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Die SINUS-Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche 2012“ ist Ende März im Verlag Haus Altenberg er- schienen. Wie schon die Vorgänger-Studie aus dem Jahr 2007 eröffnet sie einen differenzierten Blick auf jugendliche Lebenswelten in Deutschland. Im Fokus steht dabei die Frage, wie Jugendliche in den verschiedenen Lebenswelten ihren Alltag (er)leben. Neben der Erforschung der Werthaltungen werden die Bereiche Freizeit, Familie, Schule, Freundes- kreise, Medien und Berufsorientierung in den Blick genommen. Vor dem Hintergrund der populären Diskurse um die (angebliche) Politikverdrossenheit und erodierende Religiosität sowie zunehmende Kirchenferne werden die Themen Gesellschaft, Politik, Engagement, Religion, Glaube und Kirche exploriert. Unser Beitrag führt kurz in die metho- dische Anlage der Studie ein und schildert einige zentrale Befunde der Studie, insbesondere zum Thema „Religion, Glaube und Kirche.“ Die Studie hat ein breites empirisches Fundament Die qualitative Studie basiert auf vielfältigem Datenmaterial: Es wurden im gesamten Bundes- gebiet 72 Einzelexplorationen mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren geführt. Anders als 2007 wurden nicht nur katholisch getaufte Jugend- liche, sondern auch Jugendliche anderer Konfes- sionen und Konfessionslose einbezogen. Wie 2007 wurden die Jugendzimmer fotografisch dokumen- tiert und die Befragten haben ein „Hausarbeitsheft“ ausgefüllt, in dem sie unter anderem über ihre Interessen (z. B. Musik- und Filmgeschmack) und Vorbilder Auskunft gaben und sich im Rahmen einer Kreativaufgabe dem Thema „Das gibt meinem Leben Sinn“ gewidmet haben. Jugend differenziert sich in sieben Lebenswelten aus Ausgehend von den typischen Vorstellungen, was wertvoll und erstrebenswert im Leben ist/sein könnte, wurden Jugendliche zusammengefasst, die sich in ihren Werten, ihrer grundsätzlichen Lebens- einstellung und Lebensweise sowie in ihrer sozialen Lage ähnlich sind. Die Jugendlichen lassen sich dabei entlang von drei zentralen normativen Grund- orientierungen beschreiben: Die traditionelle Grundorientierung steht für Werte, die sich an „Sicherheit und Orientierung“ ausrichten. Sinus-Jugendstudie u18 Die Studie Das SINUS-Lebensweltenmodell u18 – Inhalt und Ergebnisse Materialistische Hedonisten: die freizeitorientierte Unterschicht mit ausgeprägten markenbewussten Konsumwünschen Foto: © Monkey Business Images/ shutterstockimages 8 Sommer 2012 | BDKJ Journal

8 Sinus-Jugendstudie u18 · 2012-07-09 · Sinus-Jugendstudie u18 Jugend steht unter Druck, ist aber recht optimistisch Die Wahrnehmung, dass der Wert eines Menschen in erster Linie

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Die SINUS-Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche 2012“ ist Ende März im Verlag Haus Altenberg er-schienen. Wie schon die Vorgänger-Studie aus dem Jahr 2007 eröffnet sie einen differenzierten Blick auf jugendliche Lebenswelten in Deutschland. Im Fokus steht dabei die Frage, wie Jugendliche in den verschiedenen Lebenswelten ihren Alltag (er)leben. Neben der Erforschung der Werthaltungen werden die Bereiche Freizeit, Familie, Schule, Freundes-kreise, Medien und Berufsorientierung in den Blick genommen. Vor dem Hintergrund der populären Diskurse um die (angebliche) Politikverdrossenheit und erodierende Religiosität sowie zunehmende Kirchenferne werden die Themen Gesellschaft, Politik, Engagement, Religion, Glaube und Kirche exploriert. Unser Beitrag führt kurz in die metho-dische Anlage der Studie ein und schildert einige zentrale Befunde der Studie, insbesondere zum Thema „Religion, Glaube und Kirche.“

Die Studie hat ein breites empirisches FundamentDie qualitative Studie basiert auf vielfältigem Datenmaterial: Es wurden im gesamten Bundes-gebiet 72 Einzelexplorationen mit Jugendlichen

im Alter von 14 bis 17 Jahren geführt. Anders als 2007 wurden nicht nur katholisch getaufte Jugend-liche, sondern auch Jugendliche anderer Konfes-sionen und Konfessionslose einbezogen. Wie 2007 wurden die Jugendzimmer fotografisch dokumen-tiert und die Befragten haben ein „Hausarbeitsheft“ ausgefüllt, in dem sie unter anderem über ihre Interessen (z. B. Musik- und Filmgeschmack) und Vorbilder Auskunft gaben und sich im Rahmen einer Kreativaufgabe dem Thema „Das gibt meinem Leben Sinn“ gewidmet haben.

Jugend differenziert sich in sieben Lebenswelten ausAusgehend von den typischen Vorstellungen, was wertvoll und erstrebenswert im Leben ist/sein könnte, wurden Jugendliche zusammengefasst, die sich in ihren Werten, ihrer grundsätzlichen Lebens-einstellung und Lebensweise sowie in ihrer sozialen Lage ähnlich sind. Die Jugendlichen lassen sich dabei entlang von drei zentralen normativen Grund-orientierungen beschreiben: • Die traditionelle Grundorientierung steht für

Werte, die sich an „Sicherheit und Orientierung“ ausrichten.

Sinus-Jugendstudie u18

Die Studie Das SINUS-Lebensweltenmodell u18 – Inhalt und Ergebnisse

Materialistische Hedonisten: die freizeitorientierte Unterschicht mit ausgeprägten markenbewussten Konsumwünschen

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„Leute aus niedrigerem, unterem Stand, die sich verhalten, als wären sie sonst wer. Das sind zum größten Teil Ausländer, die sich so verhalten, als könnten sie alles und die ganze Welt beherrschen.“

(w, 17, AdAptiv-prAgMAtiScH)

SchwerpunktSinus-Jugendstudie

• Der modernen Grundorientierung liegen Werte zugrunde, die auf „Haben und Zeigen“ sowie auf „Sein und Verändern“ abzielen.

• Die postmoderne Grundorientierung bündelt die Wertedimensionen „Machen und Erleben“ und „Grenzen überwinden und Sampeln“.

Die Studie zeigt somit: DIE Jugend gibt es nicht. Jugend ist eine soziokulturell sehr heterogene Grup-pe. Auf Basis des Datenmaterials konnten sieben jugendliche Lebenswelten identifiziert werden.

Jugendliche aus prekären Verhältnissen werden von ihren Peers weiter an den Rand gedrückt

Erstmals wird dabei auch eine prekäre Lebenswelt beschrieben, in der die Jugendlichen die schwie-rigsten Startvoraussetzungen haben. Sie machen im Alltag oft Ausgrenzungserfahrungen. Vor allem

die Jugendlichen aus der gesellschaftlichen Mitte distanzieren sich von diesen Jugendlichen oft demonstrativ. Sie erheben den Vorwurf der geringen Leistungsbereitschaft und Wohlstandsgefährdung und äußern in Bezug auf die Jugendlichen mit Migra-

Neue KartoffelnDer Faktencheck zur Sinus-Jugendstudiewie Jugendliche ticken? das hat das SiNUS-institut im Auftrag von BdKJ und MiSErEOr vor gut vier Jahren schon mal erforscht. wo liegt der Unterschied zwischen beiden Studien außer in Farbe, Form und Seitenzahl?

die erste Jugendstudie wurde oft mit „u27“ bezeichnet und umfasste die Altersspanne von 9 bis 27 Jahren unterteilt in die Gruppen „Kinder“ (bis 13), „Jugendliche“ (14–19) und „ junge Erwachsene“ (20–27). Die „u18-Studie“ konzentriert sich dagegen auf Jugendliche von 14 bis 17 Jahren.

Ein weiterer Unterschied liegt bei den Auftraggebern. Zu BDKJ und MISEREOR kamen noch vier weitere aus den Bereichen Medien und Politik hinzu. Deren unterschiedliche Schwerpunkte führten zu einer Untersuchung weiterer Themenfelder. Zudem wurden nun nicht nur katholische, sondern auch Jugendliche anderer Konfessions- und Religionszugehörigkeit in die Stichprobe aufgenommen.

Umgewöhnen muss man sich bei der Bezeichnung der „Kartoffeln“: Sie heißen nicht mehr Milieus, sondern Lebenswelten, da sich die Gestaltungsmöglichkeiten der Jugendlichen, im Gegensatz zu Milieus, noch deutlich ändern können, sobald sich mit der Volljährigkeit die Mobilität erhöht und der Einfluss der Eltern weiter verringert. Neu ist die Lebenswelt der Prekären, in der Jugendliche leben, die von der Ausgrenzung aus unserer Gesellschaft bedroht sind.

cHriStiAN gENtgES, BdKJ-rEFErENt

Expeditive: die erfolgs-und lifestyle-orientierten Networker auf Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen

Sozialökologische: die nachhaltigkeits-und gemeinwohlorientierten Jugendlichen mit sozialkritischer Grundhaltung und Offenheit für alternative Lebensentwürfe

tionshintergrund zum Teil auch Angst vor Überfrem-dung. Die Integration und Förderung der Jugend-lichen aus prekären Verhältnissen ist eine zentrale, gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

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Sinus-Jugendstudie u18

Jugend steht unter Druck, ist aber recht optimistischDie Wahrnehmung, dass der Wert eines Menschen in erster Linie an seiner Leistungsfähigkeit bzw. Bildungsbiografie bemessen wird, existiert über alle Lebenswelten hinweg: Jugendliche stehen unter Druck. Sie haben das Gefühl, keine Zeit vertrö-deln zu dürfen, sondern früh den „richtigen“ Weg

einschlagen zu müssen. Dabei jedoch gleichzeitig flexibel für neue Wege bleiben zu müssen, gestaltet sich oft als schwieriger Spagat. Während der Wunsch nach Partnerschaft und Familie groß ist, sehen die Jugendlichen, dass es schwierig sein wird, den rich-tigen Zeitpunkt zur Familienplanung zu erwischen.

Dennoch zeigt sich Bewältigungsoptimismus: Mit Ausnahme der sozial stark Benachteiligten blicken Jugendliche überwiegend zuversichtlich in die Zukunft. Auch wenn Jugendliche gleiche Heraus-forderungen wahrnehmen, entwickeln sie je nach sozialer Lage und Werteorientierung unterschied-liche Lösungsstrategien und Zukunftsperspektiven. Während die Modernsten unter den Bildungsnahen den Einstieg in das Berufsleben unter der Maßgabe des guten bis sehr guten Gelingens thematisieren, äußern Bildungsbenachteiligte Jugendliche vermehrt die Sorge zu scheitern.

Buntes Werte-PatchworkAls Folge der Unberechenbarkeiten entwickelt sich das Bedürfnis nach Halt, Zugehörigkeit und Verge-wisserung („Regrounding“). Jugendliche besinnen sich – über alle Lebenswelten hinweg – in unsiche-ren Zeiten auf „traditionelle“ Werte wie Sicherheit, Pflichtbewusstsein, Familie und Freundschaft. In dieser Hinsicht erscheinen sie wie „Mini-Erwach-sene“. Zugleich zeigt sich die Ausbreitung „neuer“ Kompetenzen wie autonomes Handeln, Navigation und Networking.

Von einem neuen konservativen Zeitgeist zu sprechen, würde jedoch zu kurz greifen, denn nur ein kleiner Teil der Jugendlichen tickt durchgehend „traditionell“. Die traditionellen Werte stehen in der Regel nicht für sich, sondern werden von einem individualistischen Leistungsethos und hedonisti-schen ich-bezogenen Entfaltungswerten flankiert. Jugendliche leben somit ein Werte-Patchwork, das unterschiedlichen Sehnsüchten, aber auch Ängsten Rechnung trägt: etwas ansparen und sich gelegent-lich was leisten, hart feiern und die Karriere ver-

„Wenn ich mich mal entschieden hab, wenn ich mir sicher bin, was will ich, ich denk die Noten werden passen. Und wenn ich das will, dann häng ich mich da auch rein. Da seh ich eigentlich keine Probleme.“ (w, 16)

„Wenn Jura nicht klappt, dann würde ich es eben bei der Polizei versuchen. Aber dann auch auf der Juristenbahn.“

(w, 17, KONSErvAtiv-BürgErlicH)

Experimentalistische Hedonisten: die spaß-und szeneorientierten Nonkonformisten mit Fokus auf Leben im Hier und Jetzt

Adaptiv-pragmatische: der leistungs-und familienorientierte moderne Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft

„Also ich möchte nicht in Armut leben. Auch nicht von Hartz IV – auf keinen Fall.“

(w, 15, prEKärE lEBENSwElt) Fo

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SchwerpunktSinus-Jugendstudie

„Ob das jetzt christlich, muslimisch, was weiß ich was ist, ist eigentlich scheißegal. Ich denk schon, dass schon irgendwas da oben ist, wo ein bisschen seine Finger mit im Spiel hat.“

(M, 17, KAtHOliScH, ExpEriMENtAliStiScH-HEdONiStiScH)

„Irgendwas muss es ja da oben geben. Und ich will auch irgendwie daran glauben, damit man keine Angst vor dem Tod hat.“

(w, 16, KAtHOliScH, MAtEriAliStiScH-HEdONiStiScH)

folgen, Job und Familie unter einen Hut bekommen wollen.

Kirche ist nur für wenige Jugendliche sinnstiftendEin besonders für Kirche wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass das Bedürfnis nach Sinnfindung unter den Jugendlichen allgegenwärtig ist. Sinn wird dabei jedoch vor allem im persönlichen und nicht im kirchlich verfassten Glauben gefunden. Vor allem in den modernen bzw. postmodernen Lebenswelten wird Glaube als etwas Veränderbares und Individu-elles verstanden, das man mit sich selbst ausmacht und für das man nicht unbedingt Religion bzw. Kirche benötigt. Viele Jugendliche sind „religiöse Touristen“; sie greifen auf die Angebote zurück, die ihnen derzeit bei der Lebensbewältigung am nütz-lichsten erscheinen.

Die Stärke und Bedeutung des eigenen Glaubens steht aus Sicht der meisten Jugendlichen in kei-nem Zusammenhang mit der Häufigkeit religiöser

Rituale oder der Bindungsintensität zu religiösen Institutionen. Glaube wird dabei als spannenderes, weil alltagsnäheres Thema begriffen als Religion und Kirche. Religion erscheint als etwas wenig individuell Leb- und Erlebbares, etwas Statisches, wenig Formbares, Langweiliges, und das macht sie unattraktiv. Die Kirchenbindung ist in fast allen Lebenswelten nur schwach ausgeprägt. Kirche wird als „unnahbare“, „menschenferne“, „altmodische“ Institution, zu der keine persönliche und v. a. keine emotionale Bindung besteht, wahrgenommen.

Warum ist die Lebensweltforschung wichtig?Anhand des Lebensweltenmodells kann konkret nachvollzogen werden, wie Jugendliche in verschie-denen Lebenswelten ihren Alltag (er)leben, wo sie Sinn suchen und finden. Damit wird die Studie zu einem wertvollen Instrument für die Praxis: Wer weiß, was Jugendliche bewegt, kann sie bewegen. Die Studie kann helfen, zielgruppengerechte Ange-bote zu erstellen – z. B. in der politischen Bildung, der Pastoral, in Schule, Medienpädagogik oder im Hinblick auf die Förderung bürgerschaftlichen En-gagements. Die SINUS-Akademie steht als Ansprech-partnerin für Veranstaltungen (Vorträge, Workshops, Weiterbildungen) zur Jugendstudie zur Verfügung.

dipl.-päd. pEtEr MArtiN tHOMAS, Leiter SINUS- Akademie, dipl.-SOz.wiSS. iNgA BOrcHArd, Studien-leiterin SINUS-Institut, dr. MArc cAlMBAcH, Direktor Sozial-forschung SINUS-Institut

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Konservativ-Bürgerliche: die familien- und heimatorientierten Boden-ständigen mit Traditionsbewusstsein und Verantwortungsethik

Jugendliche in prekären lebenswelten: die um Orientierung und Teilha-be bemühten Jugendlichen mit schwierigen Startvoraussetzungen und Durchbeißermentalität

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