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I BILDER UND Z EITEN Samstag, 5. Dezember 1959 ZEITUNG FIJ R DEUT SCHLAND BRASILIA, DIE ZUKÜNFTIGE HAUPTSTADT BRASILIENS. EINE ECKE DES REGIERUNGSPALASTES MIT DER KAPELLE, DIE ZU DEM ß.EBÄUDE GEHÖRT. Fot o: Deu tsche P r esse-Aj:. eptur Abenteuer "Brasilia" VON WILL GROHMANN Es dürfte selten vorkommen, daß eine Re- gierung etwa einhundert Fachleute von an- deren Kontinenten zu einer Besichtigungsfahrt einlädt, deren Urteil zu · ei n em von ihl " - unternommenen Wagnis zu hören, zu dem Bau einer neuen Hauptstadt. I st man erst einmal in Brasilien und lernt dort die führen - den Persönlichkeiten kennen, wird man in- dessen weniger erstaunt sein über diese Großzügigkeit. Die entsch eidenden Regie - rungsvertreter sind in dieser verfassungs- mäßig liberalen Demokratie weniger an Par- lament und Verwaltung gebunden als in Europa. sie können zwar nicht gerade tun, was ihnen beliebt, ab er man forde rt in Fällen wie diesen keine kleinl iche R echenschaft und findet Vernünftiges vernünftig. Natürlich liegt auch hier das Geld nicht aüf der Straße, aber es wird anders als bei uns ausgegeben, beson- ders gern an Schwerpunkten der nationalen Entwicklung. Geht das Geld einmal vorzeitig zu Ende wie etwa beim Bau der neuen Uni- versität in Rio, ist man keineswegs verzwei - felt; man läßt im Rohbau stehen, was fertig ist, und wartet ged uld ig, bis man weite rb auen kann. Es ist Inflation, abe r sie wird in Bra- silien nicht sonderlich tragisch genommen; das Beispiel Frankreich ermutigt, und die Preise sind ziemlich normaL Es gibt Armen- viertel, sie sind aber kaum größer und bekla - genswerter als in vielen europä ischen Staaten . Ein unbegabter Staatschef könnte unter den obwa ltenden Verhältnissen lei cht ein Unglück anrichten, aber Brasilien ist in der glücklich en Lage, gegenwärtig von einem Mann von gro- ßer Intelligenz, Integrität und Aktivität re- giert zu werden. Juscelino Kubitschek, der Prä side nt , i st erste Generation, auch das ist beze ichnend r die Vorurteilslosigkeit der Brasilianer, die je- dem Staatsbürger, unabhängig von sei ner na- tionalen oder rassischen Herkunft, alle Rechte zubilligen. Die Eltern Kubitscheks wander t en aus dem a lten Oesterreich um die Jahr- hundertwende ein, und der Sohn mußte sich das Schulgeld und das Studium selbst ver- dienen; er wur de Arzt in Belo Horizonte, später Gemeinderat und Bürgermeister der Stadt, dann Gouvern e ur des erzreichen Staa- tes Minas Gerais, dessen Haupt stadt Belo Horizonte ist, 1956 schli eßlic h Präsident. Schon in Belo Horizonte hat sich Kubitschek für städtebauliche Fragen interessiert und vor zwanzig Jahren mit dem Arch itek t en Oskar Niemeyer die erste moderne Kirche gebaut, die viel Aufsehen erreg te, in Pampulha, einem etwas außerhalb liegenden Vi ertel. Da - mals waren beide Dreißiger, heute sind sie Fünfziger. Die Freundschaft, die sich damals entwickelte, ist geblieben, un d Ku bitschek hat sich seitdem zunehmend mit Städteplanung, Architektur und den fre i en Künsten b esch äf - tigt. Eines der Resultate ist der Bau Brasilias. Oskar Niemeyer, der f ührend e Baumeister Brasilias, ist trotz seines deutschen Namens "alter Brasilianer"; die Familie Niemeyer kam 1823 a us Wes tfalen. Der Urgroßvater Osk ars war Stadtbaumeister in Rio , der Großvater ebenfalls, und nach ihm ist die herrliche Avenida Ni emeyer in Rio benannt. Oskar Niemeyer hat in Br asilien studiert. Seine Ba u- kunst ist als brasiliar.isch und Ni emeyer isch erken nbar; Gropius nannte ihn, als er in Säo Paulo war, um den Biennale-Preis entgegen- zunehmen, e in en selten en Paradiesvogel, der genauso seine Berechtigung habe wie die große n Architekten Nordamerika s und Eu- ropas. Sir William Holford, London, der die eng- werden kann als ein B ildwerk. Die " Inter- lische Hauptstadt nach dem Kri eg aufgeb aut nation al Asso ciation" hat die Anr egung ge- und die Neuplanung der Stadt Joh a nnesb urg geben, a uch austan d1se e ruhrende in h-at. Er ... o.md -Ca. von der Richtigkeit der inzwischen Wirklich- wird wahrsch einlich gesche'fien. D as eindrucks- keit gewordenen Ge samtanlage Brasilia s ü ber - vollste "D enkma l" aber steht bereits, und zeugen. Ich hatte das Ve rgnügen, mit ihm am zwar zwischen dem P alais de Justice und dem l etzten Tage der Studienfahrt im H elikopter P alais der Exekutive, das Stadtarchiv. Es is das Gesamtareal der neuen Stad t (Durch- ei ne Plastik aus einem Sockel und einem messer 40 km) zu überfliegen, au ch die ent- Schrein, nicht einmal von gewalti gen Dirnen- feruteren Außenbezirke von oben anzusehen sionen, aber von einer echten MonumentaJitä · und mir erklären zu lassen: die Anlage des in den A bmessung en und in seiner nicht zu Stauwerkes und des großen Sees , der in einer überbietende n Einfachheit. Länge von 45 bis 50 km und einer Breite von !'\ km die Stadt im Dreiviertelkreis um- <:Jenen soll. Unternehmu n gen wie diese sind seit zwan- dg Jahren nicht ung ewöhnlich in Brasilien; man trä gt Be rge ab und schüttet das Erdreich in s Mee r, um es zu bebauen. Für die Welt - au sste llung in Rio wurde e in größerer Hügel planiert; als sie vorüber war, wurde vo n jüngeren Architekten ein Wo lkenkratze rv iertel auf dem Ge lände errichtet . Alte Städte wie Bahia werden modern erweitert; niemand h at Bedenken, die Baust ile verschiedener Zeit en aufeinanderpra ll en zu la ssen . Zwar sin d die Br asilianer stolz auf die Reste der a lten por- tugiesisch en Kol onialzei t, auf w ie Ba- hia (eine Ausstellung von Ba hia fand im An- , schluß an die d iesjährige Bi en na le in Säo Paul o statt) oder Ouro-Preto, eine kl eine Univers it ätsstadt aus der zweiten Hälfte des 18. J ahrhunde rts , die 1933 zum Nati ona l den k- mal erk l ärt wurde. Aber der Stolz auf die Vergangenheit verpflich t et die Gegenwart nicht, und die führenden Arch itekten und In- tellektuellen si nd überein stimme nd der Mei- nung, daß sie "zu r Modernität verur te ilt seien", etwa so, wie man in Eu ropa im 19. J ahr - hund ert glaubt e, zur Renai ssance verurteilt zu sein. D as Wort fiel bei e iner der Sitzungen der Kritiker u nd Architekten, di e im Palais de Justice in Brasilia sta ttfanden. Ver antwortlich für die Organisation der Sitzungen z eich nen unter dem Patronat Kubitsc heks die Dach- organ i sat ion des Aufbaus der neu en Haupt- stadt, die " Novac ap", und d as soeben er öff- nete Musee d' Art Mod erne in Rio. Die "I n- ternational Association" (Präsident J. J. Swee- ney, N ew York) aber wollte nicht nur Ga st sein und benützte die Ge l egen hei t zu einem außerordentlichen Ko ngrüber Städte- planung, Städtebau und die Synthese d er Künste. Vertre t er von etwa dreißig Nat ionen nahmen daran teil mit e inem oder zwei Ver - tretern, beispielsweise Aero Saarinen u nd R. Neutra (U. S. A.), B. Zevi und A. Sartoris (Italien), R. Lopez (Frankreich) und Sir Wil- liam Hol ford (England) . Damit wären wir bei Plan und Architektur Brasilias, des " dr itten Meilenste in s in der Ge- schichte Brasiliens". D er erste war nach einem Ausspruch des Erzbischof s von Säo Paulo die Entdeckung des Landes durch die Portugie- sen (1500), der zweite die Unabhängigkeit Br a- siliens vom Mutterland Portugal (1822) unter dem konstitutionellen Kais er Dom Pedro. Der Gedanke, die H auptstadt nach dem Inneren zu verlegen, ist n ich t eine Laune. Das Land, das ungefäh r so groß wie Europa ist (8'/2 Million en qkm) u nd dessen Durchmesser ca. 4300 km beträgt, lebte bisher von der Küste und ihrem H interland, a lso einem 7367 km langen Streifen, desse n Breite wechselt aber mit 500 km eher zu hoch angegeben isi. Das Hinterland ist noch ni cht erschlossen, obwoh l es an Bode nschätzen und Gütern re ich ist. Der Wunsch, die Hauptstadt von der Küste weg - zuverlegen , um von ei n em m ittleren Pun kt aus nach allen Seiten, vor all em nach dem Westen, vorzustoßen und durch ei n Straßen- netz von hier aus das ganze Land zu erschlie - ßen, geht auf den P atriarchen Jose Bonifacio zurück, der bereits 1822 bei der Unabhä n gig- keitserklärung des Kaiserreichs die Verlegu ng vorschlug, und man dachte auch schon an die Provinz Mina s Gerais, an das Hochplateau im Stromgebiet dreier großer Flüsse, wo es Eisen, Gold und Edelsteine gib t. Dort also w ird B ra - silia gebaut, in tausend Meter Höhe, tausend Kilometer Luftlinie nör dlich von Rio au f dem Weg über Belo Horizonte, wo K'u b itschek Bürgermeister war . Die Straße, die noch recht unvollkommen ist und ausgebaut wi rd, ist 1850 Kil ometer lang, di e Eisenbahn geht vor- läufig nur bis Monte Claros , hu nd ert Kilo - meter westlich. · bengenügsam und legen d ie Hälfte ihres Ver- dienstes zurück, um später Land zu erwerben und zu siedeln . Es ist auch schon ei ne groHe Anzahl von einfachen und billigen H äusern gebaut, die man mieten u nd , wenn man will, abzahlen und erwerben kann. B ausparkassen und Ge- nossenschaften gibt es auch hier, ein "Civil ;Servants Social Service" baut' dreiunddreißig ,sechsstöckige Appartementhä user für Bea mte ; und Angestellte; andere Gesellschaften und ·Banken, halbstaatliche u nd private bra - . sillanisehe u nd ausländische, bauen 'wohn - blocks für hohe und bescheidenere Ansprüche. Ei ne Höhe von sechs Stock werken ist vo rge- schrieben, höher darf nicht gebaut werden. Doch es gibt Viertel mit dreistöckfgen H äu - sern u nd wieder a nd ere mit Flachbauten und Nummer 282 Einf amilienhäusern. Die Ha uptstadt ist für fünf- bis sechshunderttausend E inwohner ge - plant, wenn dieser Rahmen überschritten w ird , sollen Nachbarschaftsstädte die Zu- zi ehenden aufnehmen. Die Finanzierung ist nicht so leicht zu durchschauen . Jedenfalls hat der S taat das Terrain des neuen Reg ierungsdistri kts billig e rworben und kann es mit erheblichem Auf- schlag an die Bauwirtschaft weiterverkaufen. Wieviel ausländisches Kapital dahintersteckt, w erden nur wenige wissen, indirekt ist es be - stimmt sehr viel. Aber es wird sich verzinsen denn die 500 000 Bewohner werden kaum den Armen gehören und in der Lage sein, für Wohnung und Leben etwas zu bezahlen. Man macht sich im Ausland mehr Sorgen um Fi - nanzierung und Ge lingen als in Brasilien selbst, dort ist man optimistisch und vertraut mit Recht auf die zunehmende Industrialisie - rung und die reichen Bodenschätze; nach deren Erschließung werden eine Festigung der Va - luta und eine Steigerung des Lebensstandards erwartet . Vielleicht wird man auch die Wohl- habenden härter heranziehen, es · gibt einen immensen pr ivaten Reichtum, der gelegentlich w enn auch noch nicht im Umfang, be i St iftungen für Museen Univer - si t äten und Theater zutage tritt. ' Der von Costa entworfene G rundplan be - steht aus zw ei H auptachsen, die sich kreuz- förmig schneiden, die Horiz onta le ist dem Ge- lände entsprechend nach u nten gebogen. Die Verbindung der Eck en ergibt ein gleichseiti - ges Dreieck. An der Längsachse liegen die öffentlichen Gebäude , die Regierung und Ver waltu ng, das Kulturzentrum und der Sport, an der Kreu - zung der Achsen die Bank, die G eschäfts - häuser und die Läden. An dieser Stelle lau - fen die beiden Achsen auf verschiedenen Höh en, um Kreuzungen und Stauungen zu vermeiden, und auf der unteren Plattform liegt das verkehrsfreie Theater- und Kino- z entrum. Der Schnellverkehr läuft noch eine Etage tiefer. Das Hauptverkehrssystem ist kreuzungsfrei; nur für den Lastwagenverkehr der nach einem eigenen System abläuft und die Achsen nicht schneidet, gibt es Kreuzun- gen. Der Fu ßgängerverkehr ist gefahrenfrei , aber nicht völlig getrennt von dem lokalen ( nicht dem schnellen ) Wagenverkehr, da das Auto unerläßlich und für die Verbindung der einzelnen B ezirke nötig ist. An der gebogenen Querachse liegen die Wohnviertel, die Superblocks, von denen je vier eine E inheit mit Kirche, G rund - und Oberschulen, Kaufläden, Versorgungslagern usw. bilden. Sie sind· umgeben von breiten Alleen und Grünflächen und durchzogen von F -, Fahr - und Zufuhrwegen, die so ange- ordnet sind, daß das private Leben ungestört und möglichst frei von Lärm, Stau b und an - deren Großs tadtplagen v erläuft. Die Ba uart der Blöcke ist den Architekten überlassen , Uniformität soU vermieden werden Außer- halb der Blöcke , und an der kön - nen Private ihre anspruchsvolleren oder be- scheideneren Wohn häuser errichten, mit grö- ßeren und kleineren Gärten, aber in vorge - sch riebener En tfernung , damit Anh äufu nge n vermieden werden. P arks, K lubhäuser und was eine Gr oßstadt sonst noch mit sich bringt gruppieren sich um den S tadtrand und da das Terrain hügelig ist, können land- reizvolle Blickpunkte entstehen . "Der 'gro13 ,e See Soll der ·Erlrolu ng und der land - schaftlichen Schönheit dienen ; an seinen Ufern werden nur die Bo tschaften und Gesandt- schaften stehen und einige wenige Gebäude wie ein !!roßes Hote l. Die P rivatarchitekten werden ein weites Feld für ihre Tätigkeit finden und nur inso- weit kontro lliert sein, a ls die Architektur- abteilung der "N ovacap" minderwertige Ba u- ten nicht zu läßt, weder im offenen Terrain noch im Zen trum. Man will vermeiden, daß bei aller Anerkennung der verschiedenen Einkommensverhältnisse und AnsprÜche die b ill igeren Blöcke unrl H äuser ihre Billigkeit zur Schau tragen. Spek ulanten werden kaum Niemey ers ältester Freund Lu cia Costa, der Vater der Moderne in Brasilien, ist in ers ter Linie Städte planer und Städtebauer, und auf ihn geht der G esamtplan Brasili as zurück wie die Architektur auf Niemeyer. Sein Ent- wurf der neuen H auptstad t wurde von einer internationalen Jury als der beste und um- fasse nd ste ausgezeichnet und von Kubitschek a ngenommen. Unter den Juroren befand sich Angesichts einer so agg ressiven Wirklic h- keit, wie es Brasilia i st, erscheint selb st ein an sich gu tes Referat über ir gendeine histo - ri sche Fra ge des Städtebaus fast st ören d. Un d a uch di e vieldiskutierte Synthese der Künste ist nur zu einem T eil ein echtes Prob lem, zum anderen e in e Wun schvo r stellu ng der nicht immer Ers tr angigen. Ein Bau kann, wenn er von vornherein im Zusammenhang mit einem ode r m ehreren freien Kün stlern gepla nt ist, eine Steigerung erhalten, aber letzten Endes ist eine bedeutende Architek tu r ein großes, in sich abgeschlosse n es Kun s twerk, das unter Umständen durch die geforderte "Synthese" verliert. Der Wunsch nach Synthese ist . guten lfte eine maskierte Methode der Ar- beitsbeschaffung f ür e hrgeizige Maler und Bildhauer, vo n rühmlichen Ausnahm en ab - gese h en . Auch in Br asil ia i st an ei ne M it- wirkung von fre ien Künstlern ged acht, zu- nächst br asil ian ischen, man wird aber an einem wichtigen Pun kt der Hauptachse statt e in er Plastik den Fe rn se hturm err ich te n, der als reine Konstruktion nach den Erfahru n gen, di e wir mit technischen B auten gemacht ha - ben, e in stärkerer .. künstlerischer " Akzent 1946 wurde die Verlegung der H auptstadt in der Verfa ssung verankert, aber erst 1956 wurde der Plan in Angriff genomme n: Nach exakten geographischen Untersuchungen, an denen auch Ausländer teilnahmen wurden der neue Bundesdistri kt und der Bau platz Bra- silias en dgültig best immt. Die treibe nd e K raft war blieb K ubitschek, der die Sache zu der semen mach te u nd, unbeirrt durch büro - kratische und ökonomische Bede nken einfach anfing. Eine " Government Nova- cap" wurde gegründet, e in Wettbewerb eröff - net, und rz 1957 e ntschied eine i nter - nationale Jury , daß Costa die Planung der Stadt und Niemeyer den B au der R egierungs - gebäude zu übernehmen hätte. Seitdem wird gea rbeitet, Tag und Nacht in drei Schichten mit 75 000 B auarbeit ern, I ngenieu re n, nikern und freiberufl ich en Angestellten. Das ganze Terrain ist ein Ameisenhaufen vo n tä- tigen Menschen, die für zehn Jahre Beschäf- t_igung haben; die Regierung glaubt mit der Riesenunternehmung die Inflation nicht zu vergrößern, sondern abzufangen. Jed en Tag kommen zwei- bis dreihundert Bewohner der Steppe und des Urwalds an und hoffen eben - falls Arbeit zu fin d en, und sie bleiben ma n braucht sie, für die gewaltigen Erdver'schie- bungen kann man sie gut verwenden. Sie wohnen in ei ner "free town", in improvisier- ten Behelfshäusern, die alle wieder· abgerissen werden, wenn es soweit i st. Sie verdienen gut, brauchen keme Steuern zu zahlen, verwalten sich selbst ohne Polizei und rokratie aber mit Sparka ssen und Banken: die Je- Baustelle in Brasilia. Li.nks da s Senatsgehiiude, rechts H odrhä 11ser für Biiros.

Abenteuer Brasiliawillgrohmann.de/zeitungs-archiv/articles/Z0684.pdf · i bilder und zeiten samstag, 5.dezember 1959 ~ranffurtrr ~llgrmrinc zeitung fijr deutschland brasilia, die

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Page 1: Abenteuer Brasiliawillgrohmann.de/zeitungs-archiv/articles/Z0684.pdf · i bilder und zeiten samstag, 5.dezember 1959 ~ranffurtrr ~llgrmrinc zeitung fijr deutschland brasilia, die

I BILDER UND ZEITEN

Samstag, 5. Dezember 1959 ~ran ffurtrr ~llgrmrinc ZEITUNG FIJ R DEUT SCHLAND

BRASILIA, DIE ZUKÜNFTIGE HAUPTSTADT BRASILIENS. EINE ECKE DES REGIERUNGSPALASTES MIT DER KAPELLE, DIE ZU DEM ß.EBÄUDE GEHÖRT. Foto : Deutsche P resse-Aj:.eptur

Abenteuer "Brasilia" VON WILL GROHMANN

Es dürfte selten vorkommen, daß eine Re­gierung etwa einhundert Fachleute von an­deren Kontinenten zu einer Besichtigungsfahrt einlädt, ~.1m · deren Urteil zu ·einem von ihl" -unternommenen Wagnis zu hören, zu dem Bau einer neuen Hauptstadt. Ist man erst einmal in Brasilien und lernt dort die führen­den Persönlichkeiten kennen, wird man in­dessen weniger erstaunt sein über diese Großzügigkeit. Die entscheidenden Regie­rungsvertreter sind in dieser verfassungs­mäßig liberalen Demokratie weniger an Par­lament und Verwaltung gebunden als in Europa. sie können zwar nicht gerade tun, was ihnen beliebt, aber man fordert in Fällen wie diesen keine kleinl iche Rechenschaft und findet Vernünftiges vernünftig. Natürlich liegt auch hier das Geld nicht aüf der Straße, aber es wird anders als bei uns ausgegeben, beson­ders gern an Schwerpunkten der nationalen Entwicklung. Geht das Geld einmal vorzeitig zu Ende wie etwa beim Bau der neuen Uni­versität in Rio, ist man keineswegs verzwei­felt; man läßt im Rohbau stehen, was fertig ist, und wartet geduldig, bis man weiterbauen kann. Es ist Inflation, aber sie wird in Bra­silien nicht sonderlich tragisch genommen; das Beispiel Frankreich ermutigt, und die Preise sind ziemlich normaL Es gibt Armen­viertel, sie sind aber kaum größer und bekla­genswerter als in vielen europäischen Staaten. Ein unbegabter Staatschef könnte unter den obwaltenden Verhältnissen leicht ein Unglück anrichten, aber Brasilien ist in der glücklichen Lage, gegenwärtig von einem Mann von gro­ßer Intelligenz, Integrität und Aktivität re­giert zu werden.

Juscelino Kubitschek, der Präsident, ist erste Generation, auch das ist bezeichnend für die Vorurteilslosigkeit der Brasilianer, die je­dem Staatsbürger, unabhängig von seiner na­tionalen oder rassischen Herkunft, alle Rechte zubilligen. Die Eltern Kubitscheks wanderten aus dem alten Oesterreich um die Jahr­hundertwende ein, und der Sohn mußte sich das Schulgeld und das Studium selbst ver­dienen; er wurde Arzt in Belo Horizonte, später Gemeinderat und Bürgermeister der Stadt, dann Gouverneur des erzreichen Staa­tes Minas Gerais, dessen Hauptstadt Belo Horizonte ist, 1956 schließlich Präsident. Schon in Belo Horizonte hat sich Kubitschek für städtebauliche Fragen interessiert und vor zwanzig Jahren mit dem Architek ten Oskar Niemeyer die erste moderne Kirche gebaut, die viel Aufsehen erregte, in Pampulha, einem etwas außerhalb liegenden Viertel. Da­mals waren beide Dreißiger, heute sind sie Fünfziger. Die Freundschaft, die sich damals entwickelte, ist geblieben, und Kubitschek hat sich seitdem zunehmend mit Städteplanung, Architektur und den fre ien Künsten beschäf­tigt. Eines der Resultate ist der Bau Brasilias.

Oskar Niemeyer, der führende Baumeister Brasilias, ist trotz seines deutschen Namens "alter Brasilianer"; die Familie Niemeyer kam 1823 aus Wes tfalen. Der Urgroßvater Oskars war Stadtbaumeister in Rio, der Großvater ebenfalls, und nach ihm ist die herrliche Avenida Niemeyer in Rio benannt. Oskar Niemeyer hat in Brasilien studiert. Seine Bau­kunst ist als brasiliar.isch und Niemeyerisch erkennbar; Gropius nannte ihn, als er in Säo Paulo war, um den Biennale-Preis entgegen­zunehmen, einen seltenen Paradiesvogel, der genauso seine Berechtigung habe wie die großen Architekten Nordamerikas und Eu­ropas.

Sir William Holford, London, der die eng- werden kann als ein B ildwerk. Die "Inter­lische Hauptstadt nach dem Krieg aufgebaut national Association" hat die Anregung ge­und die Neuplanung der Stadt Johannesburg geben, auch austan d1se e ruhrende ~unsttel in SüdQf~gemaeht h-at. Er kt~ante--sich jetzt--z~....einem ... ~Vettbew~z:t~dcr,, o.md -Ca. von der Richtigkeit der inzwischen Wirklich- wird wahrscheinlich gesche'fien. Das eindrucks­keit gewordenen Gesamtanlage Brasilias über- vollste "Denkmal" aber steht bereits, und zeugen. Ich hatte das Vergnügen, mit ihm am zwar zwischen dem P alais de Justice und dem letzten Tage der Studienfahrt im Helikopter Palais der Exekutive, das Stadtarchiv. Es is das Gesamtareal der neuen Stadt (Durch- eine Plastik aus einem Sockel und einem messer 40 km) zu überfliegen, auch die ent- Schrein, nicht einmal von gewaltigen Dirnen­feruteren Außenbezirke von oben anzusehen sionen, aber von einer echten MonumentaJitä· und mir erklären zu lassen: die Anlage des in den Abmessungen und in seiner nicht zu Stauwerkes und des großen Sees, der in einer überbietenden Einfachheit. Länge von 45 bis 50 km und einer Breite von !'\ km die Stadt im Dreiviertelkreis um­<:Jenen soll.

Unternehmungen wie diese sind seit zwan­dg Jahren nich t ungewöhnlich in Brasilien; man trägt Berge ab und schüttet das Erdreich ins Meer , um es zu bebauen. Für die Welt­au sstellung in Rio wurde e in größerer Hügel planiert; als sie vorüber war, wurde von jüngeren Architekten ein Wolkenkratzerviertel auf dem Gelände errichtet. Alte Städte wie Bahia werden modern erweitert; niemand h at Bedenken, die Baustile verschiedener Zeiten aufeinanderprallen zu lassen. Zwar sind die Brasilianer stolz auf die Reste der alten por­tug iesischen Kolonialzei t, auf Städt~ w ie Ba­hia (eine Ausstellung von Bahia fand im An-

, schluß an die diesjährige Biennale in Säo Paulo statt) oder Ouro-Preto, eine kleine Universitätsstadt aus der zweiten Hälfte des 18. J ahrhunderts , die 1933 zum Nationaldenk­mal erklärt wurde. Aber der Stolz auf die Vergangenheit verpflicht et die Gegenwart nicht, und die führenden Architekten und In­tellektuellen sind übereinstimmend der Mei­nung, daß sie "zur Modernität verurteilt seien", etwa so, wie man in Europa im 19. J ahr­hundert glaubte, zur Renaissance verurteilt zu sein.

Das Wort fiel bei einer der Sitzungen der Kritiker und Architekten, die im Palais de Justice in Brasilia sta ttfanden. Verantwortlich für die Organisation der Sitzungen zeichnen unter dem Patronat Kubitscheks die Dach­organisation des Aufbaus der neuen Haupt­stadt, die "Novacap", und das soeben e röff­nete Musee d' Art Moderne in Rio. Die "In­ternational Association" (Präsident J . J. Swee­ney, New York) aber wollte nicht nur Gast sein und benützte die Gelegenheit zu einem außerordentlichen Kongreß über Städte­planung, Städtebau und die Synthese der Künste. Vertreter von etwa dreißig Nationen nahmen daran teil mit einem oder zwei Ver­tretern, beispielsweise Aero Saarinen und R. Neutra (U. S. A.), B. Zevi und A. Sartoris (Italien), R. Lopez (Frankreich) und Sir Wil­liam Holford (England).

Damit wären wir bei Plan und Architektur Brasilias, des "dritten Meilenstein s in der Ge ­schichte Brasiliens". Der erste war nach einem Ausspruch des Erzbischofs von Säo Paulo die Entdeckung des Landes durch die Portugie­sen (1500), der zweite die Unabhängigkeit Bra­siliens vom Mutterland Portugal (1822) unter dem konstitutionellen Kaiser Dom Pedro.

Der Gedanke, die H auptstadt nach dem Inneren zu verlegen, ist n icht eine Laune. Das Land, das ungefähr so groß wie Europa ist (8'/2 Millionen qkm) und dessen Durchmesser ca. 4300 km beträgt, lebte bisher von der Küste und ihrem Hinterland, a lso einem 7367 km langen Streifen, dessen Breite wechselt aber mit 500 km eher zu hoch angegeben isi. Das Hinterland ist noch nicht erschlossen, obwohl es an Bodenschätzen und Gütern reich ist . Der Wunsch, die Hauptstadt von der Küste weg­zuverlegen, um von einem m ittleren Punk t aus nach allen Seiten, vor allem nach dem Westen, vorzustoßen und durch ein Straßen­netz von hier a us das ganze Land zu erschlie­ßen, geht auf den P atriarchen Jose Bonifacio zurück, der bereits 1822 bei der Unabhängig­keitserklärung des Kaiserreichs die Verlegung vorschlug, und man dachte auch schon an die Provinz Minas Gerais, an das Hochplateau im Stromgebiet dreier großer Flüsse, wo es Eisen, Gold und Edelsteine gibt. Dort also w ird Bra­silia gebaut, in tausend Meter Höhe, tausend Kilometer Luftlinie nördlich von Rio auf dem Weg über Belo Horizonte, wo K'ubitschek Bürgermeister war. Die Straße, die noch recht unvollkommen ist und ausgebaut wird, ist 1850 Kilometer lang, die Eisenbahn geht vor­läufig nur bis Monte Claros, hundert Kilo-meter westlich. ·

bengenügsam und legen die Hälfte ihres Ver­dienstes zurück, um später Land zu erwerben und zu siedeln .

Es ist auch schon eine groHe Anzahl von einfachen und billigen Häusern gebaut, die man mieten u nd, wenn man will, abzahlen und erwerben kann. Bausparkassen und Ge­nossenschaften gibt es auch hier, ein "Civil

;Servants Social Service" baut' dreiunddreißig ,sechsstöckige Appartementhäuser für Beamte ; und Angestellte; andere Gesellschaften und ·Banken, halbstaatliche und private bra­. sillanisehe und ausländische, bauen 'wohn­blocks für hohe und bescheidenere Ansprüche. Eine Höhe von sechs Stockwerken ist vorge­schrieben, höher darf nicht gebaut werden. Doch es gibt Viertel mit dreistöckfgen Häu­sern und wieder andere mit Flachbauten und

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Einfamilienhäusern. Die Hauptstadt ist für fünf- bis sechshunderttausend E inwohner ge­plant, wenn dieser Rahmen überschritten w ird, sollen Nachbarschaftsstädte die Zu­ziehenden aufnehmen.

Die Finanzierung ist nicht so leicht zu durchschauen. Jedenfalls hat der S taat das Terrain des neuen Regierungsdistrikts billig erworben und kann es mit erheblichem Auf­schlag an die Bauwirtschaft weiterverkaufen. Wieviel ausländisches Kapital dahintersteckt, werden nur wenige wissen, indirekt ist es be­stimmt sehr viel. Aber es wird sich verzinsen denn die 500 000 Bewohner werden kaum z~ den Armen gehören und in der Lage sein, für Wohnung und Leben etwas zu bezahlen. Man macht sich im Ausland mehr Sorgen um Fi­nanzierung und Gelingen als in Brasilien selbst, dort ist man optimistisch und vertraut mit Recht auf die zunehmende Industrialisie­rung und die reichen Bodenschätze; nach deren Erschließung werden eine Festigung der Va­luta und eine Steigerung des Lebensstandards erwartet. Vielleicht wird man auch die Wohl­habenden härter heranziehen, es· gibt einen immensen p r ivaten Reichtum, der gelegentlich wenn auch noch nicht im nordamerikanische~ Umfang, bei St iftungen für Museen Univer-sitäten und Theater zutage tritt. '

Der von Costa entworfene Grundplan be­steht aus zwei Hauptachsen, die sich kreuz­förmig schneiden, die Horizontale ist dem Ge­lände entsprechend nach unten gebogen. Die Verbindung der Ecken ergibt ein gleichseiti ­ges Dreieck.

An der Längsachse liegen die öffentlichen Gebäude, die Regierung und Ver waltu ng, das Kulturzentrum und der Sport, an der Kreu­zung der Achsen die Bank, die Geschäfts­häuser und die Läden. An dieser Stelle lau­fen die beiden Achsen auf verschiedenen Höhen, um Kreuzungen und Stauungen zu vermeiden, und auf der unteren Plattform liegt das verkehrsfreie Theater- und Kino­zentrum. Der Schnellverkehr läuft noch eine Etage tiefer. Das Hauptverkehrssystem ist kreuzungsfrei; nur für den Lastwagenverkehr der nach einem eigenen System abläuft und die Achsen nicht schneidet, gibt es Kreuzun­gen. Der Fußgängerverkehr ist gefahrenfrei, aber nicht völlig getrennt von dem lokalen (nicht dem schnellen) Wagenverkehr, da das Auto unerläßlich und für die Verbindung der einzelnen Bezirke nötig ist.

An der gebogenen Querachse liegen die Wohnviertel, die Superblocks, von denen je vier eine E inheit mit Kirche, Grund- und Oberschulen, Kaufläden, Versorgungslagern usw. bilden. S ie sind· umgeben von breiten Alleen und Grünflächen und durchzogen von Fuß- , Fahr- und Zufuhrwegen, die so ange­ordnet sind, daß das private Leben ungestört und möglichst frei von Lärm, Staub und an­deren Großstadtplagen verläuft. Die Bauart der Blöcke ist den Architekten überlassen, Uniformität soU vermieden werden Außer­halb der Blöcke , und an der Periph~rie kön­nen Private ihre anspruchsvolleren oder be­scheideneren Wohnhäuser errichten, mit grö­ßeren und kleineren Gärten, aber in vorge­schriebener Entfernung, damit Anhäufungen vermieden werden. Parks, Klubhäuser und was eine Großstadt sonst noch mit sich bringt gruppieren sich um den S tadtrand und da das Terrain hügelig ist, können a~ch land­~chaftlich reizvolle Blickpunkte entstehen.

"Der 'gro13,e See Soll der ·Erlrolung und der land­schaftlichen Schönheit dienen ; an seinen Ufern werden nur die Botschaften und Gesand t­schaften stehen und einige wenige Gebäude wie ein !!roßes Hotel.

Die P rivatarchitekten werden ein weites Feld für ihre Tätigkeit finden und nur inso­weit kontrolliert sein, a ls die Architektur­abteilung der "Novacap" minderwertige Bau­ten nicht zuläßt, weder im offenen Terrain noch im Zentrum. Man will vermeiden, daß bei aller Anerkennung der verschiedenen Einkommensverhältnisse und AnsprÜche die billigeren Blöcke unrl Häuser ihre Billigkeit zur Schau tragen. Spekulanten werden kaum

Niemeyers ältester Freund Lucia Costa, der Vater der Moderne in Brasilien, ist in erster Linie Städteplaner und Städtebauer, und auf ihn geht der Gesamtplan Brasilias zurück wie die Architektur auf Niemeyer. Sein Ent­wurf der neuen Hauptstadt wurde von einer internationalen Jury als der beste und um­fassendste ausgezeichnet und von Kubitschek angenommen. Unter den Juroren befand sich

Angesichts einer so aggressiven Wirklich ­keit, wie es Brasilia ist, erscheint selbst ein an sich gu tes Refera t über irgendeine histo­rische Frage des Städtebaus fast störend. Und auch die vieldiskutierte Synthese de r Künste ist nur zu einem Teil ein echtes Problem, zum anderen eine Wunschvorstellung der nich t immer Erstran gigen. Ein Bau kann, wenn er von vornherein im Zusammenhang mit e inem oder m ehreren freien Künstlern geplant ist, eine Steigerung erhalten, aber letzten Endes ist eine bedeutende Architek tur ein großes, in sich abgeschlossenes Kunstwe rk, das unter Umständen durch die geforderte "Synthese" verliert. Der Wunsch nach Synthese ist ~ur .guten Hälfte eine maskierte Methode der Ar­beitsbeschaffung für ehrgeizige Maler und Bildhauer, von rühmlichen Ausnahmen ab­gesehen . Auch in Brasilia ist an eine Mit­wirkung von freien Künstlern gedacht, zu­nächst brasil ian ischen, man wird aber an einem wichtigen Punkt der Hauptachse statt einer Plastik den Fernsehturm err ichten, der als reine Konstruktion nach den Erfahrungen, die wir mit technischen Bauten gemacht ha­ben, ein stärkerer .. künstlerischer" Akzent

1946 wurde die Verlegung der Hauptstadt in der Verfassung verankert, aber erst 1956 wurde der Plan in Angriff genommen: Nach exakten geographischen Untersuchungen, an denen auch Ausländer teilnahmen wurden der neue Bundesdistrik t un d der Ba uplatz Bra ­silias endgültig best immt. Die treibende Kraft war u~d blieb Kubitschek, der die Sache zu der semen mach te und, unbeirrt durch büro­kratische und ökonomische Bedenken einfach anfing. Eine "Government Comp-an~ Nova­cap" wurde gegründet, e in Wettbewerb eröff­net, und März 1957 entschied eine inter­nationale Jury, daß Costa die Planung der Stadt und Niemeyer den Bau der Regierungs­gebäude zu übernehmen hätte. Seitdem wird gearbeitet, Tag und Nacht in drei Schichten mit 75 000 Bauarbeitern, Ingenieu ren, Tech~ nikern und freiberuflichen Angestellten. Das ganze Terrain ist ein Ameisenhaufen von tä­tigen Menschen, die für zehn Jahre Beschäf­t_igung haben; die Regierung glaubt mit der Riesenunternehmung die Inflation nicht zu vergrößern, sondern abzufangen. Jeden Tag kommen zwei- bis dreihundert Bewohner der Steppe und des Urwalds an und hoffen eben­falls Arbeit zu finden, und sie bleiben man braucht sie, für die gewaltigen Erdver'schie­bungen kann man sie gut verwenden. Sie wohnen in einer "free town", in improvisier­ten Behelfshäusern, die alle wieder· abgerissen werden, wenn es soweit ist. Sie verdienen gut, brauchen keme Steuern zu zahlen, verwalten sich selbst ohne Polizei und Bürokratie aber mit Sparkassen und Banken: die meist~n Je- Baustelle in Brasilia. Li.nks das Senatsgehiiude, rechts Hodrhä11ser für Biiros.

Page 2: Abenteuer Brasiliawillgrohmann.de/zeitungs-archiv/articles/Z0684.pdf · i bilder und zeiten samstag, 5.dezember 1959 ~ranffurtrr ~llgrmrinc zeitung fijr deutschland brasilia, die

auf ihre Kosten kommen, schon deshalb nicht, weil der Grund und Boden nicht verkauft wird, es werden "Shares" vergeben, deren Preis nach Lage, Höhe und Qualität der Ob­jekte, der Blöcke und Einzelbauten, differiert.

Am Eingang der vertikalen Hauptachse lie­gen, in gleichschenkligem Dreieck angeordnet, die drei Regierungsmächte, an der Basis das Oberste Gericht und die Exekutive, an der Spitze Parlament, Senat und Bürohaus. Die Verlängerung der Mittellinie bildet eine breite Straße, flankiert von den Ministerien; das letzte ist das Erziehungsministerium, das an das parkartig angelegte Kulturzentrum grenzt (Museen, Bibliotheken, Akademien); Observa­torien, Krankenhäuser schließen sich an. Jen­seits der Achsenkreuzung mit den Kauf­häusern, den Banken, Bürohäusern und La­denstraßen liegen das Sportzentrum, der Bo­tanische und der Zoologische Garten und darüber hinaus die Stadtverwaltung, am Ende der Bahnhof. Die Universitätsstadt befindet sich zwischen dem Ostflügel der Wohnviertel und dem See, der Flugplatz am Ende des West­flügels.

So steht alles an seinem Platz; die Be­schreibung kann leider die Plastik des Orga­nismus nicht recht in Erscheinung treten las­sen, da sie keine Vorstellung von den Ent­fernungen und Größen vermitteln kann; es ist alles viel weitläufiger, als man glaubt. Man bedenke, daß zum Beispiel die Entfernung vom Zentrum zum Bahnhof etwa 20 Kilometer beträgt. Die Uebersichtlichkeit des Planes aber ist bewundernswert, alles strahlt von einem Zentrum aus nach den Außenbezirken und ins Land hinein mit einer genauen Berechnung der Grenzen, die nicht überschritten werden sollen, es sei denn durch Nachbarschaftsstädte; mit einer genauen Abgrenzung von Regierung, Verwaltung, Kultur, Geschäft, Vergnügen, Wohnen und Leben. Ein Organismus, der, wenn er erst einmal voll funktioniert, noch manche Verbesserung erfahren, aber im Grunde sich nicht ändern wird.

Wie wird gebaut, und wer baut? Oskar Niemeyer ist der verantwortliche Architekt der öffentlichen Gebäude. Außer ihm werden viele brasilianische und vielleicht auch aus­ländische Architekten Auftraggeber finden, obwohl die Zahl der erstklassigen Architekten in Brasilien selbst groß ist. Die bekanntesten sind A. E. Reidy, R. Levy, S. Bernardes, M. Moreira, M. Roberto. Was bisher an Wohn­blöcken und Einzelhäusern fertig ist, entspricht dem besten Niveau in Europa und Nord­amerika, und die Bauten sehen nicht viel süd­licher aus als dort, denn das Klima ist, anders als in Carracas und Mexiko, gemäßigt. Beson­dere Sonnenschutzvorrichtungen sind kaum nötig, es genügen die üblichen Leichtmetall­jalousien, zurückgesetzte Fensterfronten, in anderen Fällen reduzierte Fensteröffnungen.

Die einzelnen Baugesellschaften wetteifern im Erfinden einheitlicher Blöcke von vier bis zwölf Einheiten mit etwa hundert Wohnungen, die größeren mit 160 bis 200 Quadratmeter Bodenfläche, die kleineren mit etwa 60 bis 90 Quadratmetern. Eine der großen Gesellschaften baut Blöcke von 240X240 Meter Umfang mit elf sechsstöckigen Wohnhäusern für insgesamt 3000 Menschen. Je zwei der Häuser haben ge­meinsam ein Restaurant, eine Bar, eine Wäscherei, eine Küche für Mahlzeiten in der Wohnung, einen kleineren Kinderhort. Die Häuser stehen auf Stützen, die Garagen sind unterirdisch, so daß kein Gelände verloren­geht. Das Baumaterial ist vorwiegend Eisen­beton, es gibt aber auch Stahlgerüstbauten, und einige von ihnen sind im Rohbau fertig.

Die Bauten Niemeyers geoen gegenwärtig der Stadt die baulich-künstlerische Note. Die Pfeiler des Präsidentenpalais, des High Court und der Exekutive haben mit ihren ge­schwungenen, ineinander übergehenden Bo­genformen beinahe etwas von einem neuen Jugendstil, zumal sie auf einem offenen Un­terbau stehen, dessen Schauseite auch wieder Kreissegmente aneinanderreiht Von außen und innen ergeben sich höchst reizvolle und überraschende Durchblicke. Niemeyer hat einen in der modernen Architektur seltenen Sinn für die Verbindung des Strukturalen mit dem Dekorativen. Die Einteilung der Glas­fassauen ist ebenso eigenwillig wie funktions­bedingt, und ganz begreift man erst, wenn man sich im Inneren befindet und auch da die Verbindung des Schönen mit dem Praktischen erlebt.

Im Palais sind die Empfangsräume und Hallen für unser Gefühl etwas überdimen­sioniert und vorläufig in ihrer Einrichtung (Sessel von Mies van der Rohe) fast mu­seumshaft; wenn es bewohnt ist, dürfte sich manches ändern, da der Bedarf an Möbeln und · Gebrauchsgut wachsen wird. Die nächste Umgebung ist immer in das Ganze einbezogen, Bassins, Anpflanzungen, Skulpturen; neben dem Präsidentenpalais steht eine Hauskapelle, die aus einer Spiralwand besteht und im Kern überdacht ist. Niemeyers Entwürfe sind im­mer ganz einfach, und der Plan der großen Kathedrale ist in seiner Simplizität fast un­verständlich, wenn man ihn in die Größen­verhältnisse übersetzt, die die Kathedrale haben soll. Es ist aber möglich, daß sie in der Ausführung durch die Plastizität der Teile und des Ganzen einen überzeugenden Cha­rakter annimmt.

Sieht man die ersten Behelfsbauten an der Peripherie der Stadt, das provisorische Haus für den Präsidenten und den Country-Club, in einer Art südamerikanischem Kolonialstil er­richtet, begreift man besser, wieso Niemeyer, der Brasilianer, zu den Entwürfen für seine Monumentalbauten kommt, es ist etwas von dem kolonialen Stil von ihm in die Moderne übernommen. Das gilt nicht für die Wohn­blöcke. Aber auch bei ihnen gibt es stilistische Unterschiede. Die Blöcke von Niemeyer sehen anders aus als die der übrigen Architekten. Ein belebender Zusammenklang der indi­viduellen Stile wird sich erst ergeben, wenn die Privatinitiative stärker mit eigenen Ar­chitekten eingreift, im Inneren der Stadt und

·außerhalb. Daß keine Disharmonie entsteht, dafür wird die "Novacap" sorgen.

Brasilien ist eine junge Nation mit einem großen Kräftereservoir, das man gerade erst auszuschöpfen beginnt. Was noch fehlt, sind mehr gute gelernte Arbeiter und Techniker und Fachschulen, die in der Lage sind, mit ge­eigneten Lehrkräften die Mangelberufe auf­zufüllen, sind mehr Hochschulen, die den wachsenden Andrang der Jugend aufzunehmen und sie auszubilden vermögen, sind mehr Grundstoff- und Schlüsselindustrien, die dem Land das Einkommen sichern, das es braucht, um nachzuholen und aufzubauen. Das Land ist zwar reich an Gütern und Voraussetzungen aller Art, auch an Menschen, hat aber seinen Reichtum noch nicht ausgenutzt.

Im Januar 1961 ist die Frist des Präsiden­ten Kubitschek abgelaufen; nach der Verfas­sung kann er erst wiedergewählt werden, nachdem ein anderer Präsident amtiert hat. Man hofft, daß sein Nachfolger der Neu­gründung Brasillas die gleiche Förderung zu­teil werden läßt ; noch vor dem Ende seiner Amtszeit wird Kubitschek jedenfalls mit sei­n er Regierung am 21. April 1960 von Rio nach der neuen Hauptstadt übersiedeln