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Achtsamkeit in der Schule

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Stille-Inseln im Unterricht: Entspannung und Konzentration

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5Inhalt

Inhalt

Vorwort .................................................................................................................... 9

Einleitung ............................................................................................................... 11

1. Lob der Bildung ........................................................................................... 15

1.1 Wie viel Körper braucht die Bildung? Wie viel Bildung braucht der Körper? ............................................................................................... 15 1.2 Mens sana in corpore sano? ..................................................................... 16 1.3 »Unzufrieden mit dem Körper und schlecht in der Schule!« ................ 18 1.4 Lass mich bloß in Ruhe! Bleib mir vom Leib! ......................................... 19 1.5 »Die Kinder werden heute nicht mehr erzogen!« ................................... 20 1.6 Was haben Marshmallows mit Erziehung zu tun? .................................. 22 1.6.1 Max und der Bagger – Exkurs über die neurobiologischen Voraussetzungen der Impulskontrolle .......................................... 22 1.7 Was Hänschen von den Eltern nicht lernt, könnte Hans noch von den Lehrern lernen! .................................................................................. 26 1.8 »Mit Haut und Haaren« – Zuwendung und Abgrenzung. Die Komplexität der Lehrer-Rolle ........................................................... 27 1.9 »Bildungsfern – bildungsnah« – Elternschelte hilft nicht weiter! .......... 28

2. Lob der Selbstwirksamkeit ...................................................................... 30

2.1 Viel Lärm ums Hirn? ................................................................................ 30 2.2 Abitur – auch eine Reifeprüfung in Resilienz und Selbstwirksamkeit? .. 31 2.3 Stressprophylaxe und Stressmanagement – wo kann man das lernen? .. 32 2.4 Das Einmaleins der Körper-Geist-Verbindung ....................................... 33 2.4.1 »Gut für mich! Schlecht für mich!« – Das emotionale Bewertungssystem .......................................................................... 33 2.4.2 Was kann die Schlange dafür? ........................................................ 34 2.4.3 Angstgegner: Mathe! Opfer: Anja .................................................. 35 2.4.4 Somatische Marker ......................................................................... 36 2.4.5 Zurück zu Anja ............................................................................... 37

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6 Inhalt

2.4.6 Angst – nützlich und schädlich ..................................................... 38 2.4.7 Die Wechselwirkung zwischen Köper und Geist – Psychoneuroimmunologie und Embodiment .............................. 39 2.5 Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion sind die Grundlage von Selbstwirksamkeit ..................................................................................... 42

3. Achtsamkeit als Haltung .......................................................................... 45

3.1 Was ist Achtsamkeit? – Eine vorläufige Annäherung .............................. 45 3.2 Achtsamkeit ist lernbar ............................................................................ 47 3.3 Achtsamkeit und Selbstreflexion ............................................................. 47 3.4 Selbstreflexion und Selbstregulation ....................................................... 48 3.5 Use it! »Es ist nie zu spät!« ....................................................................... 49 3.6 Achtsamkeit und »Autopilot« .................................................................. 50 3.7 Abenteuer Achtsamkeit ............................................................................ 52 3.8 Wissenschaftliche Studien zur Achtsamkeit – Mindfulness Based Stress Reduction ....................................................................................... 53 3.9 MBSR im Vergleich mit anderen Stressbewältigungsprogrammen ....... 55 3.10 Stressfalle: Ich sollte/ich müsste und weshalb Achtsamkeit hier hilft .... 57 3.11 Mindfulness in Education – Achtsamkeitsschulung in den USA .......... 58

4. Lob des QiGong ........................................................................................... 60

4.1 Weshalb QiGong? ..................................................................................... 60 4.2 Die Wirkung von QiGong ........................................................................ 61 4.3 Die Fremdartigkeit von QiGong .............................................................. 62 4.4 Was bedeutet »Qi«, was bedeutet »Gong«? ............................................. 63 4.5 Woher stammt der Ausdruck QiGong? ................................................... 65 4.6 »Typisch« chinesisch? ............................................................................... 66 4.7 Das Konzept von Yin und Yang ................................................................ 68 4.8 Das Konzept der Fünf Wandlungsphasen ............................................... 69 4.9 Weshalb QiGong in der Schule? .............................................................. 72 4.10 Spannungsregulationsfähigkeit – Voraussetzung für Entspannung und Konzentration ................................................................................... 73 4.11 Forschungen zu QiGong .......................................................................... 76

5. Haltung der Achtsamkeit im Lehreralltag ........................................... 79

5.1 Entdeckungsreise im Schulalltag ............................................................. 79 5.2 Fangen Sie klein an! .................................................................................. 81

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7Inhalt

5.3 Kopieren auf dem Schulweg .................................................................... 81 5.4 »Anfängergeist« ........................................................................................ 83 5.5 Meditation im Sitzen ................................................................................ 85 5.5.1 Eine Sitz-Haltung finden ............................................................... 85 5.5.2 Der Atem als verlässlicher Verbündeter ........................................ 87 5.5.3 »Bauchatmung« – oder Yang Qi Fa ............................................... 88 5.5.4 Ablenkungen durch den Körper .................................................... 89 5.6 Der Lohn der Mühe .................................................................................. 90

6. Achtsamkeitsphasen im Schulalltag .................................................... 92

6.1 Wie beginnen? .......................................................................................... 92 6.2 So nicht! .................................................................................................... 92 6.3 Akzeptanz im Kollegium .......................................................................... 93 6.4 Erster Versuch ........................................................................................... 94 6.5 Wirkung der Achtsamkeitsphasen ........................................................... 96 6.5.1 Exkurs: Auf den Alphawellen surfen ............................................. 97

7. Achtsamkeit zieht Kreise ......................................................................... 99

7.1 Achtsamkeitsphasen als integraler Bestandteil des Unterrichts ............. 99 7.2 Forschung in eigener Sache ...................................................................... 99 7.2.1 Nichts als Zitronen! Der Weg vom Denken/Fühlen zum Körper 100 7.2.2 Miesi und Smiley, Schlurfi und Strahli – Der Weg vom Körper zum Denken/Fühlen ...................................................................... 102 7.2.3 Erfahrungsaustausch ...................................................................... 103 7.3. Zu den Übungen – Anleitung und Art der Durchführung .................... 106 7.4. Der Kern – Die Basisübung ...................................................................... 106 7.4.1 In die Entspannung rutschen ........................................................ 107 7.4.2 Den Atem beobachten .................................................................... 108 7.4.3 Erfahrungsaustausch ...................................................................... 109 7.4.4 Was tun wenn? Einige Schüleraussagen und mögliche Antworten ....................................................................................... 110 7.5 Erster Konzentrischer Kreis – Verfeinerung der Körperwahrnehmung, Aktivierung von Vorstellungsbildern ...................................................... 111 7.5.1 Übungen im Sitzen ......................................................................... 111 7.6 Zweiter Konzentrischer Kreis – Entspannte Wachheit – Wache Entspanntheit ........................................................................................... 123 7.6.1 Bewegte Übungen im Sitzen und im Stehen ................................. 123 7.7. Dritter Konzentrischer Kreis – Die Haltung der Achtsamkeit erforschen ................................................................................................. 142

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8 Inhalt

7.7.1 Wer ist hier der Boss? Der innere Beobachter ............................... 142 7.7.2 Gedankenspirale – »Keiner mag mich!« ........................................ 144 7.7.3 Detektiv im eigenen Alltag spielen ................................................ 146 7.7.4 Zu Besuch bei den Fünf Sinnen ..................................................... 149 7.7.5 Stress lass nach! .............................................................................. 150 7.7.6 »Erwachsen werden« – Programm zur Stärkung der Lebens- kompetenz ...................................................................................... 151 7.7.7 Achtsamkeit für alle? ...................................................................... 152

8. Achtsamkeit öffnet Türen ......................................................................... 156

Literatur .................................................................................................................. 158

Anhang – Adressen von Retreats ........................................................................... 160

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9Vorwort

Vorwortvon Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld

In die pädagogische Diskussion und die schulpolitische Auseinandersetzung in Deutschland ist nach zehn Jahren des Stillstandes Bewegung gekommen. Aber führt diese Bewegung auch in die richtige Richtung? Unter dem Einfluss der international vergleichenden Leistungsstudien, in denen die deutschen Schülerinnen und Schüler nur mittelmäßig gut abschnitten, werden intensive Bemühungen um eine Verstär-kung der fachbezogenen Ergebnisse in den Kernfächern vorgenommen. Angesichts des unbefriedigenden Abschneidens bei den Vergleichsuntersuchungen ist das nach-vollziehbar. Schauen wir uns aber die Effekte in einzelnen Schulen an, kommen doch erhebliche Bedenken. Denn erneut wird ein pädagogischer Reformprozess in Eng-führung von den messbaren Leistungen her aufgerollt, ohne darauf einzugehen, wel-che Voraussetzungen für gute intellektuelle und kognitive Kompetenzen gegeben sein müssen.

Das vorliegende Buch von Vera Kaltwasser stellt die pädagogische Diskussion vom Kopf wieder auf die Füße. Die Autorin macht deutlich, dass gute schulische Leistun-gen, insbesondere auch hervorragende Fachleistungen, nur von Schülerinnen und Schülern erreicht werden können, die sich subjektiv gut fühlen und körperlich-psy-chisch mit sich in Gleichklang sind. Im Buch werden zahlreiche Vorschläge gemacht, wie ein gelungenes Gleichgewicht von Körper und Geist, wie es für jeden Lern- und Entwicklungsprozess von Bedeutung ist, in den alltäglichen Unterricht einbezogen werden kann. Die Vorschläge reichen von Anregungen, wie Schülerinnen und Schüler wirksam mit Stress umgehen können, indem sie Möglichkeiten der Selbstwahrneh-mung kennen lernen, bis hin zu praktischen Anregungen, Achtsamkeitsphasen in den Unterricht einzuflechten, um Schülerinnen und Schüler in ihrer gesamten Persön-lichkeit zu fördern. Eine breite Palette von Übungen und Ideen wird hier ausgebreitet, die alle bereits von der Autorin, selbst praktizierende Lehrerin, ausprobiert und ver-bessert worden sind.

Ich begrüße die Publikation dieses Buches sehr, weil sie Lehrerinnen und Lehrer darin unterstützt, die Verbindung von kognitivem Lernen mit sozialem Lernen end-lich wieder ernst zu nehmen und sie in jeder einzelnen Phase des Unterrichtes um-zusetzen. Unsere wissenschaftlichen Studien an der Universität Bielefeld bestätigen den Ansatz von Vera Kaltwasser auf der ganzen Linie. Nur wenn die Schülerinnen und Schüler sich subjektiv gesund fühlen und eine gute Balance zwischen den An-forderungen von Körper, Psyche, sozialer und physikalischer Umwelt herstellen kön-nen, sind sie in einem umfassenden Sinn des Wortes auch leistungsfähig. Gelingt den Schülern das Gleichgewicht von Körper und Geist, dann geben ihnen intellektuelle Anforderungen die nötigen Herausforderungen, um weiter an sich zu arbeiten. Wer-

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10 Vorwort

den die intellektuellen Anforderungen aber von der Körper-Psycho-Balance isoliert, haben sie keinen sicheren Grund in der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler. Diese Grundauffassung liegt dem Buch von Vera Kaltwasser zugrunde.

Das Buch kann ich nur nachdrücklich empfehlen. Es ist für Lehrerinnen und Leh-rer gut verständlich geschrieben und geht auf die täglichen Berufsbedingungen in der Schule ein. Es sollte unbedingt auch in der Lehrerfortbildung eingesetzt werden, um die bisher vernachlässigten Strömungen der pädagogischen Reformdiskussion zu stärken.

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92 Achtsamkeitsphasen im Schulalltag

6. Achtsamkeitsphasen im Schulalltag

6.1 Wie beginnen?

Angenommen Sie haben nun für sich eine Weile die Haltung der Achtsamkeit erprobt – mit formalen Übungen einerseits und einer allgemein erhöhten Aufmerksamkeit im Alltag andererseits –, angenommen auch, Sie sind von dem Sinn und der Wirksam-keit von Achtsamkeitsphasen im Unterricht überzeugt, weil Sie den Nutzen »am eige-nen Leib« erfahren haben und weil Sie die wissenschaftlichen Begründung plausibel finden, dann stellt sich nun die Frage der Implementierung in den Schulalltag. Dieses Wort aus der neudeutschen Bürokratensprache der Optimierer will so gar nicht zu-sammenpassen mit der Motivation, die Sie antreibt, wenn Sie die neue Qualität der Achtsamkeit in Ihrem Unterricht kultivieren wollen – aber die Struktur der Schul-wirklichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen wäre auch unachtsam. Interessanterweise werden Menschen, die meditieren, praxisorientierter, vielleicht gerade weil sie den Einzelheiten Aufmerksamkeit schenken.

6.2 So nicht!

Sie werden also nicht ohne Vorbereitungen einfach damit anfangen, in einer Ihrer Klassen die Kinder aufzufordern, eine Minute still zu sitzen und auf den Atem zu achten.

Als erfahrener Pädagoge wissen Sie, wie komplex Unterrichtssituationen sind und wie viele Faktoren berücksichtigt werden müssen. »Das Einfachste ist das Schwerste«, diese asiatische Weisheit trifft hier in besonderem Maße zu. In dem lau-ten, schnellen und überfrachteten Schulalltag Phasen der Besinnung zu implemen-tieren bedarf der Vorbereitung, sonst kann sich schnell folgendes Szenarium abspie-len: Lehrer X wollte schon immer mal diese Stilleübungen ausprobieren. An diesem Tag hat er Vertretungen in einer sechsten Klasse. Die Kinder johlen und grölen, als er ankündigt, heute würden sie »mal was Besonderes« machen. Er leitet an, wie sie sit-zen sollen, sagt, sie sollten die Augen schließen und auf ihren Atem achten. Zunächst funktioniert das. Lehrer X freut sich. Ruhe ist eingekehrt, aber nach wenigen Sekun-den rutscht ein Kind unruhig auf dem Stuhl hin und her und fängt an zu kichern. Einige drehen sich nach dem Störenfried um. Sie versuchen, die zappeligen Kinder mit Gesten zu beruhigen, um die Situation zu retten. Doch jetzt beschweren sich die einen, dass die anderen so laut sind. Bei Lehrer X stellt sich Ärger ein. Er wird laut, droht Sanktionen an, macht einen neuen Anlauf. Es wird wieder leiser, aber ein all-

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gemeiner Unmut macht sich breit. Ein Kind stöhnt: »Das ist so langweilig«, ein ande-res nölt: »Was soll das?«, und Lehrer X bricht entnervt diese Übung ab. Wenn dann noch irgendein Schüler zu Hause erzählt, er müsse jetzt in der Schule meditieren und ein aufgebrachter Vater sich bei der Schulleitung beschwert, wertvolle Unterrichtszeit werde mit »esoterischem Schnick-Schnack« vergeudet, dann schiebt Lehrer X diesen Versuch in die Schublade unerfüllbare Träume, und die Schüler haben eine Erfah-rung gemacht, die es einem anderen Kollegen erschwert, der vielleicht ähnlich arbei-ten will. Die Schulleitung ist weiteren Versuchen in dieser Richtung nicht mehr zu-gänglich, und derartige Projekte werden zukünftig mit Verweis auf diese Erfahrung abgeschmettert.

6.3 Akzeptanz im Kollegium

Inzwischen ist das Ziel der Stressprävention und Gesundheitsschulung längst in sei-ner Wichtigkeit anerkannt. Auch die Notwendigkeit des emotionalen Lernens wird wortreich in Schulprogrammen beschworen, aber der Weg zur Erreichung des Zieles an einer konkreten Schule hängt oft von vielen Variablen ab: Wer engagiert sich wo-für? Welche Programme, Module werden vorgeschlagen? Wie ist die allgemeine Stim-mung für entsprechende Projekte? Bedeutet es Mehrarbeit? Was favorisiert die Schul-leitung? Wie sind die Machtverhältnisse im Kollegium? Hat der Elternbeirat beson-dere Vorlieben in dieser Sache? Und so weiter! Wer Schule kennt, der weiß, dass nicht nur die Qualität von Vorschlägen zählt.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl von »Präventions-Programmen« und Modulen zum »Emotionalen Lernen«, die sich aber leider oft mit vielen Arbeitsblättern und Folien oder Power-Point-Präsentationen kognitiver Methoden bedienen und damit die Chance verspielen, ganz unmittelbar bei der Emotionalität der Schüler und ihrer Befindlichkeit anzusetzen.

Da Schulleiter sich in der Pflicht sehen, »etwas in Richtung Stress-Management« in ihren Kollegien anzustoßen, greifen sie bereitwillig – auch, weil sie selbst meist keine Experten in diesem Bereich sind – auf Programme zurück, auf die sie relativ zufällig gestoßen sind. Die Lehrer lassen sich schnell überzeugen, denn sie spüren ebenso, wie dringlich »in dieser Richtung« etwas getan werden muss. Sie stimmen zu, bekommen einen bunten Ordner mit Arbeitsblättern und Folien, vielleicht auch kur-zen Filmsequenzen und nehmen sich vor, nun auch einige Stunden dem »Emotiona-len Lernen« zu widmen. Dass dem Thema überhaupt ein Forum in der schulischen Öffentlichkeit gewidmet wird, kann nur begrüßt werden.

Jeder erfahrene Lehrer weiß aber, dass die tägliche Beziehungsarbeit mit den Schü-lern von isoliert durchgeführten »Modulen« nicht nachhaltig verändert wird. Eine Veränderung kann eigentlich nur stattfinden, wenn die Schüler lernen, selbst »Herr (oder Frau) im eigenen Haus« zu werden.

Das genau ist Ziel der Achtsamkeitsphasen, die unterrichtsbegleitend den Prozess zur Selbstkompetenz kontinuierlich intensivieren.

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94 Achtsamkeitsphasen im Schulalltag

In den Grundschulen sind Stille-Phasen schon weit verbreitet, vielleicht auch, weil da eine »kindgerechte« Pädagogik noch eher akzeptiert wird. Je älter jedoch die Schüler, desto weniger kommen sie in den Genuss ganzheitlicher Methoden, die spielerisch die Individualität des Schülers fördern.

Die jüngsten Erkenntnisse der Hirnforschung können hier eine sehr gute Argu-mentationshilfe sein. In gewisser Weise handelt es sich um Pionierarbeit. Deshalb ist es wichtig, genau zu überlegen, in welchem organisatorischen Rahmen Sie diese Ar-beit etablieren wollen.

Ob Sie an Ihrer Schule die Achtsamkeitsphasen also erst einmal in Absprache mit dem Klassenteam einer Klasse beginnen, ob Sie eine schulinterne Fortbildung mit praktischen Übungen in die Wege leiten oder das Thema in Absprache mit der Schul-leitung in der Gesamtkonferenz präsentieren, ergibt sich aus Ihrer ganz individuel-len Situation in der Schule. Derzeit gibt es ein großes Interesse an solchen Initiativen, weil viele Lehrerinnen und Lehrer erkennen, dass angesichts der gesteigerten Anfor-derungen Raum geschaffen werden muss für Ruhe und (Selbst-)Besinnung. So wird zum Beispiel eine wöchentliche Fortbildung in QiGong nicht als »zusätzliche« Belas-tung erlebt, sondern als willkommene Regenerationsmöglichkeit geschätzt, zugleich lernen die Lehrer einfache Übungen, die sie dann wieder in ihren Klassen vermitteln können.

Als ich in Kalifornien Schulen besucht habe, die »Mindfulness in Education« in ihr Curriculum übernommen haben, wurde mir von einer Schule in Seattle erzählt, die den Schulmorgen mit Stille beginnt. Eine Viertelstunde nach Unterrichtsbeginn fal-len alle Schüler in einen allmorgendlichen Dornröschenschlaf. Auch auf den Gängen – Ruhe, im Sekretariat – Ruhe.

Ob der Schulleiter hinter der geschlossenen Tür auch meditiert? Vielleicht schon, immerhin hat er dieses Ritual angeregt.

»Achtsamkeit macht Schule« (AMSL) heißt eine Studie, die derzeit von der Uni-versität Kassel (Prof. Dauber) durchgeführt wird. Hier wird untersucht, ob und wie sich der Unterricht von Lehrern, die regelmäßig meditieren, verändert.

Wär doch schön, wenn Kollegien sich insgesamt für Achtsamkeitsphasen erwär-men könnten! Es »müssen« ja nicht alle Kollegen aktiv dabei sein. Wenn ein Kol-lege im Klassenteam mit der Klasse entsprechend arbeitet, dann bekommen die Stille-Phasen eine Selbstverständlichkeit und prägen ganz gewiss das Schulklima.

Das ist die Vision. Aber Sie können zunächst ja auch ganz unspektakulär anfan-gen.

6.4 Erster Versuch

Für Ihre ersten Versuche suchen Sie sich am besten eine Klasse aus, mit der Sie »gut können«. Nicht zu jeder Lerngruppe hat man denselben Draht. Deshalb sollte man für den Einstieg die Gruppe wählen, die einem emotional am meisten liegt. Dass sich fünfte und sechste Klassen am besten eignen, habe ich ja schon begründet, aber

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es kann auch gut sein, dass Sie eine Mittelstufenklasse wählen, weil Sie die Schüler schon längere Zeit unterrichten und sich ein Klima des Vertrauens hergestellt hat. Für die Arbeit mit Oberstufenschülern werde ich später noch genauere Hinweise geben.

Sie sollten die Lehrer im Klassen-Team von Ihrem Vorhaben unterrichten. Viel-leicht wollen ja andere Kollegen in ihrem Unterricht auch Achtsamkeitsphasen ein-führen. Hüten Sie sich allerdings davor, mit missionarischem Eifer andere Kollegen dazu zu bringen, das »auch mal« auszuprobieren. Diese Arbeit bedarf einer ernsthaf-ten Sorgfalt und einer entsprechenden Schulung. Spontanes Herumexperimentieren ist kontraproduktiv. Die Schulleitung sollte auf jeden Fall nicht nur informiert wer-den, sondern auch mit ins Boot geholt werden.

Da die Achtsamkeitsphasen regelmäßig stattfinden sollten, haben sie den Charak-ter eines Rituals, d.h. die formalisierten Abläufe bewirken eine Selbstverständlichkeit und Entlastung. Wenn einmal geklärt ist, wie man zu sitzen hat, wie die Phasen ge-staltet sind, können die Erklärungen mit der Zeit wegfallen. Durch die Wiederholung entsteht eine Vertrautheit mit den Übungen, gleichzeitig kann jede Übung immer neu und frisch erlebt werden (»Anfängergeist«!), weil ja jeder Augenblick neu erlebt wird und jeden Tag eine andere Gestimmtheit vorhanden ist.

Sie sollten nicht vergessen, die Eltern zu informieren, am besten nach vorheriger Absprache mit der Schulleitung auf einem Elternabend. Das ist eine gute Gelegenheit, etwaige Sorgen zu zerstreuen, hier gehe es um Sektenhaftes oder um Esoterisches. Wissenschaftliche Erläuterungen über die erforschten Wirkungen von Achtsamkeit hinsichtlich Stressmanagement und Selbstmanagement werden meist mit Interesse zur Kenntnis genommen. Vielleicht wagen Sie es ja auch, die Eltern zu einem kleinen Experiment zu verlocken. Dann ist meist das Eis gebrochen.

Nachdem sie die schulorganisatorischen Aspekte geklärt haben, stellt sich für Sie die Frage, an welchen Stellen des Unterrichts Sie die Achtsamkeitsphasen durchführen, wie oft und in welchem Umfang. Werfen Sie doch mal ein Steinchen ins Wasser!

Bitte verlangen Sie von mir nun keine übersichtlichen Tabellen, die Sie wie ein Re-zeptbuch verwenden können. Ich mache Ihnen Angebote – sozusagen in konzentri-schen Kreisen – vom Einfachen zum Komplexeren.

Ich habe den folgenden praktischen Teil so aufgebaut, dass ich an den Anfang die »kleine Lösung« stelle – Achtsamkeitsphasen als ritualisierte »Stille-Inseln« im Unter-richt. Das ist das kleine Steinchen, das man zunächst einmal probehalber ins Wasser werfen kann. Dieser erste »Wurf« kann Kreise ziehen: Diese Arbeit kann der Einstieg sein in eine umfassende Schulung der Sinne und eine gezielte Anleitung zur Selbstre-flexion, die ihrerseits Voraussetzung für Empathie und Einfühlung ist.

Im Deutsch-Unterricht (auch im Musik-, Kunstunterricht und im Fach »Darstel-lendes Spiel«) lässt sich die Haltung der Achtsamkeit besonders gut kultivieren und einüben, denn Literatur und Poesie, Musik, Bildende Kunst laden dazu ein, mit allen Sinnen zu erleben und kreativ die Sinne zu schulen und dabei immer zu fragen: »Was habe ich damit zu tun?« »Wo komme ich hier vor?«. Keine Angst, ich möchte hier

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nicht Literatur oder Kunst zum »Selbsterfahrungs-Trip« instrumentalisieren, aber ge-rade im Deutsch-Unterricht können emotionales Lernen und die Einübung von Em-pathiefähigkeit so unauffällig und doch so nachhaltig geschehen, dass jeder Deutsch-lehrer guten Gewissens die Chance nutzen sollte, über den Zauber der Poesie oder das Einfühlen in eine Rolle jedem Schüler einen ganz persönlichen Zugang zu eröffnen. Das schließt eine analytische, literaturtheoretische oder fachwissenschaftliche Arbeit keineswegs aus, sondern das lebendige Anverwandeln von Kunstwerken erhöht die Bereitschaft zur Rezeption mit abstrakterer Begrifflichkeit.

Ausgehend von ersten Achtsamkeitsübungen können Sie also solche Phasen der Stille auch nutzen, um zum Beispiel eine Fantasiereise zur Einfühlung in eine litera-rische Figur anzuleiten. Oder Sie versetzen die Schüler in die Lage, mit der Anspan-nung vor dem Abitur proaktiv umgehen zu können. Wenn Sie zum Beispiel als Tutor für einen Abiturkurs verantwortlich sind, können Sie Visualisierungen oder QiGong-Übungen einsetzen, damit die Schüler lernen, mit Stress umzugehen.

Wählen Sie also von den folgenden Übungen, diejenigen aus, die Ihre Ziele unter-stützen können. Wahrscheinlich werden Sie mit der Zeit auch eigene Übungen ent-wickeln.

6.5 Wirkung der Achtsamkeitsphasen

Körperliche Auswirkungen der Übungen (die immer auch auf das Bewusstsein wir-ken):

Veränderung des Muskeltonus. Der neuromuskuläre Spannungszustand● , der To-nus, verändert sich, wenn die Reize auf das motorische System reduziert werden. Dadurch werden weniger Impulse zum Gehirn aufsteigen (afferente Reize), und wenn ihrerseits die Reize, die vom Gehirn zu der Muskulatur gelangen (efferente Reize), reduziert sind, werden die dämpfenden körpereigenen Reize verstärkt. Kardiovaskulär setzt eine Gefäßerweiterung ein, der Blutfluss vermehrt sich. Dies wird subjektiv als Wärme, Kribbeln, Kitzeln empfunden.

Wenn mit den Schülern Entspannungsübungen gemacht werden, dann sollte – in der Sprache, die der Altersstufe angemessen ist – über diese Wirkungen genau gespro-chen werden.

Die Schüler interessieren sich sehr für diese Vorgänge, und im Verbund mit dem Biologielehrer gäbe es hier ein Thema, für das die Schüler sicherlich intrinsisch mo-tiviert sind. Die bei der Entspannung eintretenden Gefühle der Wärme oder Schwere können vielleicht als bedrohlich empfunden werden, einfach weil sie unbekannt und unerklärlich sind.

Entsprechende Hinweise sollte man allerdings vor den ersten Übephasen knapp halten, damit nicht auf solche Wirkungen gelauert wird, was der Entspannungsab-sicht zuwider laufen würde.

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Weitere Wirkungen von Entspannungsübungen sind:

Verlangsamung der Pulsrate, Blutdrucksenkung;●

perspiratorische Veränderungen (Verlangsamung des Atemrhythmus, Vertiefung ●

des Atems);Herabsetzung des Hautwiderstandes;●

hirnelektrische Veränderungen (z.B. Zunahme der Alphawellen).●

6.5.1 Exkurs: Auf den Alphawellen surfen

Von den Alphawellen hat jeder schon mal gehört. Auf ihnen ließe sich ganz entspannt in einen Zustand der Kreativität und Intuition surfen. Was hat es damit auf sich?

Der Aktiviertheitsgrad des Gehirns wird mit dem EEG gemessen. Man unterschei-det vier wichtige elektrische Potenzialschwankungen.

Im Tiefschlaf treten die energieärmsten Delta-Wellen auf. Während des Traum-schlafs sind die Theta-Wellen vorherrschend. Betawellen kommen im Wachzustand vor, in den höheren Bereichen vor allem bei körperlicher Anstrengung, bei emoti-onaler Betroffenheit und mentaler Belastung. Im angespannten Zustand herrschen sogenannte »mittlere und höhere Beta-Wellen« vor. Sie spiegeln die stark fokussierte Aufmerksamkeit wieder, bei 40 Hz und höher handelt es sich um einen alarmbereiten Zustand, z.B. um Panik.

In den tieferen Bereichen des Beta sind wir wach, präsent und aufmerksam.Die Alpha-Wellen habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben, denn um sie soll es

hier etwas ausführlicher gehen. Im Frequenzbereich zwischen 7 und 40 Herz entspre-chen sie dem entspannten Wachzustand.

Meist liegt eine Kombination von verschiedenen Hirnwellen vor, wobei die Beta-Wellen vorherrschen. Wenn wir ruhig, konzentriert und gut gelaunt einem Mu-sikstück lauschen, herrschen die Alpha-Wellen vor. Wenn Sie jemand dabei stört, verändern sich die Hirnwellen sofort und werden umso höher in der Frequenz, je unangenehmer und lästiger Ihnen die Störung ist.

Die Alpha-Wellen signalisieren einen Zustand der Wachheit verquickt mit Ent-spannung und emotionaler Zufriedenheit. Dieser Zustand lädt zur Kreativität gera-dezu ein. Ungewöhnliche, neue Gedankenverbindungen fallen einem ein. Petermann zitiert eine Studie zur Auswirkung von Autogenem Training: Kurzzeittrainierte konn-ten den Aktiviertheitsgrad des Gehirns im Bereich der Alphawellen weniger lange hal-ten. Sie schliefen während der Übungen ein, sie wiesen eher Thetawellen auf, die den Übergang zum Einschlafen kennzeichnen. Langzeittrainierte konnten das Einschla-fen verhindern und blieben in dem entspannten Wachzustand. Auch dies belegt, wie sinnvoll ein kontinuierlicher Übungsprozess ist (Petermann 2005, S. 59).

In vielen Büchern wird in diesem Zusammenhang immer betont, dass dabei die rechte Hirnhemisphäre besonders aktiv sei, also die Hirnhälfte, die eine besonders ak-tiv Rolle spielt, wenn es um das Evozieren innerer Bilder und Assoziationen geht. Viele

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Hirnforscher stehen der so beliebten, auch in vielen Ratgebern behaupteten klaren Rollenverteilung zwischen linker Gehirnhälfte (Sprache, Logik, Analyse) und rechter Gehirnhälfte (Intuituion, Kreativität, Bildhaftigkeit) aber skeptisch gegenüber. Prof. Stangl formuliert diese Vorbehalte folgendermaßen:

»Die beiden Hirnhälften sind also nicht einfach dichotom in einen sprachlichen und nicht sprachlichen Bereich zu unterteilen, sondern vielmehr ist davon auszugehen, dass die beiden Hirnhälften dazu in der Lage sind, zwischen eingehenden Informatio-nen weit stärkere Differenzierungen vorzunehmen als sprachlich und nicht sprachlich. Das Bild wird noch viel komplizierter, wenn man Besonderheiten bei Frauen gegen-über Männern, und Rechtshändern gegenüber Linkshändern einbezieht, insbeson-dere solchen Personen mit Linkshändigkeit in der Familie. Das permanente Zusam-menwirken beider Hälften macht es sehr schwierig, kortikale Aktivitäten innerhalb des Gehirns überhaupt genau zu lokalisieren. So findet etwa das Wiedererkennen von Gesichtern, die außerordentlich komplexe Stimuli darstellen, in beiden Hirnhälften statt. Das größte Problem der »right brain-left brain«-Theorie ist aber die fehlende Möglichkeit, den Inhalt neurologischer Reaktionen zu messen, denn Aktivität in den jeweiligen Hirnhälften sagt nichts über die tatsächliche Verarbeitung aus, auch dann nicht, wenn sich Korrelationen zwischen Recall und/oder Recognition finden lassen. So übernimmt auch die rechte Hemisphäre, die zum Beispiel über ein umfangreiches Lexikon verfügt, Aufgaben bei der Sprachbearbeitung. Ebenso ist die linke Hälfte an der Verarbeitung von Musik beteiligt. Aus der Spezialisierung der Hemisphären ein-deutige Schlussfolgerungen für das Lernen abzuleiten, ist fragwürdig.«(http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnRechtsLinks.shtml(07-12-15))

Wirkung der Achtsamkeitsphasen:

Die Selbstwahrnehmung der Schüler verfeinert sich. ●

Die Konzentrationsfähigkeit erhöht sich. ●

Die Schüler lernen, Anspannung bei sich zu erkennen und zu lösen. ●

Die Fähigkeit zur Spannungsregulation wird ausgebildet. ●

Die Schüler erlernen die Fähigkeit, sich in Stress-Situationen selbst zu beruhigen kön- ●

nen.Die Schüler nehmen ihr inneres Selbstgespräch bewusst wahr und lernen belastende ●

Gedankenspiralen zu unterbrechen.Die Schüler verbessern ihre Fähigkeit zur Impulskontrolle. ●

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99Achtsamkeit zieht Kreise

7. Achtsamkeit zieht Kreise

7.1 Achtsamkeitsphasen als integraler Bestandteil des Unterrichts

Das hier vorgestellte Konzept passt sich flexibel den jeweiligen Rahmenbedingungen des Unterrichts und der unterschiedlichen Zielsetzung an.

Das Bild des Steinchens, das – ins Wasser geworfen – Kreise zieht, hat mich dazu gebracht, die Achtsamkeitsphasen konzentrisch aufzubauen: Vom Zentrum der einfa-chen Beobachtung des Atems in der Stille geht es weiter über einfache QiGong-Übun-gen bis zu Übungen, welche die Selbstreflexion der Schüler umfassend schulen. Wenn das Emotionale Lernen vertieft werden soll, bietet sich hier besonders das Programm »Erwachsen werden« an.

Wenn Sie die Basisübung ritualisieren und regelmäßig durchführen, dann wer-den Sie schon bald bemerken, wie wohltuend nicht nur die Übungszeit an sich ist, sondern wie sie sich auch auf das Klassenklima auswirkt. Die Schüler werden ruhi-ger, können immer länger entspannt sitzen und fordern diese Stille-Zeiten direkt ein. Ob Sie dann auch in Gesprächen und mit anderen hier vorgeschlagenen Übungen die Haltung der Achtsamkeit weiter befördern, hängt davon ab, ob Sie dafür zum Bei-spiel eine Klassenstunde nehmen können, die für diese Belange gedacht ist, ob Sie im Deutschunterricht im Rahmen des Emotionalen Lernens einen Platz finden oder an-dere Möglichkeiten haben.

Die Übungen eignen sich ab der fünften Klasse (eventuell auch schon ab der drit-ten Klasse), und sie können auch in der Oberstufe sehr gut eingesetzt werden. Auch hier bleibt es Ihrer Einschätzung überlassen, inwieweit Sie vielleicht die Anleitungen sprachlich variieren und dem Verständnis der Schüler anpassen. Es handelt sich hier um einen kreativen Prozess, der sich jeweils ganz unverwechselbar entfaltet im Zu-sammenspiel zwischen Ihrer Klasse und Ihnen.

7.2 Forschung in eigener Sache

Der Einstieg in die Achtsamkeitsphasen ist entscheidend für deren Erfolg. Wie wohltu-end Stille und Selbstbesinnung sein können, diese Erfahrung braucht einen geschütz-ten Raum, im wörtlichen und übertragenen Sinn.

Wenn die Schüler die Herzlichkeit und Wertschätzung spüren, welche die Hin-wendung zu ihrem ganz persönlichen Da-Sein beinhaltet, dann lassen sie sich ver-trauensvoll auf den Weg ein.

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100 Achtsamkeit zieht Kreise

In dieser Vorphase sollten Sie die Schüler neugierig machen und bei ihnen Begeiste-rung dafür wecken, dass sie zu Forschern in eigener Sache werden. Verwenden Sie ruhig das Bild der Forschungsreise. Mit jeder Übung erkunden die Schüler neues Terrain. Sie befreunden sich mit sich selbst – stellen in kleinen, aber immer wiederkehrenden Si-tuationen eine Beziehung zu ihrem Körper und ihren Gefühlen her. Machen Sie kein großes »Brimborium« aus dieser ersten Übungsphase, sondern versuchen Sie von An-fang an ein Klima der Selbstverständlichkeit zu schaffen und steigen Sie auch gleich mit einem »Forschungsexperiment« ein. Es geht darum, den Schülern sinnfällig er-lebbar zu machen, wie eng die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist ist, um ih-nen dann in einem zweiten Schritt Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie lernen können, sich zu beruhigen, zu entspannen oder zu motivieren.

7.2.1 Nichts als Zitronen! Der Weg vom Denken/Fühlen zum Körper

Dieses »Experiment« sollte spielerisch eingeleitet werden, aber nicht den Charakter einer Spielerei haben! Achten Sie darauf, dass schon bei dieser Übung, die Schüler entspannt aufrecht sitzen.

Wir haben ja alle die wunderbare Fähigkeit, uns Dinge vorzustellen. Machen wir ➔doch mal ein kleines Experiment. Ihr schließt die Augen. Ihr sitzt aufrecht ohne Anstrengung und kommt innerlich zu Ruhe. Hört einfach meiner Stimme zu und versucht, euch das vorzustellen, was ich euch sage.

Eure Augen bleiben geschlossen. Ihr kommt zur Ruhe und bereitet euch auf dieses Gedankenexperiment vor. Aktiviert euren Forschergeist. Beobachtet ganz genau, was geschieht, und zwar in euren Gedanken und eurem Körper. Stellt euch alles ganz anschaulich vor, so als würdet ihr einen Film sehen. Es geht um dieses innere Schauen, um dieses Kopf-Kino, das wir jederzeit ohne Eintrittskarten betreten können.

In eurer Vorstellung seht ihr jetzt eine Zitrone, eine richtig reife Zitrone in einem satten Gelb. Stellt euch diese Zitrone ganz genau vor. Betrachtet die Schale mit ihren kleinen Unebenheiten. Jetzt seht ihr, wie die Zitrone langsam aufge-schnitten wird. Es ist wie in einer Nahaufnahme, ihr seht nicht, wer die Zitrone aufschneidet.

Ihr seht, wie die Zitrone mit einem Messer zerteilt wird, der Zitronensaft quillt schon ein wenig aus dem Fruchtfl eisch. Jetzt seid ihr plötzlich in der Szene. Ihr greift nach der Zitrone, führt sie zum Mund und leckt mit eurer Zunge ein wenig den Zitronensaft vom Fruchtfl eisch. Nehmt genau wahr, was in eurem Körper vorgeht.

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101Achtsamkeit zieht Kreise

Wie schmeckt der Zitronensaft? Spürt eure Zunge und den gesamten Mundin-nenraum.

Dann legt ihr die Zitrone wieder auf den Tisch, schaut sie noch ein wenig an.

Beobachtet, was in eurem Körper vorgegangen ist. Wie fühlt sich euer Mund jetzt an?

Langsam verschwindet das Bild von der Zitrone, und ihr öffnet behutsam die Augen.

Sicherlich werden sich nach diesem Experiment gleich ein paar Schüler zu Wort melden und verwundert davon berichten, dass sie die Zitrone »wirklich« geschmeckt hätten. Puh, sei die sauer gewesen. Einige werden vielleicht auch darüber staunen, dass sie plötzlich mehr »Spucke« im Mund gehabt hätten. Und Bingo! Quod erat demonstrandum!

Dass Vorstellungen und Gedanken Einfluss z.B. auf die Speichelproduktion ha-ben können, das konnten die Schüler bei dieser Visualisierung am eigenen Leib erfahren. Ausgehend von dieser Erfahrung kann sich ein Gespräch entwickeln, über die Wirkung von Gedanken und Gefühlen auf den Körper: Meist sprudeln die Ant-worten nur so. Es hängt von der Situation ab, inwieweit Sie hier eine »Tiefung« an-streben.

Wie ist das für euch, wenn ihr merkt, dass Gedanken euch beeinfl ussen, seien ➔es angenehme oder unangenehme Gedanken? Wie wirkt es sich aus, wenn ihr euch freut, wie ist es, wenn belastende oder unangenehme Gedanken in eurem Kopf herumschwirren.

Wie fühlt es sich an, wenn man sich in der Klasse melden will und traut sich nicht? Wie macht sich Angst im Körper bemerkbar? Wo im Körper und wie macht sich das Gefühl der Wut bemerkbar?

Das »Zitronenexperiment« ebnet den Weg für ein Gespräch über den Einfluss von Gedanken auf den Körper. Lassen Sie sich auch hier von der Stimmung in der Klasse leiten. Ob Sie detailliert nach einzelnen Gefühlen und ihren körperlichen Anzeichen fragen oder die Schüler von sich aus auf die unterschiedliche Wahrnehmung von sub-jektiv belastenden oder freudig angenehmen Gedanken anspielen, das hängt auch von der Altersstufe ab. Während Fünft-Klässler oft kaum zu bremsen sind in ihrer Eigen-beobachtung, behalten Mittelstufenschüler ihre Wahrnehmungen eher für sich, aber sie mögen diese »Experimente«, auch wenn sie nach außen cool und unbeteiligt er-scheinen. Halten Sie es aus, wenn nur wenige sich beim Erfahrungsaustausch mel-den: Je schweigsamer die Schüler, desto wirkungsvoller manchmal die Übungen! In der Oberstufe ändert sich die Situation wieder, da wird dann oft recht schnell »ratio-nalisiert« und mit Erkenntnissen aus der Biologie aufgewartet. Die persönliche Be-