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Ablösung Jugendlicher Möglichkeiten und Chance für beide Seiten in noch zu findender Richtung Fachtagung „ Reflektierte Praxis: Systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen“ Fachsektion Systemische Familientherapie der ÖAGG Institut für systemische Therapie, Supervision, Ausbildung und Forschung Salzburg, 11.-12. Mai 2007 Dr. Kurt Ludewig Hamburg/ Münster Eine Einladung zum Umgang mit unfertigen Gedanken bzw. mit Bodenlosigkeit!

Ablösung Jugendlicher – Möglichkeiten und Chance für beide Seiten in noch zu findender Richtung Fachtagung Reflektierte Praxis: Systemische Therapie mit

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Ablösung Jugendlicher – Möglichkeiten und Chance für beide Seiten in

noch zu findender Richtung

Fachtagung „ Reflektierte Praxis: Systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen“

Fachsektion Systemische Familientherapie der ÖAGGInstitut für systemische Therapie, Supervision, Ausbildung und Forschung

Salzburg, 11.-12. Mai 2007

Dr. Kurt LudewigHamburg/Münster

Eine Einladung zum Umgang mit unfertigen Gedanken bzw. mit Bodenlosigkeit!

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Vielen Dank für die Einladung!

Zur Vereinfachung lese ich aus den Folien vor und lade Sie ein, mitzulesen oder

wegzuschauen und zuzuhören.

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TEXT KANN HERUNTERGELADEN WERDEN BEI:

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Deutsch TEXTE

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Vorwort:

Als Psychologe, der 30 Jahre mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien gearbeitet habe, war ich ganz und gar erstaunt, als ich bei der Vorbereitung dieses Vortrags Folgendes realisierte:

Ich habe jahrelang den Begriff „Ablösung“ höchst unproblematisch verwendet, ihn, wie ich meine, sogar erfolgreich eingesetzt, aber

den Begriff selbst nie recht hinterfragt.

Nun stand ich vor dem Dilemma: mehr-vom-selben oder kritisch zu überdenken?

Ich entschied mich für das zweitere und werde Sie mit Blick auf das Thema dieser Tagung – „Reflektierte Praxis“ - mit einer Mischung aus unfertigen Gedanken, Dekonstruktionen und Konstruktionen konfrontieren.

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Systemische TherapieLiteraturhinweise des Referenten

Klett-Cotta1992, 19974

Klett-Cotta2002

Carl-Auer2005

Hogrefe2000

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Literaturhinweise

- Ludewig, K. (1989), Schritte in die Vergangenheit – Mit dem Familienbrett ins Land der Mapuche. Familiendynamik 14: 163-177.

- Ludewig, K. (im Dr., vorauss. 2007/8), „Zum Menschenbild der systemischen Therapie. Über polysystemische Biologie, Polyphrenie und vielfältige Mitgliedschaften. In: Petzold, H. (Hrsg.); Menschenbilder in der Psychologie und Psychotherapie. Wien (Klammer).

-Stierlin, H. (1994), Ich und die anderen. Psychotherapie in einer sich wandelnden Gesellschaft. Stuttgart (Klett-Cotta).

- Varela, F.J., E. Thompson (1991), The Embodied Mind. Cambridge, Mass. (M.I.T. Press). Dtsch. (1992), Der mittlere Weg der Erkenntnis. Bern (Scherz).

- „Adoleszenz“, Psychotherapie im Dialog 3. Jg., Heft 4, 2002

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Ziele/Themen:

1) Bedeutung und Folgen des Konzepts „Ablösung“

< semantisch-wissenschaftliche Fragen >

2) Systemische Gedanken zum „Selbst“

< Systemische Ergänzung zu 1) >

3) Nutzen des Konzepts „Ablösung“ für die Therapie

< pragmatische Fragen >

und

4) Beispiele aus meiner Praxis

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1.Teil

Semantisch-wissenschaftliche Fragen:

Bedeutung und Folgen des Konzepts „Ablösung“.

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Bevor wir weitergehen, an diese Stelle eine kurzeBlitzbefragung:

Bitte, Ihrer/m Nachbarn/in in aller Kürze Ihre Stellungnahmen zu folgende Fragen mitzuteilen:

1) Was verstehe ich unter Ablösung

2) Was ist eine „geglückte“ Ablösung

3) Was ist eine „missglückte“ Ablösung

4) Bin ich abgelöst?, von was und/oder wem?, woran merke ich das?

Ich garantiere für diskrete Behandlung – es folgt keine öffentliche Offenbarung!

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Meine Hypothesen zu Ihren Stellungnahmen:

1) Ablösung zu definieren war eher leicht

2) Eine geglückte Ablösung zu definieren, war eher schwerer

3) Eine missglückte Ablösung zu definieren, dürfte hingegen leichter gewesen sein, schließlich sind wir alle „Familientherapeuten“ o.Ä.z. B. Eltern, die nicht loslassen, Kinder, die kleben bleiben….

4) Mich dazu zu bekennen, dass ich „wirklich“ abgelöst bin oder

- an meiner Herkunftsfamilie hänge oder

- mit der aktuellen Familie zu fest verkoppelt bin oder

- an meiner Arbeitsstelle bzw. meinen PC o.Ä. „klebe“ oder

- meiner Vergangenheit nachhänge oder

- mich sogar ziemlich uneigenständig erlebe usw., usf.

Dies dürfte alles in allem am schwersten gewesen sein.

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„Ablösen /Ablösung“ nach Wörterbuch

< Wahrig-WörterbuchWahrig-Wörterbuch >:

- loslösen

- von der Unterlage entfernen

- Festgeklebtes vorsichtig abmachen

In der Reflexivform:

- sich ablösen => von selbst abgehen.

< Heyne-Wörterbuch Heyne-Wörterbuch >:

- absondern

- sich von einer Verpflichtung befreien

- an die Stelle von jemand treten

- und medizinisch: Abnahme von Gliedern.

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Was davon ist hier gemeint:

Trennen sich Jugendliche und Eltern von einer metaphorisch gedachten, klebrigen Unterlage?

Geht der Jugendliche im Reifungsprozess von seiner Familie wie von selbst ab?

Wer wird von welcher Verpflichtung befreit, die Eltern oder der Jugendliche? Wer tritt an Stelle von wem?

Was stellt „Ablösung“ im Alltag dar?

Eine Selbstverständlichkeit (im Sinne Hofstätters)?

Etwas, das jeder Schuljunge weiß…?

Einen semantischen „Attraktor“, der Vieles bündelt, was sonst vielleicht nicht zusammen gehört?

Einen nützlichen, in der Praxis brauchbaren Begriff?

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Wo und wann findet Ablösung auf welche Weise statt?

- In der frühen Stammesgesellschaft galt die Ablösung, sprich: der Ausschluss aus dem Stamm als indirekte, aber sichere Todesstrafe. Junge Menschen wurden wiederum durch z.T. grausame Initiationsriten eingebunden.

- In traditionsgeleiteten Gesellschaften (n. Riesman) führte der Auszug aus der Herkunftsfamilie oftmals nahtlos in die nächste familiäre Einbindung.

- In asiatischen, afrikanischen und altamerikanischen Kulturen wird nicht die Ablösung der Jungen angestrebt, sondern die Veränderung ihres Status.

- Erst die monotheistischen Religionen etablieren ein Ich-Du Verhältnis zur Gottheit und so auch die Basis für Individualität.

- Die Ablösung als notwendiger Schritt zur Eigenständigkeit kommt aber erst in der Phase der gesellschaftlichen Innenleitung, nach Entdeckung des ICH auf.

- Die damit einhergehende Industrialisierung unterstreicht dieses Verständnis.

Fazit: Ablösung, Eigenständigkeit und Individualität stellen normative Konzepte der westlichen Moderne dar.

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Ein Wort zur Entwirrung:

Systemisches Denken geht bei Lebewesen von biologischer Autonomie aus. Dies schließt instruktive Interaktion bzw. heteronome Bestimmung aus.

Diese Eigenart von Lebewesen bedingt jedoch nicht, auf welche Weise die biologische Autonomie verwirklicht wird.

Biologische Autonomie setzt weder soziale Selbstständigkeit noch psychische Eigenständigkeit voraus – diese Begriffe gehören jeweils anderen als dem biologischen Phänomenbereich an.

Ein Extrembeispiel zur Verdeutlichung:

Ein apallischer, „hirntoter“ Mensch, der durch Schläuche am Leben erhalten wird, funktioniert so lange biologisch autonom, wie er vom Tod, d.h. vom Ende des autopoietischen Prozesses abgehalten wird.

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Sind Ablösung, Eigenständigkeit und Individuation Aspekte menschlicher Seinsweise oder stellen sie Werte dar?

Beispiele zum Nachdenken:

- In Chile wie in anderen spanisch-amerikanischen Gesellschaften stellte man sich bis in die 1960er Jahre nach altspanischer Tradition vor als Sohn von… oder Tochter von… Dort trägt man offiziell den väterlichen und mütterlichen Nachnamen zur amtlichen Kennzeichnung der Abstammung.

- Vor einigen Jahren lernte ich einen 35-jährigen Kolumbianer kennen, der nach 15 Jahren des Studierens an verschiedenen Orten überlegte, ob es an der Zeit sei, in seine Heimat zurückzugehen und eine Arbeit anzunehmen. Bis dahin hatten ihn seine Eltern selbstverständlich finanziell unterstützt.

- Vor Kurzem führte meine Frau ein Gespräch mit einer in Deutschland lebenden, in Frankreich ausgebildeten vietnamesichen Ärztin. Sie erzählte, dass sie unbedacht ein ihr bekanntes deutsches Kind auf den Arm nahm und über die Straße brachte. Die Mutter reagierte brüskiert, denn ein 4-Jähriger könne schließlich allein gehen.

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Zwei weitere Beispiele aus dem Jahr 1987:

Zu Besuch bei Mapuche-Familien in Südchile mit dem Familienbrett.

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Beispiel A – „Anthropologische“ StudieEine Mapuche-Familie aus Südchile < Ludewig 1989 >

V

M

S3

VS1

S3

OSTEN

T S2JETZT

T S2 S1 S4 MIDEAL

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Beispiel A – „Anthropologische“ StudieEine Mapuche-Familie aus Südchile < Ludewig 1989 >

Ursprüngliche Familie – spricht wenig Spanisch.

Die 15-jährige Tochter ist in die Stadt gegangen.

Jetzt- Aufstellung: 2 Subgruppen in Linie

Hypothese einer bewanderten Kollegin: S3 ist Kind vom Vater und Tochter. Es wird von der Mutter groß gezogen, während Tochter Geld verdienen geht. Das Geld wird der Familie zugeschickt.

Ideal-Aufstellung: vereinte Familie mit einem zusätzlichen erwünschten Sohn (S4) – S3 bleibt als einziger anders (Form).

Fragen:

Ist das eine besondere Form der „Ablösung“ mit Hinterlassen eines Stellvertreters?

Ist das eine besondere Form, Bindungen zu erhalten?

Stimmt dies mit unserem Konzept von Ablösung überein?

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Beispiel B – „Anthropologische“ StudieEine Mapuche-Familie aus Südchile < Ludewig 1989 >

Machi

V

T V

M

GV

OSTEN

T

GV

M

S S

SCHRECKENS-VISION

HEILUNG

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Beispiel B – „Anthropologische“ StudieEine Mapuche-Familie aus Südchile < Ludewig 1989 >

Traditionelle Familie mit gewisser chilenischer Anpassung.

Der Großvater wird aufgestellt, obwohl er woanders wohnt. Er sei aber der Familienchef, und man orientiere sich an ihm.

Schreckensvision: Alle treiben auseinander; die Tochter habe heiraten müssen und sei weg, der Vater weile in Argentinien auf der Suche nach Arbeit, der Großvater habe sich abgewandt und schaue in den Westen.

Aber: Mutter und Sohn bleiben zusammen; das müsse so sein, damit er auf seine Mutter aufpasse und die Aufgabe übernehme, in der Familie zu bestimmen.

Heilungsdarstellung: Die Machi (Medizinfrau) wird gerufen und in die Mitte der Familie mit Blick zum Osten gestellt. Um sie herum versammeln sich nun alle Familienmitglieder. Die normale Ordnung ist wieder hergestellt.

Frage:

Ist Ablösung hier als normaler, gesunder Prozess vorgesehen, oder bedeutet sie vielmehr nur Chaos und Trauer?

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1. Fazit:

Ohne Entwicklungspsychologie betreiben zu wollen oder eine Literatur-übersicht über das Thema zu liefern, sollen

die wenigen angeführten Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrung exemplarisch zeigen, dass

- Ablösung

- Verselbständigung bzw. Eigenständigkeit

- Individuation

weitgehend variable, kulturell modulierte Prozesse darstellen, die daher als normativ und nur zu einem geringen Teil als biologisch determiniert als Folge körperlichen Wachstums aufzufassen sind.

Diese Prozesse stellen jeweils aktuelle Antworten auf gesellschaftliche Problemen dar, die zur Norm werden und so auch als Selbstverständ-lichkeit verinnerlicht werden.

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Was heißt bei uns Ablösung?

Ablösung weist in unserer Kultur üblichetweise auf den Prozess des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen hin.

Ziel dieses Prozesses mit Beginn mit der körperlichen Reifung soll Folgendes sein (vgl. Streeck-Fischer 2002 (!), nach Corey 1946):

1. Mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät fertig werden,

2. sich von den Eltern loslösen,

3. neue Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen und sexuelle Bedürfnisse in die Beziehungen integrieren,

4. Selbstvertrauen und ein neues Wertsystem entwickeln sowie

5. eine soziale und berufliche Identität gewinnen.

Ein Beispiel für ein theoriegeleitetes Beschreiben einer Epoche - der Mitte des 20. Jahrhunderts. Es fasst Selbstverständlichkeiten der Epoche – das „erstrebenswerte Gute“ – zusammen.

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Bezogene Individuation <nach Helm Stierlin>

Helm Stierlin geht einen Schritt weiter und betrachtet Individuation als Prozess von Beziehungen, als Ko-Individuation.

1994 fasst Stierlin seine Gedanken zur „bezogenen Individuation“ als einen Prozess zusammen, der bereits im Säuglingsalter beginnt und sich vollzieht in einer Beziehungsdialektik von Individuation und Trennung einerseits und von immer neuen Form der Bezogenheit andererseits (Ich/Wir Dialektik).

Bezogene Individuation oder Ko-Individuation geschieht in der Dialektik von „Individuation mit“ und Individuation gegen“. Beides stellt Aspekte einer gesunden Entwicklung dar.

In psychopathologischer Hinsicht unterscheidet Stierlin im Einklang mit der Bindungstheorie zwischen Überindividuierung (starre Grenzen) und Unterindividuierung (diffuse Grenze).

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Obwohl Ko-Individuationsprozesse ein Leben lang stattfinden, werden sie vor allem der Adoleszenz, dem Jugendlichenalter zugeordnet.

Was heißt nun Adoleszenz?

Der Entwicklungspsychologe Flammer stellt 2002 fest:

„Die Entwicklungspsychologie der Adoleszenz muss immer wieder neu geschrieben werden. Zum einen verändern neue Erkenntnisse der Forschung das Bild der Adoleszenzentwicklung, zum anderen ist das Phänomen selbst eingebunden in historische und kulturelle Gegebenheiten“

Flammer teilt die „Aufgaben der Adoleszenz“ auf folgende Bereiche:

1. Körperliche Entwicklung

2. Identitätsentwicklung

3. Kognitive Entwicklung

4. Autonomieentwicklung

5. Krisen des Übergangs bewältigen

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Konzeptioneller Vorschlag:

Adoleszenz und das Säuglingsalter sind Zeiten größter Vervielfältigung.

- Anzahl und Bedeutung der Mitgliedschaften wächst, dadurch auch die Menge und Qualität der Lebenserfahrungen

- Die psychischen Systeme vermehren sich „wild“, d.h. zugleich ungeordnet und widersprüchlich und kraftvoll und zunehmend stabiler.

- Die normativen Verpflichtungen nehmen gleichzeitig enorm zu: Verantwortung, Schuldfähigkeit usw.

- Die Jugendlichen müssen ihr Repertoire an kognitiven, affektiven und Handlungsschemata stark erweitern, um die neuen Anforderungen zu bewältigen. Diese bauen auf früheren Erfahrungen, die verändert, erweitert, verstärkt oder gehemmt werden (v.a. Liebes- und Bindungs-erfahrungen).

Also: Statt vom Übergang gehe ich lieber von Erweiterung aus.

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Vielfältige relationaleSELBSTE

Einzigartiges erwachsenes SELBST

Adoleszenz-Entwicklung: Modelle

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2. Teil

Systemische Gedanken zum „Selbst“

< Ergänzende semantisch-wissenschaftliche Fragen >

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Die Ausgangslage

„Ablösung“ soll zum Ziel und Zweck haben, Selbstständigkeit und Eigenständigkeit zu ermöglichen.

Dies findet auf der Basis einer Identitätsentwicklung statt, die zu einer eigenen Identität führt,

also zum Aufbau eines ICHs oder SELBSTs,

das erlaubt, vom Nicht-Ich bzw. ANDEREM zu unterscheiden.

Daher bietet sich aus systemischer Sicht an, einen Blick auf dieses Konstrukt - das SELBST - zu werfen.

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Nachdenkenswerte Gedanken zum «Ich»

Die Kognitionswissenschaftler Francisco Varela und Evan Thompson berichten 1991:

„Wir traten also mitten ins Auge des Wirbelsturms der Erfahrung ein, konnten dort aber kein Selbst, kein «Ich» entdecken“ (S.117)

„… die Kognition (kann) als emergentes Phänomen selbstorganisierter, verteilter Netzwerke untersucht werden“ (S. 175)

„Die westliche Philosophie kreist überwiegend um das Problem, wo man eine letzte Grundlage finden könnte, hinterfragt aber nicht bewusst und achtsam die grundsätzliche Neigung zum Greifen nach einem Grund“ (S. 201)

„Als wir eine objektive Grundlage suchten, trafen wir eine Welt an, die durch unsere Geschichte der strukturellen Kopplung inszeniert wird“ (S. 295).

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Anstelle einer festen Grundlage für Kognition finden Varela und Thompson selbstorganisierte, hochgradig kooperativ arbeitende neuronale Netzwerke, also

„…eine interne Kohärenz komplexer Muster, die wir allerdings nicht genau erklären können“ (S. 135)

Gegenüber der „kartesianischen Angst“, die daraus erwächst, dass unsere Erkenntnis entweder eine feste, stabile Grundlage hat, oder wir in Dunkelheit, Chaos und Verwirrung geraten, schlagen Varela und Thompson vor, einen „mittleren Weg der Erkenntnis“ zu gehen:

„Erweitern wir unseren Horizont um eine transformative Sicht der Erfahrung, die nichts mit Weltflucht oder Suche nach einem verborgenen, wahren Selbst zu tun hat, sondern mit Loslassen, mit Überwinden des Anhaftens und der Sucht nach festen Grundlagen, gewinnen wir eine neue Weltperspektive, lernen wir, die Bodenlosigkeit in einer wissenschaftlichen Kultur als Erbarmen zu verkörpern“ (S. 344)

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Über psychische Systeme - Thesen

Psychische Systeme stellen keine beständige, direkt beobachtbare Strukturen dar, sie sind nur in Kommunikation rekonstruierbar.

Kognitiv-emotionale Kohärenzen, die wiederholt reproduziert und zur besonderen Kennzeichnung eines Menschen verwendet werden, resultieren aus der selektiven Rekonstruktion der Mitgliedschaften, die dieser Mensch in sozialen Systemen verkörpert.

Diese Kohärenzen verweisen immer auf eine Relation zu einem speziellen oder generalisierten Anderen, der daran beteiligt ist oder nicht. Sie können also als relationale Kohärenzen bzw. relationale Identitäten bzw. Selbste oder psychische Systeme aufgefasst werden.

Psychische Systeme stellen also variable, temporalisierte Prozesse dar, die immer neu als Reaktion auf innere oder äußere Ansprüche produziert und reproduziert werden. Sie stellen das psychische Korrelat zu den sozialen Mitgliedschaften eines Menschen dar.

Die Vielfalt psychischer Systeme lässt sich als Polyphrenie (Vielgeistigkeit) bezeichnen. Polyphrenie ist Normalität.

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Psychische Systeme

Systeme sind durch ihre Elemente, Relationen und Grenze definiert.

Psychische Systeme stellen temporalisierte Prozesse dar, die körperliche Aktivitäten (Kognitionen, Emotionen, Handlungen) zu Bewusstsein verarbeiten. Sie entstehen im Zusammenhang mit tatsächlicher sozialer Interaktion oder als Reaktion auf innere Aktivität.

Für psychische Systeme soll gelten:

Elemente := kognitiv-affektive Einheiten des Bewusstseins

Relationen := Anschlussbildung

Grenze := Sinngrenze (Sinnkontinuität)

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⇆ KINDMUTTER ⇆ MUTTERKIND

RELATIONALE MITGLIED MITGLIED

IDENTITÄTEN INTERAKTIONSSYSTEM MUTTER / KIND

⇆ MUTTERKIND ⇆ KINDMUTTER

Entwicklung relationaler Kohärenzen

- Selbste – Iche – Identitäten – psychische Systeme

KINDMUTTER

MUTTERKIND

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Zusammenfassung:

Jedes ICH – jede psychische Kohärenz bzw. jedes psychische System - bedarf einer Relation zu einem anderen ICH, also einem DU, um überhaupt im WIR entstehen zu können.

Der Mensch beginnt mindestens zu zweit !

∆ ICH/DU ⇆ WIR ⇆ ICHDU ⇆ DUICH

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Was heißt also hier „jugendliche Ablösung“?

Ein interaktioneller Prozess, in dem bestimmte (ritualisierte) relationale Eltern/Kind Kohärenzen vernachlässigt oder aufgegeben werden, während andere erst entstehen.

Jugendliche und ihre Eltern erzeugen untereinander zunehmend neue, vielfältigere Kohärenzen, die zum Teil regelmäßig reproduziert werden.

Darüber hinaus gewinnen beide Seiten Freiheitsgrade, um andere relationale Kohärenzen untereinander oder mit anderen zu erzeugen.

Jugendliche und Eltern »erzeugen sich« in dieser Phase gegenseitig immer neu. Gerade dieser Prozess der Entstehung neuer, ungeübter operationaler Kohärenzen macht diese Entwicklungsphase so anfällig für Krisen.

Die Art und Weise, wie diese Krisen bewältigt werden, gestaltet den weiteren Entwicklungsprozess bei allen Beteiligten.

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Fazit. Der Mensch, systemisch gesehen

Der Mensch kann aus operationaler Perspektive verstanden werden als das je aktuelle Ergebnis vielfältiger und gleichzeitig wirksamer Systeme, als je aktuelle Vernetzung der Operationen

- polysystemischer Biologie

- polyphrener Psychologie

- multipler sozialer Mitgliedschaften.

Alternativ dazu lässt sich der Mensch aus synthetisierender Perspektive als durch drei Systemtypen konstituiert (Körper, Psyche. Interaktion) oder überhaupt als Ganzheit betrachten.

Je nach Betrachtungsfokus befasst man sich allerdings mit unterschiedlichen Phänomenen.

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3. Teil

Nutzen des Konzepts „Ablösung“ für die Therapie

< pragmatische Fragen >

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Hilfreiche Unterscheidung: Ontologische und lebenspraktische Realität

Ontologisch bzw. rational gesehen, gibt es offenbar kein substanzielles Substrat, aus dem ein überdauerndes, übergeordnetes ICH emergieren könnte.

Insofern ist hier das ICH ein immer neu entstehendes, variables Konstrukt.

Lebenspraktisch gesehen, wonach alles real ist, was als real erlebt wird, gibt es kaum Realeres als das Erleben seiner selbst.

Im Erleben stellen das SELBST bzw. ICH reale, konstante Größen dar. Sie antworten auf unsere emotionalen Bedürfnisse nach Konstanz und Gewissheit. Dabei erlebe ich mich unanzweifelbar als zeitlich überdauerndes, homogenes ICH.

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Was ist Systemische Therapie?

Eine therapeutische Praxis,

die aus der pragmatischen Umsetzung systemischen

Denkens resultiert

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Was leistet Psychotherapie, systemisch gesehen?

(hier ohne Berücksichtigung von Anleitung, Beratung, Begleitung)

Einen Beitrag zur Herstellung - günstiger Randbedingungen - für die auftragsbezogene- Selbstveränderung des/der Klienten- durch eine nützliche, passende und respektvolle therapeutische Interaktion.

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• Menschliche Probleme folgen der „Logik“ einer konservativen emotionalen Dynamik:

• Angesichts der Ungewissheit von Änderungen gilt es, lieber auszuhalten als eine Veränderung zu riskieren, die alles noch verschlimmern könnte.

• Notwendige Veränderungen, die als riskant erlebt werden, erfordern daher ein Wagnis.

• Psychotherapie soll Bedingungen schaffen, die ein Wagnis begünstigen und so auch einen Wechsel der Präferenzen ( mehr-vom-anderen).

Thesen zur therapeutischen Veränderung

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Systemische Therapie mit Adoleszenten I

Grundsatz 1: Systemische Therapie ist immer Beziehungs-therapie, ob mit und ohne Anwesenheit aller Beteiligten.

Grundsatz 2: Die Erarbeitung einer speziellen systemischen Therapie für Adoleszenten erscheint nicht notwendig.

Denn: Systemische Therapie ist in erster Linie weder störungs- noch methodengeleitet, sondern klienten-/kundenorientiert. Sie wird den verschiedenen Klienten mit

ihren immer einzigartigen Problemen angepasst.

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Dennoch ist bei Adoleszenten zu bedenken:´

• Sie sind „Borderliners“ mit enorm vielfältigenPotenzial, jedoch geringer Erfahrung in der Umsetzung. Sie werden oft unter- oder überschätzt.

• In aller Regel lieben sie ihre Eltern, verleugnen dies aber aus der Furcht, als Kind behandelt zu werden

und halten die Eltern lieber auf Abstand.

• Die Eltern reagieren oft verwirrt, ratlos, gekränkt oder ärgerlich. Die bisher erprobten Beziehungsmuster nutzen nicht mehr, neue sind noch nicht da.

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Systemische Therapie mit Adoleszenten II

Sie soll einen interaktionellen Rahmen – eine therapeutische Beziehung - schaffen, in der die Beteiligten sich genügend gesichert fühlen, um das Risiko von Veränderungen einzugehen.

Zu diesen Veränderungen können die gefürchtete gegenseitige Akzeptanz und die gefürchtete Trennung zählen, sowohl im Hinblick auf sich selbst als auch auf den geliebten Anderen.

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Hierzu lohnt sich Folgendes:

• Die Besonderheiten der Beziehungen in der Familie beachten und sich daran orientieren: was für einige weit ist, ist für andere eng.

• Achtsam mit „normativen“ Vorgaben umzugehen: „Man muss…!“

• Weder Harmonie noch Veränderung von sich aus anzustreben.

• „Ablösung“ weder zurückhalten noch erzwingen zu wollen.

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Mai 2007 Dr. K. Ludewig 46

Zum Schluss

Einige Beispiele aus der Praxis

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Beispiel 1.

Eine 17jährige geistig behinderte junge Frau entwickelte ein zunehmend einschränkendes Zwangsverhalten.

Sie blieb vor jeder Straßenkreuzung auf der Stelle treten und musste an die Hand genommen werden, um weiterzukommen.

Wir erfuhren, dass sie beobachtet hatte, wie eine junge Frau mit einem Kinderwagen eine Straße unachtsam überquert hatte, und ein Auto musste stark bremsen, um sie nicht anzufahren.

Im Gespräch mit ihr und ihrer Mutter war zu erarbeiten, dass die junge Frau gern Mutter werden würde, zugleich aber große Angst hatte, dieser Verantwortung nicht gewachsen zu sein.

Im Ergebnis war die junge Frau sichtbar erleichtert, als die Mutter beschloss, die Sterilisierung doch zu beantragen, bevor ihre Tochter volljährig war.

Wir hörten, dass die Zwanghandlungen sofort nach dieser einzigen Sitzung aufhörten.

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Beispiel 2.

Susana, eine in Deutschland geborene und aufgewachsene 19jährige Südeuropäerin, litt unter vielfältigen Ängsten und war mehrmals stationär behandelt worden.

Im Gespräch mit ihr und ihrer Mutter erfuhren wir von einer sehr engen Beziehung zwischen den Eltern und ihrer einzigen Tochter.

Wir bezogen die Ängste auf die Sorge Susanas, dass ihre Fortentwicklung in Richtung auf Ablösung von der Familie zu einer Vereinsamung ihrer Eltern führen würde. Aus Liebe zu ihren Eltern würde sie daher auf ihre Entwicklung verzichten. Die Ängste dienten dazu, sie vom Fortbewegen zurückzuhalten.

Nach zwei weiteren Familiengesprächen mit Beteiligung des Vaters waren die Eltern bereit, Susana zu erlauben, allein in die Heimat ihrer Eltern zu gehen.

Jahre später hörten wir, dass die einen Jahrzehnt lang anhaltenden hinderlichen Ängste nicht mehr aufgetreten wären.

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Beispiel 3.

Katy, jüngste Tochter freundlicher Eltern, wurde mit 17 Jahren schwer magersüchtig. Während der stationären Behandlung erfuhren wir von einer sehr engen Mutter-Tochter Beziehung.

Auf unsere gezielten Fragen hin berichtete Katy in den Familiengesprächen, dass sie es ihrer Mutter nicht zutraue, ohne Tochter auszukommen und ihrem Vater noch weniger zutraue, sich so um seine Frau zu kümmern, dass er die Ablösung der Tochter bewältigen könnte.

Die Trennung durch den stationären Aufenthalt verdeutlichte beiden Seiten, dass Kind und Eltern durchaus in der Lage waren, ohne einander zu leben.

Gesichert durch den stationären Rahmen erlaubte sich Katy, den Aufstand gegen die Eltern zu proben. Sie überstanden ihn problemlos.

Katy konnte mit ausreichendem Gewicht entlassen werden. Es gab nach unserer Kenntnis keinen Rückfall.

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Beispiel 4.

Gesprächsausschnitt aus der 4. Sitzung einer Familientherapie.

Anwesend sind beide Eltern. Der Sohn, der Probleme hat und macht, bleibt weg. Beide Eltern klagen über die Belastungen, die durch den Sohn entstehen.

Mu: Ich könnte Klaus nicht ganz ad acta legen. Das kann ich nicht. Wir lieben ihn ja. Obwohl ich manchmal entsetzlich wütend auf ihn bin.

Va: Ich weiß nicht einmal, ob es nutzt, sich zu sorgen und ihm zu helfen.

Mu (weint): Wenn ich wüsste, wie ich besser damit umgehen kann … das Grundproblem ist und bleibt Klaus… Ich reagiere so empfindlich und er (ihr Mann) auch. Wir haben eben verschiedene Ansichten… und so bleibt jeder für sich und allein.

Th zu Va: Woran würden sie erkennen, dass Ihre Frau besser damit umgeht?

Va: Sie würde weniger weinen, weniger traurig sein.

Mu: Ich wäre ausgeglichener, hätte mehr Verständnis für ihn (ihren Mann)

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Beispiel 4. (Forts.)

Th: Woran würden Sie erkennen, dass das Problem vorbei ist?

Mu: Als wenn uns eine Last abgenommen wäre. Als wären wir wieder mehr mit uns eins… Wir würden uns mehr in Arm nehmen… Aber wir tun es ja, wir sind uns einig, tun viel zusammen.

Va (weint): … ja, wir tun viel zusammen… haben es immer getan.

Therapeutische Intervention:

Nach einigen Versuchen, das Ehepaar für Zurückhaltung zu gewinnen, stellt man beim dritten Reflecting Team fest, dass die Eltern offenbar nicht anders können: sie müssen dem Sohn helfen, ihm beistehen.

Statt weiterhin Veränderung anzustreben, werden regelmäßige Begleitungs-gespräche zum besseren Ertragen des Unveränderlichen angeboten. Das Paar fühlt sich verstanden und geht zufrieden nach Hause.

Zur Familie: Der Vater ist 79, die Mutter 75 Jahre alt. Der Sohn ist Mittlerer von 3 erwachsenen Kindern; er ist 42 Jahre alt, gelernter Koch und derzeit depressiv. Geht es hier um Ablösung?

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Zum Schluss

Die Ablösung von Jugendlichen stellt in unserer westlichen Kultur eine komplexe Beziehungsproblematik dar.

Sie läuft nicht homogen ab, sondern in jeder Familie anders. Eine adäquate Therapie passt sich diesen Besonderheiten an. Standardlösungen und ein standardisiertes Vorgehen greifen leicht daneben.

Therapie mit Jugendlichen ist immer Familientherapie, ob mit oder ohne Anwesenheit der anderen Familienmitglieder.

Mit Blick auf die Adoleszenz bietet sich an, statt vom einseitigen Übergang oder von Ablösung eher von beidseitiger Erweiterung zu sprechen.

Das Konzept „Ablösung“ (=> physikalische Analogie) bietet in der Therapie oft einen gangbaren Weg, gehemmte Entwicklungen zu entspannen. Die hinderliche Hemmung kann als Liebesopfer definiert werden. Das Kind ist nicht sicher, ob es seine Eltern sich selbst überlassen darf.

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!