52
A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. H 20781 | 64. Jahrgang | 01/2013 | www.asg-goe.de Schwerpunkt Armut im ländlichen Raum Interviews: Sozialministerin Manuela Schwesig Dr. Rudolf Martens, Paritätischer Wohlfahrtsverband ASG-Frühjahrstagung in Eisenach

A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V.

H 20781 | 64. Jahrgang | 01/2013 | www.asg-goe.de

SchwerpunktArmut im ländlichen Raum

Interviews:Sozialministerin Manuela SchwesigDr. Rudolf Martens, Paritätischer Wohlfahrtsverband

ASG-Frühjahrstagungin Eisenach

Page 2: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Inhaltsverzeichnis

ASG

Landwirtschaft

Ländlicher Raum

Für Sie gelesen

Foto Titelseite: © Sofia Postai - Fotolia.com

Personalien

1 Am Rande notiert – ASG-Vorsitzender Dr. Martin Wille2 LandSchau 2013: Lust aufs Land – Gemeinsam für die ländlichen Räume

- Positionen zur GAP bleiben kontrovers- Der ländliche Raum im Zeichen der Energiewende- Inspiration und Austausch der Dorfbewegungen über regionale und nationale Grenzen- Ausgezeichnete Ideen für zukunftsfähige ländliche Räume- Werkstatt N – Inspirationen für Nachhaltigkeit

10 Programm der ASG-Frühjahrstagung12 Tagungsregion Eisenach14 Kerniges Dorf! – ASG betreut Wettbewerb zur Innenentwicklung14 Leserbrief

15 Impulsreferat von Alois Glück beim BMELV-Zukunftsforum: Die Zukunft prägen die mutigenRealisten

18 Neues von der agrarpolitischen Bühne: Skandale über Skandale

20 Wir brauchen eine Agrarethik

22 Förderprogramm LEADER – Impulsgeber für innovative Landentwicklung in Europa27 Kräuter „vom Ende der Welt“

30 Interview mit Sozialministerin Manuela Schwesig: Die Schere ist auseinandergegangen33 Interview mit Dr. Rudolf Martens: Armut ist eine Folge des Wirtschaftsmodells35 Lesetipps zum Schwerpunktthema36 Mobilität, Erreichbarkeit und soziale Exklusion38 Armut in der Uckermark41 Forum Kinderarmut in Uslar44 Vesperkirchen – mehr als ein warmes Mittagessen

46 Ausstiege aus dem ökologischen Landbau: Umfang – Gründe – Handlungsoptionen46 Was kostet die Erzeugung von Milch?! Berechnung der Milcherzeugungskosten in

Deutschland in den Jahren 2002 bis 201246 Einstellungsorientierte Akzeptanzanalyse zur Elektromobilität im Fahrradverkehr46 Art und Ausmaß der Inanspruchnahme landwirtschaftlicher Flächen für außerland-

wirtschaftliche Zwecke und Ausgleichsmaßnahmen

47 Wegebautagung am 18. April 2013 in Berlin: Wege der Zukunft – Perspektiven desländlichen Wegebaus

47 Maria Helwig verstorben47 Eckhart Stüwe 65 Jahre47 Almke Gerken 75 Jahre47 Dr. Wilhelm Peters 70 Jahre

48 Welchen Netzumbau erfordert die Energiewende?48 Aus dem Leben eines Landtechnikers48 Bewusst anders – Erfahrungen eines Öko-Pioniers

Schwerpunkt Armut im ländlichen Raum

Agrarpolitik

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Aus der Forschung

Termin

Page 3: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Am Rande notiert 1

„Global denken – lokal handeln“ unter dieses bekannte Motto der Rio-Konferenz von 1992 hat Alois Glück sein Impulsreferat zur Eröffnung desZukunftsforums Ländliche Entwicklung im Rahmen der Grünen Woche2013 gestellt. Wir drucken seinen Beitrag in diesem Heft ab. Damit möch-ten wir einen Anstoß für einen Dialog über Zukunftsfragen des ländlichenRaums und der ländlichen Entwicklungspolitik geben. „Unsere heutige Artzu leben ist nicht zukunftsfähig“, sagt Alois Glück, heute Präsident desZentralkomitees der Deutschen Katholiken, früher CSU-Politiker undPräsident des Bayerischen Landtags. Er mahnt Zukunftsentwürfe zu denMegathemen demografische Entwicklung, Krise der Wachstumsgesell-schaft und internationaler Zusammenhang an und er fordert, Leitbilder fürden Fortschritt zu entwickeln. Die Frage nach den Werten und Leitbildernmuss auch gestellt werden, wenn es gilt, die Politik für Landwirtschaft undländliche Räume neu auszurichten. Mit dem Beitrag von Alois Glückmöchten wir in dieser Zeitschrift dazu einen Anfang machen.

Als wir uns vor mehr als einem Jahr zu einem Schwerpunkt Armut imländlichen Raum entschlossen, konnten wir nicht ahnen, welch kontro-verse Diskussion der frühzeitig bekanntgewordene Entwurf zum 4. Ar-muts- und Wachstumsbericht auslösen würde. Mit dem Bericht ist, ver-stärkt durch die öffentlich gemachten Meinungsunterschiede zwischenArbeits- und Wirtschaftsministerium, die „Gerechtigkeitsfrage“ zu einempolitischen Thema im Wahljahr 2013 geworden. Stimmt es, dass die Ge-sellschaft immer stärker auseinanderdriftet, dass die Kluft zwischen armund reich zugenommen hat? Wenn nach Alois Glück die größte Stärkedes ländlichen Raums die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger sind,wenn die Zukunft vor allem die „mutigen Realisten“ und die „engagiertenMinderheiten“ prägen, dann drängen sich Fragen danach auf, wie es um„Chancengerechtigkeit“ und „soziale Mobilität“ in den ländlich geprägtenRegionen unseres Landes aussieht. Der Bericht der Bundesregierung gibtdarauf verständlicherweise keine Antwort. Aber wir wollen hier nachhaken,wo zentrale Probleme der Armut auf dem Lande liegen und wie beispiels-weise regional orientiertes bürgerschaftliches Engagement gegen Armutund für eine gerechtere Teilhabe gestärkt und organisiert werden könnte.Zu den Aufgaben des Staates äußert sich Sozialministerin ManuelaSchwesig aus Mecklenburg-Vorpommern im Interview, Dr. Rudolf Martensvom Paritätischen Wohlfahrtsverband führt Armut im ländlichen Raum aufunser Wirtschaftsmodell zurück. Interessante Einblicke in spezielle Pro-bleme des ländlichen Raums gibt das Forschungsprojekt des Bundesbau-ministeriums, das sich mit sozialer Exklusion im Kontext von Mobilität undErreichbarkeit beschäftigt. In der Peripherie breite sich Verarmung aus,sagt das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD, wenn wichtige Struktu-ren und Daseinsfunktionen in der Region nicht mehr bereitgestellt werden.Im Kontext des vorliegenden neuen Armutsberichts der Bundesregierungmuss auch über Armut auf dem Lande vertieft diskutiert werden.

Ihr

StS a.D. Dr. Martin WilleVorsitzender des Vorstandes der Agrarsozialen Gesellschaft e.V.

Page 4: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

u ASG2Fo

tos:

M. B

usch

LandSchau 2013:

Lust aufs Land – Gemeinsam für die ländlichen RäumeDas neue Motto der Halle 4.2 war maßgebend für die vielen frischen und kreativen Ideen, die Minis-terien, Gemeinden und Initiativen bei der von der Agrarsozialen Gesellschaft e.V. organisiertenLandSchau vorstellten.

Positionen zur GAP bleiben kontrovers

Unterschiedliche Positionen zeigten sich in derDiskussion über die künftige EU-Agrarpolitik. Beider Gesprächsrunde zur Eröffnung der LandSchaubegrüßte Udo Hemmerling die weiterhin beabsich-tigte direkte Förderung und betonte, dass Flächen-prämien zur Sicherstellung der Einkommen und derWettbewerbsfähigkeit der Bauern notwendig seien.Hingegen bezeichnete Prof. Dr. Peter Weingartendie Grundabsicherung des ganzen Berufsstandes alswenig zukunftsweisendes Politikmittel und für nichterforderlich zur Sicherung der internationalen Wett-bewerbsfähigkeit. Nicht ein abrupter Politikwechsel,aber ein Abschmelzen der Direktzahlungen bis 2020sei der richtige Weg. Die demografische Entwicklungund der Klimawandel stellten gewaltige Herausforde-rungen für die ländlichen Räume dar. Hierfür müss-ten verstärkt Mittel eingesetzt werden. Mit gezielte-ren Maßnahmen in der 2. Säule ließen sich mehrUmwelt- und Klimaschutzleistungen als durch das„Greening“ der Flächenprämie erzielen. Dr. RudolfMögele betonte, dass durch die Vorschläge der EU-Kommission die Ziele Sicherung des Einkommensund der Wettbewerbsfähigkeit sowie des Umwelt-schutzes innerhalb der 1. Säule erreicht würden undin der 2. Säule weiterhin die ländliche Entwicklunggefördert werde. Das weitere Entscheidungsver-fahren sei jedoch der politischen Kontrolle der Kom-mission entzogen, weil diese jetzt bei den Mitglieds-staaten und dem Europäischen Parlament läge.

Der vorgesehene größere Spielraum der Länder beider Ausgestaltung der GAP wurde von Johannes Rem-mel begrüßt. Durch die Verzögerungen bei der Verab-schiedung des EU-Haushaltes sei der finanzielle Rah-men jedoch noch unsicher und eine neue Programm-struktur in den Ländern und damit eine neue Politiknoch nicht möglich. Abschließend gab Dr. Martin Willeseiner Befürchtung Ausdruck, dass die zu erwartendeKürzung des EU-Haushalts sich besonders zu Lastender schon bisher unterfinanzierten ländlichen Entwick-lung auswirken werde.

In einer anderen Gesprächsrunde zur Neugestaltungder GAP begrüßten Dr. Bernhard Walter, Referent fürErnährungssicherung von „Brot für die Welt“, und Jo-chen Fritz als Vertreter der Kampagne „Meine Land-wirtschaft“, eines breiten Bündnisses von Konsumen-ten- und Bauernorganisationen, die Richtung, die dieKommission mit ihren Vorschlägen eingeschlagenhabe: öffentliches Geld für öffentliche Güter einzuset-zen. Das Greening der Flächenprämien gehe jedochnicht weit genug, so Fritz, beispielsweise würden einedreigliedrige Fruchtfolge und die Honorierung des An-baus von Eiweißpflanzen fehlen. In der 1. Säule müssedie landwirtschaftliche Arbeit eine größere Rolle spie-len, Zahlungen nach Gießkannenprinzip lehne dasBündnis ab. Dr. Bernhard Walter bezeichnete dieDirektzahlungen als großen Kostenvorteil auf demWeltmarkt. Schon durch Exporte von kleinen Mengen,insbesondere tierischen Nahrungsmitteln, werde dieExistenz von Kleinbauern in Entwicklungsländern zer-stört. Im Sinne der Hungerbekämpfung solle sich die

Page 5: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

uASG 3Dr. Rudolf MögeleStellvertretender Generaldirektor GD Landwirtschaftund ländliche Entwicklung der EU-Kommission

Johannes RemmelMinister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft,Natur- und Verbraucherschutz, NRW

Petra SchwarzModeratorin

Udo HemmerlingStellvertretender Generalsekretär des DeutschenBauernverbandes

Prof. Dr. Peter WeingartenLeiter des Thünen-Instituts für Ländliche Räume

StS a.D. Dr. Martin WilleVorsitzender des Vorstandes der AgrarsozialenGesellschaft e.V.

(v.l.n.r.)

EU-Produktion auf den Eigenbedarf beschränken.Dr. Kai-Uwe Sprenger, EU-Kommission, bezeichne-te die Fleischexporte als relativ gering, sie betrü-gen bei Schweinefleisch nur etwa 10 % und wür-den kaum in Entwicklungsländer gelangen. Die Tat-sache, dass den Einen die neue GAP zu weit undden Anderen nicht weit genug gehe, zeige seinerAnsicht nach, dass die Kommission auf einemguten Weg sei.

Der ländliche Raum imZeichen der Energiewende

Regenerative Energien und ihre Nutzung standenim Zentrum einer Reihe von Gesprächsrunden,die von ASG, Deutscher Stiftung Kulturlandschaft,Deutschem Landkreistag und der EnergievisionFrankenwald e.V. organisiert wurden.

Erneuerbare Energien fürs Dorf

Mit der Gründung des Vereins „Self-SustainingCommunities“ bauen die als Bioenergiedörfer aus-gezeichneten Gemeinden Effelter, Feldheim, Groß-bardorf und Jühnde ein Netzwerk auf, das den Aus-tausch und die Vermittlung von Wissen und Erfah-rungen zu dezentralen, regenerativen Formen derEnergieversorgung europaweit fördert. Im Zentrumstehe die Vermittlung von Kompetenzen für einebürgerschaftlich getragene Energiewende, soEckhard Fangmeier. Schirmherrin des Netzwerksist Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner. BeiÜberreichung der Urkunde in ihrem Namen betonteStaatssekretär Peter Bleser die Bedeutung der de-zentralen Energieversorgung auf Basis nachwach-sender Rohstoffe für die Energiewende und dieregionale Wertschöpfung.

In der 950 Einwohner-Gemeinde Großbardorf(Bayern) konnten innerhalb weniger Jahre 50 %

der Heizenergie durch nachwachsende Rohstoffe er-setzt werden. Möglich wurde dies durch den Zusam-menschluss von 41 Landwirten zum Bau einer Bio-gasanlage und der Gründung einer Ortsenergie-genossenschaft. Seit 2005 investierten Bürger undBürgerinnen rund 15 Mio. € in die Nutzung erneuer-barer Energien (Nahwärme, Biogas, Fotovoltaik). DieBiogasanlage wird ausschließlich mit Substraten derAnlageneigentümer beschickt, wobei der Flächenanteilfür Mais in keiner Gemarkung höher als 7 % ist. Güns-tige Preise für Heizwärme führten zur Ansiedelungeines mittelständischen Unternehmens mit mehr als130 Mitarbeitern.

Feldheim, ein Ortsteil der Stadt Treuenbrietzen inBrandenburg, wurde als erster energieautarker Ort in-ternational bekannt. Heute wird durch 43 Windkraftan-lagen und mittels Fotovoltaik Strom erzeugt. Die lokaleBiogasanlage und ein Holzhackschnitzel-Heizwerkspeisen das Nahwärmenetz, welches sich wie dasStromnetz im Eigentum einer GmbH & Co. KG befin-det. Beteiligt sind die angeschlossenen Haushalte,örtliche Unternehmen sowie die Stadt Treuenbrietzen.Bereits heute gibt es eine Stromtankstelle im Ort; inden nächsten zehn Jahren solle die E-Mobilität aus-gebaut werden, so Bürgermeister Michael Knape.

Die gemeinnützige Energievision Frankenwald e.V.entwickelt ökologische und zukunftsfähige Konzepte inden Bereichen Energieeinsparung sowie regenerativeEnergieproduktion und -nutzung für den NaturraumFrankenwald. Martin Kastner, Projektleiter „Bioenergie-gemeinden im Frankenwald“, bezeichnete die Bürger-beteiligung, etwa bei einer genossenschaftlichenWärmeversorgung, als zentral für das Konzept derEnergieversorgung aus der eigenen Region. An demmit LEADER-Mitteln geförderten Kooperationsprojekt„Bioenergiegemeinden im Frankenwald“ ist der Vereinals Projektträger beteiligt.

Neue Energielandschaften

Regenerative Energien veränderten die Landschaftso, dass heute von Energielandschaften gesprochenwerde; jedoch hätte es früher schon Energieland-schaften wie Braunkohletagebaugebiete oder denWald gegeben, erläuterte Landschaftsarchitekt ClausHerrmann. Auch der Vorwurf der Industrialisierung derLandschaft sei nicht passend. Durch die seit langemindustrialisierte Landwirtschaft und die Flurbereinigungsei auch die Kulturlandschaft industrialisiert worden.Ein Problem sei jedoch, wenn ganze Landstriche mitWindrädern „zugepflastert“ würden, ohne die Bürger/-innen einzubeziehen und die Gewinne nicht vor Ortblieben. Regenerative Energieträger könnten jedochauch positive Veränderungen der Landschaft bewir-

Page 6: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

u ASG4

ken. Größere Heckenstrukturen, die energetischgenutzt werden könnten, seien eine gute Möglich-keit, übergroße Schläge in Ostdeutschland zugliedern. Aus Gründen des Naturschutzes dürftenjedoch nicht nur Weiden und Pappeln gepflanztwerden. Auch Dr. Stefan Lütgert, Deutsche Stif-tung Kulturlandschaft, betonte die Potenziale füreine Aufwertung von Kulturlandschaft und Orts-bild, wenn die Morphologie der Landschaft undbaukulturelle Prinzipien bei der Planung derEnergieerzeugung beachtet würden. Die bisherpraktizierte Standortsuche im Ausschlussverfah-ren lasse jedoch kaum Spielraum für konzeptio-nelles, gestalterisches Handeln unter Einbezie-hung aller vor Ort Betroffenen. In Kooperation mitden Landwirten ließen sich auch Ergänzungenzum Anbau von Energiemais finden. Die Erpro-bung des Anbaus von mehrjährigen Wildpflanzen-mischungen zeige, dass der Biogasertrag zwarrelativ zu Mais nur 60 bis 70 % betrage, dafür je-doch fünf Jahre lang auf Düngung und Pflanzen-schutz verzichtet werden könne. Die Flächen sei-en Bienenweide, Unterstand für Wildtiere unddienten dem Bodenschutz, sie seien wenig emp-findlich bei Hagelschlag und es sei kein Wildscha-den zu befürchten. Dr. Inge Gotzmann, Geschäfts-führerin Bund Heimat und Umwelt (BHU) e.V.,regte an, Förderinstrumente zu schaffen, die dieDiversität der Kulturlandschaft erhöhen. Hiervonhätten Anwohner und Touristen einen direktenNutzen. Auch die Regionalplanung mit Bürger-beteiligung müsse eine wichtigere Rolle bei derEnergiewende übernehmen. Die Landschafts-planung sei jedoch zugunsten der Suche nacheinzelnen Standorten zurückgedrängt worden.

Dass Biogas auch ohne Nutzung von Mais pro-fitabel erzeugt werden kann, zeigte das Beispielder Biogasanlage von Markus Appel aus dem Bio-energiedorf Effelter (Bayern). Er habe, zunächstvon vielen belächelt, die Anlage vor elf Jahrengebaut, um den Aufwuchs seines Grünlandes zunutzen. Heute sei sie die Basis der Energiever-sorgung des Ortes.

E-mobil im bergigen und auf dem flachen Land

Elektromobilitätskonzepte haben schon in einigenstädtischen Regionen ihre Praktikabilität gezeigt.Ihre Tauglichkeit für den ländlichen Raum wird unterverschärften Gelände- und Klimabedingungen in derModellregion Elektromobilität Bayerischer Wald geprüft.Das Projekt E-WALD umfasst eine Fläche von mehrals 7 000 km² und Fahrzeuge, Ladesäulen sowie Steue-rungs- und Kommunikationskonzepte. Es hat neben derMinderung der CO2-Emissionen das Ziel, in einer Re-gion, in der kaum öffentlicher Nahverkehr vorhandenist, durch Senkung der Pendelkosten der Abwanderungentgegenzuwirken und die Wertschöpfung der Energie-erzeugung in der Region zu belassen. Die Fahrzeugeim Projekt, mit Mindestreichweiten von 120 km, seienkomplett CO2-neutral, da mindestens 120 % des Strom-bedarfs der Fahrzeuge regenerativ erzeugt und in dasNetz eingespeist würden, so Klaus Mairhöfer, Hoch-schule Deggendorf. Die Betriebskosten seien mit 1,50bis 1,80 €/100 km gering. Bei einer täglichen Fahrleis-tung von 70 km hätten sich die höheren Anschaffungs-kosten bereits nach drei Jahren amortisiert.

Das Überangebot an Windstrom in Schleswig-Hol-stein möchte die eE4mobile eG für die Mobilität nutzen.Innerhalb von 2½ Jahren wurden im Landkreis Nord-friesland bereits 26 Lade- und Akkutauschstationenfür E-Bikes installiert. Seit 2012 bezieht die Genossen-schaft auch E-Mobile in ihr Konzept ein. Projektmana-ger Stephan Wiese betonte, dass die Elektromobilitätdurch viele Stromtankstellen sichtbarer werden müsseund die Kommunen viel zu ihrer Verbreitung beitra-gen könnten. Im Bereich Tourismus sei es Ziel dereE4mobile eG, dass Urlauber in Zukunft mit der Bahnanreisen und vor Ort ein E-Mobil nutzen.

Dorothee Saar betonte, dass auch die Deutsche Um-welthilfe langfristig die Elektrifizierung von Antriebenfür den öffentlichen und privaten Verkehr für notwendigerachte. Heute müsse jedoch die Effizienz der gesam-ten Fahrzeugflotte unter Kostenaspekten im Vorder-grund stehen. Eine Emissionsminderung lasse sich amBesten durch das schrittweise Senken von gesetzlichenEmissionsgrenzwerten erreichen. Die CO2-Vermei-dungskosten seien bei Autos mit Verbrennungs- und

Übergabe der Urkunde zurSchirmherrschaft für das Self-Sustaining CommunitiesEuropean Network e.V. (v.l.n.r.)

StS Peter BleserMinisterium für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz(BMELV)

Eckhard FangmeierBioenergiedorf Jühnde,1. Vorsitzender des Vereins

Wolfgang DegelmannEnergievision Frankenwald e.V.,2. Vorsitzender des Vereins

Page 7: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

uASG 5

Hybrid-Antrieben bedeutend geringer als bei E-Mo-bilen. Allerdings sei eine Förderung der Grundlagen-forschung im Bereich mobile Speichersysteme zubefürworten. Wirklich CO2-neutral würden E-Mobileheute nur dann fahren, wenn sie mit zusätzlichem1

regenerativen Strom betankt würden. Dies sei je-doch bei keinem der Modellprojekte, die der Deut-schen Umwelthilfe bekannt seien, der Fall. Zur Be-rechnung der Emissionen durch E-Mobilität müssedaher der heute vorhandene Strommix angesetztwerden, mit der Folge, dass die CO2-Emissioneneines E-Mobils einem herkömmlichen Fahrzeug derGolf-Klasse entsprechen.

Inspiration und Austausch der Dorfbewegun-gen über regionale und nationale Grenzen

ERCA, die Vereinigung der Dorfbewegungen inEuropa, eröffnet nationalen Dorfbewegungen undeinzelnen Dörfern aus verschiedenen Ländern dieChance, miteinander in Kontakt zu treten und sichüber Handlungsoptionen auszutauschen. Mit vielenBeispielen könne ERCA zeigen, wie lebendige Dör-fer in unterschiedlichen Regionen aussehen unddabei helfen „vorwärts zu denken“ und nicht in altenProblemen und Diskussionen verhaftet zu bleiben,erläuterte Prof. Dr. Bert Broekhuis, Präsident vonERCA.

Die bereits seit 30 Jahren bestehende niederländi-sche Dorfbewegung wurde von aktiven Bürgern ge-gründet, die Möglichkeiten sahen, die Probleme ih-rer Dörfer selbst zu lösen, so Koos Mirk, „LandelijkeVereniging voor Kleine Kernen“. Es sei wichtig, Er-fahrungen zu teilen, sich gegenseitig zu unterstüt-zen und eine gemeinsame Interessenvertretung zu

1 Regenerativ erzeugte Elektrizität, die nicht durch Netzeinspeisung genutzt werden kann, wie etwa Windstrom, der in Zeiträumen erzeugt und genutzt/gespeichert wird, in denen sonst die Generatoren mangels Bedarf oder wegen Leitungsüberlastung abgeschaltet werden müssten.

Gesprächsrunde E-Mobilität: Klaus Mairhöfer, Geschäftsführer E-WALD, Dorothee Saar, Leiterin Verkehr und Luftreinhaltung DeutscheUmwelthilfe, Peter Voss, Moderator, Sabrina Kuschy, Tourismus-management Landkreis Dahme-Spreewald, Dana Klaus, stellv.Geschäftsführerin, Tourismusverband Dahme-Seen e.V., StephanWiese, Projektmanager eE4mobile eG (v.l.n.r.)

Dagmar Schmidt, Moderatorin, Partizip Futur, Prof. Dr. Bert Broekhuis, Präsident der European Rural Commu-nity Association (ERCA), Prof. Dr. Kurt Krambach, Agrarsoziologe und Mitglied der Koordinierungsgruppe Initia-tive zur Gründung einer Dorfbewegung in Deutschland, Koos Mirk, Landelijke Vereniging voor Kleine Kernen (nie-derländische Dorfbewegung) (v.l.n.r.)

bilden. Die positiven Erfahrungen der bisher 23 europä-ischen Dorfbewegungen wurden auf der von ERCA undRosa-Luxemburg-Stiftung organisierten InternationalenDorfkonferenz 2011 vermittelt (s. Ländlicher Raum 02/2011,S. 46f.). Ein wichtiges Ergebnis der Tagung sei die Bildungder „Koordinierungsgruppe Initiative zur Gründung einerDorfbewegung in Deutschland“ gewesen, so Prof. Dr. KurtKrambach. Gemeinsam mit Dorfgemeinschaften aus ver-schiedenen Bundesländern werde daran gearbeitet, regio-nale sowie ein bundesweites Netzwerk ins Leben zu rufen.„Wir möchten möglichst viele Dörfer gewinnen, damit dieDorfbewegung in Deutschland so stark wird, wie in denNiederlanden“.

Page 8: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

u ASG6

Ausgezeichnete Ideen fürzukunftsfähige ländliche Räume

Erstmals in Halle 4.2 vertreten war das Bundes-ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(BMVBS). Es präsentierte erfolgreiche Projekte ausseinem seit 2011 gemeinsam mit anderen Verbän-den durchgeführten Wettbewerb „Menschen undErfolge“. Ziel dieses Wettbewerbs sei zum einen zuerfahren, was es in Deutschland an guten Ideen undInitiativen für ein bedarfsgerechtes Infrastrukturan-gebot in ländlichen Regionen gebe, erläuterte Prof.Dr. Hagen Eyink, Referat Ländliche Infrastruktur,Kulturlandschaften im BMVBS. Zum anderen wolleman durch eine Anerkennung in Form eines Preisesdie Leistung der in den Projekten engagierten Eh-renamtlichen würdigen. Und nicht zuletzt gehe esauch darum, Hemmnisse für die Umsetzung guterIdeen zu erkennen, die das Ministerium in Form vonVerordnungen oder Gesetzen evtl. beseitigen könne.

Mobilität

2003 gingen in Bayern zwei Bürgerbus-Projektean den Start. Der Biberger BürgerBus, GemeindeOberhaching, sei mit dem Ziel gegründet worden,einen Anschluss an das bestehende öffentliche Ver-kehrsnetz herzustellen, so Jens Nonnenmacher, Mit-initiator des Projektes. Hauptkostenpunkt für öffent-liche Verkehrsbetriebe seien die Personalkosten,erläuterte Stefan Schelle, Bürgermeister von Ober-haching. Diesen Fixkosten stünde in kleinen Ge-meindeteilen keine ausreichende Nachfrage gegen-über. Deshalb sei die Idee, dass Bürger ehrenamt-lich Bürger beförderten, so bestechend. Nachdemein anderer lokaler Beförderungsdienst mit Fahrzeitund Streckenverlauf nach Bedarf gescheitert war,fährt dieser Bus auf einer festen Fahrtroute mit fes-tem Fahrplan. 35 ehrenamtliche Fahrer/-innen be-fördern ca. 10 000 Fahrgäste im Jahr. HuguetteScharpegge-Welker, Vorsitzende des BibergerBürgerBus-Vereins, und Fahrer Detlef Pankow ho-ben besonders den sozialen Aspekt des Projektshervor. Der Bus sei nicht nur eine Verbindung vonA nach B, sondern auch von Mensch zu Mensch. Er

sei ein Ort der Kommunikation, quasi eine moderneDorflinde. Das ganze Dorf stehe hinter dem Bus.Finanziert wird der Biberger Bürgerbus etwa zurHälfte durch Vergabe von Werbeflächen, Fahrgelderund Mitgliedsbeiträge der Vereinsmitglieder, die an-dere Hälfte gibt die Gemeine Oberhaching dazu.

Landrat Georg Grabner stellte die JugendCard unddas JugendCard-Taxi vor, einen Mobilitätsservicefür junge Menschen im Landkreis BerchtesgadenerLand. Bei der JugendCard handelt es sich um eineVorteilskarte für junge Menschen von 14 bis 29 Jah-re mit Wohnsitz im Landkreis Berchtesgadener Land.Sie erhalten damit Ermäßigungen bei über 140 Vor-teilsgebern im Landkreis. Bereits seit mehrerenJahren gibt es die „Nachtschwärmerlinien“. DieseNachtbusse bieten Jugendlichen bei ihrer nächtli-chen Freizeitgestaltung eine sichere Möglichkeit,ihre Ziele zu erreichen. Nicht alle Orte des Landkrei-ses würden jedoch von diesen Bussen angefahren,sagte Grabner. Das JugendCard-Taxi schließe dieseLücke und biete einen sicheren Transport bis vor dieHaustür. Drei örtliche Taxiunternehmen bieten fürInhaber der JugendCard ermäßigte Taxifahrten an.

Nahversorgung

Das „Wursttaxi“ ist ein besonderes Angebot derMetzgerei Böbel aus Georgensgmünd-Rittersbach.Selbst ein Laden oder ein mobiler Verkäufer im Ortsei für Menschen mit eingeschränkter Mobilität oftschon nicht mehr erreichbar, so Inhaber ClausBöbel. Das „Wursttaxi“ bringe die Ware hingegendirekt bis zur Haustür. Eine weitere Zielgruppe seienMenschen mit wenig Zeit zum Einkaufen wie z. B.Berufstätige. Beliefert würden Haushalte in einemUmkreis von 25-30 km. Durch diesen zusätzlichenKundenkreis sei es möglich, die Metzgerei in einemkleinen Ort mit 300 Einwohnern zu erhalten. Außer-dem verkauft Claus Böbel seine Produkte über ei-nen Online-Shop. Deswegen und auch für privateFahrten zur Bank oder zur Schule sei er täglichunterwegs. Nur durch eine geschickte Verknüpfungvon privaten und geschäftlichen Fahrten trage sichdas „Wursttaxi“ wirtschaftlich.

Page 9: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

uASG 7

Infrastruktur

Robringhausen im Kreis Soest kombi-niert Ziele des Klimaschutzes mit Kosten-ersparnissen für private Haushalte. Umdie seit 2006 arbeitende Biogasanlageeines landwirtschaftlichen Betriebesmöglichst effizient zu nutzen, entstanddie Idee, ein durch die beteiligten Haus-halte finanziertes Nahwärmenetz aufzu-bauen. Nach zweijähriger Vorplanungwurde 2008 die Infrastruktur von ortsan-sässigen Firmen errichtet. Robringhau-sen habe diesbezüglich eine Vorreiter-rolle übernommen, sagte BürgermeisterRudolf Sommer. Zwar existierte damalsein ähnliches Nahwärmeprojekt inJühnde (Niedersachsen), dieses werdeaber als Pilotprojekt von verschiedenenStellen mitfinanziert und von der Univer-sität Göttingen wissenschaftlich beglei-tet. In Robringhausen dagegen wird dasNahwärmenetz von der WärmenetzRobringhausen GbR finanziert und be-trieben, der 21 Hauseigentümer angehö-ren. Das Besondere dabei: Die 25 ange-schlossenen Häuser erhalten die Wärmekostenlos, sodass ausschließlich Kostenfür die Tilgung der Finanzierung desNahwärmenetzes entstehen. Die Inves-titionssumme belief sich auf 336 000 €.Durch einen hohen Zuschuss aus demMarktanreizprogramm der KfW-Bankkönne die Wärmenetz RobringhausenGbR einen großen Teil ihrer Schuldenjedoch schon 2014 tilgen, freute sichGeschäftsführer Franz Hahne.

Um das stark renovierungsbedürftigeund aufgrund leerer Gemeindekassenvon Schließung bedrohte Waldschwimm-bad in Zorge (Ldkr. Osterode, Nieder-sachsen) zu erhalten, gründeten 35Bürger im Jahr 2000 kurzerhand einen

1 Berichte über weitere ausgezeichnete Projekte dieses Wettbewerbs finden Sie auch in den Ausgaben 01/2012, S. 3 und 03/2011, S. 68f.

Förderverein. Mit bislang 50 000 ehrenamtlichen Helferstunden,durch die Akquise von Sponsorengeldern und Spenden und mitprofessioneller Unterstützung der Firmen vor Ort wurden um-fassende Sanierungsmaßnahmen durchgeführt: Toiletten, Ka-binen, Filtertechnik, die Schwimmbadfolie und das Maschinen-haus wurden erneuert. Der Preis des Bundesbauministeriumssei eine ungeheure Motivation für die Ehrenamtlichen, die jähr-lich weitere 50 000 Stunden aufwendeten, sagte BürgermeisterHarald Bernhardt.

Dr. Kerstin Finger ist seit 29 Jahren Zahnärztin in Templin inder Uckermark und behandelt teilweise mehrere Generationeneiner Familie in ihrer Praxis. Dabei erfahre sie oft, dass die äl-teste Generation aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehrmobil genug sei, um zu ihr zu kommen, obgleich eine Behand-lung notwendig sei. Entweder man überhöre das oder man ver-suche, eine Lösung dafür zu finden, so Dr. Finger. Ihre Lösungist eine mobile Zahnarztausstattung, mit der sie dienstagvor-mittags und bei akutem Bedarf auch in der Mittagspause odernach Dienstschluss zu ihren Patienten nach Hause fährt. Finan-ziert wurde die Ausrüstung überwiegend aus eigener Tascheund z. T. mit LEADER-Mitteln. Sie habe ihre Idee aber nicht nurdeshalb der LEADER-Arbeitsgruppe vor Ort vorgestellt, umFördermittel zu erhalten, sondern auch, um Unterstützung undein Netzwerk zu finden, das Sozialräume gestalte. Denn ihreTätigkeit gehe über die reine ärztliche Versorgung hinaus, seistattdessen Sozialarbeit im besten Sinne.

Den Bürgern wortwörtlich ‚entgegenzukommen‘ und dabeigleichzeitig Verwaltungskosten zu sparen, gelingt der Luther-stadt Wittenberg mithilfe eines mobilen Bürgerbüros. Durch Ein-gemeindungen sind in den letzten Jahren immer mehr Ortsteile

„Wenn ländliche Regionen aus-trocknen, verlieren auch metropoleZentren an Wert, und umgekehrt.Um den Wert der ländlichen Regio-nen klar darzustellen, sind wir daserste Mal – und ich hoffe auf Dauer –auf der Grünen Woche.“Peter Ramsauer

Peter Ramsauer, Bundesminister fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung(BMVBS) mit Preisträgern des Wett-bewerbs „Menschen und Erfolge“ undweiteren Gästen des BMVBS

Mobiles Bürgerbüro der Lutherstadt Wittenberg

Page 10: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

u ASG8

hinzugekommen, die Distanz zu dem am weitesten entferntliegenden beträgt 27 km. Das ist nicht nur zeitraubend, son-dern für zunehmend mehr Menschen auch kaum noch zubewältigen. In jedem Ortsteil jedoch ein komplett ausgestat-tetes Bürgerbüro zu unterhalten, würde eine hohe finanziel-le Belastung für die Stadt bedeuten. In Zusammenarbeit mitStudenten der Uni Potsdam entwickelte die Stadtverwaltungdeshalb einen Koffer, der die für die Verwaltungstätigkeitenbenötigte Technik enthält: Laptop, Drucker, Maus, Scanner,Änderungsterminal für Personalausweise, Fingerprint undSignaturpad. Neu sei nicht die Idee an sich, sagte JörgBielig, Leiter des Fachbereichs Bürgerservice und Ordnungs-wesen, sondern der Ansatz, alles so komprimiert zu gestal-ten, dass es in einem Koffer Platz finde. Der Jury des Wett-bewerbs „Menschen und Erfolge“ wiederum habe besondersgefallen, dass die Stadtverwaltung die Zusammenarbeit mitder Universität gesucht habe, um ihre Idee zu verwirklichen,verriet Prof. Dr. Hagen Eyink (BMVBS). Derzeit bietet dieVerwaltung in fünf Ortsteilen an jeweils einem Nachmittagder Woche feste Sprechzeiten an. Darüber hinaus bestehtdurch die Flexibilität der Ausrüstung auch die Möglichkeit,z. B. direkt in ein Seniorenheim oder sogar in die Privat-wohnung zu kommen, benötigt werden vor Ort lediglichein Stromanschluss und eine UMTS-Verbindung.

Werkstatt N – Inspirationen für Nachhaltigkeit

Probleme von heute ließen sich nicht mit Konzepten vongestern lösen, betonte Eike Meyer, wissenschaftlicher Re-ferent beim Rat für Nachhaltige Entwicklung. Ökologische,ökonomische und soziale Nachhaltigkeit müssten zusam-men gedacht und als prozesshaft verstanden werden. Ne-

ben seiner Beratungstätigkeit für dieBundesregierung habe der Rat daher alsExperimentierfeld hierfür das Qualitäts-label „Werkstatt N“ entwickelt, mit demjedes Jahr 100 Projekte ausgezeichnetwürden. Drei Projekte stellten sich aufder Bühne vor.

Die in Berlin und Bilbao tätige Initiativea tip:tap hat das Ziel, den Konsum vonLeitungswasser zu fördern, welches inDeutschland in exzellenter Qualität,kostengünstig, gesund und ressourcen-schonend zur Verfügung steht. Hiermitwollen die Aktiven die Themen nachhal-tiger Konsum und Ressourcenschonungstärker ins Bewusstsein rücken. Durchden Verkauf von CO2-neutral hergestelltenTrinkwasserflaschen werden Trinkwasser-brunnen finanziert. (www.atiptap.org)

Kulina e.V. setzt sich überwiegend in so-zialen Brennpunkten dafür ein, dass Men-schen unabhängig von Bildungsstand undHerkunft die Chance erhalten, über ihreErnährung selbst zu bestimmen. Beim ge-meinsamen Kochen und Essen, auch anungewöhnlichen Orten wie einer BerlinerMoschee, lernen junge Menschen, wiemit grundlegenden Koch- und Ernährungs-kenntnissen, viel Kreativität und Selbst-vertrauen auch mit minimalen Ressourcenabwechslungsreich gekocht werden kann.Niemandem werde die Entscheidung ab-genommen, unter den Lebensmitteln zuwählen. Die eine richtige Ernährung gäbees nicht. (www.kulina-ev.de)

Auf knapp 500 m2 lädt der Lichtenber-ger Stadtgarten e.V. zum Mitgärtnern ein:ohne private Einzelbeete oder Beetpaten-schaften. Gartenarbeit und das geernteteObst und Gemüse werden fair verteilt. Sokönnen auch Menschen mit körperlichenEinschränkungen oder wenig Zeit gemein-sam mit anderen eigenes Obst und Gemü-se anbauen. Der Nutzgarten wird damit zueiner sozialen Innovation. Um den Allmen-degarten gemeinsam zu bewirtschaften,entwickeln die Initiatoren des Projekts ausder Gartenpraxis heraus ein (Selbst-)Orga-nisationskonzept, das durch die Internet-plattform stadtgarten.org unterstützt wird.

Dagmar Babel und Karin ZanderWerkstatt N: Projekt Lichtenberger Stadtgarten

Foto

: K. F

rosc

h

Page 11: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Land

Scha

uASG 9

„Vor allem für Kinder ist es ein Erlebnis zu sehen, woMilch, Honig und Wollpullover tatsächlich herkommen.Die Landwirtschaft spielt insbesondere in der Stadt eineelementare Rolle bei der Vermittlung unserer Lebens-grundlagen.“ Heinz Buschkowsky

„Politik muss gemeinsam mit der Landwirtschaft Men-schen sensibilisieren, sich mit dem Wert von Lebens-mitteln auseinanderzusetzen und sie als ‚Mittel zumLeben' zu schätzen.“ Sabine Toepfer-Kataw

„Mit dem Ortsteil Lübars haben wir ein Dorf mit knappzehn landwirtschaftlichen Betrieben mitten in der Stadt.Es ist sehr wichtig für Menschen, die in einer Großstadtleben, in direkter Nähe Natur und Naherholung erlebenzu können – auch das ist Berlin.“ Martin Lambert

Ländertag Berlin: Hat die Landwirtschaft noch eine Chance in Berlin?Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister Neukölln, Petra Schwarz,Moderatorin, Sabine Toepfer-Kataw, Staatssekretärin für Verbraucher-schutz, Martin Lambert, Bezirksstadtrat von Reinickendorf (v.l.n.r.)

„Wir müssen Familie, Beruf und möglichst Ehrenamtzusammenbringen und es gehört dazu, dass dieRahmenbedingungen für die Vereinbarkeit auch inländlichen Regionen besser werden. Minijobs könnenfür uns keineswegs die Antwort darauf sein. Sie sindfatal für die Erwerbsbiografie und die Alterssicherungvon Frauen. Wir brauchen mehr Flexibilität beim Wech-sel zwischen Voll- und Teilzeitarbeit, Teilzeit muss inallen Berufen und auf allen Ebenen möglich sein.“Brigitte Scherb, Präsidentin des Deutschen LandFrauenverbandes (dlv)

„Wir brauchen Entwicklungs- und Förderstrategien,die spezifisch auf die jeweilige Region ausgerichtetsind. Nur so können wir das soziale und räumlicheGleichgewicht sichern.“ Ilse Aigner

Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner beim Rundgang durch Halle4.2 zusammen mit StS a.D. Dr. Martin Wille, Vorsitzender des Vor-standes der ASG, Joachim Rukwied, Präsident des DeutschenBauernverbandes, Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeistervon Berlin, Helmut M. Jahn Landrat des Hohenlohekreises undPräsident des Landkreistags Baden-Württemberg (v.l.n.r.)

Foto

s: M

. Bus

ch

Page 12: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

ASG10

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

ASG-Frühjahrstagung 2013 in Eisenach:

Wem gehört das Land?Flächennutzungskonflikte im regionalen und internationalen Kontext

Mittwoch, 22. Mai 2013„Luther und Eisenach“, Programmteil zur Lutherdekade 2008-2017

9.00 - 10.30 Uhr Führungen

a) Stadtführung durch die historische Altstadt von EisenachWeltberühmte Persönlichkeiten prägen das Bild der Wartburgstadt. Erkunden Sie die historischenGebäude, Straßen und Plätze auf den Spuren der Heiligen Elisabeth, Johann Sebastian Bachs,Martin Luthers und Goethes.

b) Mit den „Lutherfindern“ durch Luthers EisenachAuf der Suche nach Luthers Spuren werden Zusammenhänge zwischen Geschichte und Theologieerläutert und Orte und Zeugnisse der Reformation vermittelt.

c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch und Nönnlein, aufrührerische Bauern-haufen, die neuen Lehren des Dr. Martinus Luther und manch‘ seltsame Sitten zu „Isenach“.

10.45 - 12.15 Uhr Vorträge

Reformation und Toleranz – Einheit und Vielfalt in Gesellschaft und KircheDr. Christiane Schulz, Geschäftsführerin für die Reformationsdekade bei der EKM (EvangelischeKirche in Mitteldeutschland)

Ethische Anforderungen an die Landwirtschaft heute und morgen aus kirchlicher SichtDr. Clemens Dirscherl, Ratsbeauftragter der EKD für agrarsoziale Fragen

Vortragstagung „Wem gehört das Land?“

13.15 Uhr BegrüßungStS a.D. Dr. Martin Wille, Vorsitzender des Vorstandes der Agrarsozialen Gesellschaft e.V.

Ganzheitliche Flächenhaushaltspolitik – Chancen und Herausforderungen eines intelli-genten Flächenmanagements in ThüringenProf. Dr. Karl-Friedrich Thöne, Abteilungsleiter im Ministerium für Landwirtschaft, Forsten, Umweltund Naturschutz des Freistaats Thüringen

Intelligentes Flächenmanagement zur Lösung regionaler und lokaler Flächennutzungs-konflikte. Aktionsfelder der Thüringer LandgesellschaftDr. Alexander Schmidtke, Geschäftsführer der Thüringer Landgesellschaft

Foto

s: M

. Bus

ch

Page 13: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

ASG 11

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Thüringer Erfahrungen: Was sollen und was können zivilgesellschaftliche Organisationen bewegen?Ralf-Uwe Beck, Ehrenvorsitzender des BUND Thüringen, Sprecher des LandesverbandesThüringen von „Mehr Demokratie“

Diskussion mit den Referenten

Nachhaltige Entwicklung im grünen Bereich? Die Sicht des Rates für Nachhaltige EntwicklungDr. Günther Bachmann, Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung

Wir haben es satt, dass andere hungern. Die Lobbyarbeit der Kirchen für eine verantwor-tungsvollere LandnutzungCornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin des Evangelischen Entwicklungswerks Brot für die Welt

Wir machen satt. Standpunkte und Argumente des landwirtschaftlichen BerufsstandesAlbert Seifert, Vizepräsident des Thüringer Bauernverbandes

Diskussion mit den Referenten

19.00 Uhr Empfang des Thüringer Ministers für Landwirtschaft, Forsten, Umwelt und NaturschutzJürgen Reinholz

Donnerstag, 23. Mai 2013Fachexkursionen

8.00 Uhr Fachexkursion A: Rund um die Hörselberge

- Flächenverbrauch und Flächennutzungskonflikte im Rahmen eines Verkehrsprojekts- Folgen und Entwicklungen für landwirtschaftliche Betriebe und ländliche Gemeinden- Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen von Flurneuordnung und Dorfentwicklung- Beispiele für Kompensationsmaßnahmen und Flächenrevitalisierung- Kulturelle Bedeutung und Perspektiven leerstehender Baudenkmale

Fachexkursion B: Unterwegs im Mittleren Werratal

- Gemeindeentwicklung, Sicherung von Nahversorgung und Infrastruktur im städtischen Nahbereich- Ökologische Landwirtschaft, Verarbeitung und Direktvermarktung, Soziale Landwirtschaft- Tourismusentwicklung am Werraradweg- Landschaftspflege und Vernetzung im Rahmen des „Grünen Bandes Thüringen“- Entwicklung länderübergreifender Naturschutzmaßnahmen, Lösung von Flächennutzungs-

konflikten mit Unterstützung einer Flurneuordnung

Das vollständige Tagungsprogrammund Online-Anmeldung im Internetunter www.asg-goe.de

Page 14: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

ASG12

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Tagungsregion Eisenach

Weltkultur, Weltnatur und Weltgeschichte – die Region, in der im Mai 2013 die Frühjahrstagung derAgrarsozialen Gesellschaft e.V. stattfindet, hat einiges zu bieten. Als Pfortenstadt zwischen Werra-bergland und Hörselgebirge im Norden sowie dem Thüringer Wald im Süden bildet Eisenach mitknapp 43 000 Einwohnern das Zentrum Westthüringens. Umgeben wird die kreisfreie Stadt am Fußeder Wartburg fast vollständig vom Wartburgkreis.

„Meine liebe Stadt“ nannte Martin Luther Eisenach.Der wohl bekannteste Einwohner der Stadt verbrach-te im heutigen Lutherhaus drei Jahre seiner Schul-zeit, auf der Wartburg wurde er 1521/22 vor derpäpstlichen Bannung versteckt und übersetzte dasNeue Testament. Heute gilt die Wartburg als eineder wichtigsten Reformationsstätten und zählt seit1999 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Aber nichtnur Eisenach, sondern auch die Wartburgregion isteng mit Luther verbunden. Gerade das Reforma-tionsjubiläum 2017 und die vorangehende Luther-dekade sind für Thüringen und speziell die Wart-burgregion mit ihrem reichen Fundus an Luther-stätten von großer kultureller und touristischerBedeutung.

Regionalmarketing durchgemeinsame Geschichte

Um von einem gemeinschaftlichen Marketing zuprofitieren und kooperative Angebote zu entwickeln,wurde 2011 das Aktionsnetzwerk Lutherdekade initi-iert. Alle Akteure der Wartburgregion, die sich demThema Luther und Reformation verbunden fühlen,arbeiten in diesem Netzwerk zusammen. Zur Um-setzung wurde in Zusammenarbeit zwischen derEisenach-Wartburgregion Touristik und dem Land-ratsamt Wartburgkreis ein LEADER-Projekt entwi-ckelt. Eine Koordinierungsstelle übernimmt dabeiu. a. Maßnahmen der Presse- und Öffentlichkeits-arbeit wie die Betreuung der Internetplattform(www.luther-region.de). Des Weiteren werdenLuthertouren entwickelt und die Ausweisung desLutherweges weiter vorangetrieben. Der Lutherwegsoll als bundesweites System von Wanderwegendie Wege des Reformators nachvollziehbar ma-chen. In der Wartburgregion kann er schon be-wandert werden: Von der Wartburg über Möhrabis zum Lutherdenkmal im Luthergrund.

Ein Stück Weltgeschichte in Thüringen

Eisenach und Wartburgregion sind aber weitausmehr als Lutherstadt und -region. So inspirierte derlegendäre Sängerkrieg auf der Wartburg RichardWagner zu seiner Oper „Tannhäuser“, die jährlicham Originalschauplatz aufgeführt wird. Als Geburts-

Foto

: A. N

estle

r

Foto

: Akt

ions

netz

wer

k Lu

ther

deka

de

Luther unterwegs in der Region

Page 15: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

ASG 13

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

stadt Bachs wurde Eisenach im späten 17. und be-ginnenden 18. Jahrhundert zu einer Wirkungsstätteeuropäischer Musikgeschichte. Das Bachhaus zeigtheute als „Klingendes Museum“ die weltweit größteAusstellung zu Leben und Werk des Komponisten.Auch große Namen der Literatur sind mit Eisenachverbunden. Fritz Reuter verbrachte seinen Lebens-abend hier, Goethe besuchte mehrfach Stadt undWartburg. Eisenach ist zudem Modellstadt für dieGeschichte der Motorisierung in Deutschland. So-wohl Dixi, BMW, Wartburg und Opel wurden hiergefertigt. Noch heute haben die in Eisenach ansäs-sigen Industriebetriebe ihren Schwerpunkt im Be-reich Automobilbau und Zulieferindustrie. Die Aus-stellung „Automobile Welt Eisenach“ dokumentiertim ehemaligen Werksgebäude die über hundert-jährige Automobilbautradition.

Naturräumliches- und touristisches Potenzial

Einen hohen Stellenwert für Stadt und Umland be-sitzt der Tourismus. Knapp 300 000 Übernachtungenverzeichnet die Stadt jährlich, im Wartburgkreissind es fast 800 000, Tendenz steigend. Neben denklassischen Reisezielen wie Wartburg und Luther-haus in Eisenach selbst, hat auch die nähere Um-gebung landschaftlich sehr reizvolle Orte zu bieten.Auf der Schluchtentour können von Eisenach ausbeispielsweise die Drachen- und die Landgrafen-schlucht im Thüringer Wald erwandert werden. ImStädtedreieck Eisenach – Mühlhausen – Bad Lan-gensalza liegt der Nationalpark Hainich, welcherseit 2011 Teil der UNESCO-Weltnaturerbestätte„Buchenurwälder der Karpaten und alte Buchen-wälder Deutschlands“ ist. Hier ist vor allem der Baum-kronenpfad ein Besuchermagnet, auf welchem derBuchenwald von den Wipfeln der Bäume aus er-kundet werden kann. Unweit des NationalparksHainich befinden sich die Hörselberge, ein höhlen-reicher Höhenzug aus Muschelkalk mit einer vielfäl-tigen Tier- und Pflanzenwelt. Bis Anfang 2010 führ-te eine Teilstrecke der A4 durch dieses Naturschutz-gebiet. Der betreffende Abschnitt ist mittlerweilestillgelegt und durch die privat finanzierte Hörsel-bergumfahrung ersetzt. Auf diese Weise werdennicht nur Flora und Fauna der Hörselberge ge-schützt, es wird auch ein wichtiger Beitrag zur Wie-dervernetzung natürlicher Lebensräume geleistet.

Auch der Werratal-Radweg ist von der Wartburgaus schnell zu erreichen. Auf knapp 306 km folgt erder Werra von der Quelle im Thüringer Wald bis zuihrem Zusammenfluss mit der Fulda in HannoverschMünden durch Thüringen, Hessen und Niedersach-sen. Viele sehenswerte Kultur- und Kurstädte wieMeiningen und Bad Salzungen können erradelt wer-

den, aber auch kleine Dörfer und Güter passiert der Rad-weg. So auch das Stiftsgut Wilhelmsglücksbrunn, auf demseit 1997 vom evangelischen Betreuungs- und HilfsvereinDiakonia eine ökologische Landwirtschaft aufgebaut wurde.Heute beherbergt das Gut zusätzlich ein Restaurant undCafé mit 100 % Bioprodukten sowie ein Gästehaus undeinen Hofladen, in dem u. a. auch Käse aus der Creuz-burger Käsemanufaktur angeboten wird.

Ein lebendiges Denkmal deutscher Zeitgeschichte kannim Westen Thüringens besucht werden. Im Schatten derehemaligen innerdeutschen Grenze konnte sich ein fast1 400 km langes zusammenhängendes Band von wertvol-len Biotopen entwickeln, das heutige „Grüne Band“. Mit763 km hat Thüringen den längsten Abschnitt am GrünenBand in Deutschland. Ausgehend von Thüringen wurde2005 zudem gemeinsam mit 17 Partnern aus Ländern desehemaligen Eisernen Vorhanges ein Interreg-Projekt zumgrenzüberschreitenden Schutz des Naturerbes GrünesBand initiiert. Auch die Unterstützung einer nachhaltigenwirtschaftlichen Entwicklung in den Projektregionen bildethierbei einen Schwerpunkt. Marit Schröder

Die Drachenschlucht bei Eisenach im Thüringer Wald

Foto

: A.-L

. Tha

mm

Käseangebot im Hofladen auf dem Stiftsgut Wilhelmsglücksbrunn

Foto

: M. B

usch

Page 16: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

ASG14

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Kerniges Dorf! – ASG betreutWettbewerb zur Innenentwicklung

Viele Dörfer bemühen sich intensiv um eine Belebung ihrer Kerne und den sorgsamenUmgang mit Flächen. Sie beweisen dabei ein beachtliches Maß an Kreativität und En-gagement. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels bedarf es jedoch weitererAnstrengungen. Innenentwicklung muss zur Daueraufgabe werden. In schrumpfendenDörfern könnte dies beispielsweise die Stärkung von Lebensqualität durch Freiflächen,neue Treffpunkte oder Rückbau sein. In wachsenden Gemeinden sind möglicherweisebesondere Fördermaßnahmen zum Erhalt des Ortsbildes oder der historischen Bau-substanz wichtig. Für einige Orte sind innovative Ideen bei der Finanzierung von Um-bauten wichtig, andere legen einen Schwerpunkt auf kreative Kommunikationsansätze.

Mit dem bundesweiten Wettbewerb „Kerniges Dorf! Ortsgestaltung durch Innenent-wicklung“ sollen besonders vorbildliche Ideen und Strategien zur Innenentwicklung aus-gezeichnet werden. Ziel ist es, Dörfer zu ermitteln, die dieser Aufgabe kreativ, innovativund unter Einbeziehung der Bevölkerung begegnen. Der vom Bundesministerium fürErnährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) und der LandwirtschaftlichenRentenbank geförderte Wettbewerb ist am 18. März 2013 gestartet. Gemeinden oderOrtsteile mit weniger als 5 000 Einwohnern können sich über ein Teilnahmeformular be-werben, das auf der Website der ASG zur Verfügung steht oder schriftlich angefordertwerden kann. Bewerbungsfrist ist der 30. Juni 2013.

Es werden Preisträger in fünf Kategorien ermittelt. Dabei zählen Ortsgröße und Be-völkerungsentwicklung, so dass stark schrumpfende Dörfer der Peripherie nicht in Kon-kurrenz zu stark wachsenden im Speckgürtel treten und 500-Seelen-Gemeinden sichnicht mit besonders einwohnerstarken Orten messen müssen. Die Auswahl der Gewinnernimmt eine Fachjury mit Vertretern aus Praxis, Politik, Wissenschaft und Verbänden vor.

Anfang 2014 zeichnet das BMELV die Preisträger im Rahmen der InternationalenGrünen Woche Berlin offiziell aus. Die Gewinner können sich auf Preise im Wert voninsgesamt 10 000 € freuen.

Leserbrief

Als Mitglied der ASG habe ich mich bei der Lektüre der Berichterstattung über die Herbsttagung 2012, an derich nicht teilgenommen hatte, doch sehr gewundert. Wie kann es möglich sein, dass in einer Gesellschaft, diepolitische Ziele verfolgt und sich mit dem schönen Wort „sozial“ schmückt, in Zeiten, wo ansonsten in Gesell-schaft und Politik intensiv die Frage der Gleichberechtigung und gleichen Entlohnung, der gesellschaftlichenTeilhabe und Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik [diskutiertwird], von 15 Referenten nur eine (Alibi-)Frau zu Wort kommt? Gibt es in Deutschland keine Frauen, die kompe-tent sind in Fragen der Energieerzeugung und -verwendung und der Energiepolitik, und wenn ja, warum ist dasso? Oder ist das etwa nur im Agrarbereich so und wenn ja, warum hinkt dieser in der gesellschaftlichen Diskus-sion und Entwicklung so hinterher? Wäre das dann nicht mal ein Thema für die ASG?

Im Übrigen habe ich mich auch gewundert, dass die m. E. doch sehr kritikwürdigen Aspekte der aktuellenNawaRo-Politik im Energiebereich lediglich in einem Kommentar von Prof. Block im „Ländichen Raum“ undwohl nicht so sehr auf der Tagung selbst zum Ausdruck gebracht worden sind.

MinR a. D. Dr. Wilbert Himmighofen, Bonn

Page 17: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Agrarpolitik 15

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Impulsreferat beim BMELV-Zukunftsforum:

Die Zukunft prägen die mutigen RealistenAlois Glück*

Wer die Entwicklungen mitgestalten und prägen will, muss die Zeichen der Zeit erkennen unddaraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Das ist ein wesentliches Merkmal guter Führung.Das setzt die Haltung der Offenheit für diese Zeichen der Zeit voraus und die Bereitschaft, sich auchzu verändern. Die Alternative heißt immer: den Wandel erleiden oder den Wandel gestalten. DieZeichen der Zeit kann man in der Regel aber nur richtig interpretieren, wenn die Entwicklungen,die zu diesem Ergebnis geführt haben, analysiert werden.

Die stärkste Kraft ist die Kraft von unten

Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehntewar durch ein dynamisches Wachstum geprägt,wie es vorher unvorstellbar war. Dies war nicht nurein Wachstum in materiellen Gütern, sondern undvor allem ein Zuwachs an Lebenschancen für Men-schen. Dies gilt ganz besonders für die Menschenim ländlichen Raum. Sie gehören zu den besonde-ren Gewinnern mit neuen beruflichen Chancen,sozialer Durchlässigkeit und neuen Freiräumenfür ein selbstbestimmtes Leben.

Vier Entwicklungen waren entscheidend:

1. Die politische Grundentscheidung war, die Ar-beitsplätze zu den Menschen zu bringen undnicht die Menschen zu den Arbeitsplätzendurch eine Konzentration auf wenige räumlicheSchwerpunkte. Um diese Entscheidung, dieseWeichenstellung, geht es immer wieder. Das istgegenwärtig insbesondere die Schlüsselfrage inder Entwicklungsstrategie vieler Länder dieserErde. Dabei gibt es immer wieder die Tendenzder Vernachlässigung der ländlichen Räume,obwohl durch die Abwanderung in die großenZentren diese Ballungsräume sozial, ökono-misch und ökologisch eine katastrophale Ent-wicklung nehmen und zunehmend unregierbarwerden.

2. Die Landbevölkerung hat ein neues Selbstbe-wusstsein entwickelt.

3. Der ländliche Raum wurde zum eigenständigenLebensraum mit einem Eigenwert; er war nichtmehr nur Zulieferer zu den städtischen Räumen.

4. Die Entwicklung wurde vor allem durch die Ei-geninitiative der Bürgerinnen und Bürger imländlichen Raum geprägt. Ein Beispiel dafür istdie Entwicklung der Selbsthilfeorganisationen inder Landwirtschaft.

Der wesentliche Grund dafür, dass Deutschland vonallen Flächenstaaten in Europa – und wahrscheinlichdarüber hinaus – die ausgewogenste räumliche Ent-wicklung hat, ist die Ausprägung der kommunalenSelbstverwaltung und der Föderalismus. Dies stärktdie Eigenverantwortung der Menschen und fördert,dass sich viele Menschen mit ihren Fähigkeiten fürdie gesamte Entwicklung einbringen können. Nachwie vor gilt: Die stärkste Kraft ist die Kraft von unten,die engagierten Bürgerinnen und Bürger mit ihrenInitiativen. Das gilt nicht nur für den ländlichenRaum, hier aber besonders. Alle wesentlichen inno-vativen Entwicklungen in unserer Gesellschaft, imUmweltschutz, in sozialen Aufgaben wie der Behin-dertenhilfe oder der Hospizbewegung, in regionalenProjekten unterschiedlichster Art, in kulturellen Pro-jekten oder in der Energieversorgung haben ihreQuelle im Aufbruch durch engagierte Bürgerinnenund Bürger. Dies ist auch die besondere Stärke desländlichen Raums – jetzt und für die Aufgaben derZukunft.

Der ländliche Raum ist immer eingebettet in dieBedingungen der Gesamtentwicklung. So wie diesfür die Vergangenheit galt, muss es auch im Hinblickauf die jetzige Situation und die künftigen Aufgabenbedacht werden. Zu den Merkmalen unserer Zeitzählt, dass wir offensichtlich in einer Zeitphase leben,in der sich langjährige Entwicklungen zu Krisen ver-dichten und Entscheidungsdruck entsteht. Noch niegab es so viele Krisen gleichzeitig wie gegenwärtig.Ich nenne nur Stichworte: die Finanzkrise, die euro-päische Schuldenkrise, die wachsenden sozialenSpannungen weltweit, die Übernutzung der Erde mitder Dimension des für viele Regionen bedrohlichenKlimawandels, zunehmend kulturelle, ethnische undreligiöse Konflikte – oft in einer Gemengelage.

Auf einen Nenner gebracht: Unsere heutige Art zuleben ist nicht zukunftsfähig. Nicht ökonomisch, nichtökologisch, nicht sozial (Zunahme psychischer Er-

Foto

: M. W

ende

* Alois Glück, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Bonn, [email protected], Impulsreferat beim Zukunftsforum Ländliche Entwicklungdes Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 23. Januar 2013 in Berlin

Page 18: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Agrarpolitik16

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

krankungen). Immer mehr Menschen sind mit dieserArt Fortschritt überfordert. Wir brauchen Zukunfts-entwürfe. Was sind die Rahmenbedingungen, dieunseren Handlungs- und Gestaltungsspielraum prä-gen? Wie wollen und wie können wir morgen leben?Was ist uns wichtig? Wo setzen wir die Prioritätenim Einsatz unserer Ressourcen?

Drei Megathemen prägen Entwicklungen

1. Demografie: Potenzial der Älterenentwickeln

Die demografische Entwicklung ist der Faktor, dergegenwärtig den größten Einfluss auf die Entwick-lung und die Zukunft der ländlichen Räume hat.Dies zeigt sich besonders deutlich in den dünnerbesiedelten Räumen mit Blick auf die Infrastruktur –vom Kindergarten über das Bildungswesen bis zudem immer intensiveren Wettbewerb um die tüch-tigen jungen Leute. Wir dürfen die Auswirkungender demografischen Entwicklung aber nicht nur anden unmittelbaren Folgen für die Infrastruktur mes-sen. Etwa mit der Frage, wo können wir noch einenKindergarten, wo eine Schule erhalten? Nicht weni-ger bedeutsam ist die innere Veränderung in derGesellschaft, wenn vier oder fünf Generationenmiteinander leben. Was bedeutet das für die Be-ziehung der Menschen zueinander, was bedeutetdas für die einzelnen Generationen und für denGenerationenvertrag?

Unsere Gesellschaft verändert sich schleichend imInneren, ohne dass wir es richtig erfassen, weil diesnicht mit den üblichen Kategorien und Zahlen er-fassbar ist. Eine dieser Entwicklungen ist, dassimmer mehr Menschen im Alter in der Gefahr derVereinsamung sind, weil im familiären Kreis nie-mand mehr da ist, der helfen kann. Die Seniorenvon heute sind aber auch ein großes Potenzial fürdie Aufgaben in Gesellschaft und Staat. Wir, die Se-nioren von heute, sind die erste Generation in derMenschheitsgeschichte mit der Wahrscheinlichkeiteiner dritten Lebensphase nach Ausbildung und Be-ruf, von einer Dauer und Lebensqualität, wie sienoch nie da war. Wir Senioren von heute sind aucheine privilegierte Generation. Die vor uns hatten esunendlich schwerer und die Jungen, die nachkom-menden Generationen, werden wieder eine härtereWegstrecke gehen müssen. Deshalb hat die Gene-ration der Senioren auch eine besondere Verpflich-tung, ihren Beitrag zu den Aufgaben dieser Zeit ein-zubringen. Solange wir als Bürger unseren Beitragfür das Gemeinwesen einbringen können, sind wirdazu auch verpflichtet. Es geht jetzt auch darum,das Potenzial der Älteren zu mobilisieren.

Dafür ist eine Gemeinschaftsform, die gerade im länd-lichen Raum ihre Wurzeln und ihre große Tradition hat,besonders geeignet: das Genossenschaftswesen. Die Ge-nossenschaften als Form der Selbsthilfe und der Solida-rität, als geeignete Handlungsstruktur sowohl im Sozialenwie auch Ökonomischen, entwickeln sich gegenwärtigbeispielhaft auch im Rahmen der Energiewende. Die drin-gende Aufgabe heißt, generell und insbesondere auch imländlichen Raum neue soziale Netzwerke zu entwickeln.Anders sind die Auswirkungen der demografischen Ent-wicklung für die älter werdenden Menschen nicht mensch-lich zu meistern.

2. Krisen der Wachstumsgesellschaften und desLeitbildes der westlichen Zivilisation: „Weiter so“funktioniert immer weniger, global denken – lokalhandeln ist gefordert

Diese Krise ist nicht nur eine im Hinblick auf die Größen-ordnungen des Wirtschaftswachstums, sondern es ist eineSystemkrise im Hinblick auf unsere Art zu leben und zuwirtschaften. Die Kosten unserer Art zu leben werdenimmer größer und sind in der Tendenz dabei, den Ertragzu übersteigen. Wir müssen uns der Erkenntnis stellen,dass unsere heutige Art zu leben nicht zukunftsfähig ist.Diese Entwicklungen haben wir bislang immer wieder ver-drängt. Die dringliche Aufgabe ist daher, einen Übergangzu schaffen aus der jetzigen Phase der Dominanz öko-nomischen Wachstums und des Konsums in eine Wirt-schaftsweise und Lebensweise, die dauerhaft tragfähig ist.Die große Aufgabe heißt: eine zukunftsfähige Kultur ent-wickeln. Zukunftsfähig – d. h. eine Lebensweise und eineWirtschaftsweise, die auch langfristig tragfähig ist, eineEntwicklung, die nicht mehr ökologisch und ökonomischauf Kosten der Nachkommen und der Menschen in ande-ren Erdteilen geht.

Deshalb genügt es nicht, in der Verlängerung bisherigerErfahrungen und bisherigen Denkens nur aktuelle Proble-me zu lösen und technische und ökonomische Lösungenzu suchen. Das gilt auch für unsere Planungen für denländlichen Raum. Welche Werte leiten uns? Aus denWerten entwickeln sich die Leitbilder und diese bestim-men die Prioritäten im Einsatz unserer Kräfte und unsererFinanzen. Aus dieser Debatte müssen wir eine Fort-schrittsidee, ein Leitbild Fortschritt entwickeln, das überhöher – schneller – weiter hinausgeht. Das Leitbild für dennotwendigen Fortschritt für morgen heißt Nachhaltigkeit.

Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, Nach-haltigkeit und weltweite Solidarität sind Zwillinge. DerMaßstab Nachhaltigkeit hat seine Heimat im ländlichenRaum, in der Forstwirtschaft und in der bäuerlichen Land-wirtschaft. Das bedeutet nicht Abschied vom Fortschritt,noch weniger Abschied von Wissenschaft und Technik –es verlangt eine Umsteuerung. Dafür brauchen wir neue

Page 19: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Agrarpolitik 17

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Leitbilder. Dafür steht in mehrfacher Weise exemplarischein Projekt, das gegenwärtig gerade im ländlichen Raumvon besonderer Bedeutung ist, die „Energiewende“.

Die Energiewende ist gewissermaßen das Pilotprojektauf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Kultur mit nachhal-tigem Wirtschaften und gelebter Verantwortung gegenüberden Nachkommen und der Weltbevölkerung. Dieser Wegist die Alternative zur Ausbeutung aller Reserven dieserWelt mit der Abholzung riesiger Waldflächen und demwachsenden Risiko, ob der Boden noch Öl und Gas in dennoch unberührten Regionen der Welt hat – eben systema-tische Ausbeutung der Erde. Das ist ein Spiel auf Kostender Zukunft der nachkommenden Generationen und derRuin ganzer Regionen dieser Erde auf Kosten der dortlebenden Bevölkerung. Die Energiewende ist aber auchein besonders exemplarisches Projekt für den ländlichenRaum mit Initiativen für die regionale Wertschöpfungs-kette, für regionale bürgerschaftliche Initiativen, für kom-munalpolitische Initiative. Dieses Projekt ist exemplarischfür die Übernahme von Verantwortung durch die Bürgerund für die Zusammenarbeit von Bürgern und Staat.Gleichzeitig ist es eine Herausforderung für die eigeneInitiative und die Mitverantwortung für das Ganze. Ich willauch nicht verschweigen, dass mir manche Debatte überdas Ziel autarker Energieversorgungssysteme Sorgenmacht, denn eine dauerhafte Versorgungssicherheit ist nurdurch den räumlichen Verbund, durch die Verbindung vonlokaler, regionaler, nationaler und europäischer Planungund Vernetzung möglich ist. Eine der Gefahren der Ener-giewende ist Kirchturmdenken. Gerade die Energiewendebraucht ganzheitliches Denken: ökologisch, ökonomischund politisch. Wenn wir die Energiewende gut gestalten,ist das aber auch der exemplarische Durchbruch, das Mo-dell, für eine zukunftsweisende Lebens- und Wirtschafts-weise, für ein neues Verhältnis von Bürger und Staat ineiner aktiven Bürgergesellschaft, für die Verbindung vonlokal und global.

3. Rasante Internationalisierung unseres Lebensmit steigenden Verflechtungen hat zu Schick-salsgemeinschaft mit Weltbevölkerung geführt

Gerade die letzten Jahre haben im ökonomischen Be-reich gezeigt, wie sehr wir mittlerweile eine Schicksals-gemeinschaft sind. Erschreckend ist für mich, wie wenigdas z. B. im Zusammenhang mit der europäischen Debat-te bei uns gesehen wird, wo viele noch glauben, wir könn-ten auf Dauer eine Art Insel der Seligen sein. Wir sindschicksalhaft mit der Entwicklung anderer Regionen derWelt verbunden.

Gegenüber der Zeit großen Aufbruchs im ländlichenRaum der 1960er und 70er Jahre haben wir jetzt zweiwesentlich andere Rahmenbedingungen. Damals konnteman auf der Ebene und mit den Maßnahmen der natio-

nalen Politik die wirtschaftliche und die regionale Ent-wicklung weitgehend selbst steuern. Spätestens beimAufbau Ost nach der Wiedervereinigung haben wirdie völlig anderen Bedingungen eines weltweitenWettbewerbs zu spüren bekommen. Der Maßstabfür das Notwendige und das Mögliche ist nicht mehr,wie wir es gerne hätten, sondern was im Rahmen derinternationalen Entwicklung mit unserem Handlungs-spielraum und unseren Gestaltungsmöglichkeitenmöglich ist. Das ist sehr konkret und oft sehr schmerz-lich „Global denken und lokal handeln“.

Ein weiterer Unterschied ist, dass es nicht mehr da-rum geht, große Zuwächse immer wieder aufs Neueverteilen zu können. Das macht den Strukturwandelschwieriger und schmerzlicher. Im Aufbruch der Indus-trialisierung ist mehr an Arbeitsplätzen und Gestal-tungsmöglichkeiten zugewachsen als weggebrochen.Am stärksten spüren wir den Unterschied gegenwärtigin der Bevölkerungsentwicklung. Bei diesen Zukunfts-aufgaben dürfen wir uns aber nicht einseitig auf dieSchwierigkeiten fixieren.Viel wichtiger ist, sich dieStärken und jeweils möglichen Entwicklungspoten-ziale zu erschließen.

Es gab noch nie die Einheit „ländlicher Raum“, dieländlichen Räume waren seit jeher unterschiedlichstrukturiert und sehr unterschiedlich in ihren Situa-tionen und Entwicklungspotenzialen. Zu den jetzigenEntwicklungen zählt, dass die Situation und die Pers-pektiven in den ländlichen Räumen immer unter-schiedlicher werden. Die Antwort darauf müssenregional maßgeschneiderte Strategien sein. Dazuzählt auch, dass mehr überörtliche und teilweise auchüberregionale Zusammenarbeit und Schwerpunkt-bildung notwendig ist, um dem Sog der Städte besserwiderstehen zu können. Für Zukunftsstrategien sindSozialraumanalysen, die die innere Veränderung derBevölkerungsstruktur erfassen, wenigstens ebensowichtig, wenn nicht gar wichtiger, wie Maßnahmender klassischen Infrastruktur oder Statistiken derÖkonomie.

Die größte Stärke des ländlichen Raums sind aberseine Menschen, die Bürgerinnen und Bürger. DieZukunft wird nicht von den Ängstlichen geprägt, son-dern von den mutigen Realisten. In diesem Sinne giltes, die Risiken und die Probleme realistisch zu sehen,aber auch mit Mut und konzeptionellem Denken aktivzu gestalten. Alle Entwicklungen werden von denengagierten Minderheiten geprägt. Lassen Sie sichdeshalb nicht entmutigen, wenn die Mehrheit be-obachtend abseits steht. Die Entwicklungen werdendiejenigen prägen, die den Dreiklang Werte – Sach-kompetenz – Gestaltungswillen miteinander verbin-den.

Page 20: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Agrarpolitik18

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Neues von der agrarpolitischen Bühne:

Skandale über SkandaleÜber skandalöse Zustände in der Agrarwirtschaft, mögliche Zusammenhänge mit der wundersamenVermehrung grüner Landwirtschaftsminister und langfristige Folgen für die deutsche Agrarpolitik

Kritische Zeitgenossen hatteneigentlich in Anlehnung an einegeübte langjährige Tradition voroder spätestens während derGrünen Woche mit einem derüblichen Lebensmittelskandalegerechnet, völlig unbegründet,wie sich gezeigt hat – die Skan-dale kamen erst wenige Tagedanach, dann allerdings gewal-tig. Zunächst mit rumänischenPferden, die inkognito in Lasag-ne verarbeitet worden waren,anschließend mit mehr nieder-sächsischen Hühnern am Bodenals für lukrative Freiland- oderBioeier erlaubt ist. Abgründe vonmenschlichem Fehlverhalten,Charakterlosigkeit und gren-zenloser Profitgier wohin manschaut! Und schließlich Schim-mel in serbischem Futtermais,nachgewiesen in der Milch einesniedersächsischen Erzeugers!Vom Pferdefleisch- über denEier- zum Schimmelpilz-Skandal.In dieser skandalträchtigen Zeiterkannte Grünen-AgrarsprecherFriedrich Ostendorff sogar denSkandal im Skandal in Persondes obersten deutschen Risiko-bewerters in Sachen „Lebens-mittel“, den Präsidenten desBundesinstituts für Risikobe-wertung (BfR), Prof. AndreasHensel. Der hatte glattweg undin aller Öffentlichkeit behauptet,die Entdeckung des Schimmel-pilzgifts Aflatoxin im Futtermaisund in einer Milchprobe sei we-der ein Skandal noch eine Krise,sondern Routine. Was für einSkandal!

Schon werden die ersten Stim-men laut, die einen direkt-propor-tionalen Zusammenhang zwi-

schen der signifikant gestiege-nen Häufigkeit von Skandalenund der geradezu wundersamenVermehrung der grünen Land-wirtschaftsminister in deutschenLanden erkannt haben wollen.Nach dem rot-grünen Wahlerfolgin Niedersachsen reicht das grü-ne Band der Länderagrarministermittlerweile vom Ex-LiteratenRobert Habeck in Kiel über denEx-Lehrer Johannes Remmel inDüsseldorf, die Ex-Bundestags-abgeordneten Ulrike Höfken inMainz und Alexander Bonde inStuttgart bis zum Ex-(??)Bauern-schreck Christian Meyer in Han-nover. Auf der Deutschland-Karteerinnert die Phalanx der Ländermit grün verantworteter Agrarpo-litik an eine gefräßige grüne Kra-ke auf dem Sprung zum ganzgroßen Happen namens Berlin …Gerade Niedersachsens neuerRessortchef Meyer entpuppt sichzunehmend als Skandalexpertepar excellence. Allein dessenAmtseinführung hat offenbarausgereicht, dass kein Skandalmehr unentdeckt bleibt. Dassdas Image des landwirtschaftli-chen Berufsstands unter demSkandal-Feuerwerk dramatischleidet, dürfte niemanden überra-schen. Wie sehr, zeigt sich nichtzuletzt auf’m Fußballplatz, aufdem bekanntlich die Wahrheitliegt. Dort wurde unlängst beieinem Berlinliga-Spiel desAdlershofer BC ein Spieler desFeldes verwiesen, der seinenGegenspieler „Du Bauer“ titulierthatte. Zwar bestritt der DeutscheFußballbund (DFB) auf Nachfra-ge eines aufmerksamen Beob-achters bäuerlicher Herkunft dieExistenz einer Schiedsrichteran-

weisung, der zufolge ein Ge-brauch dieser Berufsbezeich-nung in der verbalen Auseinan-dersetzung automatisch eineRote Karte zur Folge hat. So seies selbstredend keine Beleidi-gung, wenn ein Landwirt auf demSpielfeld als „Bauer“ bezeichnetwerde. In Frankfurt räumt manaber ein, dass „die lautstarke Be-zeichnung eines urban lebendenMenschen im Streit“ mit ‚Du Bau-er’ diesen Tatbestand sehr wohlerfüllen könne und vom Schieds-richter zu ahnden sei. Der Deut-sche Bauernverband (DBV), derentgegen den Vermutungen ei-ner großen deutschen Tageszei-tung keineswegs seine Arbeit aufeinzelnen Ebenen vorüberge-hend hat ruhen lassen, hat sichallerdings in diesem Fall bis heu-te nicht veranlasst gesehen, ge-gen die skandalträchtige Argu-mentation des DFB vorzugehen– das wiederum ist zumindestskandalverdächtig.

Dessen ungeachtet sind Meyer& Co inzwischen weiteren Skan-dalen auf der Spur. So nehmenBefürchtungen zu, die nationaleUmsetzung der noch nicht be-schlossenen Reform der Ge-meinsamen Agrarpolitik (GAP)könnte in geradezu skandalöserArt und Weise erfolgen. Meyerhält die Einschätzung der Bun-desregierung, das Greeningkomme erst 2015 und die 7 %ökologische Vorrangflächen sei-en zumindest in der Form einerNichtproduktion auf diesen Flä-chen vom Tisch, für skandalös.Der junge Minister erinnert andie Beschlüsse der Agrarminis-terkonferenz von anno dazumal

Page 21: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Agrarpolitik 19

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

und fordert vehement deren Ein-haltung, zumindest zum Teil. DieLänderchefs hatten sich bekannt-lich vor gut zwei Jahren in Suhlim Grundsatz für ein Greeninginklusive ökologischer Vorrang-flächen mit – allerdings beson-ders umweltgerechter – Produk-tion ausgesprochen und gleich-zeitig jeglicher Kappung und De-gression eine Absage erteilt.Meyer war damals nicht dabeiim Thüringer Wald, das alleinkommt in den Augen manchemseiner Gefolgsleute möglicher-weise einem Skandal gleich.Umso mehr fühlt er sich jetztfrei, mehr Gerechtigkeit bei denDirektzahlungen durch Kappungund Degression zu fordern. Daswäre ja wohl skandalös, könnteman sich nicht noch nachträglichBeschlüsse hinbiegen, wie man’sbraucht.

Muss man sich angesichts derskandalträchtigen Zeit auf denHöfen Sorgen machen wegeneiner „Agrarwende reloaded“,noch dazu, weil eine gewisseRenate Künast im bevorstehen-den Bundestagswahlkampf zwarals Spitzenkandidatin für zu leichtbefunden, in der Führungsriegejedoch mit der Zuständigkeit fürdie Landwirtschaft als einem grü-nen Schwerpunktthema bedachtwerden soll? Von jener RenateKünast sind neben der von Zeit-zeugen nicht vollends dementier-ten Mitwirkung an einer einstmalsin Luxemburg besiegelten EU-Agrarreform sowie der Entschei-dung für eine regional einheitlicheund entkoppelte Flächenprämiemit Vorbildcharakter in den aktu-ellen Brüsseler Verhandlungenvor allem Verbalangriffe aufNicht-Öko-Landwirte im Allge-meinen und ihre Helfershelferim Besonderen in Erinnerunggeblieben. Die gefühlte Agrar-wende Anno 2000ff. und die Er-innerung daran waren für dieLandwirtschaft daher insgesamt

ungleich schmerzhafter als de-ren tatsächliche Wirkungen. Dasmuss bei einer möglichen Agrar-wende 2.0 nicht wieder so sein.Aber auch hier gilt: Gut gebrüllthat der Löwe mal schnell, aberden ganzen Urwald umgekrem-pelt …

So viel lässt sich in jedemFall sagen: Mindestens bis zum22. September werden sich dieneuen Machtverhältnisse inder deutschen Agrarpolitik vor-nehmlich in symbolträchtigenInitiativen im Bundesrat lautstarkund medienwirksam bemerkbarmachen. Da wird es vor allemum den kompromisslosen Ein-satz für mehr Schutz für die ge-quälte Kreatur in „Massentier-haltungsanlagen“ gehen, derensofortigen und unwiderruflichenStopp als solche sowie eine ra-dikale Absenkung des krankma-chenden Antibiotikaeinsatzes inder Landwirtschaft. Dazugehö-rige Gesetzentwürfe werdenallerdings wohl ausschließlichfür die (Wahlkampf-)Galerie er-arbeitet, bis auf Weiteres ohneAnspruch auf Umsetzung imwirklichen Leben.

Umgekehrt wird die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit diederzeit noch im parlamentari-schen Verfahren befindlichenGesetzentwürfe zwar beschlie-ßen. Aufgrund der ausbleiben-den Zustimmung im rot-gründominierten Bundesrat werdenjedoch mit großer Wahrschein-lichkeit weder die Novelle desBaugesetzbuchs mit einer vor-gesehenen Einschränkung derPrivilegierung des Baus von ge-werblichen Tierhaltungsanlagenim Außenbereich noch die Neu-fassung des Arzneimittelgeset-zes mit Maßnahmen zur Redu-zierung des Antibiotikaeinsatzesin der Tierhaltung das Licht derGesetzeswelt erblicken. Immer-hin gelungen ist der Koalition die

Durchsetzung der Tierschutz-novelle. Allerdings waren dafürdem Vernehmen nach nicht nurtelefonisch übermittelte Macht-worte aus dem Kanzleramt andie CDU-Parteifreunde in denLändern mit rot-schwarzenKoalitionen notwendig ...

Weniger als auf die kurzfris-tige Gesetzgebung dürfte sichder grüne Siegeszug auf Län-derebene in der mittel- undlangfristigen Gestaltung derAgrarpolitik auswirken – undzwar unabhängig vom Ausgangder Bundestagswahl. Für Er-schütterung hat bis in die Füh-rungszirkel der Union hineinneben der niedersächsischenWahlniederlage eine Analysegesorgt, der zufolge 35 % derWähler beim Thema „Landwirt-schaft“ den Grünen die höchsteKompetenz zugeschrieben ha-ben, mehr noch als der eigenenPartei, deren Wert auf 34 %taxiert wurde. Erstaunt schondie Tatsache als solche, dassoffenbar für einen beträchtli-chen Teil der Bürger Fragenrund um die Erzeugung von Le-bensmitteln wahlentscheidendsind, nützt der Union offenbarihr großes Ansehen in der Land-wirtschaft selbst nicht wirklich.Der aus Niedersachsen stam-mende Parlamentarische Ge-schäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, MichaelGrosse-Brömer, zog aus demWahlergebnis den Schluss, dasThema Tierschutz habe seinerPartei den Sieg verhagelt. Manhabe sich zu wenig um die ver-breiteten Vorbehalte gegenMassentierhaltungsanlagengekümmert. Thomas Strobl,seines Zeichens immerhinstellvertretender CDU-Bun-desvorsitzender, sieht seinePartei gefordert, ökologischerzu werden. Es grünt so grün,wenn Deutschlands Blütenblühen … Rainer Münch

Page 22: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Landwirtschaft20

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Wir brauchen eine AgrarethikDr. Uwe Meier*

Nein, es sind nicht allein die Skandale in der Agrarwirtschaft, die eine Agrarethik erfordern. Es sindauch nicht die berechtigten oder unberechtigten Ängste der Verbraucher um ihre Gesundheit oderdie Sorge des Handels vor einbrechenden Umsätzen. Vielmehr sind es die Werte, die in unsererKultur verankert sind und die aus ökonomischen Gründen auch in der Landwirtschaft kaum nochberücksichtigt werden.

* Dr. Uwe Meier arbeitete 33 Jahre in der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Braunschweig (seit 2008 Julius Kühn-Institut) imVerantwortungsbereich der Prüfung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Heute berät er internationale Organisationen und Verbände in der Stan-dardentwicklung für die internationale Landwirtschaft. Er ist Mitglied im Konvent der Ev. Akademie Abt Jerusalem der Landeskirche Braunschweig undständiges Mitglied im International Standards Committee des Sustainable Agriculture Network, San José/Costa Rica und der Rainforest Alliance/New York.

Mit Recht und mit Bedacht stehtin der Präambel des Grundgeset-zes: „Im Bewusstsein seiner Ver-antwortung vor Gott und denMenschen …“ oder in den EU-Verträgen: „Schöpfend aus demkulturellen, religiösen und huma-nistischen Erbe Europas …“

Es scheint jedoch, dass Werteund Leitbilder zur nachhaltigenökologischen, kulturellen und so-zialen Entwicklung eher unpas-send für den Alltag der derzeiti-gen wirtschaftlichen Realität sind.Der globale Konkurrenzkampf imderzeitig herrschenden und vomMenschen gemachten Ökono-mismus ist angeblich auch in derAgrarwirtschaft ohne Alternativeund lässt keinen Raum für dasgemeinsame fachübergreifendeNachdenken auch auf der Grund-lage ethischer Fragestellungenund moralischer Werte. Dieseswird jedoch benötigt, um zu zu-kunftsorientierten Antworten zukommen, die nicht allein im na-turwissenschaftlich-technischenDenken zu finden sind.

Die Agrarethik stellt die Fragenach der Moral im agrarwirtschaft-lichen Handeln. Sie fragt nacheiner belastbaren Begründung,ob das Handeln moralisch oderunmoralisch ist. Sind z. B. dieEntscheidungen in letzter Konse-quenz lebensdienlich, auch fürkommende Generationen? Wel-chen Wert messen wir Menschenden Pflanzen und Tieren zu? Ha-

ben Pflanzen und Tiere einen Ei-genwert, weil sie Lebewesen sind,also Geschöpfe Gottes, wie Theo-logen sagen würden, oder habensie lediglich einen Marktwert?

Welche Beziehung haben wir inunserem eigenen Inneren zu Le-bewesen und wie verstehen wiruns als Lebewesen im Kontextzu Natur und Technik (Karafyllis)?Und welchen Symbolgehalt ha-ben Natur und Landwirtschaft inunserer Kultur? Der Symbolge-halt des Getreides und des da-raus entstehenden Brotes ist inuns Menschen tief verankert undallgegenwärtig. In mittelamerika-nischen oder asiatischen Kulturenist es der Mais oder der Reis.

Das Gebot zur Nachhaltigkeit inder Landwirtschaft steht bei demBegründer der abendländischenPhilosophie Sokrates außer Zwei-fel. Xenophon, ein Schüler vonSokrates, lässt ihn bei einer Feld-

begehung erklären, dass dieKunst (griech. „techne“) desNahrungsanbaus die Mutter undHebamme der anderen Künstesei (Lemke). Das in allen Kultu-ren tief verwurzelte Wissen umdie Unersetzbarkeit der vorsor-genden, also nachhaltigen Land-wirtschaft, bewirkt die grundle-genden Zweifel an der heutigenForm der Landbewirtschaftung.Sie wird von sehr vielen Men-schen wahrgenommen als einindustrieller Wirtschaftszweig, dersich nicht an der Nachhaltigkeit,sondern hauptsächlich an derRendite orientiert. Dem gegen-über stehen das in der Mensch-heit tief verwurzelte kulturelleWissen und die tradierten Sym-bole, die auf eine erweiterte Di-mension hinweisen – auf die Di-mension der Überlebensfähigkeitder Menschheit. Eine kurzatmigeRenditekultur trifft hier also aufeine tiefe und nicht hintergehbareKultur des Lebens.

Foto

: M. W

ende

Page 23: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Landwirtschaft 21

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Die Nutzung von Lebewesen,und hier insbesondere durch diePflanzen-Kultur, bestimmt seitalters her die menschliche Kulturgrundlegend mit – sie ist Kultur-träger schlechthin. Aus der Kulturheraus stellt sich die Frage nachdem „kultivierten Benehmen“,auch kommenden Generationengegenüber. Welche Kultur lang-fristig überlebensfähig ist, ist eineFrage des Wertekanons einerkulturellen Gemeinschaft. Inso-fern hat die Agrarethik eine kul-turpolitische Dimension. „Einezivilisierte, in ökologische, gesell-schaftliche und kulturelle Vorga-ben eingebundene Marktwirt-schaft wird sich jedoch niemalsvon selbst aus der sachzwang-haften Wachstumslogik desmarktwirtschaftlichen Systemsergeben“ (Ulrich & Busch). EineAgrarethik kann dazu beitragen,diesen Konflikt zu entschärfen.

Der Markt sei „ethisch blind“,behauptet der Ökonom undWirtschaftsethiker Ulrich, Univer-sität St. Gallen. Die „Weisheit derMärkte“ ermittele nur den Preisder Produkte, nicht aber ihreneigentlichen Wert. Werte wieEhrfurcht vor dem Leben oderGenerationenvorsorge werdenökonomischen Zielen untergeord-net. Gemacht wird, was möglichist und rasch den „süßen Mostder Rendite“ (Altner) bringt. Fürein Innehalten, für ein gemeinsa-

mes interdisziplinäres Überlegennach dem besten Weg unter Be-rücksichtigung von moralischen,religiösen oder kulturellen Wertenaußerhalb sog. ökonomischerSachzwänge ist keine Zeit mehrvorhanden, so es denn überhauptgewollt ist. Dabei geht es nichtdarum, wie die höchsten Gewin-ne erzielt werden, sondern da-rum, wie wir gemeinsam ein gu-tes Leben im Sinne von nachhal-tiger Zufriedenheit und eine ent-sprechende Wirtschaftspraxisgestalten können.

Eine weitere agrarethische Fra-ge bedarf einer Beantwortung: Istdie wissenschaftliche Erkenntnisin der Agrarforschung frei undunabhängig erarbeitet wordenoder haben interessengeleiteteEinflüsse die Erkenntnis beein-flusst? Hier fordert die Agrarethikdas scheinbar so selbstverständli-che Gebot der Wahrhaftigkeit ein.So wird beispielsweise als Be-gründung für derzeitige Formender Landbewirtschaftung von vie-len Agrarökonomen angeführt,dass sie „sich rechnen“. Dabeiwerden die entstehenden ausge-lagerten Kosten (z. B. für die Be-seitigung von Umweltschäden)und die Belastungen für Menschund Natur nicht berücksichtigt.Die Rechnung ist also fehlerhaft.Diese Kosten bezahlen die Ge-meinschaft und vor allem auchnachfolgende Generationen.

Auf der Grundlage von Wahr-haftigkeit im agrarethischen Dis-kurs lassen sich unerwünschteAuswirkungen marktwirtschaft-lichen Handelns deutlich machenund zumindest zukunftsorientiertbewerten. Bisher versucht diePolitik, die unerwünschten Aus-wirkungen grenzenlosen Wachs-tums im Nachhinein über norma-tive Regeln zu reparieren. Dochinzwischen wird vielfach bezwei-felt, dass es überhaupt zu einernatur- und sozialverträglich nach-haltigen Entwicklung in der realexistierenden Marktwirtschaftkommen kann. Die SchweizerEthiker Ruh und Gröbly schriebenhierzu das Buch „Die Zukunft istethisch – oder gar nicht“.

Oder müssen wir kapitulierenund auf eine zukunftsfähige Pro-duktion sowie ein friedliches Mit-einander von Natur, Tier undMensch verzichten? Fragen zurMassentierhaltung mit ständigemAntibiotika-Einsatz, zur Mitverant-wortung an überhöhter Treibhaus-gasemission, zur Boden- undNahrungsmittelspekulation oderzu Patenten auf Lebewesen, umnur auf einige der Problemfeldereinzugehen, stehen zur wahrhafti-gen Beantwortung an. Eine Wer-tegesellschaft wie die unsrigewird sich um Werte kümmernmüssen und nicht nur um denMarkt, der nur den Preis, abervon nichts den Wert kennt.

Ebenso wie Altner fordert Feld-mann vom BraunschweigerJulius-Kühn-Institut einen tief-greifenden Bewusstseinswandel,denn nur dieser könne unsereLebensgrundlagen auf Dauersichern. Er schlägt vor, landwirt-schaftliche Produktionsprozessemit Hilfe von Ethikmanagement-systemen umwelt- und sozial-orientiert im Sinne der Nachhal-tigkeit zu gestalten. Ulrich &Busch fordern „InstitutionelleRückenstützen“ z. B. in Formvon überprüfbaren Standards

Foto

: I. F

ahni

ng

Page 24: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Landwirtschaft22

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Ländlicher Raum

und Kriterien, so wie sie interna-tional durch NGOs entwickelt undeingeführt werden (Meier).

Zudem müssen Verbrauchernoch umfassender und besserinformiert werden. Nach Unter-suchungen des „Unternehmens-verbands der führenden Kom-munikationsagenturen“ (GPRA)„steigt die Bereitschaft des Kon-sumenten, Eigenverantwortungzu übernehmen. Je aufgeklärterer ist, desto wichtiger sind ihmHerkunft und Zusammensetzungder Lebensmittel, desto mehr

hinterfragt er die Landwirtschaft.“(Neu & Nicolic, in: LändlicherRaum, 03/2012, S. 80). So fehlenauch heute noch bei fast allen Nah-rungsmitteln Informationen über dieUmwelt- und Sozialverträglichkeit

Förderprogramm LEADER –Impulsgeber für innovative Landentwicklung in Europa

Alistair Adam Hernández und Prof. Dr. Ulrich Harteisen*

Im Rahmen einer Masterarbeit1 am Beispiel der LEADER-Regionen Teneriffa und Göttinger Landwurden die Rahmenbedingungen erforscht, welche einen wesentlichen Einfluss darauf haben, obeine Lokale Aktionsgruppe (LAG) zu einem erfolgreichen Lenkungsgremium der ländlichen Entwick-lung werden kann. In diesem Forschungskontext wurden zwölf leitfadengestützte Experteninter-views in den beiden Regionen durchgeführt. Interviewt wurden die Geschäftsführungen der LAGs,ausgewählte Akteure der in Interessensgruppen organisierten ländlichen Bevölkerung sowie dieVertreter/-innen der mit der Umsetzung des Programms betrauten öffentlichen Verwaltung. Als einebesondere Herausforderung erwies sich die Einbeziehung von zwei LEADER-Regionen mit z. T.sehr unterschiedlichen Struktur- und Rahmenbedingungen. Zentrales Ziel der Untersuchung wares, Rückschlüsse auf Mindestanforderungen abzuleiten sowie Faktoren zu identifizieren, von deneneine gelungene und authentische Umsetzung des LEADER-Ansatzes abhängt.

* Alistair Adam Hernández, Hamburg, [email protected], Prof. Dr. Ulrich Harteisen, Professor für Regionalmanagement/Regionalentwicklung, HAWK-HHGHochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Fakultät Ressourcenmanagement, Göttingen, Tel. (0551) 50 32-0,[email protected], www.hawk-hhg.de

1 Adam Hernández, A. (2012): Die Bedeutung des europäischen Förderprogramms LEADER für die Entwicklung des ländlichen Raums. Eine Untersuchungam Beispiel zweier LEADER-Regionen: Das Göttinger Land und die Insel Teneriffa. Masterarbeit im Masterstudiengang Regionalmanagement und Wirtschafts-förderung, Fakultät Ressourcenmanagement der HAWK (Göttingen).

der Produktionsbedingungen(Heißenhuber & Leitner).

All diese Vorschläge können jedochnur erste Schritte sein; ein Paradig-menwechsel ist erforderlich.

Die Zitate und Autorennamen sind entnommen aus demSammelband: „Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft“(Herausgeber Uwe Meier). Agrimedia-Verlag, Clenze, 2012.ISBN 978-3-86263-078-3, € 39,90. Den Fragen zur Agrar-ethik, einer jungen und fachübergreifenden Wissenschaft,widmen sich in dem Buch 21 Autoren in 19 Beiträgen ausPhilosophie, Theologie, Kulturwissenschaft, Ökonomie,Agrarwissenschaft, Rechtswissenschaft und Wirtschaftsethik.

LEADER erfolgreich

Die ländlichen Regionen in der Europäischen Uni-on (EU) stehen heute mehr denn je vor großen Her-ausforderungen. Seit Jahren beschleunigt der de-mografische Wandel an vielen Orten eine „Verö-dung“ ganzer Regionen. Die Abwanderung junger

Menschen aus den Dörfern in die großen Städteführt im Extremfall zu Wüstungsprozessen, wie sieseit Jahrzehnten insbesondere in ländlichen Regio-nen im Mittelmeerraum zu beobachten sind. EinePolitik für den ländlichen Raum mit dem Ziel, dieLebensqualität in Dörfern und kleinen Städten zusichern, ist auch deshalb ein wichtiges Anliegen der

Page 25: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum 23

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

HG

fts-

EU. Mit der Gemeinschaftsinitiative LEADER hatdie EU Anfang der 1990er Jahre ein Förderinstru-ment entwickelt, welches der Rückwärtsspirale imländlichen Raum entgegen wirken sollte. DieseGemeinschaftsinitiative stellte einen Paradigmen-wechsel der ländlichen Entwicklung dar, da sie inAbweichung zu traditionell institutionalisierten Mo-dellen ein neues Konzept der partizipativen undnetzwerkartigen Entwicklungsplanung angestoßenhat.

Zum damaligen Zeitpunkt wurde richtig erkannt,dass ohne das Engagement und die Beteiligung derländlichen Bevölkerung die von der EU angestreb-ten Entwicklungs- und Gleichberechtigungsziele imländlichen Raum nicht erreicht werden können.LEADER setzt dabei auf die endogenen Potenzialedes ländlichen Raums und die Fähigkeiten und Fer-tigkeiten der Menschen vor Ort, diese endogenenPotenziale in Wert zu setzen. Eine aktive ländlicheZivilgesellschaft kann das Schicksal ihres Dorfesoder ihrer Region selbst in die Hand nehmen undeinen eigenen Beitrag für eine attraktive und lebens-werte Region leisten.

Mehr als 20 Jahre nach Einführung der Gemein-schaftsinitiative ist der LEADER-Ansatz heute in dieRegelförderung innerhalb des Europäischen Land-wirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichenRaums (ELER)2 überführt worden. Zurückblickendkann LEADER als ein Erfolg ländlicher Entwick-lungspolitik angesehen werden. Aktuell kann aberauch festgestellt werden, dass sich an manchen

Orten im Prozess der Umsetzung die LEADER-Realität von der LEADER-Vision immer weiterentfernt. Gerade im Vorfeld der Ausgestaltung derFörderperiode 2014-2020 erscheint ein Blick auf diePrinzipien des LEADER-Programms daher sehrwichtig. Der Erfolg des LEADER-Ansatzes beruhtauf dem Zusammenwirken von Staat, Zivilgesell-schaft und Wirtschaft. Im Miteinander entsteht das„Sozialkapital“, welches die ländlichen Räume fürihre Zukunft so dringend benötigen. Die EU setztjedoch nur den Rahmen, Nationen und Regionensind in der Umsetzung gefordert. So können dieNationen inhaltliche und auch räumliche Schwer-punkte setzen und nicht zuletzt sind es auch kul-turelle Unterschiede, die die Ausgestaltung desLEADER-Programms mit beeinflussen.

Eine zentrale Rolle in Bezug auf die Umsetzungdes LEADER-Ansatzes spielen die LAGs, in denensich regionale Akteure aus Wirtschaft, Politik undZivilgesellschaft auf Augenhöhe treffen und gemein-sam (Bottom-Up) die strategischen Überlegungenzur regionalen Förderstrategie erarbeiten (Regiona-les Entwicklungsprogramm/REK) und die Beschlüs-se zur Projektförderung fassen. Die LAG ist das In-strument zur Partizipation und durch ihren regiona-len Charakter in der Lage, die Probleme, Bedürfnis-se und Chancen der ländlichen Gemeinschaftenzu erfassen und darauf abgestimmte und maßge-schneiderte Antworten für die Entwicklung zu geben.Seit der Einführung der beschriebenen LEADER-Methode sind die LAGs mehr und mehr Hauptbe-standteil der lokalen Governance-Strukturen gewor-

2 Rat der Europäischen Union (2005): VERORDNUNG (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005. Amtsblatt der Europäischen Union (Brüssel).

Landidylle bei den Thiershäuser Teichen, LEADER-RegionGöttinger Land

Foto

: U. H

arte

isen

Foto

: I. S

chau

er

Lebensraum Dorf – Kinder gestalten die Zukunft mit

Page 26: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum24

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

den. Es gilt jedoch zu bedenken, dass die LAGs in-nerhalb der EU national wie regional in sehr unter-schiedliche demokratische Strukturen eingebettetsind. Die Rolle der LAG kann deshalb in der jewei-ligen Bezugsregion stark variieren.3 Während in ei-nigen Nationen die Kommunen eine lange Traditionder Selbststeuerung aufweisen, sind Dezentralisie-rungsprozesse in anderen Ländern noch relativjung. In diesem Sinne liefern die politischen Syste-me der einzelnen Mitgliedsstaaten der EU unter-schiedliche Governance-Rahmenbedingungen.

Untersuchungsregionen

LEADER-Region Göttinger Land

Das Göttinger Land kann als eine landschaftlichvielgestaltige Mittelgebirgslandschaft mit einer lan-gen Siedlungs- und Landnutzungsgeschichte be-schrieben werden. Die Flusstäler von Fulda, Werra,Weser und Leine gliedern den geografischen Raum.Typisch für die oft noch in einem guten Zustand er-haltenen Dörfer sind die Fachwerkbauten sowiemarkante Bauwerke (z. B. Kirchen, Gutshäuser),die unter Verwendung regionaler Baumaterialien(Buntsandstein) gestaltet wurden. Die LEADER-Region Göttinger Land hat eine Gesamtgröße vonca. 101 647 ha und 137 230 Einwohnern. Die Be-völkerungsdichte liegt mit 135 EW/km2 unter demLandesdurchschnitt von 168 EW/km2 (Quelle: NLS)und dem Bundesdurchschnitt von 231 EW/km2. DieUniversitätsstadt Göttingen mit 124 000 Einwohnern

liegt zentral in der Region, ist selbst aber nichtBestandteil der LEADER-Förderkulisse.

Mit der Förderung durch das LEADER-Programmkonnten in den letzten zwei Förderperioden unter-schiedliche regionale Initiativen und Projekte unter-stützt werden, so z. B. Projekte zur Förderung derNutzung der Bioenergie (Bioenergiedörfer), touristi-sche Projekte (Wandertourismus im Naturpark Mün-den) und auch Naturschutzprojekte (Pflege und Ent-wicklung von Streuobstwiesen). In der LAG Göttin-ger Land wird ein lebendiger Diskurs gepflegt, auchgestützt durch die regionale Zusammenarbeit mitder Hochschule für Angewandte Wissenschaft undKunst (HAWK) und der Universität Göttingen.

LEADER-Region Teneriffa

Das subtropisch trockene Klima und die Insellageprägen die Landschaft des ländlichen Raums derInsel Teneriffa. Teneriffa weist eine Flächengrößevon insgesamt 2 034 km² auf, zur LEADER-Förder-kulisse gehören jedoch nur 1 754 km². Von den908 530 Einwohnern leben 290 330 innerhalb derLEADER-Förderkulisse, die Übrigen im urbanenVerdichtungsraum Teneriffas. Wie diese Zahlen ver-deutlichen, grenzen dicht bevölkerte urbane Räumean dünner besiedelte ländliche Räume. Der Natur-raum von Teneriffa ist durch eine bewegte Topo-grafie mit einem steilen Relief charakterisiert. Diehöchste Erhebung mit 3 718 m über NN stellt derVulkan Teide dar. Aufgrund des Einflusses der Pas-

3 Leader Subcommitee Focus Group on the Implementation of the Bottom-Up Approach (2010): Extended Report: the Implementation of the Bottom-UpApproach. Europäisches Netzwerk für ländliche Entwicklung (ENRD) (Brüssel).

Foto

s: J

. Z. H

. Gon

zále

z

Vorstellung des Weizendrusches (Teno) – Erhalt land-wirtschaftlicher Traditionen

Terrassenackerbau im Norden Teneriffas (Icod el Alto) – Landwirtepflügen mit Maultier, heutzutage ein seltener Anblick

Page 27: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum 25

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

satwinde (Niederschläge) kann auf der grünen Nord-seite mittels Terrassenanbau Landwirtschaft betrie-ben werden. Aber auch der Süden, der ein wüsten-ähnliches Klima aufweist, wird landwirtschaftlichgenutzt, hier dominieren bewässerte Gewächshaus-kulturen. Beide Formen der Landwirtschaft sindaußerordentlich kostenintensiv.

Die dynamische Entwicklung der urbanen Zentrenhat ihre Spuren auch im ländlichen Raum Teneriffashinterlassen. Die ländliche Bevölkerung ist z. T. indie städtischen Zentren abgewandert, was mit dazubeigetragen hat, dass heute Arbeitskräfte im ländli-chen Raum fehlen. Die Dörfer haben vielerorts ihretraditionelle Wirtschaftsstruktur verloren und sich zuSchlafdörfern entwickelt. Seit der Einführung vonLEADER 1991 profitiert die Insel von diesem För-derprogramm. Mithilfe von LEADER konnten inden beiden letzten Jahrzehnten u. a. Initiativen zumErhalt der ländlichen Kultur und der Traditionen un-terstützt werden, weiterhin wurden wesentliche Im-pulse zur Verbesserungen der Produktionsbedin-gungen und der Vermarktung lokaler Weinsortengesetzt.

Bei allen Unterschieden der betrachteten ländli-chen Regionen gilt, dass in beiden Regionen derländliche Raum einem Strukturwandel unterliegt,der u. a. zur Abwanderung der ländlichen Bevölke-rung und zu einem Verlust an Lebensqualität in denDörfern führt. Die Ursachen für den Strukturwandelsind im Einzelfall jedoch unterschiedlich, so auchdie endogenen Potenziale, die als Nucleus für eineeigenständige Regionalentwicklung in Betracht ge-zogen werden können. Auch die Umsetzungs-strukturen des LEADER-Förderprogramms unter-scheiden sich in den beiden LEADER-Regionen.

Ergebnisse: LAGs haben zentrale Rolleund LEADER-Ansatz löst innovativeEntwicklungen aus

Die LAG ist die zentrale Funktionseinheit des LEA-DER-Ansatzes, das trifft auf das Göttinger Land wieauf Teneriffa zu. Die Mitglieder der LAG sind dieBrückenköpfe zu den Teilregionen wie auch zu denverschiedenen Themenfeldern, die in der Regionvon Relevanz sind. Die LAG nimmt die Impulse derländlichen Bevölkerung auf, berät die Anträge undtrifft am Ende auch die Entscheidung der Förde-rung. Die LAG ist somit im besten Sinne eine zen-trale Kommunikationseinheit im Sinne des Bottom-Up-Ansatzes, die die Akteure im ländlichen Raum inden Prozess einer nachhaltigen endogenen Regio-nalentwicklung einbindet. Da die Einrichtung einerLAG eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe

am LEADER-Programm ist, nimmt die EU über ihreinzigartiges Förderprogramm zwar unmittelbar Ein-fluss auf die Partizipationsstrukturen, allerdings un-ter Berücksichtigung der unterschiedlichen Partizi-pationskulturen der LEADER-Regionen in den Mit-gliedsstaaten.

Im Rahmen der Forschung in den LEADER-Regio-nen Göttinger Land und Teneriffa konnten drei spe-zifische Faktoren für den Erfolg der Arbeit einerLAG identifiziert werden:

1. Es müssen die Rahmenbedingungen für die Ein-richtung einer autonomen LAG geschaffen wer-den. Die Zusammensetzung der LAG sollte un-beeinflusst von staatlicher Macht und unter Be-rücksichtigung der Integration von Mitgliedern ausWirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik erfolgen.Die LAG sollte unter Beteiligung der ländlichenAkteure ihre Entwicklungsstrategie selbstständigund unabhängig erarbeiten und darauf bezogeneine unbeeinflusste Bewertung und Auswahl vonProjekten durchführen.

2. Die LAG sollte sich als Bindeglied im Rahmeneiner Beteiligungskultur für den ländlichen Raumverstehen. Die LAG vertritt die verschiedenenInteressengruppen im ländlichen Raum und bietetihnen einen Partizipationsraum, welcher für denErfolg der eigenständigen Regionalentwicklungunumgänglich ist.

3. Die LAG trägt die Verantwortung für alle getroffe-nen Entscheidungen. Ein Entzug oder eine Ver-lagerung von Verantwortung auf andere Organe(Verwaltung) entspricht nicht dem LEADER-Prin-zip und führt am Ende zu einem Verlust an Mo-tivation bei den Mitgliedern der LAG. PolitischeRahmenbedingungen, die der LAG Macht ent-ziehen oder Entscheidungskompetenzen verla-gern, schwächen bzw. verhindern den Ansatz dereigenständigen Regionalentwicklung.

Darüber hinaus konnte beobachtet werden, dassdie Umsetzung des LEADER-Ansatzes unter Macht-rivalitäten leiden kann. Eingefahrene Denkweisenoder fehlender Respekt für die private oder zivil-gesellschaftliche Initiative schränken den Spielraumder LAGs ein und erschweren oder verhindern teil-weise die Anwendung der LEADER-Methode. LEA-DER setzt eine Partizipationsbereitschaft von allenSeiten voraus. Das kann bedeuten, dass Politik undöffentliche Verwaltung zunächst lernen müssen,bürgerschaftliche Partizipation zu akzeptieren, aberauch, dass Bürger ein angemessenes Partizipa-tionsverhalten erlernen müssen. LEADER ist somitimmer auch ein Lernprozess.

Page 28: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum26

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Im Sonderbericht Nr. 5, 2010 des EuropäischenRechnungshofes über die Umsetzung des Leader-Konzepts zur Entwicklung des ländlichen Raumswurde festgestellt, dass nur in sehr wenigen Mit-gliedsstaaten die für LEADER zuständigen Verwal-tungsbehörden den LAGs den notwendigen Spiel-raum einräumen, auch Projekte außerhalb desMainstream-Maßnahmenspektrums umzusetzen.4

Diese Erkenntnis kann durch die eigene Forschungbestätigt werden. Eine Einschränkung des mögli-chen Maßnahmenspektrums entspricht nicht demLEADER-Gedanken. Innovationen setzen voraus,dass auch neue Wege und Experimente möglichsind. Innovationen werden jedoch im Keim erstickt,wenn die Verwaltung den Rahmen zu eng setzt. Esist gerade der LEADER-Ansatz, der innovative Ent-wicklungen im ländlichen Raum im besonderenMaße auslöst.

Empfehlungen

Aus der Untersuchung lassen sich einige grund-sätzliche Empfehlungen zur Umsetzung des LEA-DER-Ansatzes ableiten:

1. LAGs sollten die ganze Breite der ländlichen Ge-sellschaft abbilden und eine Art „fachliche Vertre-tung“ der ländlichen Region darstellen, die überSensibilität und Wissen in Bezug auf die Proble-me und Chancen des ländlichen Raums verfügt.Die Diskurskultur innerhalb einer LAG kann durchAkteure mit unterschiedlichen Positionen berei-chert werden. Es sollte gesichert sein, dass dieLAG-internen Entscheidungsverfahren auf demo-kratischen Prinzipien beruhen.

2. Die LAG sollte als legitimierte Trägerin der Regio-nalentwicklung weitgehend autonom agieren undentscheiden können. Die Autonomie ist ein zen-traler Erfolgsfaktor für die Umsetzung des LEA-DER-Programms, daher gilt es, die LAG entspre-chend unabhängig zu verankern. Machtrivalitätenmit Verwaltung und Politik sollten möglichst ver-mieden werden. Die Übertragung von fassbarenEntscheidungskompetenzen ermöglicht den Ak-teuren, sich für die Zukunft ihrer Region verant-wortlich einzusetzen, was wiederum ihre Betei-ligung und das Einbringen von wertvollem Wis-sen sichert.

3. Eine Einbindung der Akteure im LEADER-Pro-zess sollte bereits bei der Erarbeitung des Re-gionalen Entwicklungskonzepts erfolgen. Dasschließt eine professionelle Beratung und Unter-

stützung durch die Fachverwaltung und/oder externeBerater keineswegs aus, vielmehr handelt es sich umsich ergänzende Bausteine. Auch im Rahmen der Eva-luation sollten die Akteure einbezogen werden, so kanndie Zielerreichung auch an der Zufriedenheit der Akteu-re gemessen werden. Das klassische Monitoring unddie Evaluation sollten deshalb um Indikatoren, mit de-nen die Qualität des Prozesses abgebildet werdenkann, ergänzt werden.

4. Es sollte darauf geachtet werden, dass LEADER-Gebietskulissen handlungsfähig sind. Eine Anlehnungan administrative Grenzen kann dabei sehr hilfreichsein (Göttinger Land = Landkreis Göttingen ohne StadtGöttingen). Die Identifikation mit der Gebietskulisse istnicht zwingend eine Voraussetzung, vielmehr kann dieIdentifikation mit der Gebietskulisse im gemeinsamenProzess wachsen und auch ganz neu entstehen.

5. Da die Ausgestaltung der Umsetzungsstrukturen für diejeweiligen Förderperioden sich auch auf den Grad derAutonomie der LAGs und auf die Einhaltung derBottom-Up-Prinzipien von LEADER auswirken kann,wird eine stärkere und kontinuierliche Zusammenarbeitder LAGs (z. B. durch nationale Netzwerke) mit denbeteiligten Verwaltungsstellen empfohlen.

6. Von großer Bedeutung für den Erfolg jeder LAG istauch eine ausreichende Finanzierung. Ohne verläss-liche finanzielle Rahmenbedingungen kann keine LAGihre Entwicklungsstrategie umsetzen. Eine vorab fürden gesamten Förderzeitraum gesicherte Kofinan-zierung durch öffentliche Mittel wird in diesem Kontextals sehr günstig bewertet. Auch neue Finanzierungs-modelle müssen geprüft werden, wie z. B. die Berück-sichtigung von lediglich privaten Mitteln als Ersatz füröffentliche Kofinanzierung oder die Errichtung vonregionalen Fonds.

Partizipation muss gelebt werden

Die Menschen im ländlichen Raum haben ein feinesGespür für eine „echte“ oder nur „aufgesetzte“ Partizipa-tion. Nur dann, wenn die Menschen ihre Ideen in derProjektumsetzung wiederfinden, wird es gelingen, dieZivilgesellschaft dauerhaft für die erforderlichen Innova-tionsprozesse im ländlichen Raum zu gewinnen. In dernächsten LEADER-Förderperiode von 2014-2020 gilt es,diese Erkenntnisse zu berücksichtigen.

4 Europäischer Rechnungshof (2010): Sonderbericht Nr. 5: Umsetzung des LEADER-Konzepts zur Entwicklung des ländlichen Raums (Luxemburg).

Die Literaturliste ist auf der ASG-Website unterwww.asg-goe.de/pdf/LR0113-Literatur.pdf nachzulesen.

Page 29: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum 27

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Kräuter „vom Ende der Welt“Der Kräutergarten Pommerland liegt abseits der touristisch bekannten Orte der Ostseeküste. ImLassaner Winkel am Peenestrom, zwischen Rügen und Usedom, befindet sich das kleine DorfPulow. Seit zwölf Jahren werden hier biologische Kräutertees hergestellt und bundesweit vertrieben.

Vom Kräutergartenzur Teemanufaktur

Nach der Wende gründeten en-gagierte Bürger gemeinsam mitdem Bürgermeister in Pulow denVerein Natur und Kultur, der mitUnterstützung des ArbeitsamtesAB-Maßnahmen einrichtete. DieABM-Kräfte pflanzten u. a. Mira-bellenbäume an den Straßen undlegten im benachbarten Papen-dorf einen Kräutergarten an. Un-ter dem Dach des 1997 aus demKultur- und Naturverein hervor-gegangenen Mirabell e.V. begannein Projektteam 1999 mit demFeldanbau von Kräutern sowieder Vorbereitung einer Unter-nehmensgründung. Zu diesemProjektteam gehörten nebeneinem Paar aus Erfurt auchChristiane Icke, eine Biogärtne-rin aus dem Nachbarort, undChristiane Wilkening, ehemalsReferentin im Hamburger Senats-amt für Gleichstellung. Die Kon-takte zur Gegend und zum Kul-turverein in Pulow waren überFreunde entstanden, die sich imbenachbarten Klein-Jasedowniedergelassen hatten. In demProjekt, einen Kräutergarten zumbiologisch wirtschaftenden Be-trieb zu entwickeln, wollten siesich für eine nachhaltige Lebens-

weise und für eine Verbesserungdes Lebens in der strukturschwa-chen Region engagieren.

In der Anfangsphase musstendie Grundlagen für eine biologi-sche Produktion geschaffen unddie Vermarktungsmöglichkeitenerforscht werden. Dazu gehörte,dass die von der Gemeinde ge-pachteten Flächen vom ökologi-schen Anbauverband Gäa undder EU-Kontrollstelle zertifiziert,der Kräuteranbau und die Verar-beitung geplant und der Markt fürökologisch produzierte Kräuteranalysiert wurden. Nachdem diesgeschehen und die Marktanalysepositiv ausgefallen war, erfolgteim Jahr 2000 die erste Aussaatder Kräuter, deren Blüten undBlätter im Sommer zum erstenMal geerntet und in einer selbst-gebauten Trocknungsanlage ge-trocknet wurden. Im Spätsommerdesselben Jahres wurde eineeinfache Hordentrocknung imRahmen der Agenda 21 mitFördermitteln des Umweltmi-nisteriums ausgebaut. Als Wert-schöpfung vor Ort entstandenKräuterteemischungen in Hand-arbeit, zwei Trinksirupe in Zu-sammenarbeit mit der Mostereiin Lassan und anfänglich auchFruchtaufstriche und Chutneys.

Die Vermarktung der Produkteerfolgte über regionale Märkte.Nach diesen Vorbereitungenkonnte 2001 die GenossenschaftKräutergarten Pommerland eGgegründet werden, die sich in denvergangenen zehn Jahren zueiner gut funktionierenden Tee-manufaktur weiterentwickelt hat.

Die ehemalige LPG-Anlage imOrt wurde 2004 zusammen mitdem Mirabell e.V. erworben unddient der Kräutergarten Pommer-land eG als Produktionsstätte.Nach Umbau und Renovierung2008-2010 stehen seit 2011 neueProduktions- und Lagerräume zurVerfügung und die Fertigungwurde mechanisiert: Eine Rebel-und Sortiermaschine, eine halb-automatische Abfüllanlage undeine Etikettiermaschine ersetzendie mühsame Handarbeit der An-fangsjahre.

9-10 t getrocknete Kräuter wer-den pro Jahr zu 20 Teesorten ver-arbeitet – eine Menge, die längstnicht mehr aus eigenem Anbauerzeugt werden kann. Schon seiteinigen Jahren wird ein großerTeil der ca. 40 verschiedenenKräuter von einem Partnerbetriebin Westpommern/Polen sowievon befreundeten Bio-Kräuter-

Foto

s: H

. Reu

tling

er

Page 30: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum28

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

bauern erzeugt oder von speziel-len Händlern eingekauft, die ihreWare aus Südeuropa oder ausÜbersee beziehen.

Immerhin noch knapp ein Fünf-tel der benötigten Kräuter liefertder von Christiane Icke geleiteteAnbaubetrieb „Feldfrüchte“, vonder die Genossenschaft die ge-trockneten Kräuter mit einem fes-ten Liefervertrag abnimmt. Die10 ha Ackerfläche liegen heute –weniger zerstreut als noch in derAnfangszeit – hauptsächlich aufeinem Schlag vor Pulow und rundum das Betriebsgelände. Obwohlein Geräteträger und ein Traktoreingesetzt werden, fällt beim Ha-cken, Jäten und Ernten noch vielHandarbeit an, um die 6-8 ver-schiedenen Kräuterkulturen zupflegen. Durch die sanfte Trock-nung mit zwei speziellen Anlagen(von 2006 und 2011) können dieKräuter schonend getrocknetwerden und bringen in die Tee-mischungen ihre leuchtend bun-ten Blütenfarben ein – das Mar-kenzeichen der Pommerlandtees.

Pommerland istSommerland

Auch der alte Kräutergarten istgewachsen: Hier entstand einbarrierefreier Duft- und Tastgar-ten. Mit Garten- und Wildkräuter-führungen, Seminaren zum The-ma Kräuter und deren Nutzungs-möglichkeiten und vielen Festenwird gemeinsam mit anderenInitiativen der sanfte Tourismusgestärkt, die Attraktivität desLebensraumes erhöht und sodie Region nachhaltig belebt(www.mirabellev.de). Junge Fa-milien sind nach Lassan und indie umliegenden Dörfer gezogen,kleinere Firmen, Vereine und Ini-tiativen haben sich gegründetund im Netzwerk „Kräuter, Kunstund Himmelsaugen“ zusammen-geschlossen: Jährlich geben dieAkteure des Lassaner Winkelsein gemeinsames Sommerpro-

gramm heraus und veranstaltenam 1. Juniwochenende den bunten„Holundermarkt“ in Klein Jasedow.

Genossenschaftlich füreine Stärkung der Region

In der Genossenschaft, die sich alslebendige Gemeinschaft sieht, stehtdas gemeinsame Leben und Arbei-ten im Vordergrund. Unter dem Leit-spruch „Biologisch genießen ...“ prak-tiziert sie den ökologischen Anbau

der Kräuter, ihre schonende Verar-beitung und die bundesweite Ver-marktung der Kräutertees.

Seit 2006 arbeitet die Genossen-schaft wirtschaftlich und ist deutlichgewachsen: Pro Jahr werden mehrals 150 000 Teetüten über den Na-turkostgroßhandel, im Direktvertrieban Bioläden und über ihren Online-

Die fertig abgefüllten Teetüten werden in Kartons verpackt.

Page 31: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Ländlicher Raum 29

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Gefährdung durch großflächigen Ackerbau

Trotz dieser augenfällig positiven Entwicklungen nehmen der ökologische Kräuteranbau bzw. die ökologische Wirtschafts-weise im Lassaner Winkel nur einen sehr kleinen Teil der bewirtschafteten Ackerflächen ein. In der Nachbarschaft vonKräutergarten Pommerland bewirtschaftet der Nachfolgebetrieb der ehemaligen LPG seit der Wende rd. 5 000 ha auf kon-ventionelle Weise und kann als industrieller Ackerbaubetrieb bezeichnet werden. Seit Biogasanlagen einen großen Gewinnversprechen, werden darüber hinaus auch ehemals brachliegende Flächen und Grünland zunehmend zum Maisanbau ver-wendet, wodurch Flächen für den Bio-Anbau blockiert werden.

Daher ist es zum einen fast unmöglich geworden, als Biobetrieb oder Neueinrichter Ackerland zu erschwinglichen Preisenzu kaufen oder zu pachten: Seit zehn Jahren hat sich der Preis pro Hektar mehr als verdreifacht und auch für Böden mitplus/minus 30 Bodenpunkten werden 20 000 € und mehr verlangt – und gezahlt.

Zum anderen hat der flächenmäßige Einsatz von chemischen Düngemitteln und sog. Pflanzenschutzmitteln auf den riesi-gen Schlägen mehr als einmal zur Abdrift auf die Bio-Flächen geführt, die Kräuterernte vernichtet und zu gesundheitlichenBeeinträchtigungen der Bevölkerung geführt. Der Wirkstoff Clomazone, sei es in Brasan, wie 2001 und 2004, oder inColzor Trio, wie 2011, hemmt die Bildung des Blattfarbstoffs Chlorophyll, so dass sich grüne Pflanzenteile weiß verfärbenund die Pflanze abstirbt. Hinzu kommt, dass Clomazone über verhältnismäßig große Entfernungen verfrachtet werdenkann, denn neben der üblichen Abdrift kommt bei warmer Witterung auch ein Transport über die Gasphase vor.

Gesundheitliche Auswirkungen auf den Menschen werden behördlicherseits abgestritten, aber die Einwohner des LassanerWinkels klagen in Zeiten des Spritzens immer wieder über Gestank, Atemnot, Husten, Atemwegserkrankungen u. a. m. –und das seit Jahren.

Schon beim ersten Brasan-Unfall 2001 entstand hier die Bürgerinitiative (BI) „Landwende“, um auf die Gefährdungendurch Herbizide aufmerksam zu machen; seitdem werden alle Vorfälle dokumentiert. Nach dem Vorfall im Herbst 2011wurde das Ausbringen clomazonehaltiger Mittel behördlicherseits gestoppt, das Verbot jedoch per einstweiliger Verfügungvonseiten der Hersteller wieder aufgehoben. Ob die anschließend erlassenen strengeren Richtlinien für die Ausbringunggreifen, bleibt abzuwarten. Eine weitere Beprobungsaktion mit Unterstützung des BUND und des NABU im Jahr 2012 er-gab u. a. eine viel zu hohe Belastung mit AMPA, einem Abbauprodukt des Herbizids Glyphosat.

Die BI arbeitet zusammen mit dem Ministerium für Landwirtschaft in Schwerin daran, eine grundsätzliche Lösung fürdiese Probleme zu finden (s. a. www.landwende.de).

shop verkauft. Seit 2012 sind einigeder am meisten gefragten Sorten auchals Kannenbeutel erhältlich.

Zusammen mit „Feldfrüchte“ wurdenneue Arbeitsplätze geschaffen, heutesichern beide Betriebe das Einkom-men von zehn Frauen aus Pulow undUmgebung. Außer ihnen unterstützenrd. 70 Mitglieder aus dem gesamtenBundesgebiet den Aufbau des Unter-nehmens mit ihren Anteilen. Auchweiterhin sind Menschen willkommen,die sich als Genossenschaftsmitglie-der engagieren oder auf andere Weisebeteiligen möchten, um die Entwick-lung des Kräutergartens zu fördern. Katrin Agethen

Weitere Informationen unter:www.kraeutergarten-pommerland.de

Page 32: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum30

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Die Schere ist auseinandergegangenManuela Schwesig, Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales des Landes Mecklenburg-Vorpommern, über Armut in ländlichen Räumen, Aufgaben des Staates und die soziale Dimensiongleichwertiger Lebensverhältnisse

Was sind die gravierenden sozialen Proble-me der Menschen in ländlichen Regionen?

Schwesig: In ländlichen Räumen fehlennaturgemäß die industriellen Zentren. Dasbedeutet, dass die Menschen auf dem Landauch nicht von den Möglichkeiten des Arbeits-marktes in der Industrie und in der gut be-zahlten Dienstleistungsbranche profitieren.

Gibt es eine „typisch ländliche“ Armut aufdem Lande? Welche Gruppen sind betroffen?

Schwesig: In Deutschland gibt es leiderArmut sowohl auf dem Land als auch in derStadt. Armut macht sich nicht unbedingt amWohnort fest, sondern immer noch an dersozialen Herkunft der Menschen. Eine Arzt-tochter vom Land hat bessere Aufstiegs-chancen als die Tochter einer Hartz-IV-Emp-fängerin aus der Stadt. Das müssen wir än-dern. Wenn sich Armut über mehrere Gene-rationen zementiert, ist der soziale Friedender Gesellschaft in Gefahr.

Wie hat sich die Problemlage in den letztenJahren entwickelt?

Schwesig: Die Schere ist auseinander-gegangen. Die Bundesregierung hat die Ent-wicklung verschlafen. Und dass sie jetzt nochden Armutsbericht in einer Weise schönt,dass er ihr ins Bild passt, ist skandalös.

In welchen Landesteilen sind die Problemeam gravierendsten?

Schwesig: Armut ist nicht unbedingt einProblem von Ost oder West und Stadt oderLand.

Wie stellt sich die Situation in Mecklenburg-Vorpommernim Vergleich zu anderen Flächenländern dar?

Schwesig: In Mecklenburg-Vorpommern muss manunterscheiden. Es gibt zum einen die westlichen Landes-teile, die sehr von den Zentren Hamburg und Lübeck pro-fitieren. Das sieht man auch deutlich an den Arbeitslosen-zahlen, die in den Landkreisen Nordwestmecklenburgund Ludwigslust-Parchim deutlich geringer sind als in denöstlichen Landesteilen. Viele Menschen im Westen desLandes pendeln täglich in den Großraum Hamburg. Na-türlich wirkt sich das auch auf die demografische Ent-wicklung aus. Wenn Sie in Pasewalk oder Demmin leben,fahren Sie nicht täglich 300 Kilometer oder mehr zurArbeit.

Gerade ländliche Gebiete profilieren sich vielfach übertouristische Angebote. Beeinträchtigt das eine offene Dis-kussion über soziale Probleme?

Schwesig: Da muss man unterscheiden. In Mecklen-burg-Vorpommern profitiert vor allem die Ostseeküstevom Tourismus. Im Binnenland gilt es weiter, touristischeAngebote auszubauen. Aber nur durch hohe Übernach-tungszahlen und viele Touristen ist noch kein sozialesProblem gelöst. Diejenigen, die in der Tourismusbranchearbeiten, müssen auch anständiges Geld verdienen.Das wirkt einer weiteren Abwanderung entgegen.

Mecklenburg-Vorpommern ist das Tourismusland Num-mer 1. Inwieweit wirkt sich das auf die soziale Situationauf dem Lande aus?

Schwesig: Die gesamte Ostseeküste hat sich in denvergangenen 20 Jahren ungemein verändert. Der Touris-mus boomt, das Hotel- und Gaststättengewerbe profitiertdavon. Das muss aber auch bei den Beschäftigten an-kommen. Für die Übernachtung auf Rügen bezahlt derGast nicht weniger als für die Übernachtung in St-Peter-Ording. Aber das Zimmermädchen auf Rügen verdientwesentlich weniger. Das kann nicht sein.

Page 33: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 31

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Die Alterung der Bevölkerung und die Abwanderung gutausgebildeter junger Menschen verschärfen das Problemder ländlichen Armut. Teilen Sie diese Einschätzung?

Schwesig: In den 90er Jahren haben sehr viele jungeLeute Mecklenburg-Vorpommern verlassen. Eben auchsehr viele junge Frauen. Die jungen Frauen und ihre Kinderfehlen heute im ländlichen Raum. Aber die Landesregierungsteuert dagegen. Mecklenburg-Vorpommern hat auch inseinen ländlichen Räumen vieles zu bieten, was Sie inGroßstädten wie Hamburg oder Berlin nicht finden.

Es ist ein ganz gehöriger Unterschied, ob eine junge Frauin Hamburg einen Kitaplatz sucht oder in Schwerin. Meck-lenburg-Vorpommern liegt bei der Kinderbetreuung bun-desweit mit an der Spitze. Was nützt der alleinerziehendenMutter der schönste Arbeitsplatz, wenn sie keinen Krippen-oder Kitaplatz findet? In Mecklenburg-Vorpommern besu-chen über 76 % der Kinder zwischen einem und drei Jahreneine Kindertageseinrichtung. Da sind wir im Bundesver-gleich ganz vorne.

Welche Aufgaben sehen Sie darüber hinaus für die Lan-desregierung?

Schwesig: In Mecklenburg-Vorpommern ist in denvergangenen Jahren vieles getan worden, um die länd-lichen Räume attraktiver zu gestalten. Das Beispiel derKinderbetreuung habe ich schon angesprochen. Wir bietenwohnortnahe Plätze in Kitas oder bei Tagesmüttern an.

Ein anderes Beispiel ist die ärztliche Versorgung. Geradefür ältere Menschen auf dem Land ist das ein ganz wichti-ges Thema. Das Institut für Community Medicine an derUniversitätsmedizin in Greifswald hat gerade erst eine Stu-die zur Versorgung mit Kinderärzten im dünn besiedeltenVorpommern erstellt. Daraus ziehen wir die entsprechendenSchlüsse. Mit Hilfe des Landes wurden an den medizini-schen Fakultäten der Universitäten Rostock und Greifswaldzwei Lehrstühle für Allgemeinmedizin eingerichtet. Dadurchwerden zusätzlich Allgemeinmediziner ausgebildet, die wirgerade im ländlichen Raum benötigen. Gemeinsam mit derKassenärztlichen Vereinigung Mecklenburg-Vorpommernfördern wir Medizinstudentinnen und -studenten, die einenTeil ihrer Ausbildung in einer Hausarztpraxis absolvieren.Wir haben in diesem Jahr ein neues Landespflegegesetzverabschiedet. Darin wird mehr auf ambulante als auf sta-tionäre Pflege gesetzt. Ambulante Pflege kommt auch dendünn besiedelten Regionen zugute. Das sind nur einigeBeispiele.

Manuela Schwesig ist seit Oktober2008 Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Die 38-jährige Diplom-Finanzwirtin stammt aus Brandenburg.Sie war mehrere Jahre in der Finanz-verwaltung in Frankfurt/Oder undSchwerin tätig, bevor sie sich politischengagierte, zunächst in der Kommu-nalpolitik in Schwerin, später auf Lan-desebene. Seit Ende 2009 ist Schwesigstellvertretende Bundesvorsitzende derSPD. Sie wird aller Voraussicht nachim anstehenden Bundestagswahlkampfeine herausgehobene Rolle spielen unddem vorgesehenen Kompetenzteamvon SPD-Kanzerkandidat Peer Stein-brück angehören.

Page 34: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum32

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Welches Mindestmaß an Vorsorge kann derStaat in den besonders vom demografischenWandel betroffenen Regionen in Zukunftnoch leisten?

Schwesig: Für uns ist ganz klar: Die medi-zinische Versorgung muss gewährleistet sein,an der Qualität darf es keine Abstriche ge-ben. Ländliche Räume werden von uns nichtaufgegeben, sondern unterstützt.

Inwieweit trägt die soziale Arbeit der Kir-chen, die in Teilen Ostdeutschlands nichtmehr flächendeckend präsent ist?

Schwesig: Die Kirchen und kirchlichen Or-ganisationen sind wichtige Partner in vielensozialen Bereichen. Ihre Arbeit ist nicht hochgenug zu bewerten.

Welchen Stellenwert messen Sie der Arbeitder Zivilgesellschaft bei?

Schwesig: Das ist ein ganz wichtiger Punkt.Ich nehme da als Beispiel nur die vielen eh-renamtlich tätigen Menschen in Mecklenburg-Vorpommern. Der Staat kann nicht immerund überall sämtliche Aufgaben erfüllen. Eh-renamtliche Tätigkeit fördert auch ungemeinden Zusammenhalt. Nehmen Sie die Freiwil-ligen Feuerwehren oder die Sportvereine. Diesind gerade auf dem Land oftmals der Mittel-punkt des gesellschaftlichen Lebens. Dasfördern wir weiter und unterstützen das Eh-renamt. Was aber auch klar sein muss: DasEhrenamt darf nicht hauptamtliche Fachkräf-te verdrängen und als Lückenbüßer einge-setzt werden.

Wie ernst ist aus Ihrer Sicht die Gefahr,dass rechte Gruppierungen in die Lückenspringen, die durch einen Rückzug öffent-licher Einrichtungen entstehen?

Schwesig: Rechtsextremisten bieten keineLösungen an. Das wissen die Menschen inStadt und Land. Die Zivilgesellschaft ist ge-fordert, rechten Gruppierungen keinen Raumfür ihre menschenverachtende und demokra-tiefeindliche Propaganda zu lassen.

Die Sicherung der Gleichwertigkeit der Lebens-verhältnisse ist Auftrag des Grundgesetzes. Ist dasPostulat aus Ihrer Sicht noch zeitgemäß?

Schwesig: Das macht den Sozialstaat aus und istseit über 60 Jahren ein Erfolgsmodell in Deutschland.Wenn ich den Blick auf andere europäische Länderwerfe, gibt es dort zum Teil große Probleme wirtschaft-licher und sozialer Art zwischen einzelnen Landes-teilen. Deutschland hat von diesem Postulat profitiert.Deshalb darf am Länderfinanzausgleich auch nichtgerüttelt werden.

Was folgt daraus für die Sozialpolitik?

Schwesig: Jemand in Vorpommern hat das gleicheAnrecht auf eine gute medizinische Versorgung wiejemand in Köln. Und im Bayerischen Wald darf eskeine schlechtere Altenpflege als in Leipzig geben.

Im Brennpunkt der bundesweiten Armutsdiskussionenstehen zumeist städtische Problemgebiete. Teilen Siedie Befürchtung, dass ländliche Räume ins Abseits ge-raten und ihnen nicht hinreichende politische Aufmerk-samkeit zuteil wird?

Schwesig: In Mecklenburg-Vorpommern ist das nichtder Fall. Aber sicher ist es spektakulärer über Neuköllnoder Wilhelmsburg zu berichten als über Vorpommernoder die Uckermark.

Welche Rolle werden Fragen der ländlichen Entwick-lung und der Situation der Menschen auf dem Landeim anstehenden Bundestagswahlkampf für die SPDspielen?

Schwesig: Für uns steht soziale Gerechtigkeit imMittelpunkt unseres Handelns. Das beinhaltet natürlichauch die Gerechtigkeit der Chancen im ländlichenRaum und in den Städten. Fragen von Mindestlohn,Vereinbarkeit von Familie und Beruf und einer gerech-ten Rentenpolitik sind gerade für die Menschen imländlichen Raum von großer Bedeutung. Wer etwasfür mehr Gerechtigkeit in Deutschland tun will, mussimmer die ländlichen Räume im Auge haben.

Bedarf es eines veränderten Ressortzuschnitts aufBundesebene, um den besonderen Problemlagen aufdem Lande gerecht zu werden?

Schwesig: Es bedarf einer anderen Bundesregierung.Rot-grün wird eine Abkopplung ländlicher Gebiete nichtzulassen. Rainer Münch

Page 35: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 33

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Armut ist eine Folge des WirtschaftsmodellsDr. Rudolf Martens, Leiter der Paritätischen Forschungsstelle im Paritätischen Gesamtverband, überMobilitätsarmut und verschämte Armut auf dem Lande, wachsende Altersarmut und das deutscheArmutsparadoxon

Was unterscheidet ländlichevon städtischer Armut?

Martens: Der Unterschied zwi-schen städtischer und ländlicherArmut liegt, neben der schlech-teren Versorgung mit sozialenDienstleistungen, in der poten-ziellen Mobilitätsarmut der Emp-fänger von Grundsicherungs-leistungen wie Hartz IV, Sozial-hilfe, Grundsicherung im Alterund bei Erwerbsminderung. DesWeiteren sind die Unterschiedezwischen Hocheinkommensbe-ziehern und einkommensarmerBevölkerung in den Städten be-sonders ausgeprägt, anders for-muliert: die soziale Spreizung istim ländlichen Raum geringer alsin den Städten.

Was verstehen Sie unter„Mobilitätsarmut“?

Martens: Alle Einrichtungenund Dienste, die in Städten stetsmehrfach vorhanden sind unddie man in der Stadt gut erreichenkann, sind im ländlichen Raumoft nur mit Mühe erreichbar.So besteht oftmals der Zwang,selbst als Hartz IV-Empfängerein Auto zu unterhalten. Dies istaber nur leistbar, wenn an not-wendigen Ausgaben an andererStelle gekürzt wird. Für Einkom-mensarme ist das Leben mitKindern oder als Mensch mitBehinderungen bzw. mit chroni-schen Erkrankungen oder alsalter Mensch oft viel mühsamer,zeitaufwendiger und teurer alsin der Stadt. Für erwerbsfähigeMenschen, die langzeitarbeits-los sind oder nur eine Beschäfti-gung mit Niedriglohn haben, istes in den meisten ländlichen

Gebieten schwieriger als in der Stadt, einen gut bezahlten Arbeitsplatzzu bekommen. Oft wird dies nur durch lange Fahrwege oder Fernpen-deln möglich sein. Zwar sind die Wohnkosten und Lebensbedingungeninsbesondere für Familien mit Kindern auf dem Lande z. T. sehr vielgünstiger als in Ballungsräumen, dagegen stehen aber die hohen Mo-bilitätskosten. Im ländlichen Raum kann Armut eine spezifische Aus-prägung als „Mobilitätsarmut“ annehmen – eine Armutsform, die es soin der Stadt nicht geben kann.

Gibt es eine versteckte Armut auf dem Lande?

Martens: Aus Untersuchungen ist bekannt, dass die Schamgrenze beider Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen im ländlichen Bereichbesonders hoch ist. Zustehende Sozialleistungen werden oftmals nichtbeantragt, um das Stigma des „Sozialhilfeempfängers“ zu vermeiden.Armut im ländlichen Raum ist immer noch „verschämt“, darin sind sichdeutsche und nicht-deutsche Bevölkerung sehr ähnlich. Armut in ländli-cher Idylle ist so gesehen eine spezifische und zugleich strengere Formder Armut.

In Großstädten ist die Schamgrenze niedrig. Hartz IV oder Sozialhilfezu beziehen, ist nichts Außergewöhnliches – besonders in Stadtviertelnmit vielen Hartz IV-Empfängern. Dies gilt für die deutsche wie ausländi-sche Bevölkerung.

Dr. Rudolf Martens (geb. 1951in Treysa, Schwalm-Eder-Kreis/Hessen) ist seit 1991 im Paritä-tischen Gesamtverband tätigund seit 2007 Leiter der neueingerichteten ParitätischenForschungsstelle im Paritäti-schen Gesamtverband, Berlin.Unter seiner Federführung ent-stehen Analysen zu Ursachen,geografischer Verbreitung undden sozialen Folgen von Armutin Deutschland. Seine Experti-sen bringt der Forscher immerwieder in Kommissionen, auchim Bundestag, ein.

Foto

: Par

itätis

cher

Ges

amtv

erba

nd

Page 36: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum34

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Sehen Sie Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland?

Martens: In Westdeutschland sind die Armutsquoten im ländlichenRaum in der Regel geringer als in den Städten. In Ostdeutschland fal-len die Armutsquoten generell höher aus als in Westdeutschland, dieUnterschiede zwischen Städten und ländlichen Räumen sind dagegenim Osten typischerweise gering.

Wie macht sich die Alterung der Bevölkerung bemerkbar?

Martens: Vorausberechnungen der künftigen Rentenhöhen weiseneindeutig darauf hin, dass wir in Ostdeutschland ab ca. 2020 mit einerstark steigenden Altersarmut zu rechnen haben. Dies trifft im Ostendie Städte wie den ländlichen Raum. Neben der Armut der jüngerenBevölkerung muss noch das zusätzliche Problem einer wachsendenAltersarmut bewältigt werden. Aber auch in einzelnen Gebieten West-deutschlands – wie im Nordosten Bayerns, Stichworte sind Neben-erwerbslandwirtschaft und Winterarbeitslosigkeit im Baugewerbe,Fremdenverkehrswirtschaft – droht jetzt schon Altersarmut im länd-lichen Raum.

Die Diskussion um Armut in Deutschland dreht sich zumeist umdie Situation in städtischen Problemgebieten. Wird das Thema „Armutauf dem Lande“ hinreichend in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Martens: In der Medienwirklichkeit wird „Armut auf dem Lande“kaum wahrgenommen. Dies mag auch damit zusammenhängen,dass im Westen mehr als 85 % der Armutsbevölkerung in Städtenund im Stadtumland lebt, in Ostdeutschland sind das mit gerundet60 % deutlich weniger.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Ansätze, um die spezi-fischen Probleme auf dem Lande zu lösen?

Martens: Die deutsche Wirtschaftspolitik hat sich seit über einemVierteljahrhundert auf ein Wirtschaftsmodell festgelegt, bei der derdeutsche Sonderweg von Niedriglohnstrategie und Sozialkürzungenverknüpft wird mit einer aggressiven Exportpolitik. Das ist der Haupt-grund, warum in Deutschland Wirtschaftswachstum und sinkende Ar-beitslosigkeit mit konstant hohen Armutsquoten einhergehen. Wirsprechen vom „deutschen Armutsparadoxon“. Diese Form zu wirt-schaften geht auf Kosten der Binnenkonjunktur und – was regelmäßigvergessen wird – in spezifischer Weise auf Kosten des ländlichenRaumes: Niedriglohnstrategie funktioniert besonders gut mit mög-lichst niedrigen Preisen für Nahrungsmittel. Entsprechend groß ist daspolitische Interesse, an diesem für den ländlichen Raum schädlichenArrangement nichts zu ändern. Nahrungsmittelindustrie und Handelsorgen für den politisch gewollten Preisdruck. Was bislang nicht indie Öffentlichkeit gedrungen ist: Dem Niedriglohn der abhängig Be-schäftigten entspricht die Niedrigentlohnung der bäuerlichen Land-wirtschaft.

Wenn das geschilderte Wirtschaftsmodell so bleibt, wie es ist, lässtsich Armut nicht überwinden, weder in den Städten noch im ländlichenRaum. Bestenfalls gelingt eine Armutslinderung. Hilfreich wäre eine

Armutsdefinition: Relative Ein-kommensarmut, Äquivalenzein-kommen und Armutsschwelle

Die inzwischen vier Armuts- und Reich-tumsberichte der Bundesregierung ori-entieren sich an einem relativen Ein-kommensbegriff. Die Armutsgrenzewird entsprechend dem EU-Standardmit 60 % eines mittleren Äquivalenz-Einkommens definiert. Das mittlereEinkommen bzw. Medianeinkommenist nicht identisch mit dem Durch-schnittseinkommen. Das Medianein-kommen liegt genau in der Mitte einerEinkommensverteilung, die nach derHöhe der Einkommen geschichtet ist.Beispielsweise definiert bei fünf Ein-personenhaushalten der dritte Haushaltden Medianwert; bei sechs Haushaltendefiniert den Median der Mittelwert ausdrittem und viertem Haushalt. DasÄquivalenzeinkommen ist ein auf derBasis des Haushaltsnettoeinkommensberechnetes bedarfsgewichtetes Ein-kommen je Haushaltsmitglied. Die Be-darfsgewichte oder Äquivalenzziffernberücksichtigen den Umstand, dassunterschiedlich große Haushalte nichtohne Weiteres miteinander vergleich-bar sind. Größere Haushalte haben ge-genüber Einpersonenhaushalten Ein-spareffekte z. B. durch gemeinsameNutzung von Wohnraum oder Haus-haltsgeräten. Dies wird durch Äquiva-lenzziffern ausgeglichen.

Beispiel: Im Jahr 2011 beträgt derdeutschlandweite Median des Netto-äquivalenzeinkommens 1 413 € imMonat, daraus berechnet sich eineArmutsschwelle (60 %) von 848 €(Armutsquote: 15,1 %). Diese 848 €entsprechen der Armutsschwelle einesEinpersonenhaushalts. Nach den gel-tenden Äquivalenzziffern geht der ersteErwachsene eines Haushalts mit demFaktor 1,0 in die Gewichtung ein, alleanderen Mitglieder im Alter von 14 undmehr Jahren mit 0,5 und alle jüngerenMitglieder mit dem Faktor 0,3. Entspre-chend beträgt die Summe der Äquiva-lenzziffern eines Paarhaushalts mit ei-nem Kind unter 14 Jahren: 1,0 + 0,5 +0,3 = 1,8. Daraus berechnet sich eineArmutsschwelle für diesen Haushalts-typ in Höhe von: 1,8 • 848 = 1 526 €.

Page 37: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 35

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Erhöhung des Existenzminimums für Hartz IV-, So-zialhilfe- und Grundsicherungsbezieher. Wegen derSparquote der Betroffenen in der Nähe von Null ergibtsich ein nützlicher Nebeneffekt. Da das meiste Geldlogischerweise in Regionen mit großen Beständen anHilfebeziehern fließt, profitieren am meisten die struk-turschwachen (ländlichen) Regionen. Kurz gesagt:Eine kräftige Erhöhung des Existenzminimums wirktwie eine zielgenaue Regionalförderung.

Was bedeutet die demografische Entwicklung miteiner alternden Bevölkerung sowie der Abwanderungjunger und gut ausgebildeter Menschen aus struktur-schwachen Regionen für die verbleibenden Men-schen?

Martens: Ländliche Räume sind eher binnenwirt-schaftlich orientiert, exportstarke Branchen konzen-trieren sich überwiegend in Ballungsräumen. Die Ab-wanderung im ländlichen Raum lähmt so nicht nurdie regionale Wirtschaft, zudem wird die weitere Ent-wicklung vorhandener wirtschaftlicher Potenziale be-hindert. Keine gute Idee ist es, mit linearer Kürzungs-politik diese Entwicklung wissentlich oder unwissent-lich zu forcieren. Wenn sich die Infrastruktur aus-dünnt und die Schule im Ort geschlossen wird, istdas ein starkes Signal für die jüngere Bevölkerung,sich jetzt nach einem neuen Wohnort, vielleicht in derStadt, umzusehen. Was viele Politiker nicht verstehenwollen: Wirtschaftliche Abwärtsspiralen lassen sich

nicht regional eingrenzen. Regionen sind immer aufvielfältige Weise miteinander verflochten. Eine Re-gion, die durch wirtschaftspolitische Vernachlässigungabstürzt, belastet zugleich ihre Nachbarregionen. Be-deutet: Die Infrastrukturen müssen funktionsfähig blei-ben, vorhandene wirtschaftliche Potenziale müssenweiter gefördert werden.

Was tut der Paritätische Wohlfahrtsverband, damitdem Thema „Armut auf dem Lande“ die erforderlicheAufmerksamkeit in Politik und Öffentlichkeit zuteilwird?

Martens: Der Paritätische ist ein Dachverband von15 Landesverbänden und über 10 000 eigenständigenOrganisationen, Einrichtungen und Gruppierungen imSozial- und Gesundheitsbereich. Er ist damit in allenFeldern der Sozialarbeit tätig und unterhält Diensteund Einrichtungen im städtischen wie ländlichen Be-reich. Dienste und Einrichtungen müssen in struktur-schwachen ländlichen Gebieten erhalten werden, derParitätische ist sich dessen nur zu bewusst. Er hat seit1989 dafür gesorgt, dass das Armutsthema in der Öf-fentlichkeit präsent bleibt. Inzwischen gibt es den vier-ten Bundesdeutschen Armuts- und Reichtumsbericht:Was aber immer noch aussteht und wohl auch nochlange ausstehen wird, ist eine – auch die Wirtschaft,Finanzen und Steuern – umfassende Politik gegenArmut und Ausgrenzung. Gleichermaßen für die Stadtund für das Land. Rainer Münch

POOR ECONOMICSPlädoyer für ein neues Verständnis von Armut

Abhijit V. Banerjee und Ester Duflo. Knaus Verlag, Mün-chen 2012, 384 S., ISBN 978-3-8135-0493-4, 22,99 €.

Um zu verstehen, warum Arme arm sind, habenBanerjee und Duflo 15 Jahre lang Studien über Hunger,Hygiene, Impfungen, Bildung und viele weitere Aspektevon Armut miteinander verglichen und die Wirksamkeitvon Maßnahmen zur Armutsbekämpfung untersucht.Zusammen mit (Hilfs-)Organisationen und anderen Wis-senschaftlern haben sie darüber hinaus eigene Kontroll-studien durchgeführt. Dabei war es ihnen wichtig, immerwieder den Blick darauf zu richten, wie die Armen Ent-scheidungen treffen, warum sie so leben, wie sie leben,und dies genau zu beschreiben. Herausgekommen istein spannendes Buch mit vielen Einzelerkenntnissen wieder, dass jedes noch so kleine Stückchen Bildung hilft, umdem Ziel einer Beschäftigung und damit besseren Chan-cen im Leben näherzukommen. fa

ARMUT aufdem LAND

Die Ausgabe 01/2013der Zeitschrift LAND ak-tiv, Zeitschrift des Katho-lischen Landvolks, hatden Schwerpunkt „Armutauf dem Land“ mit wei-teren informativen Bei-trägen. Zu bestellen un-ter Tel. (02224) 71031,[email protected]

Page 38: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum36

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Mobilität, Erreichbarkeit und soziale ExklusionChristian Schlump*

Den Zusammenhängen zwischen Mobilität und Erreichbarkeit einerseits sowie gesellschaftlicherTeilhabe bzw. sozialer Exklusion andererseits gingen Forscher/-innen im Rahmen eines Projekts fürdas Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung nach.1 Im Folgenden werden erste Ergeb-nisse dargestellt.

* Christian Schlump, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Referat I 5 –Verkehr und Umwelt, Bonn, Tel. (0228) 99 401-23 40, [email protected], www.bbsr.bund.de

1 Die Bearbeitung des Projekts erfolgte durch Dr. Joachim Scheiner (ForschungsBüro Scheiner Dortmund), Uta Bauer (Büro für integrierte Planung Berlin)und Heike Wohltmann (plan-werkStadt Bremen).

Statistisch gesehen fahren dieMenschen in ländlichen Regio-nen häufiger mit dem Pkw alsin Städten. Für den Weg zurArbeit, zum Einkaufen oder fürFreizeitaktivitäten sind öffent-liche Verkehrsmittel bisher oftkeine Alternative. Haushaltemit unterdurchschnittlichen Ein-kommen verfügen allerdingsüber weniger Autos als derDurchschnitt. Kann daraus derSchluss gezogen werden, dasssoziale Benachteiligung zuErreichbarkeitsproblemen führtund eine vollständige gesell-schaftliche Teilhabe somit nichtmehr gewährleistet werdenkann? Können auf der anderenSeite auch Erreichbarkeitspro-bleme selbst zu sozialer Be-nachteiligung und Exklusionführen?

Dieses Wechselspiel wurdeim Projekt „Mobilität, Erreich-barkeit und soziale Exklusion“untersucht und unter dem Titel„Strategien zum demographi-schen Wandel – Standort undStandortalternativen“ aus demForschungsprogramm Stadt-verkehr (FoPS) finanziert. Umdie Fragen zum Verkehrsver-halten zu beantworten, habendie Wissenschaftler Daten derUmfrage „Mobilität in Deutsch-land“ (MiD 2008) und Ergebnis-se des Deutschen Mobilitäts-panels (MOP) ausgewertet.

Benachteiligung und Erreich-barkeit messbar machen

Die Forscher haben soziale Be-nachteiligung anhand verschiede-ner Indikatoren „gemessen“. Aus-schlaggebend waren das Haus-haltseinkommen und die Anzahlder erwerbslosen sowie gesundheit-lich eingeschränkten Personen imHaushalt. Außerdem zogen sie denhöchsten Bildungsabschluss einesHaushaltsmitglieds sowie den so-zioökonomischen Status des Wohn-quartiers heran. Je geringer bei-spielsweise das Haushaltseinkom-men oder der sozioökonomischeStatus des Wohnquartiers, destostärker benachteiligt ist der Haus-halt. Anhand der genannten Indi-katoren wurden fünf Gruppen ge-bildet: von „besonders stark sozialbenachteiligt“ bis „gar nicht sozialbenachteiligt“.

Die Erreichbarkeitsverhältnissewurden in diesem Forschungspro-jekt daran gemessen, wie gut zu-gänglich der Arbeits- bzw. Ausbil-dungsplatz ist und wie gut es umdie nächste Einkaufsmöglichkeitbestellt ist.

Sozial benachteiligte Haus-halte leiden besonders untermangelnder Erreichbarkeit

Soziale Teilhabe hängt mit derErreichbarkeit von Angeboten zu-sammen. Haushalte, die unter so-

zialer Benachteiligung leiden,berichten in der Umfrage zumMobilitätsverhalten besondershäufig von Erreichbarkeitspro-blemen – sei es von Ausbildungs-oder Arbeitsplätzen als auch vonGeschäften. Die Forscher fandenheraus, dass vor allem Personenmit geringem Einkommen, gerin-ger Bildung und Menschen unter18 bzw. über 65 Jahren überErreichbarkeitsprobleme berich-ten (s. Abb. 1) – eine Altersgrup-pe, die in ländlichen Räumensehr stark vertreten ist. Denstärksten Einfluss auf die Erreich-barkeit von Einkaufsmöglichkei-ten übt die Pkw-Verfügbarkeitaus. Dies betrifft wieder vor allemdie sozial benachteiligten Haus-halte: Während weniger als 10 %der nicht benachteiligten Haus-halte ohne Pkw leben, gilt diesfür fast ein Drittel der am stärks-ten benachteiligten Haushalte.Besonders betroffen sind Men-schen, die in kleineren Gemein-den in ländlichen Regionen le-ben.

Aktionsräume werden klei-ner und die Wege weniger

Die Forscher fanden weiterhinheraus, dass die Nutzung desPkw, des öffentlichen Verkehrsund sogar des Fahrrads abnimmt,je stärker die soziale Benachtei-ligung des Haushalts ist. Beson-ders gravierend sind die Unter-

Page 39: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 37

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

schiede im Fernverkehr. In deram stärksten benachteiligtenGruppe geben fast 70 % der Be-fragten an, in den letzten dreiMonaten keine Reise mit Über-nachtung unternommen zu ha-ben. In der gar nicht benachtei-ligten Gruppe sind dies nur 29 %.

In vielen Gemeinden ländlicherRegionen ist die Einschränkungder Wegehäufigkeit bei sozialbenachteiligten Haushalten stär-ker ausgeprägt als andernorts.Sie legen also weniger Wegeam Tag zurück als sozial stärke-re Gruppen. Über die Wegehäu-figkeit hinaus ist soziale Benach-teiligung auch mit Einschränkun-gen der Aktionsräume verbun-den, d. h. die Länge der zurück-gelegten Wege sowie die insge-samt zurückgelegte Distanz neh-men deutlich ab. Eine einge-schränkte Wegehäufigkeit istzwar nicht notwendigerweise mitsozialer Exklusion gleichzuset-zen, kann aber aufgrund ihrerengen Assoziation mit sozialerBenachteiligung als „Verdachts-fall auf soziale Exklusion“ ange-sehen werden.

Weitere Zusammenhänge zwischen sozialer Exklusion im Kontext von Mobilität undErreichbarkeit legt die BMVBS-Online-Publikation 27/2012 „Mobilität, Erreichbarkeitund soziale Exklusion“ offen. Mit der Versorgung im ländlichen Raum beschäftigtsich auch das Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge (ArD). Als Modellvor-haben der Raumordnung (MORO) setzt das Forschungsprogramm einen Schwer-punkt innerhalb der Initiative ländliche Infrastruktur des BMVBS.

Zusammenfassend konnte in demProjekt festgestellt werden, dass Ver-dachtsfälle sozialer Exklusion insbe-sondere bei geringem Bildungsniveau,geringem Einkommen und älterenMenschen ab 75 Jahren auftreten.Potenziell fehlende gesellschaftlicheTeilhabe findet sich weiterhin bei Mo-bilitätseingeschränkten (betrifft nurFußwege), fehlendem oder einge-schränkten Zugriff auf einen Pkw, beiperipherer Wohnlage und schlechternichtmotorisierter Erreichbarkeit vonGeschäften. In demografisch schrump-fenden Gemeinden im ländlichenRaum ist die Wegehäufigkeit (ohneFußwege) signifikant geringer als inwachsenden oder stagnierenden Ge-meinden. Dort zeigen sich damit über-durchschnittliche Teilhabeprobleme imSinne der Mobilität – sowohl im Ver-gleich zu städtischen als auch im Ver-gleich zu anderen ländlichen Räumen.

Abbildung 1: Mangelhafte Erreichbarkeit und Sozialstruktur

Mangelhafte Erreichbarkeit ... des Arbeits-/Ausbildungsplatzes von Geschäften für den täglichen Bedarf

sehr

nie

drig

nied

rig

mitt

el

hoch

sehr

hoc

h

unte

r 18

18 -

29

30 -

39

40 -

49

50 -

64

65 -

74

75 +

Hau

ptsc

hule

Mitt

lere

Rei

fe

Abi

tur

(Fac

h-)

Hoc

hsch

ule

Ant

eil d

er B

etro

ffene

n

25 %

20 %

15 %

10%

5 %

0 %

ökonomischer Statusdes Haushalts Altersklasse Bildungsabschluss

Wie die dadurch entstehen-den Nachteile, die vor allem inländlichen Regionen eine Her-ausforderung darstellen, mög-licherweise abgefedert werdenkönnen, war Teil der weiterenForschungsarbeiten im Pro-jekt. Als Ergebnis wurdenpraktikable und finanzierbareHandlungsstrategien entwi-ckelt, die die Daseinsvorsorgeund gesellschaftliche Teilhabein dünn besiedelten ländlichenRäumen sicherstellen können.Dafür wurden neben quantitati-ven Datenauswertungen auchqualitative Expertengesprächein drei Fallregionen geführt.Die Ergebnisse können inKürze als BMVBS-Online-Publikation auf der BBSR-Internetseite kostenlos her-untergeladen werden.

Page 40: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum38

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Armut in der UckermarkSusann Jenichen und Wolf von Nordheim* beantworteten Fragen der ASG zu einem Projekt in derUckermark, das sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI),Hannover, bearbeiten.

* Susann Jenichen, [email protected], und Wolf von Nordheim, [email protected], beide Sozialwissenschaftliches Institut der EKD,www.si-ekd.de

1 Marlis Winkler: „Nähe, die beschämt – Armut auf dem Land“: www.ekd.de/si/projekte/abgeschlossen/armut_in_alendlichen_raeumen.html2 Uckermark-Projekt: www.ekd.de/si/projekte/17503.html

Welche Schwerpunkte haben die Studien des SIzum Thema Armut im ländlichen Raum?

Susann Jenichen: Berücksichtigt wird insbeson-dere die Perspektive der Betroffenen auf ihre eige-ne Situation. Wann und wie erleben diese ihre Situ-ation als Armutssituation? In einer Studie von MarlisWinkler1 über Armut in den ländlichen RegionenNiedersachsens wurde deutlich: Menschen, dielangfristig mit finanziellen Einschränkungen leben,werden ausgegrenzt und fühlen sich moralisch ab-gewertet. Das trifft auch auf das Leben auf demLand zu. Die allgemein vorfindbare Vorstellungeiner über Generationen gewachsenen ländlichenGemeinschaft, die helfend und entlastend durchArmutssituationen trägt, konnte in der Studie vonFrau Winkler kaum bestätigt werden. Der Wandeldes Lebens auf dem Land und die wachsende He-terogenität der ländlichen Bevölkerung führen zurVereinzelung. Auch wer schon immer auf der„Scholle“ wohnt, bleibt möglicherweise ohne Netz-werk aus Verwandten und Nachbarn zurück.

In der aktuellen Studie über Armut in der Ucker-mark2 wird darüber hinaus deutlich, wie vielfältigFormen von Armut sein können. Diese Region imNordosten Deutschlands hat durch den Transforma-tionsprozess der Vereinigung rapide und tiefgreifen-de Dynamiken des Wandels erlebt. Es wird eineGruppe bürgerschaftlich engagierter Menschen (inKirchengemeinden, Vereinen, Politik und Nachbar-schaft) sichtbar, die an der Armutsgrenze bzw. inArmut leben. Moralische Ausgrenzung in ihren all-täglichen Beziehungen beschreiben diese Men-schen nicht, verneinen diese sogar. Sie relativierenihre persönliche Armut und möchten lieber etwastun, als zu klagen. Dennoch können sie die tagtägli-chen Belastungen ihrer Situation klar benennen unddarstellen, wie sie gegen diese ankämpfen müssen.

Zitat: „Und das Schlimmste bei dieser ganzen Situation,das sind die Kinder. Die sind ja schon vorher abgestem-pelt. Die Kinder sind doch das Wichtigste eigentlich füruns. Und wenn wir die Kinder so am Existenzminimum,sage ich jetzt mal, rumkrebsen lassen, was soll das wer-den? Kinder sind doch unsere Zukunft. Und dann wird in

der Schule das gebraucht und in der Kinderkrippe dasund im Kindergarten das. Alles muss teuer bezahlt wer-den. Jede Stunde, die länger dauert, kostet so viel. Undmeine Schwiegertochter ist Friseuse. Die verdient ja auchfast nichts. Wie überall. Und dann geht es los: Und damüssen sie hinfahren. Da müssen sie bezahlen. Dasmuss bezahlt werden. ‚Ja‘, sagt sie, ‚ich muss mir über-legen. Ich habe noch ein Kind. Wie denn?‘ Ist nicht ein-fach, aber trotzdem darf man da den Kopf nicht in Sandstecken. Das bringt ja nichts.“ (weiblich, ca. 60 Jahre)

Neben diesen alltäglichen Belastungen, stellen dieengagierten Betroffenen in besonderer Weise he-raus, dass für sie die Armut, die sie als Akteure vonInstitutionen und als Bewohner der Region erleben,eine Belastung eigener Qualität bedeutet.

Zitat: „Wenn man sich den baulichen Zustand der Kir-chen, unserer Gebäude anguckt und der Pfarrhäuseranguckt, dass man weiß, es muss dringend was getanwerden. Es sind ja auch Kulturgüter. Es sind dorfprägen-de Gebäude und so. Und es ist in weiter Ferne, wie mandiese Sachen in einen Zustand versetzen kann, wo mansagen kann, jetzt ist es in Ordnung oder so. Wie langehält die Glocke noch? Wie lange hält der Dachstuhl noch?Wie lange steht die Mauer noch? Das sind dann gleichfinanzielle Größenordnungen, die sind jenseits von Gutund Böse. Also ich meine für Fußballer wäre das einKlacks. Aber für uns sind das eben Summen. Und das istso beklagenswert, dass man gezwungen ist, so zu lebenund irgendwie klarzukommen und man überhaupt nichtsieht, dass sich da irgendwie mal was ändert oder dasses dafür irgendeine Richtlinie oder irgendwelche Mittelgibt, dass das erhalten werden kann. Dass die Kulturgü-ter bestehen können. Dass man da so ohnmächtig dage-gen ist. Dass man das so aufgedrückt kriegt, das ist eseben.“ (weiblich, ca. 60 Jahre)

Ausgrenzungserfahrungen stecken im Gefühl, einepolitisch vernachlässigte Region zu sein. VerloreneTeilhabe wird erlebt, wo z. B. die Mobilität starkeEinschränkungen erfährt, weil weder die Hoffnungauf ein eigenes Auto noch auf ein ausreichendesNetz öffentlicher Verkehrsmittel besteht oder woBehörden zentralisiert und unerreichbar werden.Moralische Zumutungen werden erlebt, wo trotz ei-ner Vollerwerbstätigkeit der Gang zur Behörde zurNotwendigkeit wird.

Page 41: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 39

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Zitat: „Das sind zwar Leistungen, die einem dann per Ge-setz zustehen. Aber man kommt sich dann als Bittsteller undso vor, und das geht einem einfach gegen den Strich, dannletztendlich.“ (weiblich, ca. 50 Jahre)

Die SI-Studien zu Armut lassen Betroffene zu Wortkommen und ermöglichen einen Blick auf deren Le-bensverläufe. Was wird durch diese Herangehens-weise besonders deutlich?

Susann Jenichen: Die Frage nach den Auswirkun-gen gelungener oder gescheiterter gesellschaftlicherTeilhabe kann durch den genauen Blick auf Lebens-verläufe in eigener Qualität beantwortet werden. DieStudien des SI bestätigen, dass Ausmaß und Vielfaltverfestigter Armut Beachtung finden müssen. Bereitsin der Studie von Marlis Winkler wurde dargestellt, wieschnell eine Familie durch den Verlust von Erwerbs-tätigkeit in eine nachhaltige Armutssituation (Verlustdes Wohneigentums, Privatinsolvenz) geraten kann.Diese Beispiele finden sich auch in der aktuellen Stu-die. Neben der Vielfalt an Formen der Armutsbetrof-fenheit wird ebenso eine Vielfalt an Formen verfes-tigter Armut deutlich.

Einerseits zeigt sich verfestigte Armut in jenen Fa-milien, die bereits in der dritten Generation im Leis-tungsbezug leben und denen das Erlernen von Teil-habe zur nahezu unüberwindbaren Hürde wird (z. T.durch funktionalen Analphabetismus der Eltern undSchulunfähigkeit der Kinder). Andererseits zeigt sichverfestigte Armut und das Bemühen, diese zu überwin-den, in Familien, deren ältere Generationen trotz star-ker finanzieller Einschränkungen gesellschaftlicheVerantwortungsträger sind. Deren Kinder verlassen dieRegion, um gegen eine Fortsetzung der familiären Ar-mut in ihrer Generation vorzubeugen. Für die, die blei-ben, ist der Verlust der Familienbeziehungen ebensoein Aspekt ihres Erlebens von Armut.

Zitat: „Ja und schlimm finde ich dann letztendlich auch,dass eben so viele Kinder, beziehungsweise Jugendliche,junge Leute, dann letztendlich gezwungen sind, auszuwan-dern hier, um ihren Lebensunterhalt, ihr Leben zu bestreiten.Und das ist für mich dann auch arm, dass die Jugend, dieKinder, dass die gezwungen sind, weggehen zu müssen undwoanders zu leben. Und dann kommen sie ja im Allgemeinennicht mehr zurück. Haben sich dann woanders ihr Lebenaufgebaut. Ihren Freundeskreis aufgebaut. Haben ihren Ver-dienst und sind hier halt nicht mehr da. Und das ist dannauch so für die Familie oder für das Zusammenleben, wieman das so eigentlich dann gerne hätte, da fehlt dann was.Da ist einfach was abgerissen. Und das tut einem dannschon weh. Und wenn man dann, weiß ich, die Enkelkinderdann nur, was weiß ich, drei Mal im Jahr sieht. Und das ist jaauch verlorene Lebensqualität für unsere Generation dann.“(weiblich, ca. 60 Jahre)

Gibt es Besonderheiten der ostdeutschen Situa-tion, die Sie auch anhand von Zahlen benennenkönnen?

Wolf von Nordheim: Ich möchte vor allem aufden schlagartigen und tiefgreifenden, bis heutenachwirkenden Totalzusammenbruch der Lebens-und Arbeitsverhältnisse ab 1989 hinweisen: Von85 000 Arbeitsplätzen in der Uckermark vor derWende gab es 1995 nur noch 28 000 – 2012 warenes zwar wieder 36 000 (während die Bevölkerungum 25 % abnahm), aber ein großer Teil davon setztQualifikationen voraus, die gerade die zur Wende-zeit ca. 30-Jährigen nicht hatten und auch nichtmehr erwarben.

Von 21 000 Arbeitsplätzen in der Land- und Forst-wirtschaft 1989 gab es 1992 noch 4 000, heutenoch 1 800 (minus 91 %) – besetzt zu einem Drittelmit Nicht-Uckermärkern. Der zweitgrößte Arbeitge-ber, das PetroChemischeKombinat Schwedt be-schäftigte 1989 10 000 Menschen in Vollzeit, imJahr 2012 noch 1 400 (inkl. Teilzeit) – also minus86 %.

Die persönliche Existenzsicherung, zu DDR-Zei-ten durch Vollbeschäftigung normal und garantiert,war ohne Vorbereitung und Übergangszeit zur Auf-gabe eines jeden Einzelnen geworden – und ohnedass wohnortnah ein Arbeitsplatzangebot entstan-den wäre, das den Wegfall der unproduktiven frü-heren Arbeitsplätze kompensiert hätte. Die schnelleAbwanderung derer, die durch Alter, Qualifikationund Eigeninitiative leicht auf dem westdeutschenArbeitsmarkt unterkamen, erschwerte jeden hypo-thetischen wirtschaftlichen Neuanfang (bis heuteFacharbeitermangel!): Die Aktivsten waren gegan-gen. Und dies setzt sich seit über 20 Jahren fort ineiner jährlichen Bildungsabwanderung von 71-85 %der 18-24-Jährigen.

Es blieben die durch Arbeitsplatz, Familien, Eigen-tum und Heimatgefühl Gebundenen, die alt Wer-denden, die gering Qualifizierten und Erwerbslosen.Bei ihnen liegt die Kaufkraft 10 % niedriger als imLand Brandenburg (das 21 % niedriger liegt als Bay-ern), die amtliche Arbeitslosenquote liegt bei 21 %(der Kirchenkreis-Sozialarbeiter schätzt die tatsäch-liche Zahl der Erwerbslosen auf das Doppelte), derSGB II-Bezug bei 22,5 % (davon ca. 27 % Auf-stocker!), die Kinderarmut bei 32 % und die Ju-gendarmut bei 24 % (alle Angaben: wegweiser-kommune.de). Hochgerechnet aus SOEP-Datenbefinden sich mindestens 12 % der Wohnbevöl-kerung im Status der verfestigten Armut.

Page 42: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum40

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Den Kommunen, dem Landkreis und dem Land feh-len die Mittel, um einen 2. Arbeitsmarkt zu etablieren,um den Menschen, die z. T. seit der Wende keine re-guläre Arbeitsstelle mehr hatten, Erfahrungen vonSelbstwirksamkeit, von strukturierten Tagesabläufenund Verantwortung zu ermöglichen – selbst die 1,5 €-Jobs wurden um mehr als ein Drittel gekürzt. So ent-stehen (von keiner Statistik erfasst, aber allen be-kannt) Soziotope der z. T. seit zwei Jahrzehnten ausdem Standard-Lebensentwurf Ausgeschiedenen.

Da seit der Wende die meisten Erwerbskarrierenstark fragmentiert sind, ist mit einer zunehmendenAltersarmut nach Renteneintritt zu rechnen (verwert-bare Zahlen liegen nicht vor), die gesprächsweiseallerorten schon als versteckte Altersarmut zu Tagetritt – gravierend wird dies durch die starke Überalte-rung der Uckermark: Der Anteil der über 65-Jährigenliegt heute bei 30 %, Prognose für 2030: 40 %. Vonden „Selbstheilungskräften des Marktes“ oder derAktivierung der endogenen Potenziale allein ist aufdiesem Hintergrund keine Abwendung der Armuts-bedrohung zu erwarten.

Wie ist die Lage der Männer gekennzeichnet?

Bekannt ist die problematische Entwicklung desGeschlechterverhältnisses. Während Frauen (zu-meist mit Ausbildungen im tertiären Sektor) die Kri-sen-Regionen überproportional häufig verlassen,orientieren sich Männer (immer noch) an traditionel-len Berufen (primärer und sekundärer Sektor). Mitdiesen Qualifikationen können sie in anderen Regio-nen nicht Fuß fassen, finden aber auch vor Ort keineArbeit.

Qualitative Studien (z. B. „Not am Mann“ DEMOS,Berlin 2007, „Leben unter Niveau“ Hummel, Frankfurt2011) weisen aus, dass unter den Rückkehrern miterfolgloser oder unbefriedigender Berufskarriere „imWesten“ die Männer deutlich dominieren; zurück imOsten gliedern sie sich Milieus mit ähnlich negati-ven Erfahrungen (vor Ort oder im Westen) an. Dortbraucht man sich nicht zu rechtfertigen, zu versteckenoder zu schämen – allerdings ist fast ausgeschlossen,dass sie dort eine Anstellung finden, durch die sie ausdem Voll- oder Teilbezug von Hartz IV herauskom-men. Solche Stellen gibt es durchaus (wenn auch be-grenzt) – sie setzen aber Qualifikationen voraus, diegerade diesen Männern fehlen. Und darüber werdensie älter, womit ihre Motivation (oft auch Fähigkeit) zulangfristigen Fortbildungsgängen schwindet – wenndiese ihnen überhaupt (anknüpfend an die bisherigeAusbildung und Berufserfahrung) angeboten würden.Ehe und Familiengründung bleiben für sie zumeist nurein Wunschtraum.

Werden Sie auf der Basis Ihrer ForschungenHandlungsperspektiven empfehlen?

Susann Jenichen: Die Studien des SI sollenPerspektiven aufzeigen. Wo gibt es Potenzia-le, wo Optionen, die ein bewältigendes undgestaltendes Handeln ermöglichen? Aus die-sen Fragen erwachsen Hinweise für bestehen-de Institutionen und Organisationen. Sie öffnenjedoch auch den Blick für neue Formen bürger-schaftlichen Engagements.

In der SI-Studie in der Uckermark wird dieMöglichkeit eines institutionell gestützten Net-zes von Akteuren (Kirchengemeinden, Pfarr-sprengel, diakonische Einrichtungen und Gre-mien des Kirchenkreises Uckermark) in einerRegion systematisch betrachtet. Die Frage ist,wie regional orientiertes bürgerschaftliches En-gagement gegen Armut und für gerechte Teil-habe gestärkt und erschlossen werden kann.Dabei kann sowohl an die flächendeckendeStruktur der kirchgemeindlichen Arbeit als auchan Erfahrungen bestehender Netzwerkinitia-tiven wie „Zuhause in Brandenburg e.V.“ fürRückkehrer in die Uckermark oder das „Netz-werk Gesunde Kinder e.V.“ angeknüpft werden.

Wolf von Nordheim: In der Uckermark (undanderswo) liegen die unbezahlten Rechnungender Wiedervereinigung auf dem Tisch. Intensi-ve staatliche Maßnahmen wie Etablierung ei-nes 2. Arbeitsmarktes inklusive Sozialtrainingund unbürokratische Rentenaufstockungenscheinen mir unumgänglich.

Bis dahin:

Die Einsicht in die Unausweichlichkeitder Situation (weil wir nicht mehr wegziehen,weil wir keine guten Jobs mehr kriegen) kannzugleich der Zwang und die Chance sein, umStrategien der gemeinschaftlichen „Erträg-lichmachung“ des Lebens mit wenig Geld zuentwickeln – dies unter gleichzeitiger Einfor-derung von Unterstützung durch Staat unddurch Bessergestellte im Landkreis wie durchWeggezogene. Heraustreten aus den indivi-duellen (stillen oder verbitterten) Leidens-geschichten – so sehr mir die enormen An-passungsleistungen an Kärglichkeit auchAchtung abnötigen! – und in Würde solidarischleben! Dass Armut mehrheitlich NICHT alseigenes Versagen gewertet wird, ist dafür dieChance.

Page 43: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 41

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Forum Kinderarmut in UslarSeit mehr als fünf Jahren setzt sich das Uslarer Forum Kinderarmut für gerechtere Teilhabechancenvon sozial und finanziell benachteiligten Kindern sowie Familien im Raum Uslar ein. Gegründet aufInitiative des Diakonischen Werkes des Ev.-luth. Kirchenkreises Leine-Solling entstand so einePlattform, in der eine Vielzahl von Akteuren gemeinsam an Ideen, Konzepten und konkreten Hilfenfür bessere Zukunftschancen von Kindern vor Ort arbeitet. Interdisziplinäre Kooperationen und dieFörderung eines breiten sozialpolitischen Bürgerengagements stehen dabei im Vordergrund – seit2010 auch unter Verwendung der Beteiligungsmethode Community Organizing.

Knapp 15 000 Einwohner lebenin der südniedersächsischen Klein-stadt Uslar im Landkreis Northeim,ca. 14 % der Kinder und Jugend-lichen im Alter von 0-15 Jahren inFamilien, die mit Leistungen nachSGB II (Hartz IV) auskommenmüssen. Vor diesem Hintergrundentstand 2007 das Forum Kinder-armut mit dem Ziel, Missständein den Lebensverhältnissen be-nachteiligter Kinder vor Ort auf-zuzeigen und Lösungsansätzezu finden. Als gemeinwesendia-konischer Handlungsansatz wirddas Forum von Kirche und Dia-konie gemeinsam getragen. InKooperation mit sozialräumlichenAkteuren sollen so Verantwortungübernommen sowie kircheneige-ne und gesellschaftliche Res-sourcen im Gemeinwesen akti-viert werden.

Breites Akteursspektrum

Von Beginn an wurde versucht,möglichst viele Personen ausverschiedenen gesellschaftlichenGruppen und Institutionen in dieArbeit des Forums einzubezie-hen. Insgesamt beteiligten sichca. 25 sozial engagierte Bürger,Vertreter aus der kommunalenPolitik und Verwaltung sowie Ak-

teure aus den ArbeitsbereichenJugendhilfe, Gesundheit, Bildungund Beratung. Innerhalb desForums wurden in drei Arbeits-gruppen – Bildung, Freizeit undFrauen- & Familienberatung –konkrete Hilfsprojekte geplantund umgesetzt. So kamen u. a.Schülerbeihilfen für alle bedürfti-gen Kinder und Jugendlichen anUslarer Schulen, eine Hausauf-gabenbetreuung und ein gemein-sames Mittagessen an der Solling-schule Uslar und an der Grund-schule Schoningen, Starterpaketefür Erstklässler in Höhe von 100 €,der Kochkurs „Kinder kochenfür ihre Eltern“ und die Initiative„Beitragsfreie Mitgliedschaft inUslarer Vereinen“ zustande.

Beteiligung Betroffener

Trotz des sehr breiten Akteurs-spektrums waren zunächst haupt-sächlich Menschen im ForumKinderarmut engagiert, die selbstnicht von Armut betroffen sind.Nach einem selbstkritischen Re-flexionsprozess wurde ein Pers-pektivwechsel beschlossen: Be-troffene sollten künftig beteiligtwerden, da sie als „Experten“ ih-rer eigenen Lebenssituation Pro-bleme und Handlungsdruck am

Besten identifizieren können. Die-se Zielgruppe findet gewöhnlichim sozialpolitischen Raum keinGehör und ist selten in die traditi-onell geprägte Kirchengemeinde-arbeit mit einbezogen. Als Metho-de für die Betroffenenbeteiligungwurde das Community Organi-zing gewählt. Dieses Prinzip er-möglicht es, besonders die Be-dürfnisse und Fähigkeiten vonMenschen mit Armutserfahrungin den Blick zu nehmen. Mit demForum Kinderarmut wird Kircheso zu einem Ort, an dem sichMenschen aus unterschiedlichenLebenswelten begegnen, sichsolidarisch gegen soziale Miss-stände einsetzen und durch dasAushandeln gemeinsamer Zieleeine neue Beziehungskultur ent-wickeln können.

Im November 2010 konnte zu-dem eine Koordinierungsstelle fürdas Projekt „Gemeindeentwick-lung und Armutsbekämpfung imRaum Uslar durch CommunityOrganizing“ für drei Jahre ge-schaffen werden, um den inten-siven Beteiligungsprozess zubegleiten und zu steuern. DieFinanzierung des Projektes setztsich aus Mitteln des DiakonischenWerkes Leine-Solling, Sonder-

Foto

s: F

orum

Kin

dera

rmut

Page 44: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum42

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

1 Weitere Informationen zur Methode Community Organizing unter www.fo-co.info

mitteln der Ev.-luth. LandeskircheHannovers für besondere Projek-te in der Diakonie und Fördergel-dern der Sozial- und Sportstiftungdes Landkreises Northeim zu-sammen.

Die MethodeCommunity Organizing

Community Organizing kommtursprünglich aus den ChicagoerArmenvierteln. Die Bewohnerwurden unter Anleitung dazu be-fähigt und bestärkt, sich zu orga-nisieren und aktiv für ihre eige-nen Interessen einzutreten. Häu-fig angewandt wird das Commu-nity Organizing zur Mitglieder-gewinnung und zum Ausbau deseigenen Einflusses von Gewerk-schaften, die im anglo-amerika-nischen Raum teils eigene Orga-nizing-Institute führen und dortprofessionelle Organizer ausbil-den.

Im Kontext des Forums kannCommunity Organizing verstan-den werden als eine „aktivierendeBeziehungsarbeit zum Aufbauvon Bürgerorganisationen“1 (z. B.in benachteiligten Sozialräumen)mit dem Ziel, Bürger und Bürge-rinnen zusammenzubringen, da-mit diese für ihre eigenen Interes-sen eintreten. Langfristig wird soeine nachhaltige Verbesserungder Lebensbedingungen ange-strebt. Ein Community Organi-zing-Prozess besteht dabei meistaus drei- bis vierphasigen Orga-nisationszirkeln. In einem erstenSchritt werden persönliche Ge-spräche bzw. ein Zuhörprozessmit den Betroffenen geführt, umeinen Einblick in die Lebens-welten der Menschen, ihre Pro-bleme und Wünsche zu erhalten.Auf einer öffentlichen Veranstal-tung werden die Gesprächsergeb-nisse Interessierten vorgestelltund eine Arbeitsgruppe gebildet.Innerhalb dieser werden weitereNachforschungen und Analysen

betrieben, um so Lösungen fürdie identifizierten Probleme zuerarbeiten. Ein letzter Schritt be-fasst sich mit der konkreten Pla-nung und Durchführung von Akti-onen und Projekten. Abweichendzur Bürgerinitiative will ein Com-munity Organizing-Prozess dau-erhafte Bürgerorganisationen undNetzwerke aufbauen.

Umsetzung in Uslar

Auch der Community Organi-zing-Prozess des Forums Kinder-armut begann mit einem erstenoffenen Zuhörprozess. Nacheinem Methodiktraining mit Re-verend Paul Cromwell wurden40 Einzelgespräche im Umfangvon 30-40 Minuten von acht Eh-renamtlichen durchgeführt. DaKinderarmut eine Folge vonElternarmut ist, wurde der Zu-hörprozess speziell mit Elterngeführt, die von Armut betroffensind. Gerade deren Anliegengalt es, mithilfe von CommunityOrganizing zu erfahren und sieeinzuladen, an Problemlösungenmitzuarbeiten. Hierfür haben sichFamilien mit geringem Einkom-men, Alleinerziehende, kinder-reiche Familien und Eltern, die

arbeitsuchend sind, bereit erklärt.

Ihre Reaktionen waren entgegenanfänglicher Bedenken sehr po-sitiv. Vor allem die aktive Einbe-ziehung wurde von den Betroffe-nen als gewinnbringend bewertet.Im anschließenden Vernetzungs-und Kennenlernprozess wurdendie Ergebnisse der Einzelgesprä-che präsentiert und unter Ein-beziehung der befragten Elternverschiedene Bildungs- undFreizeitprojekte gemeinsamumgesetzt. Hierzu zählen bei-spielsweise. Kinoangebote fürKinder und Jugendliche, Back-und Kochtreffen und die Möglich-keit für Kinder, Natur zu erleben.

Beschäftigung mit demBildungs- und Teilhabepaket

Seit Oktober 2011 setzt sich dasForum Kinderarmut mit dem Bil-dungs- und Teilhabepaket derBundesregierung für Kinder, Ju-gendliche und junge Erwachsene(BuT) auseinander. Im LandkreisNortheim nutzen nur knapp 40 %der Anspruchsberechtigten dieLeistungen des BuT (Stand: De-zember 2011). Um die Ursachenfür die geringe Nutzung zu er-gründen und am Abbau von Hin-dernissen mitzuwirken, wurde

Projekt „Kartoffeln pflanzen und ernten“, Sommer 2011

Page 45: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 43

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Kontakt

Melanie Schmidt, Projektkoordina-torin des Forums Kinderarmut imDiakonischen Werk des Ev.-luth.Kirchenkreises Leine-Solling,[email protected],Tel. (05571) 92 41-12

ebenfalls mit der Methode Com-munity Organizing gearbeitet. ImDezember 2011 haben die Enga-gierten des Forums Kinderarmuteine Informationsveranstaltungzum Thema „Das Bildungs- undTeilhabepaket in der Praxis –Chancen, Hindernisse, Perspek-tiven“ organisiert. Im Vorfeld derVeranstaltung wurden ca. 50 Ge-spräche mit Vertretern von Insti-tutionen wie Schulen und Kinder-tagesstätten, Vereinen sowie mitbetroffenen Eltern durchgeführt,um mit diesen über ihre Erfah-rungen mit dem BuT zu spre-chen. Die in den Gesprächenidentifizierten Schwierigkeitenwurden auf der Informations-veranstaltung vorgetragen. Auf-grund eines lokalen Handlungs-bedarfs konzentriert sich dasForum Kinderarmut nun auf denBuT-Zuschuss zur Mittagsver-pflegung an Schulen und Kinder-tagesstätten. Im weiteren Verlaufwurden bundesweit übertragbarePraxisbeispiele recherchiert, umdaraus Vorschläge für die Ver-besserung vor Ort abzuleiten. InAnlehnung an das „HamburgerModell“ wurde das Ziel formu-liert, zunächst allen BuT-berech-tigten Kindern im Raum Uslar/

Bodenfelde elternunabhängigein kostenfreies Mittagessenohne hohen bürokratischenAufwand zu ermöglichen.

Der ermittelte Reformbedarfdes BuT wurde im Oktober 2012zudem im Berliner BundestagMitgliedern des Ausschusses fürArbeit und Soziales vorgetragen.Das Forum Kinderarmut hattediesen Termin als Höhepunkteiner Tagung des VereinsForum Community Organizing(FOCO e. V.) organisiert. Ge-meinsam mit Personen aus an-deren Projekten, in der die Me-thode Community Organizingebenfalls genutzt wird, wurdensowohl die Situation des Land-kreises Northeim als auch dieidentifizierten Knackpunkte desBuTs von Betroffenen selbst ge-schildert. Die Bundestagsabge-ordneten aller Fraktionen warensich am Ende des Gesprächesüber den bestehenden Hand-lungsbedarf einig. Auch auf Sei-ten der Ehrenamtlichen herrsch-te Zufriedenheit mit dem Ge-sprächsverlauf und den Einfluss-möglichkeiten bürgerschaftlichsolidarischen Handelns.

Community Organizingim ländlichen Raum

Die Methode Community Organizingerweist sich gerade für die Initiierungund Etablierung von Partizipations-prozessen im ländlichen Raum, dieein solch sensibles Thema wie Armutbeinhalten, als sehr geeignet. Diemeisten Beteiligungsprozesse setzenein hohes Maß an Eigeninitiative vor-aus, schwierige Lebensumstände undein niedriger sozialer Status führenaber dazu, dass sich Menschen mitArmutserfahrung ein Engagement inEigeninitiative häufig nicht zutrauen.Hinzu kommt, dass Armut im ländli-chen Raum eher unsichtbar ist und,auch aufgrund hoher sozialer Kontrol-le, stark mit Scham und Angst vorDiskriminierung und Stigmatisierungverbunden ist. Community Organizingkann auf diese Ängste eingehen unddazu führen, dass sich Menschenernst genommen und eingeladenfühlen. Dabei müssen jedoch Wegegefunden werden, die eine diskreteBeteiligung ermöglichen. Insbeson-dere zu Beginn ist daher das Zuhören,Aufbauen von Vertrauen und von trag-fähigen Beziehungen unabdingbar.Zudem ermöglicht die Methode dasAufgreifen von Problemen, die bei-spielsweise in der Kommunalpolitiknicht thematisiert werden und derenLösung sonst nicht fokussiert wird.

Community Organizing birgt somitdie Chance, konkrete Probleme vorOrt zu identifizieren und durch sozial-politisches Engagement gemeinsammit Betroffenen wirkungsvoll Einflussauf die Lebensumstände zu neh-men. Marit Schröder und MelanieSchmidt

Besuch im Bundestag 2012

Page 46: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum44

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Vesperkirchen – mehr als ein warmes MittagessenZwischen November und April sind im deutschen Südwesten wieder die „Vesperkirchen“ geöffnet.Sie bieten ihren Besuchern neben einer warmen Mahlzeit – dem Vesper – auch einen Ort für Gesprä-che, Begegnungen und Kultur. Ausgehend von Stuttgart ist die Idee der Vesperkirche mittlerweile inganz Baden-Württemberg zu finden: So auch in Bopfingen, einer Kleinstadt im ländlich geprägtenOstalbkreis.

Ursprünge der Vesperkirche

Gerade in Großstädten ist Armut ein sehr präsen-tes Thema. Die Armutsquote der 15 größten deut-schen Städte liegt bei 19 %, in Stuttgart sind es trotzrelativ hoher Einkommen noch 15 %. Vor diesemHintergrund fand vor 18 Jahren die erste Vesper-kirche in der Stuttgarter Leonhardskirche statt, seit-dem wird sie jährlich für 6-7 Wochen im Winter vonder Leonhardsgemeinde und dem Stuttgarter Diako-niepfarramt organisiert. Morgens wird Kaffee undTee ausgeschenkt, zu Mittag ein warmes Essenfür 1,20 € angeboten, das in der Großküche einesSeniorenstifts täglich frisch zubreitet wird. Wer die-sen Betrag nicht aufbringen kann, zahlt nichts. AmNachmittag gibt es Kaffee und Kuchen sowie einenkostenlosen Vesperbeutel. Die Vesperkirche wirdvon hunderten ehrenamtlichen Helfern getragen,Sach- und Geldspenden spielen eine wichtige Rolle.Hinzu kommt der ehrenamtliche Einsatz von Ärzten,Tierärzten, Apothekern und Friseuren. Des Weiterenist ein kulturelles Rahmenprogramm entstanden, fürGespräche und Beratungen stehen Diakone bereit.An Werktagen schließt die Vesperkirche mit einergemeinsamen Andacht.

Seit Beginn der Stuttgarter Vesperkirche 1995 istdie Besucherzahl stetig gestiegen. Wurden anfangsetwa 200 Essen täglich ausgegeben, nähert sich dieZahl jetzt der 1 000er-Grenze. Dieser starke Zu-wachs liegt vor allem darin begründet, dass die An-zahl der Menschen, die dauerhaft in Armut oder ander Armutsschwelle leben, zugenommen hat. Wervom Existenzminimum leben muss, möchte diesnicht unbedingt der Nachbarschaft zeigen. Häufigbedingt Armut so auch soziale Abschottung undEinsamkeit.

Vesperkirchen landesweit

Die aufgezeigten Entwicklungen sind aber nichtauf großstädtische Regionen beschränkt. Insbeson-dere die „unsichtbare“ Armut ist vielfach in Bezugauf den engen sozialen Kontext dörflicher Struktu-ren thematisiert worden. Dass die Notwendigkeit derVesperkirche – gerade nach Einführung der Agenda

2010 – auch in der Fläche gesehen wird, wird durchdie vielen Nachahmer der vergangenen Jahre deut-lich. Nach dem erfolgreichen Anlaufen der Stutt-garter Vesperkirche entschlossen sich Kirchenge-meinden auf dem Land, das Projekt auch in ihremDekanat zu organisieren. Göppingen, Ulm und an-dere folgten schnell dem Stuttgarter Beispiel, mitt-lerweile gibt es über 25 solcher Projekte in Baden-Württemberg, auch in ländlich geprägten Gebieten.Dass die Idee der Vesperkirche nicht auf die evan-gelische Konfession beschränkt ist, zeigen vieleökumenische Projekte und die Zusammenarbeitmit der Arbeiterwohlfahrt.

Vesperkirche Bopfingen

Bopfingen ist ein solches Beispiel. Unter dem Mot-to „Satt werden an Leib und Seele“ wurde vom 2.-7.Dezember 2012 die 5. Ökumenische Vesperkirchein der Stadtkirche ausgerichtet. Rund 12 000 Ein-wohner zählt das Unterzentrum im ländlichen OstenBaden-Württembergs, strukturell steht die Kleinstadteher schwach dar: Jüngere Menschen ziehen nachdem Abitur weg, Ältere bleiben. Bis in die 70er Jah-re war die Stadt geprägt von Fell- und Lederindus-trie, das Arbeitermilieu ist bis heute relativ groß undohne tiefen kirchlichen Bezug. Laut StatistischemLandesamt waren 2011 12,1 % der Menschen in derRegion Ostwürttemberg armutsgefährdet. Vor die-sem Hintergrund entstand 2008 die Idee einer Ves-perkirche, mit deren Angebot vor allem ältere Men-schen angesprochen werden sollten. Relativ schnellfand sich ein ökumenisches Team von 70 Helfern,im Laufe der Jahre kamen immer mehr auch ausden umliegenden Dörfern dazu. Zu Beginn der1. Vesperkirche kamen etwa 60 Gäste täglich, vielevon ihnen nutzten das Angebot in ihrer Mittagspau-se. Vor allem für ärmere Menschen sei der Besuchanfangs eine Überwindung gewesen, berichtet Pfar-rer Michael Rau: „In einer Großstadt wie Stuttgart istdas Umfeld viel anonymer, hier kennt jeder jeden.Je kleiner das Dorf, desto geringer die Anonymität.“Gerade bei von Armut betroffenen Menschen ausden umliegenden Dörfern musste viel Vertrauens-arbeit geleistet werden, ehe diese das Angebot derVesperkirche annahmen.

Page 47: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

Armut im ländlichen Raum 45

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Mittlerweile sitzen Menschen aus Stadt und Um-land zusammen, Arme und Reiche, Junge und Alte,Alleinstehende und Familien. 2012 wurden 180-200Mahlzeiten täglich ausgegeben, die von einem Par-tyservice aus dem Nachbarort geliefert werden. Wiein Stuttgart auch, deckt der Preis von 1,50 € proMahlzeit die Kosten nicht ab und so gibt jeder, waser kann. Neben einem warmen Essen steht ein Ver-treter der diakonischen Bezirksstelle für seelsorger-liche Betreuung bereit. Die Einrichtung der Vesper-kirche hat zudem auch zu einer regionalen Vernet-zung beigetragen. In den umliegenden Dörfern wardie Konkurrenz zwischen den einzelnen Kirchenrelativ ausgeprägt. Der verhältnismäßig neutralekleinstädtische Standort der Vesperkirche wirkt solcheinem „Kirchturmdenken“ entgegen und bringt dieverschiedensten Menschen aus unterschiedlichenOrten zusammen.

Kein Lückenbüßer der Sozialpolitik

Auch in theologischer Dimension leistet die Vesper-kirche mehr als Versorgung: Sie versichert den Men-schen seiner Würde. Ob man als Helfer oder als zuVersorgender kommt, mag an individueller Tüchtigkeitliegen, kann aber auch nur Zufall sein. In der Vesper-kirche soll das nicht abgewogen, sondern Diakonie aufAugenhöhe geleistet werden. Gerade in Zeiten, in de-nen Armut vielfach als Folge von Fehlverhalten darge-stellt und ebenso medial inszeniert wird, gilt es, genauhinzusehen und Hartherzigkeit sowie achselzuckendes„Selbst Schuld!“ zu hinterfragen. Vesperkirche verstehtsich nicht als Lückenbüßer der Sozialpolitik oder bes-sere Alternative, sondern ganz explizit als Mahnung andie Gesellschaft. Dabei muss sie immer in ein Netz derHilfe eingebettet sein, von der Tafel über Suchthilfe biszu Asylen für Obdachlose. Marit Schröder

Foto

: M. R

au

Vesperkirche in Bopfingen

Page 48: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Aus der Forschung46

Ausstiege aus dem ökologischen Landbau: Umfang – Gründe – HandlungsoptionenStudie des Thünen-Instituts, der Universität Kassel und weiterer Partner. Autoren: Heike Kuhnert,Gesine Behrens, Ulrich Hamm, Henriette Müller, Hiltrud Nieberg, Jürn Sanders und Renate Strohm,Braunschweig, Hamburg und Witzenhausen, Februar 2013

Der Biomarkt boomt und im Zeitraum von 2003 bis 2010 stellten 7 500 konventionelle Betriebe auf ökolo-gische Erzeugung um. Gleichzeitig stiegen jedoch fast 3 000 Landwirte wieder aus. Ein kleinerer Teil derÖkobetriebe gab die Landwirtschaft ganz auf, der größere kehrte zur konventionellen Wirtschaftsweise zurück.Die Motive der Rückumsteller beruhen sowohl auf individuellen innerbetrieblichen, familiären und persönlichenVoraussetzungen, als auch auf den externen Rahmenbedingungen. Rückumstellungen lassen sich nicht völligvermeiden. Die Studie zeigt aber auch, dass eine verbesserte Umstellungsberatung, Bürokratieabbau und einekonstante und stimmigere Förderpolitik die Zahl der Rückumsteller verringern würde.

Abrufbar unter www.ti.bund.de/de/startseite/institute/bw/aktuelles-service.html

Was kostet die Erzeugung von Milch?! Berechnung der Milcherzeugungskosten inDeutschland in den Jahren 2002 bis 2012

Karin Jürgens, Onno Poppinga und Michael Wohlgemut, Gleichen, Januar 2013

Seit Jahren fordern Milchbauern angemessene Erzeugerpreise für Milch. Hierzu müssen sie jedoch ihre –regional unterschiedlichen – Produktionskosten kennen. Die Berechnungen auf Basis von Daten des Infor-mationsNetzes Landwirtschaftlicher Buchführungen der EU (INLB) und Tariflöhnen ergeben für den Oktober2012 Produktionskosten in Deutschland von 43 bis 51 ct/kg Milch. Künftig sollen die Zahlen vierteljährlichaktualisiert werden. Grundlage des Berichts ist eine Methode zur Berechnung der aktuellen Produktionskostender Milcherzeugung, die im Auftrag von MEG Milch Board w.V. und European Milk Board erstellt wurde.

Abrufbar unter www.landforscher.de/BAL/forschung/

Einstellungsorientierte Akzeptanzanalyse zur Elektromobilität im FahrradverkehrClaudia L. Preißner, Herbert Kemming, Dirk Wittowsky unter Mitarbeit von Simon Bülow und AlexanderStark, Dortmund, Februar 2013

Bei der Entwicklung der Elektromobilität konzentriert sich das Forschungsinteresse gegenwärtig hauptsächlichauf die Weiterentwicklung von E-Pkw. Steigende Verkaufszahlen bei Pedelecs und E-Bikes weisen jedoch aufeinen möglichen Boom hin. Das Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) hat im Rahmen ei-nes Forschungsprojekts das große Potenzial dieser Verkehrsmittel für eine nachhaltige Stadt- und Regional-entwicklung ermittelt. Neben Praxisansätzen haben die Autoren und Autorinnen auch Forschungslücken her-ausgearbeitet, die der größeren Verbreitung von elektrifizierten Fahrrädern noch entgegenstehen.

Abrufbar unter www.ils-forschung.de

Art und Ausmaß der Inanspruchnahme landwirtschaftlicher Flächen für außer-landwirtschaftliche Zwecke und Ausgleichsmaßnahmen

Andreas Tietz, Manfred Bathke und Bernhard Osterburg, Johann Heinrich von Thünen-Institut,Braunschweig, Juli 2012

Die Autoren geben einen Überblick über die Berücksichtigung landwirtschaftlicher Belange im Planungs- undNaturschutzrecht und machen Vorschläge zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme im Rahmen derEingriffsregelung. Sie stellen jedoch fest, dass aufgrund einer unsicheren Datenlage über die tatsächlicheBeanspruchung von landwirtschaftlichen Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke einerseits und natur-schutzrechtliche Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen andererseits keine verlässlichen Aussagen getroffenwerden können.

Abrufbar unter www.ti.bund.de/de/startseite/thuenen-publikationen/thuenen-lit-recherche.html

Page 49: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Termin

Wegebautagung am 18. April 2013 in BerlinWege der Zukunft – Perspektiven des ländlichen Wegebaus

Die ländlichen Wege ergänzen das Netz der ländlichen Straßen und dienen so der inneren Verkehrserschlie-ßung des ländlichen Raumes. Diskutiert werden sollen die verschiedenen Anforderungen an ein ländlichesWegenetz der Zukunft, wobei auch die Grenzen und Möglichkeiten der kommunalen Entscheidungssituationenaufgezeigt werden sollen. Angesichts knapper öffentlicher Haushaltskassen sind Konzepte erforderlich, die Be-darf und Finanzierbarkeit des Baus und der Unterhaltung des Netzes in Einklang bringen. Vor dem Hintergrundgeänderter Anforderungen werden in den nächsten Monaten neue Richtlinien zum ländlichen Wegebau (RLW)vorgeschlagen. Diesbezüglich informiert die Tagung über den Stand der Diskussion und erste Ergebnisse.Darüber hinaus werden Best-practice-Beispiele aus den Regionen das Spektrum der Möglichkeiten aufzeigen.

Der Deutsche Bauernverband, die DWA (Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V.)und die ARGELandentwicklung veranstalten die Tagung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Städte- undGemeindebund, dem Deutschen Landkreistag und dem Bundesverband der Teilnehmergemeinschaften. Pro-gramm und Anmeldung sind zu finden unter:

www.zalf.de/htmlsites/DLKG/Documents/neues/Programm%20Wegbautagung.pdf

Maria Helwig verstorbenAm 11. Februar 2013 verstarb unsere langjährige Mitarbeiterin Maria Helwig im Alter von 70 Jahren. Sie war

von 1958 bis 1966 und nach einer Familienphase von 1980 bis 2004 als Schreibkraft in der ASG-Geschäftsstelleangestellt und kaum aus dem Tagungsbüro bei ASG-Tagungen wegzudenken. Wir haben ihr freundliches Wesen,ihre gewissenhafte Arbeitsweise und ihre Hilfsbereitschaft sehr geschätzt und werden sie nicht vergessen.

Personalien

Die ASG gratuliert …… Eckhart Stüwe zum 65. Geburtstag

Der Geschäftsführer des Spitzenverbandes der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV-SpV) undKuratoriumsmitglied der ASG beging am 17. Februar 2013 seinen Geburtstag.

… Almke Gerken zum 75. Geburtstag

Die langjährige Vorsitzende des LandFrauenverbandes Weser-Ems und Vizepräsidentin des DeutschenLandFrauenverbandes hat sich 13 Jahre lang als Vorstandsmitglied, von 1993 bis 1998 als stellv. Vorsitzende,in der ASG verantwortlich engagiert und feierte am 1. März 2013 ihren Geburtstag.

… Dr. Wilhelm Peters zum 70. Geburtstag

Der langjährige Leiter der Abteilung Agrarstruktur im Landwirtschaftsministerium von Mecklenburg-Vorpom-mern war von 1998 bis 204 Mitglied des ASG-Kuratoriums und beging seinen Geburtstag am 24. Februar 2013.

Die ASG wünscht den drei Jubilaren alles Gute und besonders eine gute Gesundheit für die Zukunft.

47

Page 50: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

48 Für Sie gelesen

| ASG | Ländlicher Raum | 01/2013 |

Welchen Netzumbau erfordert die Energiewende?mit Netzentwicklungsplan 2012

Lorenz Jarass, Gustav M. Obermair. MV-Verlag, Mün-ster 2012, 275 S., ISBN 978-3-86991-641-5, 21,00 €.

Niemand bezweifelt die Notwendigkeit, dieÜbertragungsnetze für Strom in Deutschland aus-zubauen. Wo neue Stromtrassen gebaut werdensollen und welche Technik dafür eingesetzt wer-den soll, ist jedoch stark umstritten. Die Profes-soren Lorenz Jarass (Wirtschaft) und Gustav M.Obermair (Physik) unterziehen den Netzentwick-lungsplan einer gründlichen Revision und zeigennachvollziehbar, weshalb ein Leitungsneubau von

6 600 km überdimensioniert und mit Kosten von20 Mrd. € volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigtist. Sie stellen, u. a. am Beispiel der Südthürin-genleitung, Maßnahmen vor, die einen technischeffizienten und kostengünstigeren Netzumbau alsden geplanten ermöglichen würden. Als eine Ur-sache für die zunehmende Instabilität der Netze,die den Neubau von Höchstspannungsleitungenzu erfordern scheint, werden die unnötige Ein-speisung aus konventionellen Kraftwerken undein übermäßiger internationaler Stromhandelgenannt. ba

Aus dem Leben eines Landtechnikers

Etienne Gentil. DLG-Verlag, Frankfurt am Main,2011, 223 S., ISBN 978-3-7690-0802-9, 16,90 €.

Landmaschinen und Traktoren sind in dermodernen Landwirtschaft unverzichtbare Hel-fer. Falls sich da einmal ein Landwirt „nichtganz sicher sein sollte“, schlägt die Stunde deslandtechnischen Beraters. Ein solcher sach-kundiger Berater ist Etienne Gentil. Schon alsKind kommt Gentil immer wieder mit den frü-hen Anfängen der Landtechnik in Berührung.Er beginnt eine Lehre als Landmaschinen-

mechaniker und ist in seinem späteren Berufs-leben für Weltunternehmen wie New Holland,IHC, Case und CNH tätig. Auf 45 Jahre in derLandtechnikindustrie kann er heute zurückbli-cken, 45 Jahre, in denen sich das Berufsbilddes Landmaschinenmechanikers und auch derLandtechnik selbst gründlich gewandelt hat.Über seine reichen Erfahrungen und Erlebnis-se mit Menschen und Maschinen berichtet er indiesem Buch. Eine spannende und nicht alltäg-liche Lebensgeschichte, die sich rund um dieEntwicklung der Landmaschinen dreht. ma

Bewusst andersErfahrungen eines Öko-Pioniers

Georg Schweisfurth. Deutscher TaschenbuchVerlag, München, 2012, 174 S., ISBN 978-3-423-24951-5, 14,90 €.

Georg Schweisfurth erzählt von seinen Lebens-erfahrungen als einem der ersten Öko-Pionieredes Landes. Er schildert jedoch nicht nur seineneigenen Werdegang, sondern gibt auch Einblickin den ökologischen Richtungswechsel seiner Fa-milie, die ihr Geld einst mit Lebensmitteln ausMassentierhaltung verdiente. Vater Karl LudwigSchweisfurth folgt schließlich dem wachsendenUnbehagen in der Familie hinsichtlich der bisheri-

gen Produktionsweise, verkauft „Herta“, den größ-ten fleischverarbeitenden Konzern Europas, undgründet stattdessen die Herrmannsdorfer Land-werkstätten, die vom Leitbild des achtsamen Um-gangs mit allem Leben und Lebensnotwendigengetragen werden. Auch Georg Schweisfurth leitetdas Motto, als Mensch Teil der Natur zu sein unddie eigenen Lebensgrundlagen schützen zu müs-sen. Der Unternehmer berichtet von eigenen Ar-beiten und Projekten, aber auch von zahlreichenanderen Menschen, die sich für Nachhaltigkeitengagieren und zeigen, was jeder Einzelne dazubeitragen kann. za

Page 51: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch

IMPRESSUM

ISSN 0179-7603

HerausgeberAgrarsoziale Gesellschaft e.V. (ASG)Postfach 114437001 GöttingenTel. (0551) 4 97 09-0Fax (0551) 4 97 [email protected]

GeschäftsführungDipl.-Ing. agr. Michael Busch (komm.)Dipl.-Ing. agr. Ines Fahning (komm.)

RedaktionDipl.-Ing. agr. Ines FahningTel. (0551) 4 97 [email protected]

Namentlich oder mit Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinungdes Autors/der Autorin wieder. Sie ist nicht in jedem Fall identisch mit derMeinung des Herausgebers oder der Redaktion.

LayoutMirko Wende, www.mirkomedia.de

DruckMKL Druck GmbH & Co. KG, Ostbevern/Westfalen

Nachdruck und sonstige Verbreitung(auch auszugsweise) nur mit Genehmigungder Agrarsozialen Gesellschaft e.V.

Ländlicher Raumerscheint viermal im Jahr (jeweils zum Ende eines Quartals).Bei der dritten Ausgabe handelt es sich um ein themenorientiertesSchwerpunktheft mit doppeltem Umfang.

Die Online-Ausgaben sind jeweils zehn Monate nach Drucklegungauf der ASG-Website als pdf-Datei verfügbar.

PreiseDer Preis für ein Jahresabonnement „Ländlicher Raum” beträgt 36,- €plus Porto. Für Mitglieder der ASG ist das Abonnement im Mitgliedsbeitrag(90,- €, Studenten 36,- €) enthalten.

KontoFür Spenden und sonstige Förderbeiträge an die ASG:Sparkasse GöttingenKonto-Nr. 1 087 006BLZ 260 500 01

Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Recyclingpapier.

Die

Agr

arso

zial

e G

esel

lsch

aft e

.V. (

ASG

) ist

ein

gem

einn

ützi

ger V

erei

n, d

er s

ich

für d

ie V

erbe

sser

ung

der

L

eben

sver

hältn

isse

in d

er L

andw

irtsc

haft

und

in d

en lä

ndlic

hen

Räu

men

ein

setz

t.

In

ihre

r Arb

eit v

erkn

üpft

die

ASG

wis

sens

chaf

tlich

e Fo

rsch

ung,

Gut

acht

ertä

tigke

it, B

ildun

g, P

oliti

k un

d Ö

ffent

lichk

eits

arbe

it.

Z

u de

n be

arbe

itete

n Th

emen

feld

ern

gehö

ren

Agr

ar-,

Sozi

al- u

nd U

mw

eltp

oliti

k, D

orf-

und

Reg

iona

lent

wic

klun

g, N

achh

altig

keit

u

nd Ö

kolo

gie,

Str

uktu

rwan

del i

n La

ndw

irtsc

haft

und

länd

liche

n R

äum

en s

owie

Men

sch,

Ges

ells

chaf

t und

Um

wel

t.

Page 52: A G R A R S O Z I A L E G E S E L L S C H A F T E. V. · c) Ein geschwätzig’ Weib in Luther’s „lieber Stadt“ Johanna, die Magd, erzählt kurzweilig über Pfaffen, Mönch