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2019. 128 S., mit 6 Abbildungen und 2 Karten ISBN 978-3-406-73435-9 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/26353221 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Andreas W. Daum Alexander von Humboldt

Alexander von Humboldt · 2019-03-01 · Alexander von Humboldt ist eine Epochengestalt, die uns noch immer fasziniert. Sein Erkenntnisdrang führte ihn auf For-schungsreisen quer

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2019. 128 S., mit 6 Abbildungen und 2 Karten ISBN 978-3-406-73435-9

Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/26353221

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Andreas W. Daum Alexander von Humboldt

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Alexander von Humboldt ist eine Epochengestalt, die uns nochimmer fasziniert. Sein Erkenntnisdrang führte ihn auf For-schungsreisen quer durch Europa, nach Amerika, Asien und inimmer neue Themenfelder. Humboldt machte deutlich, dass dasVerknüpfen von Kontinenten, Kulturen und Wissen ein nie en-dender Prozess ist, den wir heute als Teil der Globalisierung un-serer Gesellschaft verstehen. Andreas Daum stellt anschaulichdas bewegte Leben und weitgespannte Werk dieses Naturfor-schers von Weltrang vor. Einfühlsam beschreibt er Humboldtals ebenso intellektuellen wie sinnlichen Menschen. Der vor-liegende Band ermöglicht es, die Biographie und vielfältigenUnternehmungen Humboldts im Zusammenhang eines revolu-tionären Zeitalters zu verstehen, das die Welt auf dramatischeWeise veränderte.

Andreas Daum lehrt als Professor für Geschichte an der StateUniversity of New York in Buffalo (USA). Er ist neben seinerHumboldtforschung mit Büchern zur Geschichte der Wissen-schaftspopularisierung, der Emigration aus dem Dritten Reichund zu John F. Kennedy hervorgetreten. Die Alexander vonHumboldt-Stiftung hat ihn für 2019/20 mit einem Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet.

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Andreas W. Daum

ALEXANDERVON HUMBOLDT

C.H.Beck

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Mit 6 Abbildungen und 2 Karten

Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2019

Satz: C.H.Beck.Media.Solutions, NördlingenDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

Reihengestaltung Umschlag: Uwe Göbel (Original 1995, mit Logo),Marion Blomeyer (Überarbeitung 2018)

Umschlagabbildung: Alexander von Humboldt, Gemälde vonGeorg Friedrich Weitsch, 1806, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin,

Alte Nationalgalerie; © akg-imagesPrinted in Germany

isbn 978 3 406 73435 9

www.chbeck.de

FürNicholas und Alexander

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Inhalt

Die Faszination Humboldts 6

I. Den Verstand üben:Von der Kindheit zum Studium, 1769–1792 9

II. In ständiger Bewegung:Praktiken und Ideen, 1792–1799 22

III. Das Zusammenwirken der Kräfte:Auf dem Weg zu Humboldts Wissenschaft 40

IV. Ein Bild des Ganzen gewinnen:Die amerikanische Reise, 1799–1804 44

V. Dem Publikum übergeben:In der bürgerlichen Gesellschaft, 1804–1827 62

VI. Lieben, was man begreift:In wechselnden Welten, 1827–1840 85

VII. Zwischen Kosmos und Fragmenten:Die letzten Jahre, 1840–1859 104

Zeittafel 119Nachwort 121Literaturhinweise 122Verzeichnis der Abbildungen und Karten 125Personenregister 126

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Die Faszination Humboldts

Als Forschungsreisender, universal begabter Wissenschaftlerund Gestalt von globaler Ausstrahlung beeindruckte Alexandervon Humboldt (1769–1859) schon seine Zeitgenossen zutiefst.Bis heute spüren wir die Faszination, die von ihm ausgeht. MeinBand beschreibt das Leben dieses außergewöhnlichen Menschenund verortet Humboldt in seiner Zeit. Entlang der biographi-schen Erzählung stelle ich das Werk Humboldts, seine wichti-gen Ideen und Unternehmungen vor. Viele der neueren Forschun-gen sind in die Darstellung eingearbeitet, ohne ausdrücklich aufakademische Diskussionen einzugehen.

Ein solcher Überblick muss es mit den Besonderheiten vonHumboldt aufnehmen. Er ist als Mensch und in seinen ausufern-den Publikationen schwer zu fassen, zumal beide durchausironische Züge aufweisen. Humboldt hielt seine private Sphärebedeckt, suchte aber wie kaum ein anderer Wissenschaftler dieÖffentlichkeit. Seine Neugier entgrenzte Themen und Regio-nen, welche die meisten Zeitgenossen und nachfolgende Gene-rationen trennten. Über viele Jahre hinweg blieb er ständig inBewegung, in anderen suchte er die Stabilität vertrauter Orte.Seine Reisen führten ihn von Europa zu den Anden und nachAsien. Humboldts Interessen waren dabei enorm breit gestreut.Sie reichten von der Botanik und Geologie bis hin zur Kunstund Geschichte – und bildeten sich in den ausgedehnten persön-lichen und wissenschaftlichen Netzwerken ab, die Humboldtknüpfte. So schrieb und erhielt er Zehntausende von Briefen.

Und doch: Alexander von Humboldt selbst wusste nur zu gut,dass Vollständigkeit nie zu erreichen ist. Er hat unzählige Infor-mationen gesammelt, allerdings oft daran erinnert, dass sich Ein-zelheiten zu allgemeinen Aussagen über ihren Zusammenhangverbinden sollen. Daher kann man auch auf knappem RaumHumboldt deuten und Akzente setzen. Dies beginnt damit, ihn

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in seiner Entwicklung und seinem historischen Kontext zu se-hen. Humboldt fiel nicht vom Himmel. Er hatte nicht nur vieleBewunderer, sondern auch eindrucksvolle Vorgänger und Mit-streiter. Seine geradezu überschäumenden Fähigkeiten brauch-ten ein Umfeld, um sich auszuprägen und Wirkung zu erzielen.

Humboldt zeigt sich in den nachfolgenden Kapiteln als einMultitalent, das Wissenschaft zum Beruf und fortwährendeForschung zum Lebensstil machte. Er war gleichwohl mehr alsnur ein Intellektueller und blieb eine komplexe Persönlichkeit.Wir begegnen auch einem empfindsamen und emotionalen Men-schen von ausgeprägter Sinnlichkeit, der sich seiner Begehrenund Frustrationen wohl bewusst war. Humboldt bewegte sichzudem in vielfältigen sozialen Beziehungen, so einzelgängerischer mitunter erscheinen mochte. Das intellektuelle und persönli-che Wechselspiel mit seinem Bruder Wilhelm durchzieht seineBiographie.

Humboldts langes Leben von fast neunzig Jahren reichte vonder Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis in an die Schwelle zummodernen Imperialismus, also weit in das 19. Jahrhundert hin-ein. Insofern war er eine Epochengestalt, in dessen Leben sichviele der tiefgreifenden Umbrüche und Wandlungsprozesse die-ser Jahrzehnte spiegeln. Als Zeitzeuge verfolgte Humboldt Re-volutionen in Europa und Amerika. Er sah den Aufstieg undden Fall Napoleons ebenso wie den Kollaps des spanischen Ko-lonialreiches und den Durchbruch des industriellen, technischenZeitalters. Aus einer Gesellschaft, die zu Fuß und zu Pferde, inKutschen und auf Segelschiffen unterwegs war, wurde zu Hum-boldts Lebenszeit eine der Eisenbahnen und Dampfschiffe. Erlernte die revolutionäre Technik der telegraphischen Nachrich-tenübermittlung ebenso kennen wie die der Photographie.

Humboldts Ideen und seine Wissenschaft trugen zu den Pro-zessen der Globalisierung bei. Er erkannte, wie sich Handel,Wissensbestände und das Schicksal der Menschen über Gren-zen hinweg immer enger miteinander verflochten. Humboldt er-lebte zugleich, wie Nationalstaaten und politische Ideologienentstanden, die neue Abgrenzungen – im Innern wie nach Au-ßen – hervorbrachten. Umso mehr wurde er zum Vermittler

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zwischen unterschiedlichen Kulturen. Stets war er darauf be-dacht, die eigene Unabhängigkeit zu wahren. Daraus ergab sichder paradoxe Effekt, dass Humboldt in vielen Räumen, in denener sich bewegte, zum Insider wurde und trotzdem ein Outsiderblieb.

Humboldts Gedanken speisten sich aus verschiedenen Quel-len. Sie waren mit praktischen Überlegungen und wirtschaft-lichen Zwecken verknüpft, und sie wurden von politischenErwartungen gerahmt. Nicht selten musste sich Humboldt kor-rigieren und seine Pläne ändern. Aus dieser vielschichtigen Ent-wicklung erwuchs Humboldts Wissenschaft. Gestützt auf ver-gleichende Messungen und Daten, die er mit Hilfe ausgefeilterInstrumente und seiner sinnlichen Wahrnehmung systematischzusammentrug, wollte Humboldt die Natur als Ganzes und inihren Wechselwirkungen mit der menschlichen Gesellschaft er-klären – und sie ästhetisch ansprechend darstellen. Es ging ihmdarum, Natur und Kulturen in globalen Zusammenhängen zusehen. Er hatte indes mit eben jener Dynamik zu kämpfen, dieer selbst vorlebte. Gefördert von der aufstrebenden bürgerli-chen Gesellschaft entstand immer mehr Wissen, und es wurdespezialisierter und zunehmend unüberschaubar. Umso mehr ver-langte das bürgerliche Publikum, Bildung zugänglich zu ma-chen.

Humboldt nahm alle diese Herausforderungen an. Zuweilenwurde ihm selbst schwindelig ob der Dimensionen und Vielfaltseiner Vorhaben. Auch in dieser Hinsicht gehört Alexandervon Humboldt mitten in die Geschichte einer Epoche, die zueiner «Verwandlung der Welt» (Jürgen Osterhammel) führte.Wie jede Figur der Vergangenheit bewahrt er bei allem, was ihnheute aktuell macht, etwas Sperriges. Daher habe ich in den Zi-taten aus seinen Briefen, Tagebüchern und Werken die originaleSchreibweise beibehalten. Sie markiert, was uns fremd ist undals solches gewahr bleiben sollte. Dagegen sind alle geographi-schen Bezeichnungen modernisiert.

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I. Den Verstand üben:Von der Kindheit zum Studium, 1769–1792

Alexander von Humboldt wurde am 14. September 1769 imKönigreich Preußen geboren. Es ist nicht endgültig geklärt, ober in Berlin, was wahrscheinlich ist, oder im nordwestlich gele-genen Schloss Tegel das Licht der Welt erblickte. Ein Deutsch-land als Nationalstaat gab es zu dieser Zeit noch nicht. Undhinsichtlich der Bevölkerungszahl lag Berlin deutlich hinter an-deren europäischen Städten wie Lissabon, Wien und St. Peters-burg. Mit London und Paris, den Zentren der globalen MächteEngland und Frankreich, konnte sich die brandenburgischeStadt schon gar nicht vergleichen. Aber sie war im Kommen. Indieser Wandlung spiegelte sich der Aufstieg Preußens zu einerpolitischen und wirtschaftlichen Macht in Mitteleuropa. Fried-rich II., der «Große», vergrößerte das Territorium Preußensdurch seine Kriege. Er versäumte nicht, die Künste und das geis-tige Leben in seiner Sommerresidenz Potsdam am Rande Berlinszu pflegen. In die Regentschaft Friedrichs und die Jahrzehntenach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), der PreußensStellung in Europa festigte, fällt die Jugendzeit Humboldts.

Dass Humboldt fast neunzig Jahre alt werden würde, konnteman damals nicht ahnen. Er übertraf bei weitem die durch-schnittliche Lebenserwartung in Europa; sie lag um 1800 fürMänner bei etwa dreißig Jahren. Sollte er tatsächlich in seinerKindheit nicht robust gewesen sein, wie die wenigen Quellenandeuten, so eignete er sich im Verlauf seines Lebens eine er-staunliche körperliche Zähigkeit an. Humboldt brauchte sie aufseinen ausgedehnten Reisen und als er Preußen weit hinter sichließ.

«Jeder Mensch ist ein Produkt seiner Eltern und der Zeit», soschrieb Humboldt als junger Mann. Gewiss war er mehr als nurdas. Trotzdem ist seine Familiengeschichte wichtig für die Ent-

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wicklung, die er als Persönlichkeit nahm, und für die Unabhän-gigkeit, die er früh erlangte. Humboldts Mutter, Maria Elisa-beth, entstammte der bürgerlichen Familie der Colomb. AlsAngehörige des Protestantismus in der hugenottischen Variantehatten die Colombs Frankreich im späten 17. Jahrhundert ver-lassen. Später kamen sie in Brandenburg, wo den Hugenottenreligiöse Toleranz gewährt wurde, zu Vermögen. Für das ehrgei-zige Preußen waren sie wegen ihrer unternehmerischen Tatkraftund Förderung des Handels nützlich. Sie trugen zum sogenann-ten Merkantilismus bei. Der Staat wollte die Binnenwirtschaftfördern, die Produktion einheimischer Güter ankurbeln und dieInfrastruktur des Landes verbessern.

Zudem schätzte Friedrich II. die französische Sprache undKultur. Sowohl die merkantilistischen Impulse als auch den kul-turellen Bezug auf Frankreich nahm Humboldt auf. Er wurdezweisprachig erzogen und beherrschte Französisch als Mutter-sprache. Über viele Jahre hinweg – beginnend auf seiner Süd-amerikareise – schrieb und parlierte er mehr auf Französischdenn auf Deutsch. Zwei Jahrzehnte lang, von 1807 bis 1827,bildete Paris den Mittelpunkt seines Lebens.

Maria Elisabeth heiratete 1760 den Offizier Friedrich Ernstvon Holwede. Er verstarb bereits fünf Jahre später. Das Erbevergrößerte ihr Vermögen erheblich. Sie besaß bereits ein vonden Eltern geerbtes Haus in der Jägerstraße in der Friedrich-stadt, nahe dem Zentrum von Berlin. Die städtische Bleibewurde für Alexander zum Anker im Stadtleben. Aus HolwedesErbe kamen das Gut Ringelwalde östlich der Oder, heute impolnischen Dyszno, und das gepachtete Schloss Tegel, etwavierzehn Kilometer nordwestlich von Berlin, hinzu. ZwischenTegel und der Jägerstraße teilte sich Alexanders Zeit währendder ersten beiden Lebensjahrzehnte.

1766 ging die verwitwete Maria Elisabeth ihre zweite Ehe einund heiratete den preußischen Major Alexander Georg vonHumboldt. Dessen Vorfahren hatten sich in staatlichen Verwen-dungen verdient gemacht, gehörten aber nicht zum alten Adel.Sein Vater ersuchte den preußischen König 1738 um die Nobili-tierung. Alexander Georg selbst diente für einige Jahre als Kam-

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merherr am preußischen Hof. Die Verbindung zum Königshausintensivierte Alexander von Humboldt später. Je nachdem, wel-che Ziele er verfolgte, nutzte er geschickt die bürgerlichen unddie adeligen Prädikate seiner Herkunft. Ein Baron, als den ersich hin und wieder bezeichnete, war Alexander indes nicht.

Zunächst gebar Maria Elisabeth im Juni 1767 den Sohn Wil-helm. Auch ihm war mit siebenundsechzig Jahren ein langesLeben beschieden. Wilhelm verstarb im April 1835 in Tegel. Zudiesem Zeitpunkt war er längst weltberühmt als neuhumanisti-scher Philosoph, Bildungsreformer und Sprachforscher. Mit derGeburt Alexanders 1769 stieg die Zahl der Söhne im Hum-boldtschen Haushalt auf drei, denn die Humboldtbrüder wuch-sen mit einem Halbbruder auf. Die Mutter hatte aus ihrer erstenEhe Heinrich von Holwede mitgebracht. Er konnte Wilhelmund Alexander in keiner Weise das Wasser reichen. Das ändertenichts daran, dass die Humboldtbrüder in einer Männergesell-schaft groß wurden, auch wenn sie mitunter gemeinsam mit an-deren Jungen unterrichtet wurden. Eine größere Bezugsgruppean Kindern und Mädchen fehlte.

Und die Mutter? Die wenigen uns erhaltenen Quellen zeich-nen das Bild einer disziplinierten, strengen Frau, die keine emo-tionalen Regungen zeigte und ihren Kindern nicht mit Wärmebegegnete. Sie seien sich «von je her fremd» gewesen, schriebAlexander, als sie starb. Der Kontrast zwischen Maria Elisabethund ihrem zweiten Mann, dem Vater von Wilhelm und Alexan-der, erscheint im Rückblick umso deutlicher und geradezu tra-gisch. Der Vater galt als unternehmend und jovial. Als er im Ja-nuar 1779 unerwartet starb, hatte Alexander noch nicht einmalsein zehntes Lebensjahr vollendet.

So bleiben auf den ersten Blick die Erinnerungen Alexandersan eine trostlose Jugend, in denen er Zwängen ausgesetzt warund sein Gemüt «gemißhandelt» wurde. Allerdings hören wirauch von einem Alexander, der gerne tanzte, zeichnete und zeit-weise mit dem Gedanken spielte, Soldat zu werden. Einem Ju-gendlichen, der die reichhaltige Flora und Fauna in der maleri-schen Umgebung des Tegeler Schlosses mit naturkundlichemInteresse durchstreifte. Unbestreitbar aber klaffte eine Lücke an

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emotionaler Befriedigung und innerer Erfüllung, zumal nachdem Tod des Vaters. Umso enger fühlte sich Alexander seinemBruder verbunden. Je älter beide wurden, desto deutlicher emp-fanden sie sowohl das, was sie verband, als auch ihre Eigenhei-ten. Wilhelm erkannte, dass Alexander keineswegs nur ein Kopf-mensch war. Er verstand, wie rastlos Alexander blieb und dasser ehrgeizig immer neue Ziele suchte. Umgekehrt bewunderteAlexander den Intellekt seines Bruders. Wilhelm blieb für ihnein «prächtiger Mensch», wenn auch «zu esoterisch».

Beide spürten beim Heranwachsen, dass man sie als entgegen-gesetzte Pole begreifen konnte. Hier wurde Alexander zu einemattraktiven, kräftig gebauten Mann, der seine Interessen an denNaturwissenschaften und der Geographie ausbaute. Unruhigblieb er und nicht willens, kontinuierlich einem Beruf nachzuge-hen. Dort begann Wilhelm, eher hager und knochig, sich auf Li-teratur und Philosophie zu konzentrieren. Später übernahm erAufgaben in der preußischen Diplomatie und Staatsverwaltung.Hier war Alexander, den besonders Männer angezogen, der nieheiratete oder Vater wurde. Dort der von Frauen faszinierteWilhelm, der als Vierundzwanzigjähriger eine Ehe mit Carolinevon Dacheröden einging, aus der nicht weniger als acht Kinderhervorgingen, und doch ein Schwerenöter blieb.

Die Nuancen und die Überschneidungen zwischen beiden sindnicht weniger wichtig. Alexander blieb von früh auf an Kunst,Geschichte und Sprachen interessiert. Zum Dienst im preußi-schen Bergwesen und zu politischen Missionen im Auftrag derKrone war er ebenso bereit wie zu seinen Verpflichtungen alsMitglied des Königshofs in seinen späten Jahren. Mit gebildetenFrauen kommunizierte er respektvoll und durchaus kokettie-rend. Wilhelm seinerseits verfolgte die Forschungen seines Bru-ders mit lebhaftem Interesse. In den 1790er Jahren sezierte ergar mit Alexander Kaninchen und Ratten. Wilhelm, der sichselbst gern Askese zuschrieb, ließ der Gedanke nicht los, schonin der Jugend weniger begabt als sein Bruder gewesen zu sein.

Keiner der beiden besuchte je eine Schule. Hauslehrer über-nahmen ihre Erziehung in allen Fächern. Im 18. Jahrhundertwar dies in adeligen Familien üblich und selbst in wohlhaben-

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den, bürgerlichen Haushalten oft der Fall. Alexander und Wil-helm schätzten die Kompetenz ihrer Privatlehrer. Diese warenvernetzt in den gelehrten und literarischen Kreisen, die sich imspäten 18. Jahrhundert deutlich auszuweiten begannen. Abersie verstärkten noch die Männerdominanz im ohnehin kleinenHumboldtschen Haushalt und unterstrichen dessen unkindli-chen Charakter. Diese Situation war nicht dazu geeignet, neuepädagogische Ideen zu erproben.

Unter den Lehrern stach Johann Christian Kunth heraus. Inseiner lutherischen Herkunft und Bildungsbeflissenheit verkör-perte er die zentrale Rolle, welche die bürgerlich-protestanti-sche Familie für die soziale Basis von Bildung und Staat in Preu-ßen spielte. Kunth hatte langfristig den größten Einfluss auf dieHumboldtbrüder. Maria Elisabeth stellte ihn 1777 als Erzieheran und beauftragte ihn mit der Verwaltung des Vermögens,nachdem ihr zweiter Ehemann gestorben war. Sein Interesse anGeographie kam Alexander zugute. Kunth arrangierte Privat-kollegien mit Berliner Gelehrten und öffnete Alexander Türenin neue intellektuelle Welten. Christian Wilhelm von Dohmmachte die Humboldtbrüder vertraut mit Fragen der National-ökonomie, des Handels und der Statistik. Dadurch konnten sieglobale wirtschaftliche Verflechtungen jenseits des preußischenMerkantilismus erkennen. Johann Jakob Engel führte Wilhelmund Alexander in die Philosophie ein. Er lehrte sie, Philosophienicht als starres Gebäude von Lehrsätzen zu verstehen. Es gingdarum, in einem fortdauernden Dialog zu denken und metaphy-sische Kategorien ebenso wie die innerweltlicher Logik von Ur-sache und Wirkung zu begreifen. Es ging um Aufklärung.

Mit ihrer ungehemmten Neugierde begannen die Humboldt-brüder, die programmatische Aussage des Philosophen Imma-nuel Kant von der Aufklärung als dem «Ausgang des Menschenaus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit» zu leben: «HabeMut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Alexanderwar vierzehn, als Kant 1783 diesen epochemachenden Satzschrieb. Von «Langeweile», jenem oft zitierten Begriff, den Ale-xander auf die häusliche Situation im Schloss Tegel anwandte,war bald nichts mehr zu spüren. Schon zwei Jahre später be-

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gann Alexander gemeinsam mit seinem Bruder, in Berlin an denDiskussionen einer Lesegesellschaft – einer Runde von intellek-tuell Interessierten, welche die Ideen der Aufklärung schätzten –teilzunehmen. Die Brüder erlebten, wie Berlin das Provinzielleabzustreifen begann und neue Foren für kritische Diskussionenschuf. Dieser Moment war in vielen Städten Europas und derVereinigten Staaten von Amerika, die 1776 ihre Unabhängigkeiterklärt hatten, und selbst im spanischen Kolonialreich zu spü-ren. Alexanders geistige Welt und seine sozialen Räume wurdenvielschichtiger. Endlich kam er auch in Kontakt mit Frauen, dieemotional wie geistig aufgeschlossen waren: Henriette Herz,Dorothea Veit, später die Partnerin von Friedrich Schlegel, undRahel Levin, heute besser bekannt als Rahel Varnhagen.

Die Variante der Berliner Aufklärung hatten schon derSchriftsteller Gotthold Ephraim Lessing, der Verleger FriedrichNicolai und der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn einge-leitet. Nicolai gehörte 1783 zu den Mitbegründern der BerlinerMittwochsgesellschaft, eines aufklärerischen Gesprächskreises.Mendelssohn und dessen verzweigte Familie und Freunde wur-den für Alexanders Entwicklung besonders wichtig. Zum einenmachten sie ihn vertraut mit dem Bemühen jener Juden in Preu-ßen, die das Projekt der Haskala angingen. Juden sollten tole-riert und gleichberechtigt werden. Sie sollten sich über die deut-sche Sprache und das kulturelle wie wirtschaftliche Engagementfür das Gemeinwohl als ein integraler Bestandteil des deutschenBürgertums verstehen. Die Idee der Toleranz nahm Humboldtin sich auf. Erleichtert wurde dies durch die eigene Distanz zumGlauben, selbst in der vergeistigten Form, für die Wilhelm offenblieb.

Zum anderen bereicherten die jüdischen Familien Mendels-sohn, Herz und Friedländer, um nur drei Beispiele zu nennen,Alexanders Heimatstadt mit ihren konfessionsübergreifendenSalons. Schon Humboldts Eltern hatten diese Gesprächskulturgeschätzt; jetzt profitierte Alexander von ihr. Besonders derSalon von Marcus Herz und dessen Ehefrau Henriette taten esihm an. Marcus, ein Arzt und Schüler von Kant, führte ihn indie Kunst naturwissenschaftlicher Experimente ein.

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Ab Oktober 1787 wurde die gelehrte Geselligkeit ergänzt umeine Ausbildung an nicht weniger als vier Institutionen der hö-heren Bildung. Da Berlin noch keine Universität besaß, geschahdas außerhalb der vertrauten Umgebung. Auf Wunsch der Mut-ter verbrachten die Humboldtbrüder zunächst ein Semester ander alten Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, östlichvon Berlin. Es sollte sie auf den Staatsdienst vorbereiten, mitdem Studium der Jurisprudenz für Wilhelm und der Kamera-listik für Alexander. Kameralistik bedeute im 18. Jahrhunderteine umfassende Lehre von der öffentlichen Verwaltung. Sieschloss Einsichten in ökonomische Zusammenhänge, neueTechnologien und naturwissenschaftliche Themen ein. Der Un-terricht beeindruckte Alexander wenig. Die kameralistischenGedanken trugen aber dazu bei, seine ausgreifende wissen-schaftliche Neugierde auf die Lebenspraxis und den gesell-schaftlichen Nutzen von Naturschätzen hin zu orientieren. DieWelt der Ideen verwob sich mit Fragen nach dem effizientenNutzen von Wissen.

Während Wilhelm schon im Frühjahr 1788 an die UniversitätGöttingen wechselte, kehrte Alexander nochmals für ein Jahrzum privaten Studium nach Berlin zurück. Er hatte Glück. DieBekanntschaft mit dem nur wenig älteren, promovierten Medi-ziner Karl Ludwig Willdenow erlaubte es ihm, sein Interesse ander Botanik zu vertiefen und weit über die Grenzen Preußenshinaus zu lenken. Willdenow vermittelte Alexander, wie wichtiges ist, die geographischen und klimatischen Unterschiede zwi-schen Pflanzenzonen sowie die Wanderung von Spezies zu be-rücksichtigen, wenn man Pflanzen in ihrer Rolle im Natur-haushalt verstehen will. Er machte Humboldt bekannt mit dennaturwissenschaftlichen Ergebnissen von transkontinentalenExpeditionen, die bereits bis nach Ostasien geführt hatten. Ale-xander machte sich gedanklich auf den Weg, lokale Naturer-scheinungen in größeren Zusammenhängen zu sehen. Im Rück-blick betonte Alexander den Austausch mit Willdenow als einenentscheidenden Moment, in dem er sich für die Idee begeisterte,außerhalb Europas zu reisen und «unbändige Wünsche nachweiten und unbekannten Dingen zu hegen».

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Erst einmal verließ Alexander im April 1789 Preußen, um sei-nem Bruder nach Göttingen zu folgen. Obgleich erst 1737 eröff-net, hatte sich die dortige Universität zu einer der angesehenstenim deutschsprachigen Raum entwickelt. Alexander nahm auf,so viel er konnte: Einsichten in die Mathematik und Technik,die Altertumskunde und die neuesten Erkenntnisse der Natur-forschung. Deren wichtigste Repräsentanten in Göttingen ver-knüpften Empirismus und naturphilosophische Fragen. DerPhysiker Georg Christoph Lichtenberg machte Alexander ver-traut mit der experimentellen Physik als Wissenschaft, mit Mes-sungen, Tabellen und dem Blick darauf, jedem Detail eine Be-deutung zuzuweisen. Von Johann Friedrich Blumenbach, derMedizin lehrte, lernte Alexander die Idee einer «Bildungskraft»kennen. Blumenbach verstand darunter einen jedem Organis-mus angeboren Trieb, sich selbst zu erhalten, anatomischeStrukturen und physiologische Prozesse im Einklang zu haltenund zu reproduzieren. Beide Professoren waren in Europa be-kannt. Sie ermöglichten es Alexander, ausländische Studenten –also Männer, da Frauen noch nicht zum Studium zugelassenwaren – kennenzulernen.

Der Horizont erweiterte sich. Kurz vor der Abreise nach Göt-tingen schrieb Alexander, er fühle sich nicht mehr «wie ein Kindam Gängelbande» – auch deshalb belasse ich es fortan bei demNachnamen Humboldt, wenn Alexander gemeint ist. Ein «freiesWesen» wollte er nun sein. Im benachbarten Frankreich began-nen viele im gleichen Jahr, 1789, dieses Anliegen politisch auf-zuladen und gegen die Monarchie des späten Absolutismus zuwenden. Am 14. Juli löste der Sturm auf die Bastille die Franzö-sische Revolution aus. Folgenreicher als dieser symbolische Aktwar die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, welche diefranzösische Nationalversammlung Ende August verkündete.Sie verband Gedanken der europäischen Aufklärung mit denneuen Prinzipien der Selbstbestimmung, die jenseits des Atlan-tiks bereits in der Amerikanischen Revolution formuliert wor-den waren. Alle Menschen, so lautete der epochale Anspruch,sind frei, gleich und mit unwiderruflichen Grundrechten ausge-stattet. Damit waren allerdings zuerst Männer gemeint. Viele

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blieben ausgeschlossen von der Gesellschaft der gleichen undfreien Individuen. Humboldt sollte in den folgenden Jahrzehn-ten sowohl die Ausstrahlungskraft der neuen Ideen als auch ihreWidersprüche kennenlernen.

Vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse in Frank-reich begann Humboldt im September 1789 von Göttingen ausseine erste ausgedehnte Studienreise. Begleitet wurde er vondem niederländischen Medizinstudenten Steven Jan van Geuns.Die Route führte die beiden südwestlich bis nach Heidelberg,dann über Mainz an den Rhein, dem sie nach Norden bis überDüsseldorf hinaus folgten, um dann via Münster nach Göttin-gen zurückzukehren. Diese Tour begründete ein Modell, demHumboldt über Jahrzehnte hinweg treu blieb. Er reiste in Be-gleitung männlicher Freunde, die er als wissenschaftlich qualifi-ziert ansah. Er bewegte sich mit Kutsche und Boot, zu Pferd undzu Fuß. Oft teilte er das Nachtlager mit den Begleitern. Seit den1790er Jahren belud er sich mit Instrumenten zur Messung allermöglichen physikalischen Erscheinungen. Soweit die mitteleuro-päischen Regionen vor den napoleonischen Eroberungen unddem Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 betroffen wa-ren, durchreiste Humboldt einen Flickenteppich an unterschied-lichen politischen Herrschaftsformen. Er überquerte mitunterinnerhalb weniger Tage gleich mehrere politische Grenzen; fastnie musste er sich dabei ausweisen. Erst im Verlauf des 19. Jahr-hunderts verfestigten sich die Nationalstaaten und ihre Grenzenin Europa und Amerika.

Auf seinen Expeditionen begann Humboldt seit 1789, die be-reits geschulten Interessen mit einer beeindruckenden Offenheitfür Neues und Fremdes zu verbinden. Er suchte und er fand.Schon auf der Reise mit van Geuns ließ Humboldt in dieserHinsicht keine Chance ungenutzt – von den Quecksilberberg-werken im pfälzischen Zweibrücken bis zum Botanischen Gar-ten in Mannheim. Manches, wie die rheinischen Basaltforma-tionen, untersuchte er gezielt. Anderes, wie der Besuch alterKirchen, ergab sich beiläufig. Treffen mit Gelehrten arrangierteer vorab im brieflichen Austausch. Diesem Muster folgten vieleReisende der Aufklärungsepoche. Es entsprach dem Drang zahl-

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reicher junger Adeliger und vermögender Bürger, sich möglichstviele Dimensionen der Wirklichkeit – der vergangenen wie dergegenwärtigen – zu erschließen. Humboldt füllte dieses Bemü-hen mit besonderer Intensität und in späteren Jahren mit demEhrgeiz, seine Reisen noch ausführlicher als andere, noch schnel-ler und noch gezielter für die Öffentlichkeit zu dokumentieren.

Schon wenige Monate nach seiner Reise mit van Geunsschloss er das Manuskript seiner ersten Buchpublikation ab.Die Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte amRhein von 1790 hielten den frühreifen Übergang vom Studen-ten zum Forscher fest. Humboldt demonstrierte seine altphilo-logischen Kenntnisse durch lange Ausführungen zur antikenNomenklatur von Mineralien und fügte sogar Gedanken zumrheinischen Weinbau bei. Der gerade erst Zwanzigjährige prä-sentierte sich keck als Empiriker, der Missverständnisse andererGelehrter aufklären konnte. Vor allem schrieb sich Humboldtmit seinem Erstlingswerk in eine der wichtigsten Kontroversenein, welche die naturwissenschaftliche Diskussion im ausgehen-den 18. Jahrhunderts erlebte: War die Gesteinswelt durch Sedi-mentierung aus Wasser entstanden, also aus Ablagerungen ausurzeitlichen Meeren, wie die sogenannten Neptunisten annah-men? Oder hatten die Plutonisten und Vulkanisten recht? Sieargumentierten, dass Gesteine wie der Basalt vulkanischen Ur-sprungs seien, entstanden aus Feuer und Bewegungen im Innernder Erde.

Humboldt konnte nun Anspruch auf Kompetenz im Vulka-nismusstreit erheben, da er vor Ort die rheinischen Basalte inLinz und Unkel untersucht hatte. Dort erkannte er Gesteins-formen, Rückstände an Wasser und eine Bepflanzung, die gegendie vulkanische These sprachen. Er mochte intuitiv gespürthaben, dass Letztere sich in einigen Jahren durchsetzen würde.Denn auf diplomatische Weise lavierte Humboldt zwischen denextremen Positionen. Sein vergleichender Blick – in diesem Fallauf Basaltformationen im irischen Giant’s Causeway und aufder schottischen Insel Staffa, die Humboldt aus seiner Lektürekannte – hielt stets die Möglichkeit offen, sich zu revidieren unddie Position zu wechseln. Auf diese Weise sollte sich Humboldt

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auch in Zukunft vor wissenschaftlichem Dogmatismus schüt-zen.

Nach der Beendigung des Studiums in Göttingen brach Hum-boldt im März 1790 zur nächsten Reise auf. Diesmal dauerte sielänger, fast zwei Monate, und sie führte weiter – bis nach Eng-land und in das von der Revolution aufgewühlte Frankreich.Und mit Georg Forster gewann Humboldt einen ungleich pro-minenteren Begleiter. Er hatte ihn im Vorjahr in Mainz persön-lich kennengelernt. Forster war sogar dem breiteren Lesepubli-kum bekannt. Er hatte in den frühen 1770er Jahren seinen Vaterauf der zweiten Weltumsegelung des Engländers James Cookbegleitet. Sein Bericht von der Reise um die Welt (1778–1780)hatte Humboldt nicht weniger als viele andere Zeitgenossen be-geistert. Bald profilierte sich Forster als deutscher Anhänger derJakobiner, einer der radikal-republikanischen Gruppierungenunter den französischen Revolutionären.

Der Widerhall der Revolution war schon auf dem ersten Teilder Reise unüberhörbar. Wieder führte sie von Mainz nachNorden durch das Rheintal, dann auf neuer Route durch dieTerritorien von Jülich in das wallonische Lüttich, das 1789seine eigene Revolution gegen die fürstliche Herrschaft insze-niert hatte, schließlich in die Österreichischen Niederlande nachBrüssel. Ein unabhängiges Belgien entstand erst vierzig Jahrespäter. Die nördlichen Niederlande, das nächste Ziel, warenschon lange eine Republik. Der sprachgewaltige, durchaus prä-tentiöse Forster, nicht Humboldt, dokumentierte die Reiseerleb-nisse in seinen Ansichten vom Niederrhein (1791–1794). Diebeiden trafen auf Fabriken, die in die globalen Handelsströmeeingebunden waren und ihre Stoffe aus Spanien und Südame-rika bezogen. Sie begegneten der Kunst von Peter Paul Rubensund besuchten Naturalienkabinette. In Lüttich erlebten sie auserster Hand die neue Mobilisierung der bürgerlichen Öffent-lichkeit. Selbst «der gemeine Mann politisirte bei seiner FlascheBier von den Rechten der Menschheit», hielt Forster fest.

Humboldt nahm alles in sich auf, obwohl er mit Forster nichtwarm wurde. Wiederholt fiel er in melancholische Stimmungen.Aber die Reise, so schrieb er über sich im Rückblick, «übte mei-

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nen Verstand». Später im Leben hat Humboldt wiederholt be-tont, wie stark Forster ihn beeinflusst hat. Forster setzte neueMaßstäbe für die Reiseliteratur. Er verband auf anschaulicheund differenzierte Weise geographische und Naturbeschreibun-gen mit Skizzen der verschiedenen ethnischen Gruppen, denener begegnete. Feinfühlig charakterisierte er deren Gebräuche,körperliche Praktiken und Mythologien. Nun überquerte Hum-boldt also mit Forster den Englischen Kanal, und der erstmaligeAnblick des Meeres bei Ostende im April 1790 machte den «al-lergrößten Eindruck» auf ihn.

Für Humboldt als Naturforscher waren die Wochen in Eng-land am ertragreichsten. Sie schulten seinen vergleichendenBlick durch botanische Erkundungen in Kew Gardens bei Lon-don, wo er die außereuropäische Pflanzenwelt genauer kennen-lernte, und durch Höhlenbesuche im nördlichen Derbyshire.Die Reise vernetzte Humboldt mit der englischsprachigen Wis-senschaft. Sie brachte ihn in Kontakt mit einigen ihrer Kory-phäen. Dazu gehörten Joseph Banks, der Botaniker und Präsi-dent der Royal Society, und der Chemiker Henry Cavendish.

Humboldt vertiefte sein Interesse an der Chemie immer mehr.Die mineralogischen Forschungen steigerten seine Neugierde ander Analyse von Gasen, die er unterirdisch wie an der Erdober-fläche untersuchte. Cavendish erweiterte Humboldts Kenntnis-se mit seinen systematischen Untersuchungen des Wasserstoffsund Messungen zur Dichte von Gasen. Sie fügten sich ein in dieEntwicklung, aus der in diesen Jahrzehnten schrittweise die mo-derne, experimentelle Chemie als Fach hervorging. Wie kein an-derer verkörperte der Franzose Antoine de Lavoisier diese Ver-selbständigung der Chemie. Er klärte die Rolle des Sauerstoffsin Verbrennungsprozessen und bereitete das moderne Perioden-system vor. Persönlich konnte Humboldt ihn auf dem letztenTeil der Reise, der nach Paris führte, indes nicht treffen. Forsterwollte zurück nach Mainz. Humboldt gewann im Zentrum derRevolution aber einen Eindruck von den politischen Organenund Symbolen des neuen Frankreich.

Gedrängt ging es also zu in Humboldts Studentenleben, undso sollte sich sein Leben in diesem Jahrzehnt entfalten. «Es ist

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ein Treiben in mir, daß ich oft denke, ich verliere mein bischenVerstand. Und doch ist dieses Treiben so nothwendig, um rast-los nach guten Zwekken hinzuwirken.» So beschrieb er seineSituation im Herbst 1790. Dabei war die Studienzeit noch garnicht beendet. Von August 1790 bis April 1791 besuchte Hum-boldt die Handelsakademie in Hamburg. Schon die Reise mitForster hatte Humboldts Weltbild in vergleichende Perspekti-ven gestellt und internationalisiert. Der Unterricht in Hamburgwies ihn einmal mehr auf die Bedeutung von Handel, Wirt-schaft und Fragen des Geldumlaufs hin.

Ab Juni 1791 verbrachte er acht Monate an der Bergakade-mie im sächsischen Freiberg. Die noch junge Einrichtung warbereits bis hin nach Amerika zu einem Modell moderner berg-baulicher Ausbildung geworden. Montanwissenschaftliche Un-terrichtung und praktische Arbeit unter Tage gingen Hand inHand. Humboldts Tage waren damit ausgefüllt; es blieben fünfStunden Schlaf. Freibergs berühmtester Lehrer, Abraham Gott-lob Werner, nahm sich seiner besonders an. Werner war aufdem Weg, die Geognosie, wie man damals sagte, als Kunde derGesteine und des Erdinnern zur Wissenschaft zu machen. Erwurde zu einem Begründer der modernen Geologie. Von ihmlernte Humboldt, Gesteine systematisch zu sammeln, zu klassi-fizieren und ihren Abbau zu erforschen. Er folgte auch WernersBekenntnis zum Neptunismus. In den nachfolgenden Jahrenlöste sich Humboldt allmählich von dieser Lehrmeinung undbegann, den vulkanischen Ursprung der meisten geologischenFormationen zu betonen.

Als Ergebnis seiner Studienzeit in Freiberg veröffentlichteHumboldt im nachfolgenden Jahr die lateinische Schrift FloraeFribergensis specimen. Sie verband das Training im systema-tischen Klassifizieren mit seiner Leidenschaft für die Botanik.Die Florae dokumentierten katalogartig über 250 Arten vonPilzen und Flechten, die er in den Freiberger Stollen bestimmthatte. Ein zweiter Teil beschäftigte sich grundsätzlicher mitFragen nach der Physiologie und den chemischen Prozessen inPflanzen.

Körperlich erschöpft beendete Humboldt im Februar 1792

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das Studium in Freiberg und damit seine akademische Aus-bildung. Aus der Sicht des 21. Jahrhunderts mag es befremdlichsein, dass er keinen formalen Abschluss, z.B. durch eine Disser-tation, suchte. Dies ergab sich in den frühen 1790er Jahren ausseinem Drang nach praktischen Erfahrungen, dem Angebot, inden preußischen Bergdienst zu wechseln, und der wirtschaft-lichen Unabhängigkeit, die er bald erlangen sollte. Außerdemprofessionalisierten sich die Naturwissenschaften erst im Ver-lauf des 19. Jahrhunderts, als man Studiengänge straffte. Immer-hin wurde Humboldt 1805 von der Universität Frankfurt ander Oder der Doktortitel verliehen. Zunächst einmal suchte erandere Herausforderungen. Und am Ende seines Lebens warHumboldt dann siebenfacher Ehrendoktor.

II. In ständiger Bewegung:Praktiken und Ideen, 1792–1799

Die Jahre von 1792 bis 1799 bedeuteten für Humboldt weitmehr als den Übergang in ein Berufsleben, das er schon nachwenigen Jahren abbrach, und die Vorbereitung zu seiner Ame-rikareise. Es war in wissenschaftlicher wie persönlicher Hin-sicht eine Zeit von eigener Prägekraft. Humboldt teilte mit vie-len Zeitgenossen die Wahrnehmung, dass sich die Ereignissebeschleunigten und der einzelne Mensch dramatischen Verän-derungen ausgesetzt war. «Wahrlich, unsere Zeit vergleicht sichden seltensten Zeiten, | Die die Geschichte bemerkt, die heiligewie die gemeine. | Denn wer gestern und heut’ in diesen Tagengelebt hat, | Hat schon Jahre gelebt: so drängen sich alle Ge-schichten.» In diesen Worten charakterisierte 1797 JohannWolfgang von Goethe, der Humboldt zum Freund wurde, dasJahrzehnt in seinem epischen Gedicht Hermann und Dorothea.

Tatsächlich verdichteten sich die Geschichten auf allen Kon-tinenten, die Humboldt kennenlernte. In England zog die indus-trielle Revolution an und brachte neue Formen der kapitalisti-

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schen Wirtschaft hervor. Frankreich griff kriegerisch auf Europaaus und stürzte seinen König. Die Französische Revolutionrückte in die deutschsprachigen Territorien des Heiligen Römi-schen Reiches vor. Humboldts Freiberger Studienzeit lag geradevier Monate zurück, als Preußen im Juli 1792 das österreichi-sche Militär im Kampf gegen die französischen Truppen ver-stärkte. Auch im französischen und im spanischen Kolonial-reich begann es zu brodeln. Eine neue, einheimische Elite strebteSelbstbestimmung an und unterlief die moderaten Reformbe-strebungen der europäischen Herrscher. Der karibische Raumzeigte zuerst sein revolutionäres Potential. Auf Haiti gelang inden 1790er Jahren die erste Sklavenbefreiung der Neuzeit. Inden noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika bemühte sichAlexander Hamilton darum, den Sklavenhandel abzuschaffen.Derweil etablierte sich Napoleon 1799 per Staatsstreich alsHerrscher in Frankreich.

Humboldt verfolgte diese Entwicklungen aufmerksam. Erteilte die Kritik an absolutistischer Herrschaft und Sklaverei.Terror, die Guillotine und den politischen Radikalismus jederArt lehnte er ab. Humboldt distanzierte sich von ideologischemEifer und gewaltsamen Maßnahmen, die bestehende Ungerech-tigkeiten unter Paukenschlägen abzuschaffen suchten. Er plä-dierte zeitlebens für «Mäßigung» (Ingo Schwarz) und pragma-tische Lösungen. Seine Interessen galten ohnehin nicht vorrangigder Politik. Revolutionäre Turbulenzen nervten ihn, sobald siedie eigenen wissenschaftlichen Pläne durchkreuzten. Diese ginger in einem Tempo an, das erstaunliche Resultate zeigte, ihnaber wiederholt an den Rand der körperlichen Erschöpfungbrachte.

Den Rahmen für seine Arbeiten setzte über vier Jahre hinwegdie Tätigkeit im preußischen Bergdienst. Im März 1792 wurdeHumboldt seinem Wunsch folgend in Berlin zum Bergassessorernannt, im Dezember 1796 zog er sich freiwillig zurück. Ausdieser Tätigkeit resultierte eine Fülle von Aufgaben, die manheute als staatliche gelenkte Ressourcennutzung zur Förderungder Binnenwirtschaft bezeichnen würde. Der zuständige Minis-ter in Berlin, Friedrich von Heynitz, war ein Vorreiter dieser Po-

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litik des späten Merkantilismus. Sie zielte darauf, technischesund naturwissenschaftliches Wissen zusammenführen und aufden Beamtenstand als Motor von reformerischen Bemühungenzu setzen. Die politische Führung und ihre Beamten vergewis-serten sich dabei der Kenntnisse von Naturforschern, um ein-heimische Produkte qualitativ zu verbessern und Handelsdefi-zite abzubauen.

Der vielseitige Humboldt bot sich für diese Reformpolitik ingeradezu idealer Weise an. Er besaß das kameralistische Know-how. Seine Reisen hatten ihm schon Vergleiche mit anderen Re-gionen ermöglicht, und er wollte 1792 den Schritt in die Praxisunternehmen. Mit Elan ging Humboldt die neuen Herausfor-derungen an. Schon im ersten Dienstjahr inspizierte er, wie inPreußen Torf (wichtig als Brennstoff) gestochen und Ziegel alsBaumaterial gebrannt wurden. Er nahm unter die Lupe, ob dieKeramikherstellung den neuesten technologischen Ansprüchengenügte. Er beobachtete die Aufstellung der ersten Dampfma-schine in der Berliner Porzellanmanufaktur, experimentierte mitPflanzenkeimen und baute einen Ofen für chemische Experi-mente. Zu all dem kamen die Inspizierung verstreuter Bergbau-anlagen und ausgedehnte Reisen in Nachbarländer. Der perma-nente Ortswechsel wurde zum Alltag für Humboldt. Er blieb«in ständiger Bewegung», so die eigenen Worte.

Humboldts studentische Reisen hatten ihn mit Territorienwestlich von Preußen bekannt gemacht. Dank seiner beruf-lichen Position konnte er den Blick in andere Richtungen, vorallem nach Süden und Osten, lenken. Im September 1792 brachHumboldt zur ersten von drei ausgedehnten Dienstreisen auf.Sie diente dazu, die Gewinnung von Salz, einem wichtigen Be-standteil der Ernährung, in den preußischen Salinen zu verbes-sern. Humboldt hatte den Auftrag, die Praxis in angrenzendenRegionen zu studieren. Daher führte der Weg zunächst in dassüdliche Bayern und das Erzbistum Salzburg, von dort nachWien. Humboldt nutzte die Gelegenheit, um im Zentrum derhabsburgischen Monarchie Türen für den zukünftigen Aus-tausch mit österreichischen Naturwissenschaftlern zu öffnen.Danach besuchte er die Salzbergwerke Oberschlesiens, die Fried-

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rich II. 1742 nach dem Ersten Schlesischen Krieg Preußen ein-verleibt hatte, sowie Breslau, das heutige Wrocław. Über dasRiesengebirge kehrte er nach Berlin zurück, wo es ihn nichtlange hielt.

Schon im ersten Dienstjahr war Humboldt beauftragt wor-den, die wirtschaftliche Situation in Franken zu prüfen. 1791hatte der Markgraf der fränkischen Fürstentümer Ansbach undBayreuth diese Länder an Preußen abgetreten. Somit entstandeninnerhalb des Heiligen Römischen Reiches zwei weitere territo-riale Inseln unter preußischer Herrschaft. Um zu ihnen zu gelan-gen, musste man von Berlin aus durch die sächsischen Ländernach Südwesten reisen. Dieser Abstand kam Humboldt zugute,als er im Mai 1793 – inzwischen zum Oberbergmeister beför-dert – nach Franken zog. Es lag ihm nicht, seine Zeit in Amts-stuben zu verbringen. Lieber bezog er wechselnde Quartierezwischen den fränkischen Mittelgebirgen und dem Fichtelge-birge. Sie lagen inmitten von Landschaften, deren geologischeFormationen Humboldt anzogen. Der bis in das Spätmittelalterzurückgehende Bergbau war aber technologisch veraltet undlag teilweise brach.

Humboldt stürzte sich mit Elan in seine Aufgaben. Er pen-delte zwischen den zuständigen Bergämtern. Viele Stunden ver-brachte er mit Messinstrumenten in Gruben, um die Zusam-mensetzung der Atemluft zu prüfen, und kroch in Stollen, umihre Stabilität zu testen. Er reaktivierte die Fürstenzeche beiGoldkronach und förderte im dortigen Revier den Abbau vonErzen. Die Arbeit erfüllte ihn, zumal Humboldt sie nahtlos miteigenen Forschungen zur Botanik – über und unter der Erdober-fläche – und zu dem, was er «unterirdische Meteorologie»nannte, verband. Es reizte ihn, in der räumlichen Orientierungvon Gesteinsschichten urgeschichtliche Gesetzmäßigkeiten zuerkennen. Wie andere Forscher der Zeit dachte er dabei an ei-nen «Parallelismus» zwischen geographisch und chronologischunterschiedlichen Formationen.

Humboldt sorgte sich auch um die soziale Situation der Ar-beiter. Der Schutz ihrer Gesundheit und die Fürsorge für Fa-milien von verunglückten Bergleuten lagen ihm am Herzen.

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Humboldt initiierte ein Stück Sozialreform, ohne auf den Behör-denweg zu achten. Er entwickelte neuartige Grubenlampen, da-runter einen «Lichterhalter». Das Gerät sollte dabei helfen, inbedrängten Situationen den Weg zurück ans Tageslicht zu fin-den. Bei einem Experiment mit dem Lichterhalter kam er imOktober 1796 beinahe ums Leben. Zusätzlich erfand er eine«Respirationsmaschine», d.h. eine Atemmaske mit einem Luft-behälter, der dem Bergmann bei matten Wettern, also der Zu-nahme von schädlichen Gasen in Gruben, Sauerstoff zuführenkonnte.

Die Arbeiten an diesen technologischen Innovationen warenHumboldt so wichtig, dass er sie 1799 ausführlich in seinemBuch Ueber die unterirdischen Gasarten beschrieb. Er küm-merte sich überdies um die finanzielle Versorgung von Witwenund Waisen, die einen Angehörigen durch Unfall verloren hat-ten, und um die Ausbildung der jüngsten Generation. Auf ei-gene Kosten gründete er in Steben 1793 eine Bergschule für Ju-gendliche ab dem 12. Lebensjahr. Der von ihm entworfeneLehrplan verband Grundkenntnisse im Schreiben und Rechnenmit bergkundlichen Themen. Die Texte zur Unterrichtung steu-erte Humboldt selbst bei. Später kam eine zweite Schule imFichtelgebirge dazu.

Die politisch Verantwortlichen vertrauten Humboldt. Sieschickten ihn in Landschaften, die im Zuge der politischen Ver-änderungen des Jahrzehnts neu abgesteckt wurden. Ministervon Heynitz sandte Humboldt im Frühjahr 1794 auf eine zweitegroße Exkursion, wieder um den Salz- und Erzabbau in Nach-barregionen zu studieren. Diesmal zog Humboldt eine Schleifevon Berlin aus in den Norden und Osten. Sie führte ihn zu-nächst nach Pommern zur Salzstadt Kolberg (heute das polni-sche Kołobrzeg) an der Ostsee, dann nach Posen (Poznań) unddamit in Grenzgebiete des Königreiches Polen. Sie waren nachder zweiten polnischen Teilung 1793 Preußen zugeschlagen undin der neuen Provinz Südpreußen zusammengefasst worden.Über Schlesien und Böhmen ging es zurück.

Auch Karl August von Hardenberg, der die Verwaltung inden neuen preußischen Territorien in Franken leitete und später

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