und stabilisiert die Mast-

zellen. Das übliche Nebenwirkungsrisiko von Steroiden ist in Anbetracht der vitalen

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Bedrohung vernachlässigbar, ein Rebound-Effekt nach kurzfristiger Verabreichung

eher unwahrscheinlich.

Es gibt überraschende Hinweise darauf, dass Dexamethason auch PaP-senkend

wirkt, wozu man einige Mechanismen diskutiert: Verstärkung der alveolären Flüssig-

keitsabsorption, Verringerung der hypoxischen pulmonalen Vasokonstriktion, Erhö-

hung der Nitroxyd-Produktion in den Lungenendothelien, Stimulation des Surfactant-

Faktors, Reduktion des hypoxischen Sympathikotonus u.a.m. Weitere Untersuchun-

gen sind abzuwarten.

Ein nicht selten gleichzeitig vorhandenes HACE rechtfertigt aber jedenfalls die zu-

sätzliche Gabe von Dexamethason. Dexamethason ist als Zusatzmedikation mögli-

cherweise auch aus anderen Gründen bei HAPE sinnvoll, und zwar wegen des an-

tiinflammatorischen Effektes.

Dexamethason- Dosierung : Initial oral oder besser intravenös 8 mg oder höher

dosiert (loading dose), dann weiter alle 6 Stunden 4 mg.

Initialdosis: In der Notfallmedizin werden bei entsprechender Indikation üblicher-

weise gerne Höchstdosen verabreicht, ohne dass es dafür gesicherte Grundlagen

gibt. Dennoch spricht in vitalen Bedrohungssituation wie etwa bei HACE/HAPE wohl

nichts dagegen, zumindest initial (als loading dose) mehr als die empfohlenen 8 mg

zu verabreichen, sofern ausreichende Mengen dieses Medikamentes vorrätig sind.

Beim Tumor-bedingten Hirnödem, das vielleicht als Vergleich herangezogen werden

kann, gelten heute Tagesdosierungen von 12 bis 16 mg als Standard.

Applikationsform: Der Wirkeintritt von Dexamethason wird unabhängig von der Ap-

plikationsform mit etwa 20 Minuten angegeben. Gelegentlich wird daher damit argu-

mentiert, dass es unerheblich sei, ob die Initialdosis oral oder parenteral verabreicht

wird. Tatsächlich kann wohl davon ausgegangen werden, dass der intravenöse Weg

schneller zum Ort des Geschehens führt. Ist der Helfer also befugt, intravenöse In-

jektionen zu verabreichen, wird das wohl der sinnvollere Zugang sein.

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Eine HACE-Therapie mit Dexamethason muss so früh wie möglich einsetzen. Bei

Bewusstlosigkeit des Patienten ist es in aller Regel bereits zu spät.

Dexamthason ist bei allen schweren Formen der akuten Höhenkrankheit (vielleicht

auch bei HAPE) das mit Abstand beste lebensrettende Medikament und muss daher

ab der Schwellenhöhe immer mitgeführt werden.

Kombinationstherapien

Als sinnvolle Notfalltherapie bei HACE, wenn ein sofortiger Abtransport vorerst un-

möglich ist, hat sich die Kombination von Dexamethason mit einer Überdruckbe-

handlung erwiesen: Die Überdrucktherapie bringt anfangs zwar bessere Resultate

als die alleinige Dexamethasontherapie, aber keinen Langzeiteffekt, während Dexa-

methason anfangs zwar weniger wirksam ist als der Überdrucksack, nach einigen

Stunden jedoch deutlich bessere Ergebnisse zu sehen sind.

Bei unklaren schweren Formen der Höhenkrankheit wird zur Vorbereitung des

Ab-transportes oft folgende Kombination („Tripeltherapie“) angewendet:

DEXAMETHASON + NIFEDIPIN + SAUERSTOFF / ÜBERDRUCKSA CK

Acetazolamid als Bestandteil einer Kombinationstherapie ist bei HACE, wie früher

gelegentlich empfohlen, nicht erforderlich und wäre wegen einer möglichen Verstär-

kung der respiratorischen Azidose bei HAPE lebensgefährlich.

Beispiele für Medikamente gegen AMS, HAPE und HACE (Handelsnamen :in Österreich)

NIFEDIPIN Adalat® retard 20 mg, Nifebene® retard 20 mg

DEXAMETHASON Fortecortin® 4 mg, Dexamethason® Ampullen

IBUPROFEN Brufen® 600 mg, Dolgit® 600 mg, Seractil 400 mg

NAPROXEN Proxen® 500 mg, Miranax® 550 mg

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7.3. Weitere Medikamente bei akuter Höhenkrankhei t

ACETAZOLAMID (DIAMOX ®): Ist als Notfallstherapeutikum in der Höhe problema-

tisch und riskant. Es gilt daher heute nicht mehr als Option bei akuter Höhenkrank-

heit, und zwar aus folgenden Gründen:

Bei milder AMS ist Acetazolamid nicht wirklich notwendig. Bei HACE ist Acetazola-

mid bei weitem nicht so wirksam wie Dexamethason.

Bei HAPE ist Acetazolamid nicht nur wirkungslos, sondern sogar riskant: Die bei

HAPE ausgeprägte Gasaustauschstörung bedingt eine respiratorische Azidose, die

durch die Carboanhydrase-Hemmung (metabolische Azidose) lebensbedrohend ver-

stärkt werden kann. Sollten also unter Acetazolamid HAPE-Symptome auftreten,

muss das Medikament sofort abgesetzt werden.

SILDENAFIL : Phosphodiesterase-5-Hemmer sind zwar bei der überbrückenden

HAPE-Notfalltherapie dem Nifedipin unterlegen, und zwar wegen der Nebenwirkun-

gen und aus Kostengründen.

AZETYLSALIZYLSÄURE (ASS ) ist umstritten, auch wenn manche Höhenbergstei-

ger mit dem bekannten Hausmittel ASPIRIN®, einem billigen und nahezu überall er-

hältlichen Analgetikum, bei milder AMS gute Erfahrungen gemacht haben wollen.

Allerdings wird die mit häufiger und unkontrollierter Einnahme von ASS dosisunab-

hängig verbundene erhöhte Blutungsneigung (Gastroduodenum, Schleimhäute des

Respirationstraktes, Retina, Gehirn) unterschätzt. Auch hatten viele HACE-Patienten

vorher über etliche Tage ASS in hohen Dosen eingenommen und sind trotzdem

schwer erkrankt oder sogar gestorben. Von ASS sollte man daher in der Höhe lieber

die Finger lassen.

NIEDERMOLEKULARE HEPARINE : Ob der Einsatz von NMH beim fortgeschritte-

nem HAPE einen Effekt auf den weiteren klinischen Verlauf hat, ist nicht geklärt.

Überlegenswert erscheint die Gabe von NMH zumindest bei immobilen HAPE-

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Patienten während des Abtransportes. Dafür spricht, dass die im Gefolge eines

HAPE möglicherweise auftretenden Gerinnungsstörungen das Risiko einer Thromb-

embolie erhöhen dürften. Das oft plötzliche Sterben bei HAPE weist zumindest in

diese Richtung. Dagegen spricht, dass die nach therapeutischen Dosen von NMH

erhöhte Blutungsneigung problematisch werden kann. Es muss nämlich beachtet

werden, dass oft gleichzeitig ein HACE besteht und Autopsien von HACE-Patienten

disseminierte petechiale Hirnblutungen zeigen. NMH sollten überhaupt nur nach ei-

ner strengen Nutzen-Risiko-Abwägung verabreicht werden, und zwar auch wegen

der Gefahr der Sensibilisierung gegen Heparin mit nachfolgender Entwicklung einer

lebensbedrohlichen Heparin-induzierten Thrombozytopenie.

ANTIBIOTIKA haben keinen Einfluss auf AMS, HAPE oder HACE. Da aber HAPE

nicht selten mit Fieber und Leukozytose einhergeht, ist eine zusätzliche Therapie mit

einem Breitspektrumantibiotikum überlegenswert.

SEDATIVA und HYPNOTIKA fördern in der Akklimatisationsphase das Entstehen

von AMS und Höhenödemen. Allerdings: BENZODIAZEPINDERIVATE mit kurzer

Halbwertszeit (z.B. MOGA-DON®) können als Schlafmittel verwendet werden. Auch

ein niedrigdosiertes TEMAZEPAM (LEVANXOL® 10 mg / 24 h) dürfte keinen Einfluss

auf die SaO2 haben und daher als Einschlafmittel in der Höhe geeignet sein. Übri-

gens: akute psychotische Zustände sind beim Höhenbergsteigen nicht selten. Mit

HALOPERIDOL (im oder peroral) sind solche dramatischen Situation in der Regel

gut beherrschbar.

Alle zentral dämpfenden Medikamente können potenziell die Akklimatisation stören

und sollen daher in großen Höhen wenn überhaupt dann nur mit kurzer HWZ und

niedrig dosiert Verwendung finden.

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7.4. Übersicht: Maßnahmen bei AMS / HACE / HAPE

MILDE AMS

1. Rasttag, eventuell vorübergehender Abstieg

2. Ibuprofen, Naproxen

HACE

1. Abtransport

2. Sauerstoff (anfangs hohe Flußrate, später 2 bis 4 Liter / Minute)

3. Dexamethason initial mindestens 8 mg, dann alle 6 Stunden 4 mg

4. Überdrucksack

HAPE

1. Abtransport

2. Sauerstoff (anfangs hohe Flußrate, später 2 bis 4 Liter / Minute)

3. Nifedipin retard 20 mg alle 6 Stunden

4. Überdrucksack

5. Kälteschutz

7.5. Der Umgang mit dem bewusstlosen Patienten

Wenn man einen Patienten bewusstlos auffindet, z.B. morgens im Zelt, stösst man

verständlicherweise auf nicht unbeträchtliche diagnostische Schwierigkeiten, weil ei-

ne Fremdanamnese, wenn überhaupt vorhanden, meist unergiebig ist. Man erinnere

sich daran, dass HACE und HAPE sehr häufig gemeinsam auftreten. Man geht in

folgender Reihenfolge vor:

1. Feststellung des respiratorischen Status

2. Messung der arteriellen Sauerstoffsättigung

3. Feststellung des grob-neurologischen Status

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4. Dexamethason hochdosiert intramuskulär oder intr avenös

5. Maskenbeatmung mit Sauerstoff (hohe Flußrate)

6. Eventuell Überdruckbehandlung

Daraufhin ist der Patient hoffentlich bald so weit ansprechbar, dass eine ausreichen-

de Anamnese und eine neuerliche klinische Untersuchung ein besseres Bild ermög-

lichen. Danach richtet sich schließlich das weitere Vorgehen.

7.6. Zulassung und Aufklärungspflicht

Keines der hier genannten Medikamente ist speziell für höhenmedizinische Thera-

pien zugelassen, kann jedoch im Rahmen der so genannten ärztlichen Therapiefrei-

heit verordnet werden, soferne die Indikation dafür stimmt und auch belegbar oder

zumindest dokumentiert ist (sog. Off-Label-Use). Unbedingt erforderlich ist vorher

eine „besondere Aufklärung“, wobei auf die fehlende Zulassung, vor allem aber auf

mögliche Nebenwirkungen (z.B. bei Nifedipin) hingewiesen werden muss. Jede ärzt-

liche Aufklärung sollte immer auch schriftlich dokumentiert werden.

Unter diesen Bedingungen sind vor allem solche höhenmedizinischen Indikationen

wenig problematisch, die durch entsprechende Studien belegt sind. Hier ist man

nach der gängigen Rechtssprechung auch bei fehlender Zulassung sogar gehalten,

derartige Präparate einzusetzen.

7.7. Selbstmedikation durch Nicht-Ärzte

Eine höhenmedizinische Notfallstherapie erfolgt im Regelfall ohne anwesenden Arzt,

also durch einen mehr oder weniger höhenerfahrenen Laien. Dieser sollte zumindest

in der Erkennung vor allem der Frühzeichen der verschiedenen Formen der akuten

Höhenkrankheit und in der Anwendung der einschlägigen Maßnahmen und Medika-

mente ausreichend geschult sein. Vorsicht: Ein Arzt, der eine höhenmedizinische

Bergreiseapotheke verschreibt, übernimmt damit eine nicht unerhebliche Verantwor-

tung. Er muss seinem Klienten eine schriftliche Anleitung zur Anwendung mitgeben

und ausreichend schulen. Die letalen Risiken von Fehldiagnosen, falschen Indikatio-

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nen, Dosierungsfehlern und Medikamentenverwechslungen durch nichtärztliche Hel-

fer sind nämlich leider beträchtlich, wie zahlreiche Berichte belegen.

MERKE:

Höhenkrankheit tritt nie schicksalshaft auf, sonder n ist fast immer die Folge

gravierender höhentaktischer Fehlentscheidungen. Za hlreiche Analysen

schwerer und tödlicher Höhenanpassungsstörungen zei gen mit erschütternder

Regelmäßigkeit, dass zuvor gegen eine, meist sogar gegen mehrere Regeln

der Höhentaktik verstossen wurde und dass außerdem die daraus resultieren-

den Frühzeichen bagatellisiert, verschwiegen, missa chtet

und ohne rechtzeitige Konsequenzen geblieben sind.