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Digestivi A tavola! 6 / November 2009 theorie und praxis „Ergebnisorientiertes“ Trinken? Von Gourmets und Gourmands bei alkoholischen Getränken O tempora, o mores! War früher noch der Genuss im Mittelpunkt, so hö- ren wir heute von abstoßenden Sauf- gelagen, gern werden in den Medien Jugendliche und das sogenannte „Ko- masaufen“ in einem Atemzug genannt. All dies mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger. Aber genau genommen war früher kaum etwas anders: Ob Ernest Hemingway oder die anderen Besucher der berühmten Harry‘s Bar in Venezia, oder auch in der Eckkneipe irgendwo im Ruhrpott, sie alle hätten bei einer heu- tigen Verkehrskontrolle ihren Führer- schein abgeben müssen. Wie steht es mit Trinkgewohn- heiten und den kleinen Unterschieden zwischen Italien und Deutschland? Beide Länder sind nach den Kategorien der Forschung sogenannte „permissiv- funktionsgestörte“ Gesellschaften, im Klartext: Der Genuss von Alkohol ist nicht nur erlaubt, sondern unter Sucht- aspekten auch bedenklich hoch. Kein Wunder, dass beide Staaten mit Kam- pagnen versuchen, die Verbraucher zu einem verantwortungsbewussten Um- gang mit Alkohol zu bewegen und an- dererseits - etwa im Straßenverkehr - rigoros durchgreifen. Soweit die Theorie. Dennoch: So- wohl mit Aperitivo als auch mit Diges- tivo kann man vorbildlich leben - be- schauen wir den Genuss also auch aus einer anderen Perspektive, die Stefano Misischia erläutert: „In der Praxis gibt es zwei grobe Arten von Verbrauchern: Der moderate, bewusste Genießer auf der einen Seite, der in der Regel aus einem mittleren bis höheren Bildungs- kreis kommt und dessen Konsum dem Wohlbefinden dient. Er führt ein gere- geltes Leben und neigt daher nicht zu Extremen. Er sieht in Wein, Vermouth und Destillaten kulturelle Zeugnisse, die er bewusst und sparsam verkostet, ohne dabei auf die alkoholische Wir- kung zu setzen, sondern - im Gegenteil - niemals zu weit geht. Auf der anderen Seite steht eine Risikogruppe: Hier be- ginnt der Alkoholgenuss häufig schon in frühen Jahren - viel zu früh, als dass hier der Geschmack im Vorder- grund stehen könnte. Also geht es um Gruppenzugehörigkeit oder um eine möglichst intensive Wirkung. Dieses Konsumverhalten gerät schnell außer Kontrolle.“ Sowohl in Italien als auch in Deutschland. Und wo sind die Unter- schiede? „Mehr als das Verhalten sind es die Gelegenheiten, die den Unterschied machen: Während in Deutschland je- derzeit ein Wein getrunken werden kann, gehört er in Italien traditionell zum Mittag- oder Abendessen. Dann haben wir den Brauch des Aperiti- vo, der ja aus Italien importiert wur- de. Auf der Halbinsel wird hierfür in der Regel etwas Leichteres getrunken, Der 47-jährige Stefano Misischia gilt als Verfechter der italienischen Qualität ohne Kompromisse - und Qualität sollte seiner Meinung nach auch beim Genuss von Alko- hol im Mittelpunkt stehen. 14 Teoria e atic a AT_2009_06_v36.indd 14 18.10.2009 15:46:50

A Tavola - Trinken wir richtig

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theorie und praxis

„Ergebnisorientiertes“ Trinken?Von Gourmets und Gourmands bei alkoholischen Getränken

O tempora, o mores! War früher noch der Genuss im Mittelpunkt, so hö-

ren wir heute von abstoßenden Sauf-gelagen, gern werden in den Medien Jugendliche und das sogenannte „Ko-masaufen“ in einem Atemzug genannt. All dies mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger. Aber genau genommen war früher kaum etwas anders: Ob Ernest Hemingway oder die anderen Besucher der berühmten Harry‘s Bar in Venezia, oder auch in der Eckkneipe irgendwo im Ruhrpott, sie alle hätten bei einer heu-tigen Verkehrskontrolle ihren Führer-schein abgeben müssen.

Wie steht es mit Trinkgewohn-heiten und den kleinen Unterschieden zwischen Italien und Deutschland? Beide Länder sind nach den Kategorien der Forschung sogenannte „permissiv-funktionsgestörte“ Gesellschaften, im Klartext: Der Genuss von Alkohol ist nicht nur erlaubt, sondern unter Sucht-aspekten auch bedenklich hoch. Kein Wunder, dass beide Staaten mit Kam-

pagnen versuchen, die Verbraucher zu einem verantwortungsbewussten Um-gang mit Alkohol zu bewegen und an-dererseits - etwa im Straßenverkehr - rigoros durchgreifen.

Soweit die Theorie. Dennoch: So-wohl mit Aperitivo als auch mit Diges-tivo kann man vorbildlich leben - be-schauen wir den Genuss also auch aus einer anderen Perspektive, die Stefano Misischia erläutert: „In der Praxis gibt es zwei grobe Arten von Verbrauchern: Der moderate, bewusste Genießer auf der einen Seite, der in der Regel aus einem mittleren bis höheren Bildungs-kreis kommt und dessen Konsum dem Wohlbefinden dient. Er führt ein gere-geltes Leben und neigt daher nicht zu Extremen. Er sieht in Wein, Vermouth und Destillaten kulturelle Zeugnisse, die er bewusst und sparsam verkostet, ohne dabei auf die alkoholische Wir-kung zu setzen, sondern - im Gegenteil - niemals zu weit geht. Auf der anderen Seite steht eine Risikogruppe: Hier be-

ginnt der Alkoholgenuss häufig schon in frühen Jahren - viel zu früh, als dass hier der Geschmack im Vorder-grund stehen könnte. Also geht es um Gruppenzugehörigkeit oder um eine möglichst intensive Wirkung. Dieses Konsumverhalten gerät schnell außer Kontrolle.“

Sowohl in Italien als auch in Deutschland. Und wo sind die Unter-schiede?

„Mehr als das Verhalten sind es die Gelegenheiten, die den Unterschied machen: Während in Deutschland je-derzeit ein Wein getrunken werden kann, gehört er in Italien traditionell zum Mittag- oder Abendessen. Dann haben wir den Brauch des Aperiti-vo, der ja aus Italien importiert wur-de. Auf der Halbinsel wird hierfür in der Regel etwas Leichteres getrunken,

Der 47-jährige Stefano Misischia gilt als Verfechter der italienischen Qualität ohne Kompromisse - und Qualität sollte seiner Meinung nach auch beim Genuss von Alko-hol im Mittelpunkt stehen.

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etwa ein Prosecco oder ein „Spritz“, also ein mit Wasser verdünnter Wein, der besonders im Veneto eine star-ke Tradition hat. Auch dieser Brauch ist nicht eins zu eins auf Deutschland anwendbar. Kurzum: Was fehlt, ist ein weit verbreitetes Verantwortungsbewusstsein, welches mit dem bewussten Anbieten und Genießen von Lebensmitteln allgemein einhergeht.“

Wie könnte man dieses Bewusstsein erreichen?„Wie so oft liegt die Lösung zwischen dem Anbie-

ter und dem Konsumenten: Jedes Produkt sollte zu-nächst eine Art „Identitätskarte“ haben, die dem Ver-braucher die entscheidenden Informationen über das vermittelt, was er gerade zu sich nimmt. Das Gleiche gilt auch für den Gastronomen, der für die üblicher-weise nicht unermessliche Gewinnmarge auf Getränke zumindest eine Grundorientierung zu dem Produkt mitliefern sollte - dies könnte etwa der Sommelier im Gespräch mit den Gästen am Tisch übernehmen. Ein solcher Service ist allerdings fast nur in der geho-benen Gastronomie anzutreffen, während er in Pizze-rien, Kneipen und ähnlichen Lokalen praktisch nicht existent ist.“

Also bleibt nur das harte Durchgreifen der Staaten?

„Nicht nur. Immerhin scheinen die Kampagnen beider Länder, die auf eine Sensibilisierung für das Problem werben, einen gewissen Erfolg zu erzielen. In beiden Ländern liegt die Promille-Toleranz bei 0,5 für Autofahrer, aber bereits darunter ist in den meisten (Un-)Fällen mit einer Teilschuld zu rechnen. Aber vor allem setzt man auf Prävention, und tatsächlich ist die Zahl der alkoholbedingten Verkehrsopfer in stetigem Rückgang.

Die Kehrseite der Medaille erfahren wieder die Gastronomen, die unter starken Umsatzeinbußen lei-den - und dies in einer Zeit, in der dieser Wirtschafts-zweig ohnehin von der „Krise“ geschüttelt wird. Statt also auf die Politik zu warten, sollten sich Gastro-nomen ihre eigenen Maßnahmen aufbauen - von der Information angefangen über die zielgerichtete und qualifizierte Auswahl der Produkte, die eher auf Qua-lität als auf Menge abzielt, bis hin zu eigenen Initiati-ven, die dem Verbraucher entgegen kommen - und sei es der Service, die Gäste mit einem Fahrerdienst kos-tenlos nach Hause zu bringen. Eigentlich brauchen wir nur das für Italien typische Qualitätsbewusstsein wei-terzugeben und mit etwas Phantasie an unseren Ser-vice zu denken, und schon haben wir im Rahmen un-serer Möglichkeiten einiges getan!“

Auf diese Weise behalten noch heute die Besucher von Harry‘s Bar ihren Führerschein, selbst wenn sie etwas tiefer in die Gläser geschaut haben - was natür-

lich aufgrund der Beschaffenheit Venedigs kein Kunststück ist - hier werden Sie kaum versucht sein, mit dem eigenen Fahrzeug zu fahren, sondern steigen in ein Wassertaxi oder in ein Vaporet-to. Gerade in Venedig wird auf die Zusammenarbeit der Gastro-nomie mit den Wasserverkehrsmitteln viel Wert gelegt - ein altes und gutes Beispiel!

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