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7. Willensbildung, Willensfreiheit Edelzwicker diskutiert mit uns die Begriffe Deter- minismus, Kausalität, Willensbildung und Willens- freiheit vor dem Hintergrund der Libet-Experimen- te. Er zeigt, dass die vielbeachteten Resultate des Neurobiologen Benjamin Libet eben doch mit Wil- lensfreiheit vereinbar sind und erläutert die Stadien einer persönlichkeitstypischen, u.a. wunschgetriebe- nen Willensbildung mit seinem SPE-Modell. Themen: Ein Vorrat von Begriffen Habermas und Bieri haben das Wort Direkt dazu Die Libet-Experimente Eine neue Interpretation der Libet-Resultate Wegner und Wheatley haben das Wort Wenn der Wille einem rationalen Urteil folgte... Edelzwickers Methode Die persönlichkeitstypische Willensbildung Fazit

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7. Willensbildung, Willensfreiheit

Edelzwicker diskutiert mit uns die Begriffe Deter-minismus, Kausalität, Willensbildung und Willens-freiheit vor dem Hintergrund der Libet-Experimen-te. Er zeigt, dass die vielbeachteten Resultate des Neurobiologen Benjamin Libet eben doch mit Wil-lensfreiheit vereinbar sind und erläutert die Stadien einer persönlichkeitstypischen, u.a. wunschgetriebe-nen Willensbildung mit seinem SPE-Modell.

Themen:

Ein Vorrat von Begriffen

Habermas und Bieri haben das Wort

Direkt dazu

Die Libet-Experimente

Eine neue Interpretation der Libet-Resultate

Wegner und Wheatley haben das Wort

Wenn der Wille einem rationalen Urteil folgte...

Edelzwickers Methode

Die persönlichkeitstypische Willensbildung

Fazit

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Der philosophische Edelzwicker

We are…„but helpless pieces of the game he playsupon this checkerboard of night and days;hither and thither moves and checks and slaysand one by one back in the closet lays.”Omar al-Khayyam, Astronom, 1048 - 1123, Iran

"Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, dass er bei allem Determinismus glaubt, er agiere als freies Wesen." G. C. Lichtenberg , Physiker, 1742 - 1799

Die Verfassung, der Gesetzgeber, die Kirchen und die Philo-sophen der Aufklärung definieren den Menschen so, wie wir uns in guten Stunden selbst empfinden: als autonom denken-des und selbstverantwortlich handelndes Wesen. Deshalb klingt es etwas merkwürdig wenn wir gleichwohl fragen:

Kann ein Mensch, kann ich überhaupt handeln, etwas bewir-ken?

Kann ich etwas bewusst bewirken?

Kann ich mich frei dazu entscheiden?

Dass die Philosophie diese Fragen gleichwohl stellen muss, zeigt uns, dass sie ein bottom-up Verfahren verwendet. Es

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geht nicht darum, einen idealisierten Menschen zu erträumen, ein „autonom denkendes und selbstverantwortlich handelm-des Wesen“, nur um dann „top-down“ empirische Resultate zu belächeln oder zu bezweifeln, die diesem Bild nicht ent-sprechen. Vor uns liegt der schwierigere Weg ergebnisoffener Untersuchungen, die von einfachen zu komplexeren Frage-stellungen fortschreiten.

Wir beginnen mit einer Betrachtung der Vorgänge, die einer bewussten Handlung vorausgehen. Neurobiologische, psycho-logische und philosophische Beiträge werden berücksichtigt. Dabei werden wir einen Begriff hinzu nehmen, der in der philosophischen Diskussion vernachlässigt wird: die Willens-bildung.

Ein Vorrat von Begriffen:

Wir bemühen uns um abgestimmte Definitionen zu allen in der Argumentation verwendeten Begriffen. Hier werden zu-nächst einige vorbereitende Definitionen gegeben:

Klassischer Determinismus – alle Vorgänge der klassischen (ma-kroskopischen und mesoskopischen) Physik laufen nach fest-gelegten Gesetzen ab. Dieser Ausschnitt der Welt ist dadurch im Prinzip berechenbar.

Kausalität – Verknüpfung von Ereignissen nach Ursache und Wirkung. Die Ursache geht der Wirkung zeitlich voraus.

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Kausale Geschlossenheit – In der makroskopischen Physik wird jede Änderung durch vorausgehende physikalische Ursachen vollständig erklärt, es gibt keine „Erstauslösung“ und kein „Fremdauslösung“.

Multikausalität – Fred I. Dretske hat auslösende und struktu-rierende Ursachen unterschieden, die auf dieselbe Wirkung konvergieren.1 (Strukturierende Ursachen wären das Aufstel-len von Dominosteinen, die Fabrikation der Steine usw.) Jeder Vorgang hat eine (oder wenige) auslösende und viele struktu-rierende Ursachen. Die Kausalität wird dadurch zu einem Kausalgeflecht, Monokausalität gibt es nicht.

Willensbildung – ein Prozess des persönlichkeitstypischen Ab-wägens, der dazu führt, dass wir etwas anstreben. Die Wil-lensbildung wird vermutlich multi-kausal bestimmt. Hervor-zuheben sind die Rollen von Motiven (u.a. Bedürfnisse, Wün-sche), von latenten Handlungsideen, Ratschlägen, Vorschrif-ten und Handlungsmodellen anderer, von Konzeptabstim-mung, persönlicher Begabung, von Interesse, Wissen, Erfah-rung, von unseren Gewohnheiten und unseren Möglichkeiten, von der eigenen Abschätzung der Folgen, sowie von unserer Erwartung von Lust, Vergnügen, Unlust oder Schmerz. Stadi-en: Die Motive führen zu Handlungsideen, unter denen in Ab-hängigkeit von vielen endogenen und exogenen Faktoren eine Auswahl getroffen wird. Bei der Auswahl werden Prädiktio-

1 Dretske, F., Mental events as structuring causes of behavior. In Mental Causation. J. Heil and A. Mele. Oxford, Clarendon Press: 121-136, 1995.

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nen gebildet: jede Handlung wird in der Vorstellung durchge-spielt, ihre imaginierten Folgen (u.a. Lust, Vergnügen, Unlust, Schmerz) berücksichtigt.

Folgenabschätzung – wichtiger Teil der Willensbildung und des vernünftigen Denkens. In der Art einer Simulation können wir mental die Folgen unserer vorgestellten Handlungen ab-wägen. Diese „Voraussicht“ bewährt sich dann, wenn sie möglichst realistisch ist.

Zwang – ein Einfluss, der die abwägende Willensbildung um-geht, der monokausal ein bestimmtes Handlungsziel einsetzt.

Autonomie – Abwesenheit oder Unwirksamkeit von Fremdein-flüssen bei der Willensbildung. Für ein sozial lebendes Wesen mit kulturgeprägten Konzepten ist eine völlige Autonomie nicht zu erwarten. Fremdeinflüsse sind mit Willensfreiheit kompatibel, solange sie den Prozess des Abwägens nicht au-ßer Kraft setzen.

Wunsch-Autonomie – (sogenannte:) idealisierte Willensbildung, die von unseren Bedürfnissen und Wünschen ganz absieht. Wünsche sind gleichwohl maßgeblich beteiligt bei der Aus-wahl des Zieles unseres Wollens. Sie sind aber hinderlich bei der sachlichen Abwägung der zu erwartenden Folgen unseres Handelns.

Motive – u.a. Bedürfnisse, Wünsche, Spieltrieb, Ehrgeiz, Lust-gewinn

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Wille, Wollen – ein Zustand des Anstrebens als Resultat einer Willensbildung. Das Vermögen, eine bestimmte Handlung zu beabsichtigen und als Urheber zu autorisieren.

Freiheit – die Möglichkeit, über sich selbst zu verfügen. Dazu gehört die Möglichkeit, etwas unbeeinflusst von Zwängen oder gegen das Diktat von Zwängen zu entscheiden.

Willensfreiheit – Das Vermögen, sich selbst durch eigene, per-sönlichkeitstypische Willensbildung ein Handlungsziel zu set-zen (und es anzustreben), ohne dass Zwänge das Ergebnis der Willensbildung vorweg nehmen.

Handeln, Tun – die Durchführung des Gewollten. Endpunkt der zeitlichen Folge Willensbildung → Wollen → Entschluss, es jetzt zu tun → Handlung. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Zustand des Wollens oder Anstrebens dem Entschluss, es jetzt zu tun, zeitlich voraus geht.

Autorschaft – Die Überzeugung, etwas bewusst verursacht zu haben. Hierzu sollte man die postfaktische Adoption oder „postaction justification“ 2 ins Auge fassen, die gut untersuch-te menschliche Neigung, nachträglich für etwas die Verant-wortung zu übernehmen, das man eigentlich nicht verantwor-ten kann. Als wenn der 89. Dominostein, nachdem er umge-worfen wurde, sagte: „Sorry, soll nicht wieder vorkommen, das nächste Mal passe ich besser auf.“ Schon wegen der Mög-

2 Literatur zitiert auf S. 484 in Wegner, D. M. and T. Wheatley, Apparent mental causation. Sources of the experience of will. American Psychologist 54 (7): 480-492., 1999.

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lichkeit der postfaktischen Adoption können subjektive Aus-sagen zur Autorschaft und Willensfreiheit nicht verbindlich sein.

Fremdeinflüsse – Was Fremdeinflüsse sind, hängt davon ab, wo wir die Ich-Grenze ziehen. Wenn mit „ich“ nur das bewussten Erleben und Denken gemeint ist, dann sind schon unsere un-bewussten Wünsche und Gründe Fremdeinflüsse, sie sind uns ja fremd. Umschließt „ich“ aber die ganze Person, also unbe-wusste und bewusste Vorgänge, dann kommen Fremd-einflüsse nur von außen (als Sachzwänge oder als Rat oder Wille anderer Menschen).

Persönlichkeitstypisch – das Gegenteil von fremdbestimmt.

Ganzheit – umfasst alle unbewussten und bewussten Vorgänge eines Menschen. Sie ist nicht darauf eingeschränkt, was unse-re „erste epistemische Perspektive’ uns bewusst zu erleben ge-stattet, sondern schließt den unbewussten „Rest“, die subve-nierenden, subjektiv transparenten Beschreibungsebenen mit ein.

Habermas und Bieri haben das Wort:

Zur Willensfreiheit definiert Jürgen Habermas (sinngemäß): „Der Handelnde ist dann frei, wenn er tun will (und tut), was er als Ergebnis eigener Überlegungen für richtig hält. Dabei

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macht die Einsicht in ihre guten Gründe eine Entscheidung zu einer freien Entscheidung.“ 3

Ähnlich Peter Bieri: „Unser Wille ist frei, wenn er sich unse-rem Urteil darüber fügt, was zu wollen richtig ist. Und der Wille ist unfrei, wenn Urteil und Wille auseinander fallen - das ist der Fall beim Unbeherrschten, den seine übermächti-gen Wünsche überrennen und zu einer Tat treiben, die er bei klarem Verstand verurteilt; und es ist der Fall beim inneren Zwang, wo wir gegen besseres Wissen einem süchtigen Willen erliegen. Die Unfreiheit zu überwinden und zur Freiheit zu-rückzufinden heißt jeweils, Urteilen und Wollen wieder zur Deckung zu bringen und eine Plastizität des Willens zurück-zugewinnen, die in dem Gedanken Ausdruck findet: Ich wür-de etwas anderes wollen und tun, wenn ich anders urteilte. Das nämlich ist die richtig verstandene Offenheit der Zu-kunft.“ 4

Direkt dazu:

Habermas betont in der Fortsetzung seines interessanten Tex-tes das unabweisbare Gefühl geistiger Autorschaft, das wir alle haben und von dem er offenbar annimmt, dass es nicht hinterfragt werden muss. Er erwähnt die Provokation, die dar-

3 Habermas, J. Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 267, S. 35, 15. Nov. 2004.4 Bieri, P. SPIEGEL ONLINE - 11. Januar 2005, 14:57

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in bestünde, dass „das Gehirn“ statt „meiner selbst“ denken und handeln soll. Aber: was ist so schlimm daran? Gehört mein Gehirn denn nicht zu mir? Und er erwähnt, dass hier nicht zum ersten Mal naturwissenschaftliche Theorien, „am common sense abprallen“. So wird der Alltagsverstand bei Habermas zum Maßstab experimenteller Resultate, kontra-in-tuitive Einsichten kann es dann nicht geben. Der Philosoph verteidigt hier die Position des primären Realismus - das ist schon etwas erstaunlich, wenn man bedenkt, wie oft der All-tagsverstand in die Irre geführt hat.

Als Kriterium der Freiheit wird die Einsicht in die Gründe der eigenen Entscheidung angeführt. Das heißt aber, nur eine begründbare Entscheidung, deren Zustandekommen uns voll bewusst ist, kann frei sein. Ein solcher Ansatz lässt einfach beiseite, dass das Denken im Wesentlichen unbewusst stattfin-det. Auch mein Unbewusstes wird hier nicht zu mir als dem Handelnden gerechnet, obwohl es doch den größeren Teil der neuronalen oder neuro-mentalen Vorgänge umfasst.

Die zitierte Argumentation zur Willensfreiheit kann, ja muss ergänzt werden durch die Überlegung,

- dass die Willensbildung ein komplexer, multi-kausa-ler Prozess ist, dessen Erforschung noch in den An-fängen steckt, der aber durch subjektives Dafürhal-ten und Rückgriff auf common sense wohl kaum zutreffend beschrieben wird.

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- dass eigene Bedürfnisse und Wünsche und die Er-wartung von Lust oder Vergnügen wichtige Motive oder Co-Motive unserer Handlungen sind. Ihre Rolle bei einer Entscheidung mit „guten Gründen“ müsste beleuchtet werden.

- dass „die Entscheidung auf Grund eigener Überle-gungen“ schon nach Sigmund Freud mit Beteiligung unbewusster Motive stattfindet oder stattfinden könnte. Die unbewussten „Gründe“ können wir nicht angeben.5 Entscheidungen, bei denen Wünsche und Bedürfnisse keine Rolle spielen und bei denen die angegebenen guten Gründe mit den tatsächli-chen Gründen übereinstimmen, dürften eher selten sein

- dass bei einem sozial lebenden Kulturwesen wie dem Menschen Willensbildung ganz ohne Fremdeinfluss selten sein dürfte. Ein Fremdeinfluss kann er-wünscht sein, kann eine kulturerhaltende Rolle spie-len. Er schränkt die Willensfreiheit nur partiell ein, solange er als eine von mehreren bewertbaren Ein-gangsgrößen der Willensbildung behandelt wird.

- dass nicht nur ein selbst erarbeitetes rationales Ur-teil, sondern auch ein zwar nicht fehlerlos-rationale

5 Dieser wichtige, von S. Freud aufgedeckte Umstand wurde vielfach bestätigt; siehe Nisbett, R. E. and T. D. Wilson, "Telling more than we can know: Verbal reports on mental processes." Psychological Review 84(3): 231-259, 1977.

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begründetes aber persönlichkeitstypisches Wollen für freie Willensbildung spricht. Die Freiheit hängt nicht davon ab, dass mein Urteil rational und bewusst ist und dass ich die Gründe nennen kann. Entscheidend ist vielmehr, dass Fremdeinflüsse (und endogene Zwänge) entweder fehlen oder blockiert werden. Die Unwirksamkeit von Fremdeinflüssen erlaubt das per-sönlichkeitstypische freie Wollen.

Wir brauchen vor allem gute Methoden, schon wegen der Möglichkeit der postfaktischen Adoption, um unsere Frage zu bearbeiten. Wie können wir also herausbekommen, wie stark äußere Einflüsse oder Zwänge bei einer Willensbildung mit-spielten und ob unbewusste Motive und Prozesse beigetragen haben oder sogar ausschlaggebend waren?

Die Libet-Experimente:

In der bisherigen Diskussion haben wir Willensbildung, Wol-len und Handeln als aufeinander folgende Stadien eines Pro-zesses sorgfältig auseinander gehalten. Auch in einfachen Fäl-len, wie im Falle der Handbewegungen in den Libet-Experi-menten, wollen wir an dieser Unterscheidung festhalten und im Auge behalten, dass zwischen Willensbildung und Auslö-sung der Handlung Zeit verstreichen kann.

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Benjamin Libet thematisierte die freie Wahl eines Zeitpunktes. In seinem bekannten Experiment untersuchte er, wie eine ein-geübte, geplante und gewollte Bewegung, die zu einem belie-bigen Zeitpunkt willkürlich ausgelöste wurde, vom motori-schen Kortex vorbereitet wird. Die Messungen legen nahe, dass der neuronale Prozess, der eine plötzliche Beugung von Finger oder Handgelenk einleitet, reproduzierbar früher be-ginnt als unser empfundener mentaler Entschluss, Finger oder Hand jetzt zu bewegen. Das Zeitintervall betrug 0,35 bis 0,4 Sekunden. Dabei war die Wahl des Zeitpunktes der Bewe-gung in weiten Grenzen freigestellt (sie war nicht auf 3 oder 30 Sekunden eingeschränkt, wie man manchmal liest), äußerer Zwang war abwesend.

Der Befund zeigt also, dass vorbereitende neuronale Ereignis-se (Bereitschaftspotentiale) dem plötzlichen bewusst-men-talen Entschluss, den Finger jetzt zu beugen, vorausgehen.6

War der Zeitpunkt der Bewegung vom Gehirn vorbestimmt? Libet selbst folgert, dass unbewusste Prozesse die Bewegung vorbereiten und auch auslösen, wenn der Proband sie nicht bewusst abbricht (Veto).7 Die Einleitung der Bewegung ist

6 Libet, B., C. A. Gleason, et al. "Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness potential). The unconscious initiation of a freely voluntary act." Brain 106(3): 623-642, 1983. Libet, B. Mind time. The temporal factor in consciousness. Cambridge, Mass., Harvard Univerity Press, 2004. 7 Libet, B. Haben wir einen freien Willen? Hirnforschung und Willensfreiheit. C. Geyer. Frankfurt, edition suhrkamp: 268-289. 2004.

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also neurobiologisch determiniert, der Proband aber über-zeugt, sie willentlich auszulösen. Übernimmt er hier, etwa im Sinne der postfaktischen Adoption, nachträglich die Verant-wortung für etwas, das er nicht verantworten kann? Wenn sich das schon für einfache motorische Akte wie Handbewegun-gen fragt, dann mag evtl. auch eine „freie Entscheidung nach eigener Überlegung“ im Sinne von Habermas und Bieri vom Gehirn vorbestimmt sein.

Eine neue Interpretation der Libet-Resultate:

Die gängige Interpretation der Libet-Resultate unterstellt, dass der zum registrierten Zeitpunkt erfolgte Entschluss (E) des Probanden die Willensbildung einschließt. Man würde dann erwarten, dass das Gehirn vor diesem Entschluss mit der Bewegung nicht befasst war. Ist das plausibel? Nein! Denn das Wollen kann dem Entschluss, jetzt zu handeln, deutlich vorausgehen. Überdies wurde die Bewegung ja vor-her eingeübt und während des wiederholten Versuches weiter eingeübt.8 Durch dieses Einüben war das Gehirn eben doch vorher mit der Bewegung befasst, das Wollen bezog sich also auf eine dem motorischen System wohl bekannte Bewegung.9

8 Eine Mittelwertsbildung mit ca. 40 Wiederholungen der Handbewegung war notwendig, um das kortikale Signal aus dem Rauschen herauszuheben. Schon nach der 5. oder 10. Wiederholung darf die Bewegung wohl als eingeübt gelten. 9 Der wichtige Umstand, dass die Handbewegungen eingeübt waren, blieb in der öffentlich-kritischen Diskussion oft unberücksichtigt.

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Es geht hier um zeitliche Relationen, um die Frage, wie das Bereitschaftspotential und der Entschluss des Probanden in die Folge von

Willensbildung (WB) → Wollen (W) → Handeln (H)

zeitlich einzuordnen sind. Die Bewegung selbst wurde bei der Einweisung des Probanden besprochen, der Proband hatte eingewilligt, sie auszuführen, er hat sogar dafür geübt. Er hat also frühzeitig eine Willensbildung vollzogen und wollte die Bewegung so ausführen, wie er sie geübt hatte. Die von Ha-bermas geforderten Gründe hierfür konnte der Proband an-geben: er hatte versprochen, dies zu tun, er wollte den Ver-suchsleiter nicht enttäuschen, das Resultat interessierte ihn.

Die Bewegung war also gewollt, der Bewegungsablauf war schon geplant, eingeübt und automatisiert. Nur der Zeitpunkt der Handlung war noch offen. Der Proband wählte dann zwi-schen Alternativen, die sich zeitlich unterschieden, hatte aber auch andere Möglichkeiten (wie die, den Versuch abzubre-chen), die er verwarf. Der Entschluss (E), die Bewegung jetzt durchzuführen, muss wie immer zwischen Wollen und Handeln gefasst worden sein, also erhalten wir

WB → W → E → H

Wenn Libet nun experimentell fand, dass schon vor E neuro-nale Bereitschaftspotentiale auftraten, die mit der Bewegung korrelierten, so wird man doch einräumen, dass diese mit der Willensbildung oder dem Wollen zu tun haben könnten, eben mit der ‚Bereitschaft’. Im Zustand des Wollens einer Bewe-

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gung, insbesondere einer durch Einübung automatisierten Be-wegung, sind neuronale Signale, die auf die geplante Bewe-gung hinweisen, nicht erstaunlich.

Vielmehr könnten bei eingeübten Bewegungen Bereitschafts-signale oder Countdown Signale in dem Zustand der Erwar-tung und Aufmerksamkeit repetitiv gebildet werden. Sie wür-den unwirksam bleiben, es sei denn, das go-ahead Signal des bewussten Entschlusses, es jetzt zu tun, käme hinzu. Das von Libet angesprochene Abbruchsignal10 wäre dann ein fehlendes go-ahead.

Dieses Modell eines opportunistischen Gebrauchs von lau-fenden Prozessen ist vergleichbar mit dem Besteigen eine pa-ter-noster Aufzugs, der sich natürlich bewegen muss, bevor er bestiegen werden kann. Diese Interpretation entspricht der Datenlage und ist mit Willensfreiheit vereinbar.

Die Planung einer Bewegung mag ein logistisches Phänomen sein, ähnlich dem Countdown einer Rakete. Bei nicht automati-sierten Bewegungen könnten die neuronalen (n) und bewusst-mentalen (m) Aspekte des Countdown parallel laufen. Dieser Fall ließ sich nicht untersuchen, weil die Methodik eine 40-fa-che Wiederholung verlangte. Es ist aber klar, dass ein parallel Laufen nicht Gleichzeitigkeit bedeutet. Denn n → m Wir-kungen und m → n Wirkungen kosten Zeit. Für n → m Wir-

10 Was Libet vorschlägt, ist Willensfreiheit durch freien Abbruch. siehe Libet, B., Haben wir einen freien Willen?, in Hirnforschung und Willensfreiheit, C. Geyer, Edi-tor. 2004, edition suhrkamp: Frankfurt. p. 268-289.

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kungen kann man den Zeitbedarf einer Bewusstwerdung von 300 Millisekunden oder mehr veranschlagen.11 Wie aber die n/m Parallelität in diesem Fall aussieht, ist ganz offen.

Bei automatisierten Bewegungen entfallen die bewusst-mentalen Aspekte der Planung. Der mentale Entschluss synchronisiert sich dann offenbar mit einem laufenden Countdown. Neh-men wir einmal an, der Countdown wird neuronal gestartet. Erst mehr als 300 Millisekunden später würde diese Tatsache bewusst werden. Das entspricht ganz gut dem gemessenen Intervall von 350 bis 400 Millisekunden.12 Fällt dann die be-wusste Entscheidung zum go-ahead nicht, so wird der Count-down automatisch beendet.

Jürgen Habermas führt aus, dass die Handbewegungen in den Libet-Experimenten keine Handlungen waren, die nach einem eigenen Entscheidungsprozess mit guten Gründen ausgeführt wurden.13 Deshalb könnten die Resultate nichts zur Willens-freiheit aussagen. Diese Folgerung ist jedoch nicht schlüssig. Wie oben dargelegt, fand die Willensbildung mit guten Grün-den statt. Weiterhin, sie fand statt, wie immer, VOR dem Ent-schluss, die Bewegung jetzt durchzuführen. Eben deshalb sollte man die Möglichkeit nicht übersehen, dass das Bereit-

11 Roth, G., Aus Sicht des Gehirns. 2003, Frankfurt: Suhrkamp. 214 Seiten. 12 Gerhard Roth hat dies bereits festgestellt, a.a.O. Seite 178.13 Habermas, J. Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 267, S. 35, 15. Nov. 2004.

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schaftspotential zu der vom Wollen abhängigen Bewegungs-planung gehört.

Die Kritik müsste vielmehr anders ansetzen: sie müsste klar stellen, dass sich die Resultate nur auf automatisierte Bewe-gungen stützen, ohne dass dieser Umstand bei der Interpreta-tion der Resultate besonders erwähnt wurde.

Wir kommen also zu dem Ergebnis, dass die von Philosophen viel diskutierten und oft kritisierten Libet-Resultate nicht für Willensunfreiheit sprechen, sondern mit Willensfreiheit kom-patibel sind. Dies aber deshalb, weil bei eingeübten Bewegun-gen Bereitschaftssignale oder Countdown Signale in dem Zu-stand der Erwartung und Aufmerksamkeit repetitiv gebildet werden könnten. Der Entschluss, es jetzt zu tun, könnte von ihnen einen opportunistischen Gebrauch machen.

Wegner und Wheatley haben das Wort:

Zur mentalen Verursachung erschien 1999 ein Artikel von Daniel M. Wegner und Thalia Wheatley, dessen Inhalt ein-gangs schon erwähnt wurde.14 In der Tradition von David Hume argumentieren die Autoren,

14 Wegner, D. M. and T. Wheatley, Apparent mental causation. Sources of the experi-ence of will. American Psychologist 54 (7): 480-492., 1999.

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- dass das Gefühl eines Willensaktes dadurch entsteht, dass wir eine Interpretation vornehmen: wir interpretieren einen Gedanken als Ursache einer etwa zu dieser Zeit stattfinden-den Körperbewegung.

- dass wir uns dabei an das empirisch oft bewährte post hoc, propter hoc Schema halten: Wenn der Gedanke sich auf die Bewegung bezieht, wenn er vor der Bewegung auftritt, wenn er immer vor der Bewegung auftritt und wenn sich keine al-ternative Ursache für die Bewegung anbietet, dann sind wir überzeugt, dass der Gedanke die Ursache der Bewegung ist.

- dass die wahre Ursache der Bewegung ein unbewusster Pro-zess ist. Zu Beginn dieses Vorganges kann ein Gedanke be-wusst werden, der sich auf die geplante Bewegung bezieht. Dieser Gedanke korreliert mit der etwas später bewusst emp-fundenen Körperbewegung.

- dass der Gedanke aber nicht die Ursache der Bewegung sein kann oder muss, schon deshalb nicht, weil diese Körper-bewegungen auch ohne vorausgehenden Gedanken vollzogen werden.

- dass der Wille also keine ‚Kraft’ ist, die eine Aktion auslöst. Er ist vielmehr eine Art Erlebnis, verknüpft mit einer plausi-blen aber falschen Hypothese.

Das Erlebnis unserer mentalen Phänomene ist ja nicht ver-knüpft mit einer Kenntnis der Mechanismen, die diesen Phä-nomenen zugrunde liegen. Wegen dieser subjektiven ‚Trans-parenz’ der Mechanismen oder neuronalen Vorgänge bleibt

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uns nur die post-propter Hypothese, um unsere eigenen men-talen Phänomene mit den realen Ereignissen zu verbinden. Bei der Bildung dieser Hypothese können (wegen der Trans-parenz) die ausschlaggebenden unbewussten Vorgänge nicht berücksichtigt werden, etwas Wichtiges entgeht uns.

Wenn wir diese Vorstellungen auf die Libet-Resultate anwen-den, wäre das Zeitintervall vom Beginn des Bereitschaftspo-tentials bis zum bewussten Entschluss, es jetzt zu tun, ganz einfach mit dem Zeitbedarf der Bewusstwerdung erklärt. Das gemessene Intervall beträgt 350-400 Millisekunden.15 Der Zeitbedarf der Bewusstwerdung beträgt 300 Millisekunden oder mehr.16 Ob und wodurch aber die unbewussten Prozesse selbst determiniert sind, das muss auch in diesem Fall noch offen bleiben.

Wenn der Wille einem rationalen Urteil folgte...

Oben haben wir vermutet, dass sowohl unser Urteil wie auch unser Wille multi-kausal entsteht. Vorstellungen wie „der freie Wille richtet sich nach unserem bewussten, rationalen, be-gründbaren Urteil“ wären dann zu einfach.

Wir müssen nun fragen: wie kommt das Urteil zustande? Wel-che Einflüsse spielen mit? Ist die Antwort: nur Logik, nur Ra-

15 Libet, B., Haben wir einen freien Willen?, in Hirnforschung und Willensfreiheit, C. Geyer, Editor. 2004, edition suhrkamp: Frankfurt. p. 268-289. 16 Roth, G., Aus Sicht des Gehirns. 2003, Frankfurt: Suhrkamp. 214 Seiten.

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tio spielt mit, dann hinge unser Urteil (und damit unser Wol-len) allein von den Prämissen des Urteilsfindung ab, denn der rationale Urteils-Formalismus selbst wäre regelhaft zwangs-läufig. Also wäre das Ergebnis unserer Überlegungen durch die Prämissen determiniert.

Wer aber bestimmt die Prämissen? Könnte es eine Selektion unter den Prämissen sein, die unsere Freiheit ausmacht?

In diesem Falle läge Willensfreiheit dann vor, wenn die Prä-missen (die Eingangsgrößen für den Formalismus der Urteils-findung) von uns selbst und ohne Zwang zugelassen wurden. Wir wollen eine solche Selektion und die anklingende metho-dische Frage noch etwas näher betrachten:

Edelzwickers Methode:

Beim Philosophieren haben wir eine gewisse Neigung zum top-down Verfahren. Von unseren Idealen ausgehend arbeiten wir uns herunter zu einem Resultat, das beruhigend wirkt, weil es mit den Idealen kompatibel ist. Das mag dann viel Zu-stimmung finden, hat aber keinen Erkenntniswert. Versuchen wir es lieber mit der bottom-up Methode, indem wir von un-seren biologischen Grundlagen ausgehen. Wir bauen modell-haft ein möglichst realistisches Szenario auf, in das unsere Kenntnisse einfließen. Wo diese fehlen, behelfen wir uns in aller Vorsicht mit plausiblen Annahmen. Wir beobachten un-ser Modell bei der Arbeit und registrieren die Ergebnisse die-ses Gedankenexperimentes.

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7. Willensbildung, Willensfreiheit

Wir fragen also zuerst, welche bewussten oder unbewussten Eingangswerte (Einflüsse, Umstände) an der Willensbildung beteiligt sind. Es sind vor allem

.e1. Unbewusste Wünsche und Bedürfnisse

.e2. Bewusste Wünsche und Bedürfnisse

.e3. Daten, die als Fakten verstanden werden

.e4. Eigene Ziele

.e5. Akzeptierte ethische Vorstellungen

.e6. Das Wollen anderer Menschen

Wir fragen weiter, welche psychischen oder neuro-mentalen Prozesse bei der Willensbildung bewusst oder unbewusst mit diesen Einflüssen umgehen. Es sind vor allem

.p1. Ein Selektionsprozess, der Einflüsse gewichten oder ganz blockieren kann, sofern sie bewusst werden.

.p2. Ein Prädiktionsprozess, der für jede Selektion (Kom-bination von gewichteten Eingangswerten) realistisch vor-hersagt, welche Konsequenzen zu erwarten sind 17

.p3. Ein Evaluationsprozess, der unter den Prädiktionen die best-zielführende ermittelt.

17 Prädiktion ist eine wichtige Aufgabe des Kortex, siehe z.B. J. Hawkins, On Intelli gence . An Owl Book. NY, 2004

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Der philosophische Edelzwicker

Das Zusammenspiel der drei Prozesse (S elektion, P rädiktion, E valuation) ist in dem folgenden Schema veranschaulicht.

Abb. 13-1: SPE-Modell zur Formalisierung der Willensbildung.

Die variable Gewichtung der Eingangswerte erlaubt es dem Prädiktor, mehrere Alternativen des Wollens (Handlungsalter-nativen) zu generieren, die dem Evaluator nacheinander ange-boten werden. Bei der Evaluation mag die Erwartung von Lust oder Unlust oft eine große Rolle spielen. Das SPE-Mo-dell führt anschaulich vor Augen, dass ein Formalismus die Entscheidung treffen kann.18 Es könnte ein neuronaler For-

18 Andere Formalisierungen zur Willensbildung finden sich u.a. in D. Dörner,

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7. Willensbildung, Willensfreiheit

malismus sein. Ein (wie auch immer gearteter) formaler Pro-zess, aber, ist determiniert. Wie passt das zu Willensfreiheit?

Nun, wir nennen die Willensbildung dann frei, wenn sie nicht fremdbestimmt ist. Fremd wollen wir das nennen, was nicht zur Person gehört und zur Person rechnen wir ihre bewussten und unbewussten Einflüsse und Vorgänge. Fremdbestim-mung entsteht also durch das Wollen anderer Menschen und ist voll ausgeprägt, wenn sie allein, als einziger Einfluss wirk-sam wird. Das wird dann der Fall sein, wenn der Evaluations-prozess p3 wegen der vorhergesehenen Konsequenzen den Selektionsprozess p1 anweist, nur den Fremdeinfluss e6 zuzu-lassen. Ein weiteres Abwägen ist nun ausgeschlossen, es spielt keine Rolle mehr, dass ohne diese Anweisung eine andere Wahl zustande käme. Wir sprechen dann von Zwang.19

Wenn jedoch das Wollen anderer Menschen als ein Einfluss unter anderen zugelassen wird, dann ist eine partiell freie Ent-scheidung zu konstatieren. Wenn schließlich das Wollen An-derer von p1 ganz blockiert wird, resultiert eine von Fremdeinflüssen freie Entscheidung.

Interessant ist nun Folgendes: die genannten drei Prozesse können nach dem gezeigten SPE-Formalismus ablaufen, kön-

Bauplan für eine Seele, rororo Sachbuch 2001, Seite 403, 450, 768.19 Dies gilt für den Gesunden. Bei Süchtigen können auch innere Zwänge das Abwägen außer Kraft setzen. Um dem Rechnung zu tragen, wird man von Freiheit der Wahl ganz einfach dann sprechen, wenn durch das Abwägen meh-rere Optionen zum Resultat beitragen.

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Der philosophische Edelzwicker

nen wie ein Uhrwerk voll determiniert sein, wir würden trotz-dem von einer freien Willensentscheidung sprechen, sofern das Wollen Anderer nicht wirksam wurde. Wir würden davon sprechen, meinen dann aber Freiheit von Fremdeinflüssen und nicht Freiheit von subvenierender Determination. Ob letztere vorliegt, ist eine andere Frage. Im Hinblick auf ein verlässliches Funktionieren scheint eine Determinierung der Prozesse wohl sogar erforderlich.

Die persönlichkeitstypische Willensbildung:

Die Willensbildung scheint multi-kausal bestimmt zu sein von bewussten und unbewussten Bedürfnissen und Wünschen, von der Erwartung von Lust und Unlust, von Interesse und Begabung, von Konzeptabstimmung, von persönlichen Er-fahrungen, eigener Folgen-Abschätzung, Beurteilungen, Überlegungen, Denkgewohnheiten, Dafürhalten, ethischen Regeln sowie weiteren Vorschriften von außen oder innen. Wir schlagen vor:

Die Willensbildung ist vor allem ein persönlichkeitstypischer Selektionsprozess mit einem persönlichkeitstypischen Resul-tat. In diesem Prozess werden unsere von Bedürfnissen und Wünschen, unsere von Spieltrieb und Ehrgeiz motivierten Handlungsideen mit unseren Möglichkeiten abgeglichen, wo-bei eine Folgenabschätzung stattfindet, die sich nur dann be-währt, wenn sie möglichst realistisch ist. Die Folgenabschät-zung mündet in die Erwartung von Lust oder Unlust und die-

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se Erwartung mag oft ausschlaggebend sein für unsere Ent-scheidung, also für unser manifestes Wollen.

Fremdeinflüsse bei der Willensbildung sind in einem sozial le-benden und mit kulturgeprägten Konzepten ausgestatteten Wesen wie dem Menschen selbstverständlich. Sie sind mit partieller Willensfreiheit vereinbar, solange sie den Prozess des Abwägens nicht zwanghaft außer Kraft setzen.

Der Grad der Freiheit bei der Willensbildung lässt sich wohl oft daran ablesen, wie stark das Resultat persönlichkeitsty-pisch ist.

Fazit:

Willensfreiheit liegt dann vor, wenn eine persönlichkeits-typische multi-kausale Willensbildung erfolgen kann. Willensbildung ist im Kern eine abwägende Selektion unter den Eingangsgrößen eines Prädiktionsprozesses. Dazu ge-hört, dass das Ergebnis nicht durch Übergewichtung eines zwanghaften Einflusses vorweggenommen wird. Bedürfnisse und Wünsche, wie auch die Erwartung von Lust und Unlust können bei einer freien Willensbildung Berücksichtigung fin-den, ja, mögen ihre wichtigsten Motive liefern.

Eine freie Willensbildung erfolgt somit als ergebnisoffene ab-wägende Selektion, ihr Resultat wird nicht durch das Domi-nieren z.B. eines Fremdeinflusses vorbestimmt.

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Der philosophische Edelzwicker

Was nun im Detail in die freie Willensbildung im Sinne einer Multikausalität eingeht, wie stark Fremdeinflüsse das Resultat bestimmen und weiterhin, ob eine vollständige Determinie-rung der Prozesse vorliegt, das sollten wir nicht durch unser Dafürhalten entscheiden, sondern auf der Grundlage objekti-ver Beobachtungen. Solange die Methodik hierzu noch nicht ausgereift ist, muss die Frage der Willensfreiheit und die Fra-ge nach dem Grad dieser Freiheit ohne verbindliche Antwort bleiben.

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