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Stellungnahme der Deutschen AIDS-Hilfe und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur „Aids-Kritik“ Geschichte und Hintergrund Etwa drei Jahre nach der Entdeckung des Aids-auslösenden Virus HIV (1983/84) traten Gruppen ins Licht der Öffentlichkeit, die einen Zusammenhang zwischen HIV und Aids leugneten oder insgesamt die Existenz von HIV in Frage stellten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Thesen dieser so genannten Aids-Kritiker führte bereits Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre zum eindeutigen Ergebnis, dass die bis heute immer wieder vorgebrachten Einwände und Argumente wissenschaftlich haltlos sind. Dass Aids andere Ursachen habe als HIV, wurde erstmals 1987 von Peter Duesberg, Professor für Molekularbiologie an der Universität von Kalifornien/Berkeley, behauptet, der als der führende Vertreter der „Aids-Kritik“ angesehen wird. Grundsätzlich ist zu sagen, dass Wissenschaft oft von Weltbildern und Deutungen ausgeht und diese dann zu verifizieren oder falsifizieren trachtet. Unsere heute übliche Auffassung („Deutung“) der HIV-Infektion wird in aller Welt von der weit überwiegenden Mehrheit aller Wissenschaftler/innen und Praktiker/innen getragen, die sich ernsthaft und intensiv damit auseinander setzen. Diese Sicht der Existenz und Rolle von HIV stützt sich auf umfassende wissenschaftliche Beweise und wird durch neue Erkenntnisse ständig weiterentwickelt. Manches von dem, was wir heute über die HIV- Infektion wissen, wird sich möglicherweise zukünftig als falsch oder überholt herausstellen. So gesehen ist – wie dies in allen Bereichen der Wissenschaft gilt - ein „aktueller Wissensstand“ immer auch potentiell „der aktuelle Stand des Irrtums“. Einige unserer heutigen Annahmen zur HIV-Infektion sind deshalb grundsätzlich auch angreifbar. Die bisher vorliegenden, sehr umfangreichen und tiefgehenden wissenschaftlichen Belege zeigen allerdings mehr als deutlich, dass HIV tatsächlich der Auslöser von Aids ist und die Kombinationstherapien das Virus über lange Zeit in Schach zu halten vermögen. Kernsätze der Aids-Kritik Die Argumente der Aids-Kritik kann man in folgenden Kernsätzen zusammenfassen: HIV sei nicht die Ursache von Aids. HIV sei nicht ansteckend. Aids werde durch persönliches Verhalten (z.B. bestimmte sexuelle Praktiken) verursacht. Bei der Entstehung von Aids spiele vor allem Drogenmissbrauch eine wichtige Rolle. Aids werde erst durch die Einnahme antiretroviraler Medikamente verursacht. Wer mit der medizinisch-biologischen Seite der HIV-Infektion nur wenig vertraut ist, dem mögen die Kernsätze der Aids-Kritik durchaus stimmig und attraktiv erscheinen. Aber sie sind gefährlich – im Wortsinne lebensgefährlich. Denn sie können z.B. glauben machen, man könne durch eine „richtige Lebensweise“ gesund bleiben. Die Argumente der Aids-Kritik nähren und bestätigen fatalerweise die Ansicht, dass gelebte Homosexualität wie auch Drogengebrauch von Übel seien, auf schützende Verhaltensweisen verzichtet werden könne und die Schulmedizin ohnehin nur schade. „Wozu Safer Sex, wenn HIV gar nicht Aids verursacht“, fragt sich mancher. Oder: „Wozu antiretrovirale Medikamente einnehmen, die nichts nützen oder mich überhaupt erst krank machen?“ Gefährliche Sichtweisen, vor allem wenn man bedenkt, dass viele jüngere HIV-Positive nichts über die einst um die Aids-Kritik geführten Debatten wissen.

Aids-Kritk DAH BZgA 2006

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Stellungnahme der Deutschen AIDS-Hilfe und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur „Aids-Kritik“

Geschichte und Hintergrund Etwa drei Jahre nach der Entdeckung des Aids-auslösenden Virus HIV (1983/84) traten Gruppen ins Licht der Öffentlichkeit, die einen Zusammenhang zwischen HIV und Aids leugneten oder insgesamt die Existenz von HIV in Frage stellten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Thesen dieser so genannten Aids-Kritiker führte bereits Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre zum eindeutigen Ergebnis, dass die bis heute immer wieder vorgebrachten Einwände und Argumente wissenschaftlich haltlos sind. Dass Aids andere Ursachen habe als HIV, wurde erstmals 1987 von Peter Duesberg, Professor für Molekularbiologie an der Universität von Kalifornien/Berkeley, behauptet, der als der führende Vertreter der „Aids-Kritik“ angesehen wird. Grundsätzlich ist zu sagen, dass Wissenschaft oft von Weltbildern und Deutungen ausgeht und diese dann zu verifizieren oder falsifizieren trachtet. Unsere heute übliche Auffassung („Deutung“) der HIV-Infektion wird in aller Welt von der weit überwiegenden Mehrheit aller Wissenschaftler/innen und Praktiker/innen getragen, die sich ernsthaft und intensiv damit auseinander setzen. Diese Sicht der Existenz und Rolle von HIV stützt sich auf umfassende wissenschaftliche Beweise und wird durch neue Erkenntnisse ständig weiterentwickelt. Manches von dem, was wir heute über die HIV-Infektion wissen, wird sich möglicherweise zukünftig als falsch oder überholt herausstellen. So gesehen ist – wie dies in allen Bereichen der Wissenschaft gilt - ein „aktueller Wissensstand“ immer auch potentiell „der aktuelle Stand des Irrtums“. Einige unserer heutigen Annahmen zur HIV-Infektion sind deshalb grundsätzlich auch angreifbar. Die bisher vorliegenden, sehr umfangreichen und tiefgehenden wissenschaftlichen Belege zeigen allerdings mehr als deutlich, dass HIV tatsächlich der Auslöser von Aids ist und die Kombinationstherapien das Virus über lange Zeit in Schach zu halten vermögen. Kernsätze der Aids-Kritik Die Argumente der Aids-Kritik kann man in folgenden Kernsätzen zusammenfassen: • HIV sei nicht die Ursache von Aids. • HIV sei nicht ansteckend. • Aids werde durch persönliches Verhalten (z.B. bestimmte sexuelle Praktiken) verursacht. • Bei der Entstehung von Aids spiele vor allem Drogenmissbrauch eine wichtige Rolle. • Aids werde erst durch die Einnahme antiretroviraler Medikamente verursacht. Wer mit der medizinisch-biologischen Seite der HIV-Infektion nur wenig vertraut ist, dem mögen die Kernsätze der Aids-Kritik durchaus stimmig und attraktiv erscheinen. Aber sie sind gefährlich – im Wortsinne lebensgefährlich. Denn sie können z.B. glauben machen, man könne durch eine „richtige Lebensweise“ gesund bleiben. Die Argumente der Aids-Kritik nähren und bestätigen fatalerweise die Ansicht, dass gelebte Homosexualität wie auch Drogengebrauch von Übel seien, auf schützende Verhaltensweisen verzichtet werden könne und die Schulmedizin ohnehin nur schade. „Wozu Safer Sex, wenn HIV gar nicht Aids verursacht“, fragt sich mancher. Oder: „Wozu antiretrovirale Medikamente einnehmen, die nichts nützen oder mich überhaupt erst krank machen?“ Gefährliche Sichtweisen, vor allem wenn man bedenkt, dass viele jüngere HIV-Positive nichts über die einst um die Aids-Kritik geführten Debatten wissen.

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Im Folgenden werden Behauptungen und Argumentationsweisen unter die Lupe genommen, mit denen die Aids-Kritik den weltweiten, breiten wissenschaftlichen Konsens zu HIV/Aids in Frage stellt. Grundlage sind im Wesentlichen zwei Beiträge von Martin Delaney1 und Siegfried Schwarze2 zu diesem Thema. Behauptungen3 und Fakten (nach Martin Delaney) • Die Zahl der Wissenschaftler/innen, die nicht HIV als die Ursache von Aids ansehen, nimmt immer mehr

zu. Tatsächlich gibt es aber auch heute nur eine Handvoll Wissenschaftler, die diese Sichtweise vertreten. Nur wenige von ihnen sind Mediziner, von diesen wiederum ist nur ein Bruchteil mit der Behandlung von Menschen mit HIV/Aids befasst, und keiner aus dieser Gruppe – einschließlich Peter Duesberg – war jemals selbst in der Aids-Forschung tätig. Die ganz große Mehrheit der Aids-Experten in aller Welt aus den Bereichen Virologie, Immunologie, Infektiologie, Epidemiologie und medizinische Behandlung vertritt aus sehr guten Gründen die Überzeugung, dass Aids durch HIV verursacht wird. Dass Aids durch HIV ausgelöst wird, wird seit vielen Jahren durch die unbestreitbaren und großen Erfolge der antiretroviralen Therapien erhärtet. Obgleich die derzeit verfügbaren Medikamente nach heutigem Kenntnisstand nur für begrenzte Zeit wirksam sind und obgleich sie starke Nebenwirkungen haben, ist festzustellen, dass die Zahl der durch Aids verursachten Todesfälle seit ihrer Einführung drastisch gesunken ist. Zugleich ist bei Menschen mit HIV unter der Therapie die Lebenserwartung deutlich gestiegen und ihre Lebensqualität hat sich wesentlich verbessert. • Aids ist nichts weiter als eine Anhäufung altbekannter Krankheiten, die man nur mit einem neuen

Namen versehen hat. Zwar stimmt es, dass unter dem Begriff Aids eine Reihe von Krankheiten gefasst werden, die man schon lange kennt – die Bezeichnung „Syndrom“ steht ja auch für ein Krankheitsbild, das sich aus dem Zusammentreffen verschiedener Symptome ergibt. Aids entsteht jedoch infolge einer erworbenen Immunschwäche, die man in dieser Form erstmals im Jahr 1981 beobachtete, als immer mehr junge homosexuelle Männer an einer Lungenentzündung erkrankten, die bisher nur bei Menschen mit geschwächtem Abwehrsystem aufgetreten war. Die Vermutung, der Auslöser müsse ein Virus sein, bestätigte sich schließlich 1983/84, als es Wissenschaftlern in den USA und in Frankreich gelang, das Virus zu isolieren. HIV schädigt das Immunsystem und zerstört es schließlich. In der Folge kommt es zu „opportunistischen Infektionen“ mit ansonsten meist harmlosen Erregern, die jetzt „die günstige Gelegenheit nutzen“, um sich ungehindert zu vermehren und schwere Erkrankungen auszulösen. • Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass HIV die Ursache für Aids ist. Als das französische Forscherteam um Luc Montagnier 1983 das bisher unbekannte Virus aus den Lymphknoten eines Patienten mit Symptomen von Aids isoliert hatte, lagen noch nicht genügend Daten vor, um beweisen zu können, dass dieses Virus tatsächlich die Ursache von Aids war. 1984 jedoch legte der US-amerikanische Virologe Robert Gallo umfangreiche Unterlagen aus Routine-Untersuchungen vor, aus denen hervorging, dass das Virus nur bei solchen Menschen gefunden wurde, die verschiedene Aids-assoziierte Symptome aufwiesen. Diese Ergebnisse ließen den Schluss zu, dass HIV die Ursache von Aids sein muss. Gallo und sein Team entwickelten daraufhin einen Bluttest zum Nachweis von HIV-Antikörpern. Mittlerweile können die US-amerikanischen National Institutes of Health auf mehr als 500 wissenschaftliche Veröffentlichungen verweisen, in denen der ursächliche Zusammenhang zwischen HIV und Aids

1 Delaney, M.: HIV, AIDS and the Distortion of Science. Zu finden auf den Internet-Seiten des Robert Koch-Instituts unter www.rki.de 2 Schwarze, S.: Getretener Quark wird breit, nicht stark: Was man von den AIDS-Skeptikern wirklich lernen kann. In: Projekt Information, 9(6), November/Dezember 2001, 19–21 3 Die Behauptungen der Aids-Kritiker/innen sind kursiv gesetzt und durch Zeichen X gekennzeichnet.

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beschrieben ist. Außerdem wurde in mehreren großen Studien nachgewiesen, dass opportunistische Infektionen und dramatische Verluste von Immunzellen (T-Helferzellen, auch „CD4-Zellen“ genannt) in der Regel nur bei Patientinnen und Patienten mit positivem HIV-Antikörpertest-Ergebnis auftreten. • Der HIV-Antikörpertest funktioniert nicht. Die Aids-Kritiker/innen beziehen sich dabei in der Regel auf Daten aus älteren Quellen, als das Testverfahren noch erhebliche Mängel aufwies. Obgleich sie längst behoben sind, gilt: Selbst ein hoch entwickelter Test birgt immer geringe Fehlerquellen. Deshalb wenden die Testlabore üblicherweise ein mehrstufiges Testverfahren an, um zuverlässige Befunde sicherzustellen. In der Regel kommt zunächst der ELISA4-Test zum Einsatz. Dieser hoch empfindliche Suchtests kann jedoch, obwohl sehr genau, falsch positive5 Ergebnisse erbringen (bei deutlich weniger als 1 % der Tests). Deshalb wird jeder positive Befund durch einen Bestätigungstest, z.B. den Western Blot, überprüft. Erbringt auch dieser kein klares Ergebnis, was allerdings nur selten vorkommt, muss das ganze Testverfahren wiederholt werden. Ähnliche Einwände wie gegen den HIV-Antikörpertest hat man gegen die Messung der Viruslast6 und CD4-Zellzahlen7 erhoben: Diese Befunde würden nichts über den Verlauf der HIV-Infektion aussagen. Kary Mullis z. B., der für seine frühen Arbeiten zur Entwicklung eines Test zum Direktnachweis von HIV (PCR8-Test) den Nobelpreis erhielt, behauptet heute, dieses Verfahren sei nie für die Messung der Viruslast gedacht gewesen. Sein Einwand widerspricht jedoch nicht den Ergebnissen der MACS9, einer der größten Aids-Studien, an der mehrere tausend HIV-Positive über Zeiträume von drei bis zehn Jahren teilnahmen. Die Studie ergab, dass zwischen Viruslast und CD4-Zellzahlen einerseits und dem Verlauf der HIV-Erkrankung andererseits ein eindeutiger Zusammenhang besteht und diese Messdaten Auskunft über das Fortschreiten der Infektion geben. • Keine Infektion verursacht noch Jahre nach der Ansteckung oder nach der Antikörperentwicklung eine

Erkrankung. Das Vorhandensein von Antikörpern bedeutet immer, dass eine Infektion überwunden ist. Diese Behauptung lässt sich sehr leicht widerlegen. Tatsache ist nämlich, dass außer HIV noch viele andere Krankheitserreger den Organismus dazu bringen können, über Jahre Antikörper zu produzieren, ohne dass es zu sicht- oder spürbaren Symptomen kommt, und noch Jahre nach der Ansteckung eine Erkrankung auszulösen vermögen, so z.B. Hepatitis-, Herpes- oder Zytomegalie-Viren. • Drogen und HIV- Medikamente verursachen Aids Da auch schwule Männer Drogen konsumieren, war Drogengebrauch einer der ersten Faktoren, von denen man annahm, sie könnten Aids verursachen. Kanadische, europäische und US-amerikanische Studien, in denen Drogen gebrauchende Schwule mit Schwulen verglichen wurden, die keine Drogen nehmen, sonst aber ähnliche Verhaltensweisen haben, belegten jedoch, dass der Drogenkonsum allein nicht zu Aids führt, dass er aber sehr wohl das Risiko einer HIV-Übertragung erhöht. Der einzige Unterschied zwischen den an Aids und den nicht an Aids erkrankten Männern bestand darin, dass bei Ersteren HIV-Antikörper vorhanden waren. Da viele Menschen, die an Aids verstorben sind, antiretrovirale Medikamente einnahmen, haben Aids-Kritiker/innen wiederholt behauptet, erst die Therapie verursache die Krankheit. Sie scheinen dabei zu übersehen, dass Menschen schon lange vor der Verfügbarkeit dieser Therapien an Aids gestorben sind. Richtig ist allerdings, dass die gegen HIV gerichteten Medikamente – wie alle anderen Medikamente auch – Nebenwirkungen haben, die im Einzelfall sogar zum Tod führen können. Und Mitte der 80er Jahre, als die antiretrovirale Therapie noch in den Kinderschuhe steckte, hat man Aids-Patientinnen und –Patienten wahrscheinlich mit – aus heutiger Sicht – zu hohen Dosierungen behandelt. Aktuelle Daten aus klinischen Studien zeigen dagegen deutlich, dass die Therapie – trotz möglicher Nebenwirkungen – weitaus mehr

4 ELISA = (engl.) Enzyme-Linked Immuno Sorbent Assay 5 Diese Test können manchmal reagieren, obwohl keine Infektion besteht. Dann kommt es zu einem falsch positiven Ergebnis aufgrund „geringer Spezifität“. 6 Gemessen wird die Zahl der Viruskopien pro Milliliter Blut 7 Gemessen wird die Zahl der CD4-Zellen pro Mikroliter Blut 8 PCR = (engl.) Polymerase Chain Reaction, zu Deutsch 9 MACS = (engl.) Multicenter AIDS Cohort Study

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nutzt als schadet, wenn die Medikamente nach Vorschrift eingenommen werden und eine auf den Einzelnen zugeschnittene Therapie zum individuell richtigen Zeitpunkt begonnen wird. • Keine Behandlung – und trotzdem gesund Oft werden diejenigen HIV-Positiven, die keine HIV-Therapie machen und dennoch nicht erkranken, als Beweis dafür angeführt, dass HIV harmlos sei. Selbstverständlich können Infizierte auch ohne HIV-Therapie über mehrere Jahre gesund bleiben. Unbehandelt entwickelt sich bei den meisten innerhalb von 8-10 Jahren Aids, allerdings ist die Schwankungsbreite sehr groß. Bei einem geringen Prozentsatz tritt Aids bereits in den ersten Monaten oder den ersten zwei bis drei Jahre nach der Ansteckung auf, während einige Menschen 15 Jahre oder länger mit der HIV-Infektion leben, ohne Aids zu bekommen. Aber mehr als 20 Jahre nach der Ansteckung ist der Prozentsatz jener, die ohne Behandlung noch kein Aids entwickelt haben, verschwindend gering. Auch viele andere Krankheiten wie Krebs, Herzleiden oder Multiple Sklerose entwickeln sich – je nach Mensch und Lebensbedingungen – in unterschiedlich langen Zeiträumen. • Dass heute weniger Menschen an Aids sterben, liegt nicht an der antiretroviralen Therapie, denn die

Zahl der Todesfälle hat bereits seit 1993 abgenommen, also noch bevor die neuen Therapien verfügbar waren.

Bei genauerer Prüfung dieses Arguments tritt zutage, dass die Aids-Kritik die Rate der Neuinfektionen oder der an Aids Erkrankten mit der Zahl der an den Folgen von Aids Verstorbenen verwechseln. So geht aus Berichten der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control) hervor, dass die Zahl der an Aids Verstorbenen in den Vereinigten Staaten bis zum Jahr 1996 kontinuierlich anstieg und erst dann deutlich abzunehmen begann. 1996 fanden erstmals Kombinationstherapien breitere Anwendung, bei denen drei HIV Medikamente zusammen eingesetzt wurden. Die Berichte des Robert Koch-Instituts (www.rki.de) zeigen, dass seither auch in Deutschland die Zahl der Aids-Erkrankungen und -Todesfälle gesunken ist. Die meisten, die heute an Aids erkranken, haben keine antiretrovirale Therapie eingenommen - meist, weil sie nicht wussten, dass sie mit HIV infiziert sind. Die antiretrovirale Therapie kann die Entwicklung von Aids in den allermeisten Fällen verhindern. Zur Argumentationsweise der Aids-Kritik (nach Siegfried Schwarze) Korrelation und Kausalzusammenhang Beide werden gerne miteinander verwechselt. Der zeitliche Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen (Korrelation) wird dann zu einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis (Kausalzusammenhang) erklärt. Ein Beispiel: Während der geburtenstarken Jahrgänge stieg auch die Zahl der Störche in Deutschland an. Es besteht also ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Zahl der Störche und der Zahl der Geburten. Daraus aber einen ursächlichen Zusammenhang – „der Storch bringt die kleinen Kinder“ – ableiten zu wollen, ist natürlich unzulässig und führt in die Irre. So gab es – vor der Zeit antiretroviralen Therapien – tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des sexuell anregenden Mittels „Poppers“ (Amylnitrit10) und der Entwicklung des Aids-Vollbildes. Daher stellten auch etablierte Wissenschaftler/innen schnell die These auf, „Poppers“ sei die Ursache für Aids. Genauere Untersuchungen haben dann aber ergeben, dass zwischen dem Poppers-Gebrauch und dem Aids-Vollbild lediglich eine Korrelation bestand: Sexuell besonders aktive Schwule nahmen überdurchschnittlich oft „Poppers“ und erkrankten überdurchschnittlich häufig an Aids. Unzulässige Umkehrschlüsse „Alle Rosen sind Pflanzen, also sind alle Pflanzen auch Rosen.“ Solche Umkehrschlüsse verwendet die Aids-Kritik gerne. Ein Beispiel: „Würden alle Aids-Patient(inn)en wegen HIV erkrankt sein, müssten alle HIV-Positiven auch Aids bekommen. Da viele aber nicht krank werden, kann HIV nicht die Ursache von

10 Amylnitrit war früher ein Standardmedikament für die Behandlung von Herzattacken (Angina pectoris).

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Aids sein. HIV ist daher nur ein harmloses Virus.“ Tatsächlich gibt es viele HIV-Infizierte, die (auch ohne HIV-Therapie) lange Jahre gesund bleiben (siehe oben). Dazu tragen z.B. schützende Faktoren bei, wie etwa Mutationen in den Genen, die für die Entwicklung von Ko-Rezeptoren11 verantwortlich sind – diese braucht HIV, um in menschliche Zellen eindringen und sie infizieren zu können. Verwechseln von Ursache und Wirkung „Langzeit-Überlebende haben nie oder nur kurze Zeit HIV-Medikamenten genommen“, argumentieren die Aids-Kritiker/innen. Die Tatsache, dass jemand nicht behandelt wurde, wird dabei zur Ursache erklärt, das lange Überleben zur Wirkung. Die Schlussfolgerung lautet: „Die meisten HIV-Positiven nehmen Medikamente, also ist nicht HIV die Ursache von Aids, sondern es sind die Medikamente.“ Was natürlich unsinnig ist, erst anders herum ergibt sich ein Sinn: Wenn ein Mensch mit HIV, aus welchen Gründen auch immer, über viele Jahre stabile Blutwerte hat (niedrige Viruslast, hohe CD4-Zellzahl), wird kaum ein Arzt zu einer antiretroviralen Therapie raten. Verschweigen neuerer Erkenntnisse „Hämophile“, argumentiert die Aids-Kritik, „sterben nicht an den Folgen einer HIV-Infektion, sondern an den vielen Fremdeiweißen in den verabreichten Blutplasma-Konzentraten“. Wenn dem so wäre, müsste sich zwischen der Anzahl der verabreichten Präparate und der Entwicklung von Aids ein Zusammenhang finden lassen – es gibt aber keinen. Seit man Blutspender auf HIV untersucht und durch bestimmte Herstellungsverfahren und durch Tests weitgehend sicherstellt, dass Blutprodukte kein HIV enthalten, ist kein Hämophiler mehr mit HIV infiziert worden (es sei denn, es gab andere Risikosituationen, z. B. ungeschützten Sex mit HIV-Positiven oder intravenösen Drogengebrauch mit einer kontaminierten Spritze). Halbwahrheiten „Aids in Afrika ist nicht durch HIV verursacht, sondern durch Unterernährung, schlechte hygienische Bedingungen und eine völlig unzureichende medizinische Versorgung“, sagen die Aids-Kritiker/innen. Zwar stimmt es, dass die Entwicklung von Aids durch die angeführten Faktoren gefördert wird, weil sie zu einer zusätzlichen Belastung des Immunsystems beitragen – nicht zu Unrecht wird Aids als „Krankheit der Armen“ bezeichnet. Allerdings ist die Zahl der an Aids Erkrankten besonders stark in jenen Regionen gestiegen, wo sich die sozialen Verhältnisse gebessert haben. So wurde z. B. bei Massenimpfungen ungewollt HIV verbreitet, weil man keine sterilen Spritzen verwendet oder gebrauchte nicht desinfiziert hat, bevor sie bei der nächsten Person eingesetzt wurden. Und der wirtschaftliche Aufschwung in einigen Regionen und die damit verbundene Arbeitsmigration hat zur vermehrten Nachfrage nach käuflichem Sex geführt, weil die Männer oft monatelang von ihren Familien getrennt sind und sie zugleich Geld haben, um zu Prostituierten zu gehen. Rückgriff auf veraltete Postulate Oft wird behauptet, HIV könne nicht die Ursache von Aids sein, da das Virus die 1884 aufgestellten „Henle-Koch-Postulate“12 nicht erfülle: „1. optischer Nachweis: Der Erreger muss mikroskopisch regelmäßig nachweisbar sein. 2. kultureller Nachweis: Der Erreger muss sich vom Kranken auf ein Nährmedium übertragen und unter Beibehaltung der charakteristischen Eigenschaften über Generationen hinweg fortzüchten lassen. 3. Pathogenitätsnachweis: Die so fortgezüchteten Erreger müssen bei einem Versuchstier eine typische Krankheit erzeugen, die der natürlich vorkommenden gleicht. Im Organismus des Versuchstiers müssen die betreffenden Erreger wiederum mikroskopisch und kulturell nachweisbar sein.“13

11 Ko-Rezeptor: besondere Struktur an Zellen für die Bindung, Erkennung oder Aufnahme bestimmter Substanzen, die zusätzlich zu einem Rezeptor vorhanden ist. 12 Die Henle-Koch-Postulate wurden nach ihren Urhebern, dem Anatom Friedrich G. Henle (1809–1885) und dem Bakteriologen Robert Koch (1843–1910), benannt. 13 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch. 259. Aufl. Berlin: de Gruyter 2002, S. 673

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An der Jahreszahl sieht man, dass Robert Koch von Viren noch gar nichts wissen konnte: Sie wurden erst viel später entdeckt. Deshalb gelten seine Postulate streng genommen nur für Bakterien (und auch hier nicht für alle, da sich einige nicht in Kulturen züchten lassen). Was den optischen Nachweis angeht, so ist dieser erbracht, auch wenn HIV – da als Virus viel zu klein – nicht in einem gewöhnlichen Lichtmikroskop abgebildet werden kann. Sehr wohl aber gibt es viele Aufnahmen von HIV, die man mit Rasterelektronenmikroskopen gemacht hat. Hiergegen wenden die Aids-Kritiker/innen wiederum ein, zu sehen seien keine Viren, sondern nur Zellbruchstücke. Merkwürdig nur, dass diese alle gleich aussehen, dieselben Eiweiße und dasselbe Erbmaterial enthalten. Kurz zum zweiten Postulat: Seltsamerweise ist noch niemand auf die Idee gekommen zu behaupten, Hepatitis C werde nicht durch das Hepatitis-C-Virus verursacht, nur weil es bisher noch nicht gelungen ist, es in Kultur zu züchten. Das dritte Postulat lässt sich zwar nicht im Wortsinn erfüllen, weil HIV ein humanes Virus ist, das zu Versuchszwecken auf Menschen zu übertragen sich verbietet. Belegt ist indes, dass sich Laborangestellte bei Arbeitsunfällen mit HIV aus Zellkulturen infiziert haben und schließlich auch an Aids erkrankt sind, sofern sie nicht antiretroviral behandelt wurden. Jede Epidemie hat ihre Kritiker Die Aids-Kritik bezieht sich fast nie auf das in schon fast zahllosen wissenschaftlichen Studien gesammelte Datenmaterial, das hinreichend belegt, dass HIV die Ursache von Aids ist. Statt dessen bringt sie Argumente ins Spiel, die auf den ersten Blick vernünftig erscheinen, sich bei genauerem Hinschauen aber als unlogisch entpuppen und in der Gesamtschau nicht zusammenpassen. Jede Epidemie der Geschichte hatte ihre Kritik Es ist im Rahmen seriöser Wissenschaft auch völlig in Ordnung und kann manchmal produktiv sein, unpopuläre oder ungewöhnliche Ansichten zu vertreten oder scheinbar festgefügte Sichtweisen herauszufordern. Man sollte aber auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, an welchem Punkt es geboten ist, Fakten als solche anzuerkennen: nämlich spätestens dann, wenn das Beharren auf einer eigenwilligen Sicht der Dinge für andere gefährlich wird. Das heißt im Falle der Aids-Kritik sogar lebensgefährlich! Zum Beipiel wenn sie die weltweiten Bemühungen der HIV-Prävention behindert, weil Menschen fälschlich an die „Harmlosigkeit“ oder gar Nicht-Existenz von HIV glauben und sich deshalb nicht davor schützen. Oder wenn sie dazu führt, dass die Mittel für die Finanzierung von Programmen zur Unterstützung und Versorgung von HIV-Positiven und Aidskranken in einigen Ländern noch spärlicher fließen – katastrophal vor allem in manchen Entwicklungsländern. Wichtiger, abschließender Hinweis: weder die Deutsche AIDS-Hilfe noch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beabsichtigen, sich über dieses Papier hinaus mit der „Aids-Kritik“ auseinander zu setzen. Beide Organisationen haben – wie weltweit viele andere - die wichtige Aufgabe, so viele HIV-Infektionen und damit Aids-Erkrankungen und Todesfälle wie möglich zu verhindern. Sie werden ihre Kräfte dafür deshalb weiterhin so produktiv wie möglich einsetzen. Die genannten wissenschaftlichen Quellen geben für diejenigen, die dies beabsichtigen, genügend Möglichkeiten für tiefergehende Recherchen.