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Alfred Schmidt-Der Begriff Der Natur in Der Lehre Von Marx-Europäische Verlagsanstalt (1993)

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 Alfred Schmidt

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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 A lfred Schmidts Unte rsuch ung gehört seit ihrem ersten Ersc hein en 1962 zu

den wichtigsten und folgenreichsten theoretischen Quellen der philo-

sophischen MarxInterpretation, insbesondere auf erkenntnistheoretischem

Gebiet. Für die aktuelle Auseinandersetzung zur Um w eltprob lem atik und zur

»sozialen Öko logie« ist dieses Buch u nerläßlich. D ie N eua usg abe 1993 (mit der

zugleich auch die französische Ausga be erscheint) ist durch ein V orw ort berei-

chert, das Marx nicht nur als K ritiker der politischen Ö ko n om ie zeigt, sondernauch nachweist, daß das M arxEngelsche W erk, au f’s Ga nz e g esehen, »keines-

 wegs im Die nst rü ck sich tslose r N atu rbeherrschung steht«.

 D er B egriff der N atu r  ist in alle europ äischen Sp rachen , ins C hin esis ch e und ins

Japanische übersetzt.

 A lf red Schm id t, geb oren 19 31, studierte G eschic hte , A n g li stik und klas sische

Philologie, Philosophie und Soziologie. Schüler von Max Horkheimer und

Theod or W. A dorno . P rofessor für Ph ilosophie und S oziolo gie an der Johann W olfgan g G oeth eU niv ers it ät in Frankfu rt am M ain se it 19 72. Ausgezeic hnet

mit der Goe thePlake tte der Stadt Fran kfurt am M ain.

 W ichtige Ver öffentlic hungen u.a .: Geschichte und Struktur.  Fragen einer

marxistischen Historik. München 1971;  Em anzipato rische Sin nlich keit.  Lud-

 w ig Feuerbachs anth ro polo gischer M aterialism us. M ün chen ’ 1983;  D rei Stu-

dien über Materialismus.  Schopenhauer / Horkheimer / Glücksproblem.

München 1977;  Kritische Theo rie  /  Hum anism us   /  Aufk lä rung.  Philo-

sophische Aufsätze. Stuttgart 1981; Goethes herrlich leuchte nde N atur.  Philo-

sophische Studien zur deutschen Spätaufklärung. München 1984;  D ie Wahr-

heit im Gewand der Lüge.  Schopenhauers Religionsphilosophie. München/

Zürich 1986;  Id ee und W eltw ille.   Schopenhauer als Kritiker Hegels.

München 1988.

 A lfred Sch midt lebt in F rankfu rt am Main.

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 Alfred Schmidt

Der Begriff der Natur

in der Lehre von Marx

4. überarbeitete und verbesserte

 A u flage m it ein em neuen V o rw o rt

 vo n A lfre d Schm id t

Europäische Verlagsanstalt

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D ie Deu tsche Bibliothek CIPEinhei tsau fnahme

Schmidt, Alfred:

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx / Alfred Schmidt.

4., überarb. und verb. Aufl. mit einem neuen Vorw. von Alfred Schmidt.

Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1993

(evaTaschenbuch; Bd. 209)

ISBN 3434462090NE: GT

evaTaschenbuch Band 209

© 1993 Europäische Verlagsanstalt, Hamburg

Erstausgabe Frankfurt am MainKöln, 1962 (Europäische Verlagsanstalt);

1971 überarbeitete und ergänzte Neuausgabe

Umschlaggestaltung: MetaDesign BerlinMotiv: Jean Pierard: Der >grüne< Marx. Zeichnung 1977

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany 1993

ISBN 3434462090

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Inhalt

Einleitung

I. K  a p i t e l

K A R L M A R X U N D D E R P H I L O S O P H I S C H E

M A T E R I A L I S M U S

 A) Der nichtontologische Charakter des Marxschen

Materialismus

B) Zu r Kritik der Engelsschen Form der Naturdialektik 

II.  K  a p i t e l

D I E G E S E L L S C H A F T L I C H E V E R M I T T L U N G

D E R N A T U R U N D D I E N A T U R H A F T E V E R M I T T L U N G

D E R G E S E L L S C H A F T

 A) N atur und Warenanalyse

B) Der Be griff des Stoffwechsels von Mensch und Natur:historische Dialektik und »negative« Ontologie

III.  K  a p i t e l

D I E A U S E I N A N D E R S E T Z U N G V O N G E S E L L S C H A F T

U N D N A T U R U N D D E R E R K E N N T N I S P R O Z E S S

 A ) N aturgesetz und TeleologieB) Zum Begriff der Erkenntnistheorie bei Marx

C ) W eltkonstitution als historische Praxis

D ) Bem erkungen zu den Kategorien der materialistischen

Dialektik 

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IV. K a p i t e l

ZUR UTOPIE DES VERHÄLTNISSES VON MENSCH  

U N D N A T U R  

 VERZEICHNIS DER ZITIER TEN O D ER IN D E N  

 A N M ER KU N GEN ER W ÄH N TEN LITER ATU R 

 VORBEM ERKUNG ZUM A N H A N G

ZUM VERH ÄLT NIS V O N G ESC H IC H T E U N D N AT U R   

IM DIALEK TISCHEN MATERIALISMUS

POSTSCRIPTUM i 9 7 1  

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 Vorwort zur Neuauflage 1993

Für einen ökologischen Materialismus

M arx sagt, die Rev olutionen sind die Lok om otiven der W eltgeschichte. Ab er

 vie lleic ht is t dem gänzlich an ders. V ie lleic ht sind die R evolu tionen der G r iff

des in diesem Z uge reisenden Menschengeschlechts nach der N otbr em se.'

 W alter Benja m in , A nm erku ngen zu den Thesen über den B eg riff der G e-

schichte

 I 

 Als der A utor während der späten fünfzig er Jahre über der Endfassung

seiner Doktorarbeit saß, waren Begriffe wie »Umweltbewußtsein«,

»Grenzen des Wachstums«, »alternative Zivilisation«, »sanfte Technik«

oder »ökologische Krise«, die heute wissenschaftliche wie tagespolitischeDebatten beherrschen, noch unbekannt. Diskreditiert freilich war schon

damals ein naiver Progressismus. Horkheimers und Adornos  D ia lektik  

der Aufelärung   hatte (unter anderem) belehrt über die naturzerstöreri-

schen Implikationen technischen Fortschritts. Wer sich zudem, wie der

 Verfasser, näher mit M arx un d Engels beschäftigte, konnte auch in ihren

Schriften auf Zw eifel an den Segnungen des Industriesystems stoßen. U n -

terdessen hat jedoch die ökolo gisch e Problem atik Ausm aße angenommen,die jeder bloß akademischen Erörterung spotten. Die Frage nach dem

Fortschritt ist längst zur Überlebensfrage der Menschheit geworden. Die

im  Postscriptum i y j i   zur zweiten Auflage des Buches bereits als Signatur

der Gegenwart pointierte »Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen

der Gesellschaft« läßt sich nach dem Scheitern des sowjetischen Experi-

ments nicht m ehr ausschließlich auf die kapitalistische P rodu ktionsw eise

zurückführen. Der Industrialismus hat sich in seiner staatssozialistischen

 Versio n als eben so unzulänglich erwiesen w ie in seiner m ark tw irtschaft-lichen.

Die materiellen und sozialen G renze n des Wachstums haben den O pt im is-

mus bürgerlicher Theo retike r nicht wen iger erschüttert als den der M arxi-

sten. Gegen Marx und seine Anhänger werden heute die nämlichen Vor

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 würfe erhoben wie gegen Anw älte unbegren zten Wirtschaftswac hstums

auf kapitalistischer Basis. Ihnen wird vorgehalten, sie hätten sich über die

Begrenztheit der Erde, die limitierte Belastbarkeit der Ökosphäre und die

Knappheit der Ressourcen hinweggesetzt und seien deshalb mitschuldig

an den weltweit beobachtbaren Umweltschäden.2 Diese Kritik ist in dem

Maße berechtigt, wie der klassische Marxismus dem Wachstum der Pro-

duktivkräfte  als geschichtsbildendem F aktor eine geradezu metaph ysi-sche Rolle zuerkennt. Oft genug gewinnt man den Eindruck, daß seine

Begründer ein unbegrenztes Potential weiteren Fortschritts schlicht vor-

aussetzen und sich so jener unheilvollen D yn am ik der Natu rbeherrschung

ausliefern, die von Bacon und Descartes m ethod ologisch gerechtfertigt

stets auch Herrschaft über Menschen gewesen ist.3 Andererseits finden

sich bei Marx und Engels, seltener zwar und häufig an entlegenem Ort,

 Ansätze einer »ökologischen« Krit ik des destruktiven Aspekts der mo

dernindustriellen Entwicklung. Daß menschliche Eingriffe geeignet sind,

den  Naturhaushalt   empfindlich zu stören, wird ihnen eher zum Problem

als dem Jenenser Biologen Ernst Haeckel, dessen Generelle Morphologie 

(1866) den Terminus »Ökologie« in die wissenschaftliche Diskussion ein-

geführt hat. Allerdings vermochten jene kritischen, kaum beachteten An-

sätze das eingeschliffene Klischee vom blind fortschrittsgläubigen Marxis-

mus nicht zu entkräften. Dabei läßt sich zeigen, daß Marx und Engels ein

keineswegs ungebrochenes Verhältnis zur Idee des Fortschritts hatten. Soheißt es in einem Engelsschen Brief an Marx, der Historiker Maurer hul-

dige »dem aufgeklärten Vorurteil, es müsse doch seit dem dunk len Mittel-

alter ein stetiger Fortschritt zum Besseren stattgefunden haben; das ver-

hindert ihn nicht nur, den antagonistischen Charakter des wirklichen

Fortschritts zu sehn, sondern auch die einzelnen Rü ckschläge «4.

Marx pflichtet Engels in der Sache bei und geht zugleich insofern über ihn

hinaus, als er die Frage unter dem umfassenderen Gesichtspunkt der noch

ausstehenden sozialen Revolution betrachtet. Erst nachdem diese die ma-

teriellen und intellektuellen Ergebnisse der bürgerlichen Epoche »gemei-

stert und... der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschritte-

nen Völker unterworfen h a t, .. . wird« — so die Marxsche P rognose »der

menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen G ö t-

zen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte «5.

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 II 

Erinnern w ir zun ächst an die markanten Belege für den MarxEngelsschen

Optimismus hinsichtlich der mit dem Aufstieg des Bürgertums einherge-

henden Entfesselung der Produktivkräfte. »Die Bourgeoisie«, heißt es im

 Kom munistischen Manifest,  »hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassen-

herrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen alsalle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Natur-

kräfte, Maschinerie, An w end un g der Chem ie auf Industrie und A ckerba u,

Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung

ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden ge-

stampfte Bevö lkerun gen welches frühere Jahrhundert ahnte, das solche

Pro duktionsk räfte im Scho ß der gesellschaftlichen Arb eit schlummern.«6

Marx und Engels feiern die mit dem Entstehen eines kapitalistischen Welt-markts verbundene kosmopolitische Tendenz: »An die Stelle der alten lo-

kalen und nationalen Selbstgenügsamkeit tritt ein allseitiger Verkehr, eine

allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der mate-

riellen Produktion, so auch in der geistigen... Die nationale Einseitigkeit

 wird mehr und mehr u nmöglich und aus den vielen nationalen und lokalen

Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«7

Dieser so triumphalen geschichtlichen Dynamik entspricht, wie Marx im

»Rohentwurf« seines Hauptwerks ausführt, »die universelle Aneignung

der N atur w ie des gesellschaftlichen Zusam m enhangs. .. durch die G lieder

der Gesellschaft. Hence the great civilising influence of Capital; seine Pro-

duktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale E nt-

wicklungen  der M enschheit und als  Naturidolatrie   erscheinen. Die Natur

 w ird .. . rein Gegensta nd fü r den Menschen, rein Sache der N ützlichkeit ;

hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische

Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint... nur als List, um sieden menschlichen B edürfnissen.. . zu unterwerfen.«8A uß er dem »System

der allgemeinen Nützlichkeit«, als dessen »Träger« auch die Wissenschaft

fungiert, gilt nichts als »AnsichHöheres,  FürsichselbstBerechtig

tes«9.

Marx’ Darlegungen nehmen sich einigermaßen befremdlich aus: bald

nüchternrealistisch, bald apologetisch. Er ist wie Hegel davon durch-

drungen, daß Geschichte nicht geradlinig, sondern dialektisch verläuft.

Dem Widerspruch, daß sich das Wohl des (gattungsmäßigen) Ganzen auf

Kosten der Individuen durchsetzt, kann die Menschheit nicht entrinnen.

Solange die »assoziierten Produzenten«10 ihre Geschichte nicht bewußt  

gestalten, ist ein dem einzelnen unmittelbar zugute kommender Fort-

schritt unmöglich. Wenn Marx die durch die bürgerliche Emanzipation

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entfesselte D ynam ik (nahezu) vorbehaltlos b egrüßt, so deshalb, weil sie

davon ist er überzeu gt nicht nur die materielle U nterlage des Übergangs

zum Sozialismus liefert, sondern auch gewährleistet, daß dieser die Ar-

 beitsproduktivität der kapitalistischen W elt erheblich überbieten w ird ."

 Vorerst freilich müssen die Menschen durch härteste Entb ehru ngen hin-

durchgehen. Wohl befindet sich die moderne Gesellschaft, verglichen mit

 Antik e und M ittelalter, »in der absoluten Bew egung des W erdens«12. Aberdie damit verbundene »Herausarbeitung« der »schöpferischen Anlagen«

des Menschen geschieht unter negativem Vorzeichen: die »universelle

 Vergegen ständlichung als totale Entfremdung, und die N ie derreiß ung al-

ler... einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen

ganz äußren Zw ec k« '3. Deshalb erscheint, nostalgisch verklärt, die »kindi-

sche alte W elt als das Höhere«; sie steht für »geschloßne G estalt, Form und

gegebne Begrenzung«14, das heißt für eine Unmittelbarkeit menschlicherBeziehungen, die mit dem aufkommenden Weltmarkt verschwindet. Die-

ser tritt den Individuen immer gebieterischer als ein sachlicher Zusammen-

hang entgegen, der sich unabhängig von ihrem W issen und W ollen durch-

se tz t.'5 G leichwohl, betont Marx, ist die moderne Gesellschaft jenen

Gemeinwesen vorzuziehen, die sich auf »bluturenge Natur und Herr

schafts und Knechtschaftsverhältnisse«16 grün deten. Sosehr die Menschen

 jetzt genötigt sind, sich einem weltweiten , objektiven Zusammen hang ein-

zugliedern, so unbestreitbar bleibt letzterer ihr eigenes Prod uk t: »Er gehörteiner bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und

Selbständigkeit, wo rin er noch gegen sie existiert, beweist nur, daß sie noch

in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind,

statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu ha be n.« '7

Marx nimmt an, daß erst die sozialistische Gesellsch aft imstande sein wird,

 jene »Fremdartigkeit« und »Selbständigkeit« der Verh ältnisse gegenüber

ihren Herstellern aufzuheben. Die bisherige Geschichte, zum al die des K a-pitalismus, kennt bloß den naturwüchsigen Zusammenhang »von Indivi-

duen innerha lb.. . bornierter Produ ktionsverhältnisse«' 8. Kü nftig dagegen

 werden allseitig entw ickelte Individuen ihre gesellschaftlichen Verhält-

nisse ihrer »eignen gemeinschaftlichen Kontrolle«'9 unterwerfen. »Der

Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese 

Individualität möglich wird«, setzen jedoch P rod uktion »auf der Basis der

Tauschw erte voraus, die mit der Allgem einheit der Entfrem dun g des Indi-

 viduums von sich und von andren. . . auch die Allgem ein heit und Alls eit ig-keit seiner Beziehu ngen und Fähigkeiten erst produziert.« 20

Es gehört zur geschichtsphilosophischen Grundüberzeugung von Marx,

daß die Menschheit durch die kapitalistische Prod uktionsw eise hindurch-

gehen muß. Sie erst schafft die »materiellen Elemente für die En tw icklun g

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der reichen Individualität, ... deren Arbeit... nicht mehr als Arbeit, son-

dern als volle E ntw icklun g der Tätigkeit selbst erscheint, in der die N atur-

notw endigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwun den ist; weil an die

Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist«21.

 Vorläufig kann jedoch davon keine Rede sein. D ie ihr Leb en als arm und

entleert erfahrenden Menschen trauern »frühren Stufen der Entwicklung«

nach, auf denen das Individuum deshalb »voller« erscheint, weil es die»Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm

unabhängige gesellschaftliche M äch te ... sich gegenübergestellt hat. So lä-

cherlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so

lächerlich ist der Glaub e, bei jen er ... Entleerung stehnbleiben zu m üssen.

U be r den G egen satz gegen jene romantische An sich t ist die bürgerliche nie

hinausgekomm en, und darum w ird jene als berechtigter Geg ensatz sie bis

an ihr seliges Ende begleiten.«22

Selten hat Marx seine Kon zep tion derart deutlich so w oh l gegen die roman -

tische Verklärung vorkapitalistischer Stufen abgesetzt als auch gegen die

positivistische Tendenz, das Bestehende zu rechtfertigen. Bildet die »ro-

mantische Ansicht« einen immerhin »berechtigten Gegensatz« gegen die

 verdinglich ten Verhältnisse eines entfalteten Kapita lism us, so sperren p o -

sitivistische Argumente sich gegen die Unabgeschlossenheit   der histori-

schen Diale ktik , die sich darin ausdrückt, daß die Aufg ab e des Kapitals, die

gesellschaftlichen Prod uktivkräfte enorm z u entw ickeln, erfüllt ist, sobalddie weitere Entw icklun g »an dem Kapital selbst eine Schranke findet«23.

 I I I 

Betrachten wir jetzt einige Hinweise von Marx und Engels, die in vor-

liegender Dissertation n icht so akzentuiert werden, w ie es aus heutigerSicht ihrer sachlichen Bedeu tung entspricht. Sie zeugen nicht nur von

 Ansätz en ökologisch geschärften Bewußtsein s, sondern belegen, daß das

MarxEngelssche Wer k, aufs G anz e gesehen, keineswegs im Dienst rü ck -

sichtsloser Naturbeherrschung steht. Im Gegenteil. Früh schon kritisiert

Marx den negativen Einfluß der kapitalistischen Ökonomie auf das neu-

zeitlich verbreitete Naturbild. »Das Geld«, heißt es in seiner Schrift  Zur  

 Judenfrage,  »ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert   aller

Dinge. Es hat daher die ganze W elt, die Mensch enw elt wie die N atu r, ihreseigentümlichen Wertes beraubt. ...D ie Ansch auung, welche unter der

Herrschaft des Privateigentums und des Geldes vo n der N atur gewonn en

 wird, ist die wirkliche Verachtu ng, die praktische Herabwürdig ung der

Natur«24.

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Spätere Äußerung en der Auto ren betreffen ruinöse F olgen kapitalistischer

 Agrar und In dustrieproduktion sowie natürliche Schranken der Ausbeut

 barkeit der N atur, mit denen selbst eine sozialistische Gesellschaft zu rech-

nen hätte. »Die Prod uktivität der Arbeit«, schreibt M arx im III. Band des

 Kapitals,  »ist auch an Naturbedingungen gebunden, die oft minder ergie-

 big werden im selben Verhältnis w ie die Produktiv ität soweit sie von

gesellschaftlichen Bedingungen abhängt steigt. D ah er entgegengesetzteBewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt

dort. Man bedenke z .B . den bloßen Einfluß der Jahreszeiten, w ov on die

Menge des größten Teils aller Rohstoffe abhängt, Erschöpfung von Wal-

dungen, Kohlen und Eisenbergwerken etc.«2* Im Ka pitel »Maschinerie

und große Industrie« des I. Bandes seines H aup tw erks heb t Ma rx die sub-

 jektiv wie objektiv verderblichen Folgen industrialisierter Lan dwirtschaft

hervor. Er zeigt, daß die kapitalistische Produktion mit »dem stets wach-

senden Übergewicht der städtischen Bevölkerung ... den Stoffwechsel

zwisch en Mensch und E rde (stört), d. h. die Rü ckkeh r der vom Menschen

in der Form von Nahrungs und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbe-

standteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Boden-

fruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der

Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt

zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Um-

stände jenes Stoffwechsels ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesell-schaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung 

adäquaten Form herzustellen.«26  Marx spricht hier höchst aktuelle Ein-

sichten aus. Klar steht ihm das Problem des »recycling« vor Augen, damit

die historische N otw end igkeit, den natürlichen, durch menschlichen Ein-

griff gestörten Kreislauf  bew ußt wiederherzustellen, der bisher eher zufäl-

lig und unter Belastung der Menschen stattgefunden h at.27 A m Ende

dieses Kapitels faßt Marx seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen:»Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die

gesteigerte Produk tivkraft und größre Flüssigmachung der Arbe it erkauft

durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder

Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in

der Kunst, den  Arbeiter,  sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu 

berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fru chtbarkeit zugleich

ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.

...D ie kapitalistische Produktion en twickelt daher nur die Techn ik undKombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zu-

gleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den 

 Arbeiter ,« 28 Dieser »Zerstörungsprozeß«, fügt M arx h inzu, vo llzieht sich

um so schneller, je mehr ein Land w ie die Vereinigten Staaten von G roß

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Industrie als dem »H intergrund seiner En twicklung«29 ausgeht. Äh nlic h

äußert sich Marx h ierzu in den Theorie über den Meh rwe rt : »Es liegt in der

Natur der kapitalistischen Produktion, daß sie die Industrie rascher ent-

 wic kelt als die Agrikultur. Es geht dies nicht aus der N atur des Bodens

hervor, sondern daraus, daß er andre gesellschaftliche Verhältnisse

 braucht, um w irklich seiner N atur gemäß exploitiert zu werden . Die kapi-

talistische Produktion wirft sich erst auf das Land, nachdem ihr Einfluß eserschöpft und seine Naturgaben verwüstet hat.«3°

 Als Krit ik er der politischen Ö konom ie verfolg t Marx die wissenschaft-

liche Literatur auch auf angrenzenden Gebieten. Hinsichtlich negativer

 Aspekte des gesellschaftlich determ inierten Naturverhältnisses verdankt

er Carl Nikolaus Fraas, einem vielseitigen Gelehrten, wertvolle Anregun-

gen, insbesondere seiner Studie  Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein  

 Beitrag zur Geschichte beider  (Landshut 1847), die zu lesen er Engels in

einem Brief vom Frühjahr 1868 empfiehlt. Fraas, heißt es hier, weist nach,

»daß in historischer  Zeit Klima und Flora wechseln. Er ist vor Darwin

Darw inist und läßt die Arten selbst in der historischen Ze it entstehn. A ber

zugleich Agro no m . Er behauptet, daß mit der Kultur entsprechend ih-

rem G rad die von den Bauern sosehr geliebte >Feuchtigkeit< verlorengeht

(daher auch die Pflanzen von Süden nach Norden wandern) und endlich

Steppenbildung eintritt. Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließ-

lich verödend durch Entho lzung etc. ...D a s F azit ist, daß die Ku ltur  wenn natu rwüchsig fortschreitend und nicht bewußt beherrscht   (dazu

kom mt er natürlich als Bürger nicht) Wüsten hinter sich zurückläß t,

Persien, Mesopotamien etc., Griechenland. Also auch wieder sozialisti-

sche Tendenz unbew ußt!«3'

Im Zusammenhang hiermit steht die »Zerstörung der Waldungen«32, auf

die Marx, angeregt woh l durch Fraas, im II. Band des Kapitals zu sprechen

kommt: »Die lange Produktionszeit (die einen relativ nur geringen Um-fang der Arbeitszeit einschließt), daher die Länge ihrer Umschlagsperio-

den, macht die Waldz uc ht zu einem ungünstigen Privat und daher kapita-

listischen B etriebszw eig, we lcher letztre wesentlich Privatbetrieb ist, auch

 wenn statt des einzelnen Kapitalisten der assoziierte Kap italist auftritt. Die

Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so

tätig in der Zerstörung der Waldungen gezeigt, daß dagegen alles, was sie

umgekehrt zu deren Erhaltung und Produk tion getan hat, eine vollständig

 verschwindende G röße ist.«33 Auch Engels ’ ökolo gische Einsichten setzen die Lektü re des Buches von

Fraas voraus. Sie betreffen zunächst die mit der fortschreitenden Indu-

strialisierung ländlicher Gebiete entstehenden Probleme. Hierzu heißt es

im  AntiDiikrin g:  »Erstes Erfordernis der Dampfmaschine und Haupt-

VII

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ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für des größten

Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so

 wütendere Flu tström e über die Ebene ergießen könnten.«40

Engels hegt keine Illusionen hinsichtlich der Zeit und Mühe, die es kosten

 wird, die zivil isatorische Erblast der bisherigen Gesch ichte abzu tragen.41

 A ber er nim mt an, daß es wissenschaftlicher Einsicht künftig gelingen

 werde, die »näheren und ferneren Nachwirkungen unsrer Ein griffe in den

herköm mlichen G an g der N atur« 42 nicht nur rechtzeitig zu erkennen, son-

dern auch zu beherrschen. Freilich, so meint er, können wir uns nur

»durch lange, oft harte Erfahrung... über die mittelbaren, entfernteren

gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven Tätigkeit Klarheit...

 verschaffen«43. Erken ntnis allein, dessen ist Engels sicher, wird nicht ge-

nügen, ungewollte Nebeneffekte der Naturbeherrschung ihrerseits »zu

 beherrschen und zu regeln«44. D azu bedarf es einer »vollständige[n] U m - wälz ung unsrer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetz igen

gesamten gesellschaftlichen Ordnung«45.

 W ie aus den angeführten Stellungnahmen erhellt, sind Marx und Engels

eines Sinnes, was die Schwere der ök ologisch en Problem atik und die prak-

tischen Schritte ihrer Bewältigung anbelangt. Als Materialisten gehen sie

davon aus, daß das gesellschaftliche Sein, worin die Menschen leben, ein-

gebettet ist ins universelle Sein der N atu r, deren Bestand zu erhalten  ihnen

 bei Strafe eigenen Untergangs auferlegt ist. »Vom Standpunkt einer ho-

hem ökonomischen Gesellschaftsformation«, erklärt daher Marx, »wird

das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abge-

schmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem

ändern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle

gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentü-

mer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer , ihre Nu tzn ieß er, und haben sie als

 boni patres familias den nachfolgenden Gen erationen verbessert zu hinter-lassen.«46

 I V 

 Angesichts der seit Nie derschrift des Buches radikal veränderten Proble m -

lage erscheint es dem Verfasser angebracht, den  philosophischen Ansatz  

neu zu überdenken, der seiner damaligen Darstellung des Marxschen N a -

turbegriffs zugrun de lag. D ie D issertation war insofern dem G eist der älte-

ren Frankfurter Schule verpflichtet, als sie (im G ege nz ug zu den unverm it-

telten Objektivismen stalinistischer Ideologie) darauf abzielte, das

deutschidealistische Erbe in Marx ungeschmälert zur G eltun g zu bringen.

IX 

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D er Verfasser war deshalb darauf bedacht, den »praktischkritischen« Ma-

terialismus der Thesen über Feuerbach und der Deutsch en Ideologie  47 auch

in den ausdrücklich hinzugezogenen ökonom ischen W erken nach-

zuweisen. Daher die Tendenz der Schrift, das menschliche Natur und

 Weltverhältnis fast durchweg aus der Perspektive des arbeits und er-

kenntnistheoretischen SubjektObjektSchemas zu erörtern.48 Dadurch

ist eine zumal heute hervortretende Asym m etrie entstanden. Dieandere, ebenso berechtigte Seite des Marxschen Verständnisses von Wirk-

lichkeit wird zw ar thematisiert49, aber ihr sachliches G ew ich t nicht gebüh-

rend hervorgehoben. So wah r es bleibt, daß die »sinnliche Welt« kein »un-

mittelbar von Ew igk eit her gegebenes, sich stets gleiches D in g ist, sondern

das Prod ukt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und z w a r ... ein

geschichtliches Produkt«50, so wohlbegründet bleibt es, umgekehrt, die

»Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation« als »naturge-

schichtlichen Prozeß«5' aufzufassen.

Daß, im Sinn des II. Kapitels, alle »gesellschaftliche Vermittlung der Na-

tur« die »naturhafte Vermittlung der Gesellschaft« voraussetzt, ist viel-

leicht erst heute im vollen Bewußtsein der Implikationen aussprechbar.

Bei »jedem Schritt«, so Engels in der D ia le ktik der N atur, »werden w ir...

daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Erobe-

rer ein fremdes V o lk beherrscht, wie jemand, der außer der N atu r steht

sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mittenin ihr stehn, und daß unsre ganze H errschaft über sie darin beste ht,.. . ihre

Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können«52. Deshalb sollten

 w ir uns vor der Illusion hüten, im Sozialism us werde die Menschheit sich

souverän über die Natur erheben. Deren noch so große Beherrschung,

 bem erkt hierzu M ax Adler, beseitigt nicht »die N aturabhängig keit . . . der

gesellschaftlichen Erscheinungen«53; sie ändert bloß die Form, worin sie

sich durchsetzt. Woh l »verschiebt« sich der »Natureinfluß« im Verla uf derGeschichte. »Aber diese Verschiebung bedeutet kein Aufhören, ja nicht

einmal eine Verminderung der Abhängigkeit des Menschen von den Na-

turfaktoren. Im Gegenteil, gerade Marx hat darauf hingewiesen, daß mit

der Fortentwicklung der Beherrschung der Naturkräfte gleichsam die

Breite der Berührung des Menschen mit der Natur wächst und daß er

selbst in der Herrschaft über die Natur um so mehr in Abhängigkeit vonihr gerät.«54

Dennoch hat der Mensch es vermocht, der Erde seinen Stempel aufzu-drücken. Marx weiß sich auf der Höhe weltgeschichtlichen Fortschritts,

 wen n er in der  Krit ik des Goth aer Programms  feststellt, »Quelle von...

Reichtum« w erde die Ar be it nur insofern, als sich »der M e n sc h ... von 

vornherein  als Eigentümer zu r Natur, der ersten Q ue lle aller Arbeitsm ittel

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und gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt«5s. Entsprechend

figuriert im III. Band des Kapitals die Erde »als das ursprüngliche B eschäfti-

gungsfeld der Arbeit, als das Reich der Naturkräfte, als das vorgefundne

 Arsen al aller Arbeitsgegenstände.«56. N atur erscheint bei Marx im mer

schon im Horizont geschichtlich wechselnder Formen ihrer gesellschaft-

lichen Aneignung.57 Uber ihre eigene Beschaffenheit verlautet lediglich,

daß sie, als »materielles Substrat« von Gebrauch swerten , »ohne Zutun desM en sc he n ... vorhande n ist«58. Diese r im vorliegenden Buch materia-

listisch  interpretierte Sachverhalt kann jedoch am gleichzeitigen Anthro 

 pozentrismus  der Marxschen Naturkonzeption nichts ändern, in der sich

die Rolle des m odernen, die W elt um gestaltenden Subjekts reflektiert.59

In dem Maße, wie der Verfasser die »weltkonstitutive« F unktion der histo-

rischen Praxis herv orh ob , hoffte er dem Selbstverständnis von M arx gerecht

zu werden. Letzteres freilich hat sich unterdessen als wenig konsistent er-

 wiesen. Das gilt zum al fü r den »praktischen« W irklichkeitsBezug des

Marxschen Denke ns, der sich in den Ökonomischphilosophischen M anu-

skripten anders darstellt als in der Kritik des Gothaer Programms, w o ersieh

 verfestigt zum historischen Aprio ri schrankenloser Aneignung der N a -

tur.

 Wie schon im  Postscriptum 1971  ist auch hier an Feuerbach wenigstens zu

erinnern, über den Marx und Engels allzu rasch hinw eggegangen sind.60

 Was sie als Mangel seines »anschauendefn] Materialism us«6' beanstande-ten: daß er das Sein der D inge nicht antastet, wird heute als eine M öglich keit

unverstellten NaturZugangs wiederentdeckt. Feuerbach konfrontiert im

Wesen des Christentums das neuzeitliche Bewuß tsein mit der großartigen

Naivität der Griechen, deren Verhältnis zur Welt gleichzeitig theoretisch

und ästhetisch ist; »denn die theoretische Ansc hau ung ist ursprünglich die

ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia«6*. Für die Alten ist »der

Begriff Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeitselbst«63. Mensch und W elt befinden sich in Harm onie. »Wem die N atur« ,

so Feuerbach, »ein schönes  Objekt ist, dem erscheint sie als  Zweck ihrer 

selbst, für den hat sie den G rund ihres Daseins in sich«; er setzt als »Grund

der Natur« eine »in seiner Anschauung sich betätigende Kraft«64. Freien

Spielraum gew ährt der Mensch dieser Stufe allein seiner Phantasie. »Er läßt

hier«, betont Feuerbach, »indem er sich befriedigt, zugleich die Natur in

Frieden gewähren und bestehen, indem er seine... poetischen Kosmogo

nien nur aus natürlichen Materialien  zusammensetzt.«65 Sobald dagegen, wie in der M odern e, der Mensch die W elt vom »praktischen Standpunkt«

aus betrachtet, gar diesen zum theoretischen erhebt, »da ist er entzw eit mit

der N atur, da macht er die Natu r zur untertänigsten Dienerin  seines selbsti-

schen Interesses, seines praktischen Egoismus«66.

XI

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Es ist klar, daß Feuerbachs Rekurs auf das vortechnischmythische Welt-

 bild der Griechen kein bloßer Reflex roman tischer Sehn süchte ist.

Feuerbach erinnert an die schon zu seiner Zeit vielfach verschüttete M ög -

lichkeit, Natur nicht nur als Objekt der Wissenschaft oder Rohstoff zu

erfahren, sondern »ästhetisch« im sinnlichrezeptiven wie künstlerischen

Sinn. Aneignend e Praxis soll den Dingen zu A us dru ck und Sprache verhel-

fen. Dazu aber bedarf es eines  philosophischen Ansatzes,  der über die mitdem SubjektObjektSchema des Arbeits und Erkenntnisprozesses ge-

setzte Trennung von Mensch und Natu r hinaus ist. A uszu gehe n w äre vom

Naturganzen (und der Naturentsprungenheit des Menschen). Eben darin

 bestand nach Marx der »aufrichtige Jugendgedanke«67 Schellings. Im  Er-

sten E ntw ur f eines Systems der Naturphilosophie von 1799 w ird der Na tur

»unbedingte Realität« zuerkannt: »Autonomie« und »Autarkie«. Natur,

sagt Schelling, ist »ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisi

rendes Ganzes«68.

Heuristisch brauchbar ist auch Engels’ These von der Natu r als »Gesamt-

zusammenhang«69, als in sich reich gegliedertes System universeller Wech-

selwirkungen. Innerhalb dieses in originärer Selbstgegebenheit sich dar-

 bietenden Systems bildet der durch materielle Pro duktion verm ittelte

 Austausch von Mensch und N atur nur eine von zahllosen Interaktionen.

Dad urch w ird der bisherige, an menschlicher Praxis und G esch ichte orien-

tierte Denkansatz nicht hinfällig, aber relativiert. Der historischdialektische erweitert sich zum »ökologischen Materialismus«.70 Dieser begreift,

daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen

umschlossen und getragen wird von einer elementarischen Dialektik von

Erde und Mensch, den ungeschichtlichen Voraussetzungen aller Ge-

schichte. Hierin bewährt sich der Gedanke, daß die Welt eine materielle

Einheit bildet. Viel wäre bereits gew onnen, wenn sich die Menschheit,

unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum, darauf einrichten könnte,

künftig in besserem Einklang mit dem System der N atu r zu leben.

Fran kfurt am Main, An fang Ap ril 1993 A lfred Schmidt

XII

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 Anmerkungen zum Vorw ort des Verfassers zur

französischen Ausgabe

1 W alter Ben jamin, Gesammelte Schriften,  hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann

Schw epp enhä user, Band I.3, Frank furt am M ain 1980, S. 1232.

2 Cf. hierzu Iring Fetscher, Uberlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fort-

schritt noch zu retten f, M ünch en 2 1985, S. 110.3 C f. A lfred Schmidt,  Emanzipatorische Sin nlich keit. Ludw ig Feu erba chs a nth ropolo-

gischer Materialismus, M ünch en 3 1988, S. 32 ff.

4 Engels an Marx, Brief vom 15.Dezember 1882, in: Marx/Engels,  Ausgew ählte 

 Briefe ,  Berlin 1953, S. 425 (Hervorhebung von Engels).

5 Marx,  D ie künft ig en Ergeb nisse der britisch en H er rs ch aft in Indie n,  » N e w Y o r k

D aily Tribün e«, N r. 3840 vom 8. A ug ust 1853, in:  Ausgewählte Sch riften,  Band I,

Berlin 1964, S. 330.

6  M anifest der Kom m unistischen Partei, in: ibid., S. 3of.7 Ibid.

8 Marx, Grundrisse der Kr itik der politischen Ö kon om ie  (Rohentwurf), Berlin 1953,

S 3139 Ibid.

10 Marx,  D as Kapital, Band III, Berlin 1953,8. 873.

11 C f. Fetscher, I.e., S. i2 of .

12 Marx, Grundrisse, I.e., S. 387.

13 Ibid.14 Ib id ., S. 387; 388.

15 C f. ibid ., S. 79.

16 Ibid.

17 Ibid.

18 Ibid.

19 Ibid.

20 Ib id ., S. 79 f.

21 Ibid., S. 231; cf. auch S. 415. C f. z ur historischen No twe nd igke it des »Hindu rch-

gangs« der Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise auch Fetscher,

I.e., S. 1 1 5 ff.

22 Marx, Grundrisse, I.e., S. 80.

23 Ib id., S. 231.

24 Marx/Engels, Werke,  Band 1, Berlin 1957, S. 375.

XIII

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25 Marx, D as Kapital, Band III, I.e., S. 289.

26 Marx,  Das Kapital,  Band I, Berlin 1955, S. 531 (Hervorhebungen vom Verfasser).

27 M arx b ezieht sich in diesem Zusam m enhang (cf. ibid., S. 532) auf Justus von L iebig,

dessen Buch  D ie C hem ie in ihrer Anw endung a u f Ag rik ultu r und Physiologie  

(71 862) er dafür lobt, die »negative Seite der modernen A gr ik u ltu r. .. vom Na turw is-

senschaftlichen Standpunkt« aus entwickelt zu haben. Cf. dazu auch Fetscher, I.e.,

S. 137.

28 Marx,  Das Kapital,  Band I, I.e., S. 531 f. (He rvorh ebu nge n vo n M arx). C f. hierzu

auch die Theorien über den Mehrwert,  wo es lapidar heißt: » A n tizip ation   der Zu-

kun ft wirkliche An tizipation findet überhaupt in der Produ ktion des Reichtums

nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige

Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen

 A usgabe und Ein nah me, die Z u k u n ft realiter antizipiert und verw üstet werden. Bei

 beiden geschieht es in der kapitalist ischen Produktion« (in : M arx/E n gels , Werke, 

Band 26.3, Berlin 1968, S. 303).

29 Marx,  Das Kapital, Band I, I.e., S. 532.

30 Marx/Engels, Werke, Band 26.3, I.e., S. 295.

31 M arx, Br ief an Engels vom 25. M ärz 1868, in: M arx /E ng els, Werke, Band 32, Berlin

1965, S. J2f. (Hervorhebungen von Marx).

32 Marx,  Das Kapita l,  Band II, Berlin 1955, S. 241. M arx ko m m entiert hier Friedrich

Kirchhofs  H andbuch der land wirtschaftlichen Betriebsleh re,   Dessau 1852,5.58.

33 Marx,  Das Kapital, Band II, I.e., S. 241.

34 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 275 f.

35 Ib id. , S. 276.36 Ibid.

37 Ibid.

38 Ibid ., S.455 .

39 Ib id., S. 454.

40 Ibid ., S. 45 2f.; cf. hierzu auch S. 455.

41 Ib id., cf. S. 277.

42 Ib id., S. 453.

43 Ibid., S. 454. Hinsichtlich der von Engels erwogenen M öglichk eit auch die N atur- beherr sch ung kün ft ig lü ckenlo s zu beherr sc hen, haben sp ätere M arxis te n w ie M ax

 A d ler sich mit Rech t eher skep tisc h geäußer t. A d ler w arnt d avor, »in die übliche und

gedankenlose Verherrlichung des technischen Fortschritts zu verfallen, wie sie die

 bürgerliche W elt zu ih re r Berü hm ung und Rechtf ertigun g liebt« . Es ble ib t zu

 beac hten, »daß eine M öglichkeit sozusagen fü r den E in bruch der unbeherr schten

Natur in das System der geregelten und beabsichtigten Naturwirkungen nicht nur

immer bestehen bleibt, sondern, wo er gelingt, gerade infolge der größeren, aber

momentan durchbrochenen Naturbeherrschung auch bedeutsam größere, ja man-

chesmal sogar katastrophale Wirkungen hervorruft« ( N atur u nd Gesellschaft . Sozio-

logie des Ma rxismus2 , Wien 1964, S. 81; 83).

44 Marx/Engels, Werke, B and 20, I.e., S. 454.

45 Ibid.

46  Marx,  Das Kapital, Band III, I.e., S. 826.

XIV

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47 Marx/Engels, Werke,  Band 3, Berlin 1962, S. 5 ff.; 42ff.

48 C f. hierzu besonders das III. Kap itel, Ab sch nitt C): W eltkon stitution als historische

Praxis. In seinem Artik el  Praxis (1973) hat der Verfasser die »p raxeologische« A u f-

fassung der Wirklichkeit näher entwickelt (in: Alfred Schmidt,  Kritische Theorie. 

 Hum anism us. A u fklä rung , Stuttgart 1981).

49 Am deutlichsten noch im Abs chn itt B) des II. Kap itels, wo der Verfasser den »Stoff-

 wechsel vo n M ensch und Natu r« erö rtert und dab ei auc h auf dessen Zusa m m enhang

mit den kom plexen Interaktionen innerhalb des N aturgan zen zu sprechen kom mt.

50 Marx/Engels, Werke, Band 3, I.e., S.43.

51 Marx,  D as Kapital,  Band I, I.e., S. 8.

52 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 453.

53 M ax Ad ler,  N atu r und Gese lls ch aft ,  I.e., S. 84.

54 Ib id ., S. 83 f.

55 Marx/Engels,  Ausgew ählte Sc hr ift en ,  Band II, Berlin 1964, S. 11 (Hervorhebungen

 vom Ver fa ss er ).

56 Marx, D as Kapital, Band III, I.e., S. 879.

57 Martin Heideg ger hat denn auch im Hu ma nismu sbrief den Marxschen M aterialis-

mus als Ausdruck einer weltgeschichtlichen Erfahrung des modernen Bewußtseins

interpretiert und gegen »billige Widerlegungen« verteidigt. »Das Wesen des Mate-

rialismus«, betont Heidegger, »besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff,

 vie lm ehr in ein er m eta physisc hen Best im m ung, d er g em äß alles Se iende als das M ate -

rial der Arbeit erscheint. Das neuzeitlichmetaphysische Wesen der Arbeit ist in

Hegels  Phänom enologie des Geistes vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vor-

gang der unbedingten Herstellung, das ist Vergegenständlichung des Wirklichendurch den als Subjektivität erfahrenen Men schen. D as W esen des Materialismus ve r-

 birgt sich im W esen der T echnik « ( Platons Lehre von der W ahrheit. M it einem B rie f  

über den   » H um anis m us«, Bern 21954, S. 87^).

58 Marx,  D as Kapital, Band I, I.e., S. 47; cf. auch S. 186.

59 Cf. Alfred Schmidt,  H um anism us als Natu rbeherrsc hung,  in: Jörg Zimmermann

(Hrsg.),  Das N aturbil d des M ensc hen, M ün che n 1982, S. 301 ff.

60 C f. Alfre d Schm idt,  Em anz ipatorische Sin nlich keit. Ludw ig Feu er ba chs anthropolo-

gischer Materialismus, M ünch en 31988, S. 46ff.61 Marx/Engels, Werke, Band 3, I.e., S. 7.

62 Lu dw ig Feuerbach, Gesammelte Werke,  hrsg. von Werner Schuffenhauer, Band 5,

Berlin 1973, S. 206.

63 Ibid. , S. 207.

64 Ibid., S. 206 (H ervo rhe bu nge n von Feuerbach).

65 Ibid., S. 207 (H ervor heb un gen von Feuerbach).

66  Ibid. (He rvorhebu ngen von Feuerbach).

67 M arx an Feuerbach, Brief vom 3. O kto b er 1843, in: M arx/E nge ls, Werke,  Band 27,Berlin 1963, S. 420.

68  Schellings W erke,   hrsg. von Manfred Schröter, Zweiter Hauptband, München 1927,

S. 17.

69 Marx/Engels, Werke, Band 20, I.e., S. 307.

70 Diesen Beg riff hat Ca rl A m ery s Buch  N atu r als Poli tik. D ie ökologisch e Chance des

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 Menschen.,  R einbek bei H am burg 1976, in die wissenschaftliche und politische D e-

 batte ein gefü hrt (cf. S. 1 7 ff .). — Der m arx istisc he M aterialism us, erklä rt A m ery, sei

darin inkonsequent   gewesen, daß er sich an »Leitvorstellungen aus der politischen

Ökonomie« orientiert habe, die es nunmehr »theoretisch und praktisch« den »Leit-

 vorstellungen der Ö kolo gie « unterzu ord nen gelte (S. 184). H abe der M ater ia lism us

sich bisher damit begn ügt, »die W elt zu verändern«, so kom m e es jetzt »darauf an, sie

zu erhalten« (S. 185). Hieraus folgt, daß Am ery hinsichtlich der utopischen H off-

nungen des traditionellen Marxismus erhebliche Abstriche empfiehlt. Die »Perspek-

tive des konsequenten M aterialismus« form uliert A m ery folgenderm aßen: »Versöh-

nung mit der Erde: das ist die Notwendigkeit, aus der konsequenter Materialismus

erwächst und handelt. N icht Ende der En tfrem dung, n icht Fülle der G üte r für den

Menschen kann sein Ziel sein, sondern zunächst und vor allem eine Zukunftsord-

nung, die sich aus dem Respekt vor jeder Materie, auch nichtmenschlicher, ergibt.

Gewiß, noch immer und stets gilt der Marxsche Satz, daß Natur dem Menschen

 verm itte lt w ir d und auch die E in w ir kun g des M ensch en auf die N atu r (der bekannte

>Stoffwechsel<) gesellschaftlich erfolgt. Aber dies sagt noch nichts über die Aufgabenaus, die sich die Ges ellsch aft als Ver m ittlerin stellt« (S. 166).

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Zusätzliche Literatur

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Fraas, Carl:  K lim a und P fla nzen w elt in der Zeit , ein Beitrag zu r Gesc hichte beider , 

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Harich, Wolfgang:  Kom m unism us ohne W ach stum ? B a b eu f und der >Club o f Rome<, 

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 D ie M en sch h eit w ir d H err in der N a tu r , aber d er   M en sch w ir d S k la v e des M en schen oder S k la v e se i-ner eigenen Niedertracht. Sogar das reine 

 L ic h t der W is sen schaft kan n, so sch ein t es, n u r v o r d em d u n k l en H i n t ergru n d d er U n wi s -senheit strahlen. Das Resultat al ler unserer  E rfin du ngen u n d unser es F ortsch rit ts  scheint zu sein, daß materiel le Kräfte mit   

geistigem Leben ausgestattet werden und  die menschl iche Existenz zu e iner mate-rie llen K raft verdumm t. K ar l M arx  

(Nach einem von D. Rjazanow entdeckten Manuskript.In: »Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär«.

 Wien — Berlin 1928, S. 42 )

Einleitung

Die Arbeit ist ein Beitrag zur philosophischen Marxinterpretation. Ihr

Interesse gilt einem Begriff, dem im Marxschen Denken eine bloß peri-

pherische Bedeutung zuzukommen scheint, dem Begriff der Natur. Marx

kommt in seinen Schriften auf die Natur »an sich« nur äußerst selten zu

sprechen. Das ist jedoch kein Kriterium für ihre geringe Bedeutung in der

Theorie der Gesellschaft, sondern ergibt sich aus deren besonderer Blick-richtung.

 Als K rit ik der politischen Ökonom ie stellt die Theo rie der Gesellschaft

den Produktionsprozeß der materiellen Güter als eine »Einheit von 

 Arbeitsprozeß und. Wertbildungsprozeß «1 dar, wobei sie, im Anschluß an

die Ricardosche Ökonomie, ihr Hauptaugenmerk auf den Tauschwert

der Ware richtet, der als Vergegenständlichung abstraktmenschlicher

 Arbeit, ausgedrückt in gesellschaftlich notwendigen Zeitmengen, jederNaturbestimm theit bar ist.

Die Naturalform der Ware, das, was Marx ihren Gebrauchswert nennt,

tritt in der Analyse des Wertbildungsprozesses nur auf, sofern sie »mate-

rielles Substrat, Träger des Tauschwerts*2 ist. Demgegenüber soll hier,

 wo es primär um das Philosoph ische an der Marxschen Theo rie geht, der

Produktionsprozeß vor allem als Gebrauchswerte hervorbringender

 Arbeitsprozeß in seiner geschichtlichen Bew egung betrachtet werden.

 Was den Marxsc hen N aturbegriff im Ansatz von anderen N aturkonzep-tionen unterscheidet, ist sein gesellschaftlichgeschichtlicher Charakter.

1 Das Kapital, Bd. I., S. 195 .2 A. a. O., S. 194 .

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Marx geht von der Natur aus als »der ersten Quelle aller Arbeitsmittel

und gegenstände«3, das heißt, er sieht sie von vornherein relativ auf

menschliche Tätigkeit. Alle sonstigen Aussagen über Natur, seien sie

spekulativer, erkenntnistheoretischer oder naturwissenschaftlicher Art,

setzen die Gesamtheit der technologischökonomischen Aneignungswei-

sen der Menschen, gesellschaftliche Praxis, jeweils schon voraus.

 Wie die erscheinende N atur und alles Natu rb ewußtsein im Laufe derGeschichte immer mehr zu einer Funktion objektiver Prozesse der

Gesellschaft herabgesetzt werden, so erweist sich umgekehrt für Marx die

Gesellschaft ebensosehr als ein Naturzusammenhang. Nicht nur in dem

unmittelbar kritisch gemeinten Sinne, daß die Menschen ihrer eigenen

produktiven Kräfte gegenüber der Natur noch immer nicht Herr sind,

daß ihnen diese Kräfte als die organisierte, feste Form einer undurch

schauten Gesellschaft gegenübertreten, als »zweite Natur«, die ihrenSchöpfern ein eigenes Wesen entgegensetzt, sondern darüber hinaus in

dem »metaphysischen« Sinne einer Theorie des Weltganzen.

 Auch der begriffene und beherrschte Lebensprozeß der Menschen bleibt

ein Naturzusammenhang. Unter allen Formen der Produktion ist die

menschliche Arbeitskraft »nur die Äußerung einer Naturkraft«4. In der

 Arbeit tritt der Mensch »dem N aturstoff selbst als eine Naturm acht

gegenüber«5. »Indem e r . . . auf die Na tur außer ihm w irkt und sie

 verändert, verändert er zugleich seine eigne N atur.« 6 D ie Dia lektik vonSubjekt und Objekt ist für Marx eine Dialektik von Bestandteilen der

Natur.

Thesenhaft ließe der Inhalt der vorliegenden Schrift sich bezeichnen als

ein Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesell-

schaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassenden

Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen. Als Quel-

lentexte legt sie das gesamte zugängliche Werk von Marx zugrunde. Siezieht die Engelsschen Schriften zur Verdeutlichung der Marxschen Posi-

tion hinzu, spweit sie nicht, gemessen an dieser Position, der Kritik

 verfallen . Das gilt insbesondere für die Engelssche Fassung des Begriffs

der Naturdialektik.

 W o auf die Marxschen Frühschriften eingegangen wird, ist es dem

 Verfasser mehr darum zu tun, den genetischen Zusammen hang zu

 bestimmten Motiven des mittleren und reifen M arx herzustellen als um

3 Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Ausgew. Schriften, Band II,Berlin 1956, S. 11.

4 A. a. O.

5  Das Kapital, Bd. I . , S . 5 .6  A. a. O.

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den heute so verbreiteten wie verfehlten Versuch, das eigentlich  philoso-

 phische  Denken von Marx auf das in diesen Texten Gesagte, namentlich

auf die Anthropologie der Pariser Manuskripte zu reduzieren. Aus der

Überlegung heraus, daß Marx keineswegs da am philosophischsten ist,

 wo er sich der traditionellen Schulsprache der Philosophen bedient,

 werden hier in weit höherem Maße, als es sonst bei philosophischen

Marxinterpretationen üblich ist, die politischökonomischen Schriftendes mittleren und reifen Marx zu Rate gezogen, vor allem der für das

 Verständnis der Beziehung von Hegel und M arx äußerst wichtige »Roh-

entwurf« des »Kapitals«, der seither so gut wie unausgewertet gehlieben

ist.

Ganz abgesehen vom Umfang der zu berücksichtigenden Marxliteratur

stellen sich einem Versuch, den Naturbegriff des dialektischen Materia-

lismus darzustellen, erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Bei Marx liegteine systematische Theorie der Natur, die sich aller spekulativer Implika-

tionen bewußt wäre, nicht vor. Es kam daher darauf an, aus den Haupt-

phasen der Entwicklung des Marxschen Denkens die oft entlegenen

Motive zum Thema zusammenzutragen. Bei der außerordentlichen Ver-

flochtenheit dieser Motive ließen sich gelegentliche Wiederholungen,

Überschneidungen, auch Rückverweise nicht ganz vermeiden, so daß die

in den einzelnen Kapiteln bzw. Abschnitten behandelten Sachverhalte

sich nicht immer völlig mit dem in den Überschriften Angekündigtendecken.

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lektik der Natur« zu eindeutig aus. Bei Marx liegen die Dinge etwas

anders. Der in seiner Geschichts und Gesellschaftstheorie enthaltene

und von ihr stillschweigend vorausgesetzte philosophischmaterialisti

sche Kern tritt nicht so offen zutage und ist nur schwer herauszupräparie-

ren. Indem der weitaus größte Teil der seitherigen Literatur über Marx

mit Grund hervorkehrt, was dessen Materialismus als eine primär an

Geschichte und Gesellschaft orientierte Theorie qualitativ von allen phi-losophiehistorisch aufgetretenen Formen des Materialismus unterschei-

det, versäumt er zugleich, diejenigen Momente in Marx gebührend zu

 berücksichtigen, die ihn selbst mit den antiken Materialisten verbinden.

Dabei ist die Frage nach dem Zusammenhang von materialistischer

Geschichtsauffassung und philosophischem Materialismus keineswegs

zweitrangig oder von bloß terminologischem Interesse. Marx selbst ist

sich übrigens dessen bewußt, daß die Bezeichnung seiner Lehre als

»materialistisch« mehr bedeutet als eine philosophisch unverbindliche

 Ausdrucksweise pour ép ater le bourgeois, daß diese Lehre vielm ehr

in einem genauen Sinn in die Geschichte der materialistischen Philo-

sophie gehört. So wird in der »Einleitung zur Kritik der politischen

Ökonomie« von 1857 als zu bearbeitender Programmpunkt nicht nur die

Notwendigkeit angegeben, die These der Abhängigkeit der Staats und

Bewußtseinsformen von den jeweiligen Prodüktions und Verkehrsver-

hältnissen gegenüber »Vorwürfe(n) über Materialismus dieser Auffas-s u n g zu verteidigen, sondern es wird auch ausdrücklich das »Ver-

hältnis zum naturalistischen Materialismus*3 genannt, ohne daß Marx je

dazu gekommen wäre, dieses Verhältnis explizit zu erörtern.

Zur wirklichen Klärung der Frage, inwiefern eine Theorie, nach der das

in letzter Instanz den geschichtlichen Gang der Gesellschaft bestim-

mende Moment die Art und Weise der Produktion und Reproduktion des

Für ihn besteht die Marxsche Theorie aus zwei Teilen, aus einem philosophischen, dersich nur   auf die Naturwissenschaften bezieht, und einem geschichtswissenschaftlichen,der es mit der Gesellschaft zu tun hat. Daß auch die neueste Marxforschung noch nichtdas Aufgehobensein des naturalistischen im dialektischen Materialismus begriffen hatund noch immer an der Trennun g der Theorie der Natu r von der Geschichtstheorie fest-hält, belegt eine Äußerung G. H. Sabines: »Marx, following Hegel, has regarded thedialectic as a method especially suited to the social studies, because they have to do witha subjectmatter in which development and growth is an important factor. Sciences thatdeal with inanimate nature like physics and chemistry, Marx assumed, are sufficiently

 well served by a materialism of the nondialectical type, like that of Holbach.« In: AHistory of Political Theory, New York 1953, S. 815.

1 Zur Kritik der politischen Ökon omie, S. 267 . Die vollständigen Titel und bibliographi-schen Daten der zitierten Werke von Marx und Engels befinden sich im Literaturver-zeichnis. Sämtliche Sperrungen entstammen, soweit nicht anders vermerkt, den zitierten

 Autoren.} A. a. O.

1 1

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unmittelbaren Lebens der Menschen ist, einen philosophischen Materia-

lismus voraussetzt, ist es erforderlich, sich einige bisher weniger beach-

tete Aspekte der theoretischen Entwicklung von Marx vor Augen zu

führen. Wichtig ist zunächst einmal seine Beurteilung der französischen

 A ufk lä rer und der von ihnen bestimmten Strömungen innerhalb des

utopischen Sozialismus, wie sie uns in der »Heiligen Familie« begegnet.

Hier wird der Materialismus unumwunden als »die Lehre des realen  Hum anismus   und als die logische  Basis des  Kommunismus*4 bezeichnet.

Besonderen Wert legt Marx auf Helvetius, bei dem sich Tendenzen

finden, die sensualistische Erkenntnislehre Lockes in eine materialistische

Theorie der Gesellschaft zu überführen: »Wenn der Mensch aus der

Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfin-

dung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so

einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich ange-

 wöhnt, daß er sich als Mensch erfäh rt. . . Wenn der Mensch von den

Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich

 bilden . . . Wenn der Mensch von N atur gesellschaftlich ist, so entw ickelt

er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht

seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an

der Macht der Gesellschaft messen.«s

Neben solchen Gedanken der Aufklärung, in denen die sozialistische

Theorie unmittelbar vorweggenommen wird, spielen für die Entwicklungdes jungen Marx die Motive der zeitgenössischen Kritik an Hegels

System, auch die Schellings, eine nicht unbedeutende Rolle. So

 bezeichnet die »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, mit einem an Schel-

lings Böhmerezeption erinnernden Ausdruck, Familie und bürgerliche

Gesellschaft als »dunkle(n) Naturgrund, woraus das Staatslicht sich ent-

zündet«6. Später überwiegt bekanntlich die Terminologie Feuerbachs.

Die ersten, von ihr beeinflußten und noch uneinheitlichen Formulierun-

gen des historischen Materialismus in der »Heiligen Familie« sprechen

 von der Gesellschaft bisweilen ähnlich abstrakt und undiffere nziert als

 von der »N aturbasis«7 des Staates. Die von der Gesellschaft abgeleiteten

4 Heilige Familie, S. 161. Auch Lenin erblickt in der Marxschen Geschichtsauffassung einekonsequente Fortbildung des französischen Materialismus. Vgl. MarxEngelsMarxismus, Berlin 1957, S. 10 f. Zur Frage nach dem Zusammenhang des Marxschen mit dem

französischen Materialismus vgl. auch Roger Garaudy, Die französischen Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus, Leip zig 1954. Von der französischen Aufk lä ru ng gehenüber Buffon und Lamarck auch Linien des »naturgeschichtlichen« Denkens bis hin zuDarwin und Marx.

5 Heilige Familie, S. 1 6 1.6  Werke, Bd. I, S. 205.7 Heilige Familie, S. 238.

12

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Gebilde verhalten sich hier noch zu ihr wie der Geist zur Natur bei

Feuerbach. Daß für Marx ein naturalistischer Materialismus die geheime

 Voraussetzung bildet für die richtige Theo rie der Gesellschaft, geht mit

 besonderer Kla rheit ebenfalls aus einer Stelle der »Heiligen Familie«

hervor, die sich gegen die Linkshegelianer richtet: »Oder glaubt die kriti-

sche Kritik, in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur

zum Anfang gekommen zu sein, solange sie das theoretische und prakti-sche Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die

Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder meint sie

irgendeine Periode in der Ta t schon erkannt zu haben, ohne z. B. die

Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens

selbst, erkannt zu haben? Allerdings die spiritualistische, die theologische

kritische Kritik kennt nur — kennt wenigstens in ihrer Einbildung — die

politischen, literarischen und theologischen Haupt und Staatsaktionen

der Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe,

sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der

Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grobmate-

riellen Produ ktion au f der Erde, sondern in der dunstigen W olkenbildung

am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.«8

Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß Marx den Linkshegelianern nicht

einfach eine falsche Interpretation der Geschichte vorwirft, bei der die

materielle Produktion und die Wirksamkeit der Naturwissenschaftenunbeachtet bleiben, sondern zu zeigen versucht, daß sie als philosophi-

sche Idealisten notwendig zu dieser Geschichtsauffassung kommen müs-

sen. Wer das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe trennt, ist

auch außerstande, die Beziehung der Kulturgehalte zur Sphäre der mate-

riellen Produktion zu begreifen.

Feuerbachs anthropologischer Materialismus, der es nicht mit der mecha-

nischen Bewegung der Atome, sondern mit der qualitativen Mannigfal-tigkeit der Natur und dem Menschen als einem sinnlichgegenständlichen

 Wesen zu tun hat, verhilft der Marxschen Geschichtstheorie zu ihrem

Begriff der »Basis«. Feuerbach ist es, der durch seine materialistische

Umstülpung der Hegelschen Spekulation über die bloß inneridealistische

Kritik am Idealismus, wie sie für die Linkshegelianer bezeichnend ist,

hinausgeht. Damit verläßt er, mit den Worten von Marx, die »trunkene

Spekulation« und geht zur »nüchternen Philosophie«9 über. Die Pariser

Manuskripte heben Feuerbachs Bedeutung nachdrücklich hervor: »VonFeuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kri

8 A . a. O ., S. 285 f.9 Heilige Familie, S. 253.

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tik. Je geräuschloser, desto sicherer, tiefer, umfangreicher und nachhalti-

ger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften

seit Hegels Phänomenologie und Logik, worin eine wirkliche theoreti-

sche Revolution enthalten ist.«10

Mit seiner abstrakten Antithese zum Idealismus legt Feuerbach für Marx

den Grund zu einem neuen, nichtidealistischen Denkansatz11, sosehr

zeitweilig auch bei Marx später von ihm wieder aufgenommene wichtigedialektische Motive mit über Bord gehen. An manchen Stellen der »Hei-

ligen Familie« etwa sieht es so aus, als identifiziere Marx mit Feuerbach

die Dialektik schlechthin mit Idealismus. In der »Deutschen Ideologie«,

den »Thesen« und im gesamten späteren Werk kehrt M arx jedoch

 verm itte lt durch Feuerbachs H egelk ritik — zu Hegelschen Positionen

zurück.

Die herkömmlichen Deutungen des Verhältnisses FeuerbachMarx be-schränken sich zumeist darauf, herauszuarbeiten, inwieweit Feuer-

 bachs atheistische Krit ik an Religion und spiritualistischer Metaphysik

die Marxsche Hegelkritik angeregt oder erst ermöglicht habe. Die

naturalistischanthropologische Basis der kritischen Motive Feuerbachs

tritt dabei weniger hervor, obwohl sie für die Entstehungsgeschichte der

materialistischen Dialektik von weitaus größerer Bedeutung ist, als

gewöhnlich angenommen wird. Erich Thier12 ist einer der wenigen, die

darauf hinweisen, daß Feuerbachs Einfluß auf Marx nicht so sehr auf 

10 Nationa lökonom ie und Philosophie, S. 134 f.11 In seinem Au fsatz Ludw ig Feuerbach und der Au sga ng der.klassischen deutschen Phi lo-

sophie beschäftigt sich Ka rl Löw ith eingehend mit der Rolle Feuerbachs nach dem Zusam-menbruch des spekulativen Idealismus und weist mit Recht darauf hin, daß man demSpezifischen der Feuerbachschen Philosophie als dem Bewußtsein dieses Zusammen-

 bruchs unter den Bedingungen des Vorm är z nicht gerecht wird, wenn man Feuerbachabstrakt an den Denkleistungen der deutschen Idealisten mißt: „Mit Feuerbach beginnt

die Epoche eines . . . traditionslosen P hilosophierens, das — von rückwärts her betrachtet— zwar ein Verfall in begriffliche und methodische Primitivität ist, vorwärts gesehen aberder produ ktive Versuch: die Fragestellungen der Philosophie gemäß dem faktisch verän -derten Existenzbewußtsein dieser Generationen umzubilden.« In: Logos, Bd. XV II,Tübingen 1928, S. 327. Zur Beurteilung der Rolle Feuerbachs in der Entstehungsge-schichte des dialektischen Materialismus vgl. auch Ernst Bloch, SubjektObjekt, Berlin1952, S. 378—384, wo besonders die über den mechanischen Materialismus hinauswei-senden Momente der naturalistischanthropologischen Theorie Feuerbachs herausge-stellt werden. Von Interesse ist auch das endgültige Marxsche Urteil über Feuerbach, dassich herausbildet, als er während der fünfziger und sechziger Jahre im Zusammenhang

mit der ökonomischen Analyse zum zweiten Male sich gründlich über seine Beziehungzu Hegel verständigt: »Verglichen mit Hegel ist Feuerbach durchaus arm. D ennoch w arer epochemachend nach  Hegel, weil er den Ton legte auf gewisse, dem christlichenBewußtsein unangenehme und für den Fortschritt der Kritik wichtige Punkte, die Hegelin einem mystischen clairobscur gelassen hatte.« Marx an Schweitzer, Brief vom24. 1. 1865. In: Ausgewählte Briefe, S. 181.

12 Vgl. seine Einleitung zu Nation alökonom ie und Philosophie, S. 25.

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seinem Atheismus beruhte, der dem Kenner der französischen Aufklä-

rung und der linkshegelianischen Bibelkritik schon vorher geläufig war,

als vielmehr auf seinem Natur und Menschpathos. Wichtiger noch als

die von Engels in seiner Monographie hervorgehobene Schrift »Das

 Wesen des Christentums« aus dem Jahre 1841 sind fü r das Verständnis

des Marxschen Naturbegriffs die beiden Arbeiten »Vorläufige Thesen

zur Reform der Philosophie« und »Grundsätze der Philosophie derZukunft« aus den Jahren 1842/43. Feuerbachs Kritik an Hegel setzt an

 bei der C ru x jedes idealistischen Systems, dem Begriff der N atur. Für

Hegel ist die Natur gegenüber der Idee ein Abgeleitetes: »Die Natur ist

in der Zeit das Erste, aber das absolute prius ist die Idee; dieses absolute

prius ist das Letzte , der wahre An fang , das A ist das Q.«13

Hegels Naturphilosophie versteht sich als die Wissenschaft von der Idee

in ihrem Anderssein. In der Natur tritt uns die Idee in einer noch nichtzum Begriff geläuterten, unmittelbaren Gestalt entgegen. Sie ist der

Begriff, gesetzt in seiner Begrifflosigkeit. Die Natur ist für Hegel kein in

sich bestimmtes Sein, sondern das Moment der Entäußerung, das die Idee

als abstraktallgemeine durchläuft, um im Geiste restlos in sich zurückzu-

kehren. Einer der merkwürdigsten und problematischsten Übergänge der

Hegelschen Philosophie überhaupt ist der gleichermaßen von Feuerbach

und Marx kritisierte von der »Logik«, deren Resultat die reine Idee ist,

zur »Naturphilosophie«, das heißt vom Gedanken zum sinnlichmateriellen Sein: »Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie... sich

entschließt,  das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens

und Andersseins, die unmittelbare Idee  als ihren Widerschein, sich als

 Natur frei aus sich zu entlassen,«14

Nicht genug damit, daß bei Hegel dunkel bleibt, inwiefern die Idee in

ihrem Übergang in die Natur sich gleichsam entdialektisiert, inwiefern

sie, das sie als absolute immer schon bei sich selbst ist, dazu kommt, sichzu einer Welt gegenständlichmateriellen Daseins zu entäußern, zu zer-

streuen — die einmal von der Idee hervorgebrachte Natur hebt stufen-

 weise alle naturhaften Bestimmtheiten auf, geht in den Geist als ihre

höhere Wahrheit über. Nicht umsonst erinnert die Weise, in der Hegel

diesen Übergang von der Natur zum Geist darstellt, an das gerade von

Marx kritisierte stofflose Ende der in der »Phänomenologie« ausgetrage-

nen Dialektik des Wissens und seines Gegenstandes auf der Stufe des

absoluten Wissens: »Wir haben in der Einleitung zur Philosophie des

Geistes bemerklich gemacht, wie die Natur selber ihre Äußerlichkeit und

13 System der Philosophie, II, Glöckner, Zus atz zu § 248, S. 58.14 En cyclopädie der philosophischen Wissenschaften, Ho ffmeister, § 244, S. 201.

15

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 Vereinzelung, ihre Mate rialität als ein Unwahres, dem in ih r wohnenden

Begriffe nicht Gemäßes aufhebt, und dadurch zur Immaterialität gelan-

gend in den Geist übergeht.«15

Insofern die Natur fortschreitend ihre Äußerlichkeit ablegt und die Seele

hervorbringt, glaubt Hegel, von ihr auf den immateriellen Charakter der

Natur überhaupt schließen zu können: »Indem so alles Materielle durch

den in der Natur wirkenden ansichseyenden Geist aufgehoben wird,und diese Aufhebung in der Substanz der  Seele  sich vollendet, tritt die

Seele als die Idealität alles  Materiellen, als alle  Immaterialität hervor, so

daß Alles, was Materie heißt, — so sehr es der Vorstellung Selbstständig-

keit vorspiegelt, — als ein gegen den Geist Unselbstständiges erkannt

 wird.« 16

Diesem naturphilosophischen Idealismus Hegels hält Feuerbach, wie

gesagt, abstraktantithetisch seinen Naturalismus entgegen. Ist für ihnHegels Philosophie eine Philosophie auf dem Standpunkt der Philo-

sophie, so versteht sich Feuerbach selbst als einen Philosophen auf dem

Standpunkt der Nichtphilosophie. Anstatt mit Philosophie zu beginnen,

um wieder mit Philosophie zu endigen, will er mit Nichtphilosophie

 beginnen, um durch Philosophie hindurch zur Nichtphilosophie zurück-

zugelangen. In den »Vorläufigen Thesen« umreißt Feuerbach sein Pro-

gramm einer »Negation aller Schulphilosophie«17 folgendermaßen:

»Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht   philosophiert, was viel-mehr gegen  die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert,   das

also, was bei Hegel nur zur  Anmerkung  herabgesetzt ist, in den Text   der

Philosophie aufnehmen... Die Philosophie hat daher nicht mit sich, 

sondern mit ihrer  Antithese,  mit der  Nic htphilo sophie   zu beginnen.

Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischo-

lastische Wesen in uns ist das Prinzip des  Sensualismus. * 18

Die neue Philosophie beansprucht gegenüber den übrigen Wissenschaf-ten keine Sonderrolle mehr, sondern hat gleich diesen die Natur zur

 Voraussetzung, ein Gedanke, der sich bei M arx, entsprechend abgewan-

delt, bis ins »Kapital« verfolgen läßt: »Alle Wissenschaften müssen sich

auf die  Natur   gründen. Eine Lehre ist solange nur eine  Hypoth ese, 

solange nicht ihre natürliche Basis  gefunden ist.«19

Die Natur, ohne welche die Vernunft stofflos wäre, gründet in sich. »Sein

15 System der Philosophie, III, Glöckner, Zu satz zu § 389, S. 54.16  A. a. O., S. 58.

17 Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie. In: Kleine philosophische Schriften,(184245), herausgegeben von M. G. Lange, Leipzig 1950, S. 74.

18 A. a. O ., S. 67 i.19 A. a. O , S. 77.

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ist aus sich und durch sich.«20 Natur ist causa sui. Feuerbach kritisiert vor

allem die Hegelsche Ansicht, daß die Natur eine Entäußerung der abso-

luten Idee sei: »Die Hegelsche Lehre, daß die Natur, die Realität von der

Idee gesetzt —  ist nur der rationelle  Ausdruck von der theologischen

Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immate-

riellen, d. i. abstrakten Wesen geschaffen ist. Am Ende der Logik bringt

es die absolute Idee sogar zu einem nebulösen >Entschluß<, um eigen-händig ihre Abkunft aus dem theologischen Himmel zu dokumentie-

ren.«21

 Aus einem absoluten Subjekt wird für Feuerbach das Denken, der Geist,

zu einer Qualität des Menschen neben anderen Naturqualitäten. Alles

Bewußtsein ist das Bewußtsein leibhaftiger Menschen. Die Wissenschaft

 vom Menschen als eines bedürftigen, sinnlichen, physiologischen Wesens

ist daher die Voraussetzung aller Theorie der Subjektivität: »Nur derMensch ist der Grund   und  Boden   des Fichteschen Ichs, der Grund   und

 Boden   der Leibnizschen Monade, der Grund   und  Boden   des Absolu-

ten.«22

Beim Ausgang der klassischen deutschen Philosophie erweist sich das

überempirische Ich, das »Bewußtsein überhaupt« endgültig als eine

 Abstraktion von den endlichen Subjekten. Schon in Kants Philosophie ist

die Frage nach dem Verhältnis von transzendentalem und empirischpsy-

chologischem Ich sehr schwierig. Obwohl Kant seinem Programm nachauf der strengen Unterscheidung der beiden Iche bestehen muß, gelingt

es ihm bei der konkreten Durchführung der Vernunftkritik nicht zu

 verhindern, daß ihre Dif fe renz verschwim mt und sie ineinander überge-

hen. Dadurch bekommt schon sein transzendentales Subjekt eine gewisse

anthropologische Tönung. Bei Feuerbach, als dem Endstadium der gan-

zen Gedankenbewegung, wird der Mensch, gerade als empirisches und

natürliches Wesen, zum eigentlichen Thema: »Die neue Philosophiemacht den  Menschen  mit  Einschluß der Natur,  als der Basis des

Menschen, zum alleinigen, universalen  und höchsten Gegenstand   der

Philosophie — die  Anthropolo gie   also, mit  Einschluß der Physiologie, zur 

U niversalwissenschaft .« 23

Ganz wie Feuerbach in seiner Religionskritik die religiösen Inhalte als

eine Entfremdung sinnlichmenschlicher zu begreifen sucht, versteht er

auch den absoluten Geist als eine Entfremdung des endlichen Menschen-

20  A. a. O ., S. 73.21 A. a. O ., S. 72 f.22 A. a. O ., S. 77.23 Gru ndsätze der Philoso phie der Zuk unft , § 54, S. 167. In: Kleine philosophische Schrif-

ten, a. a. O.

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geistes. Dadurch wird Hegels Präexistenz der logischen Kategorien vor

der Erschaffung der Welt und eines endlichen Geistes aufgehoben und

die logischen Formen werden zu Funktionen vergänglicher Menschen

erklärt: »Die Metaphysik oder Logik ist nur dann eine reelle, immanente 

 Wissenschaft, wenn sie nicht vom sogenannten subjektiven Geiste abge-

trennt  wird. Die Metaphysik ist die esoterische Psycholog ie.«24 

Der Gedanke, daß nicht vom absoluten Geiste, sondern von leibhaftigenMenschen auszugehen sei, ist auch für die Marxsche Theorie der Subjek-

tivität von großer Wichtigkeit. Auch für Marx gilt der Satz: »Die  Reali-

tät,  das  Subjekt   der Vernunft   ist nur der  Mensch.  Der  Mensch  denkt,

nicht das  Ich, nicht die Vernunft.«25

Die unaufhebbare Differenz von Begriff und Realität, vonHegel zwar

anerkannt, aber zugleich wieder entwertet dadurch, daß sie, als bloße

Denkbestimmung, zur Subjektseite hinzugeschlagen wird, ergibt sich

zwingend aus der Reduktion des absoluten Geistes auf den menschlichen.

Es ist nicht möglich, durch lückenlose Deduktion das »Wirkliche« in den

Griff zu bekommen. Feuerbach drückt diesen Gedanken auf eine sehr

scharfsinnige Weise aus: »Das Wirkliche  ist im  Denken nicht in ganzen 

 Zahlen,  sondern nur in  Brüchen darstellbar.  Diese Differenz ist eine

normale — sie beruht auf der Natur des Denkens, dessen Wesen die Allge-

meinheit ist, im Unterschied von der Wirklichkeit, deren Wesen die Indi-

 vid ualität ist. D aß aber diese Differenz nicht  zu einem förm lichen Wider-spruch  zwischen dem Gedachten  und dem Wirklichen  kommt, dies wird

nur dadurch verhindert, daß das Denken nicht in gerader Linie, in der 

 Identität mit sich fortläuft, sondern sich durch die sinnliche Anschauung 

unterbricht.  Nur das durch die sinnliche Anschauung  sich bestimmende 

und rektifizierende  Denken ist reales, objektives  Denken — Denken

objektiver Wahrheit.*26

Indem Marx, über Feuerbach hinausgehend, nicht nur die sinnliche Anschauung, sondern die gesamte menschliche Pra xis als konstitutives

Moment in den Erkenntnisprozeß einführt, wird er zugleich der Feuer

 bachschen Forderung gerecht, daß sich die neue Philosophie »toto genere

 von der alten«27 zu unterscheiden habe. Erst indem sich Feuerbachs

 Auto ritäte n Mensch und N atur als dialektische Momente der Praxis

erweisen, gelangen sie zu ihrer Konkretion. Wie Feuerbach spricht auch

24 Vo rläu fige Thesen, S. 58.25 Grund sätze, S. 163.26  A. a. O., § 48, S. i S9 f.27 A. a. O., § 6 5, S. 170.

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Marx von der »Priorität der äußeren Natur«28. Freilich mit dem kriti-

schen Vorbehalt, daß alle Priorität nur eine innerhalb der Vermittlung

sein kann.

 Wenn M arx die N atur — das Material menschlicher T ätigkeit — als dasje-

nige bestimmt, was nicht subjekteigen ist, was in den Weisen menschli-

cher Aneignung nicht aufgeht, was mit den Menschen schlechthin

unidentisch ist, so versteht er diese außermenschliche Wirklichkeit dochnicht im Sinne eines unvermittelten Objektivismus, also ontologisch. Bei

Feuerbach steht das mit bloßen Naturqualitäten ausgestattete Gattungs-

 wesen Mensch als leerbleibende Subjektivität29 der N atur als toter

Objektivität passivanschauend, nicht praktischtätig gegenüber. Was

Feuerbach als Einheit von Mensch und Natur bezeichnet, bezieht sich nur

auf das von ihm romantisch verklärte Faktum der Naturentsprungenheit

des Menschen, nicht aber auf seine geschichtlichgesellschaftlich vermit-

telte Einheit mit der Natur in der Industrie, eine Einheit, die auf allen

Stufen ebenso Verschiedenheit, Aneignung eines Fremden, Auseinander-

setzung ist. Feuerbachs Mensch tritt nicht als eigenständige Produktiv-

kraft auf, sondern bleibt an vormenschliche Natur gefesselt. Zwar setzt

körperliches Tun diese Naturbasis als einen bewußtseinstranszendenten

Gegenblock voraus. Alle Arbeit ist Arbeit an einem festen Sein, das sich

 jedoch gegenüber den Subjekten ebensosehr als ein Nichtiges, Durc h

dringbares erweist. Feuerbachs anthropologische Hervorhebung desMenschen gegenüber der sonstigen Natur bleibt abstrakt. Natur insge-

samt ist für ihn ein geschichtsfremdes, homogenes Substrat, dessen Auflö-

sung in eine Dialektik von Subjekt und Objekt den Kern der Marxschen

Kritik bildet. Natur ist für Marx Moment menschlicher Praxis wie

28 Deutsche Ideologie, S. 42. Vgl. dazu ferner Hei lige Familie, S. 308, wo M arx sagt: »InHegels Geschichtsphilosophie, wie in seiner Naturphilosophie, gebiert der Sohn die

Mutter, der Geist die N atur . . . das Resultat den Anfang.«29 Das bringt den abstrak t bleibenden Naturalisten Feuerbach in eine eigentümlich kom ple-

mentäre Beziehung zu Kierkegaard. Auch Feuerbach forder t dazu auf, »in der Existenz«zu denken. Vg l. Grun dsätze, S. 164. Beide bezichtigen Hegel der Abstra ktheit im Namen

 weit abstrakterer Prinzipien, als sie im Hegelschen Idealismus vorliegen. Weder mit H iifeeiner auf ihre sozialhistorischen Voraussetzungen hin nicht reflektierten naturalistischenPrioritätsthese noch als religiöse Innerlichkeit gelangt das den Idealismus kritisierendeDenken in ein konkreteres Medium. In seinem Buch Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart1950, ordnet Karl Lö with M arx und Kierkegaard einander als Hege lkritiker zu, währenddoch in Wahrheit Marx als vermittelnder Denker Hegel weit näher steht als Kierke-

gaard. Marx sieht, daß es nicht darauf ankommt, Hegels Theorie der Vermittlung durchden Kultus eines wie immer beschaffenen »unmittelbar Gegebenen« einfach zu ersetzen,sondern daß über Hegels Form der Dialektik einzig hinaus gelangt, wer den bei Hegelidealistisch gemeinten Begriff der Vermittlung gegen seine idealistische Fassung selber

kehrt. Zum ontologischen C ha rakter des Feuerbachschen Materialismus vgl. auch LucienSebag, Marx, Feuerbach et la critique de la religion. In: La Nouvelle Critique, Paris1955, Nr. 64, S. 32.

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zugleich die Totalität dessen, was ist. Indem Feuerbach unreflektiert bloß

auf der Totalität beharrt, verfällt er naivrealistisch in den Mythos einer

»reinen Natur«30 und identifiziert in ideologischer Weise31 das unmittel-

 bare Sein der Menschen mit ihrem Wesen. Es kommt M arx nicht in den

Sinn, Hegels Weltgeist durch ein ebenso metaphysisches Prinzip, wie eine

materielle Weltsubstanz es wäre, einfach zu ersetzen. Er verwirft den

Hegelschen Idealismus nicht abstrakt wie Feuerbach, sondern sieht inihm die Wahrheit in einer noch unwahren Gestalt ausgedrückt. Daß die

 W elt eine durchs Subjekt verm ittelte ist, sieht der Idealismus richtig.

Marx meint jedoch, diesen Gedanken erst dadurch in seiner vollen Trag-

 weite nach Hause bringen zu können, daß er nachweist, was es mit dem

eigentümlichen Pathos des »Erzeugens« von Kant bis Hegel auf sich hat:

der Erzeuger einer gegenständlichen Welt ist der gesellschaftlichhistori-

sche Lebensprozeß der Menschen. Daß mit der beginnenden Neuzeit das

außermenschliche Natursein immer mehr zum Moment gesellschaftlicher

30 Vgl. dazu H enri Lefèbvre, Le matérialisme dialectique, Paris 1949, wo es au f S. 49 heißt:»L’humanisme de Feuerbach est donc fondé sur un mythe: la pure nature. La nature etl’objet lui semblent »donnés de toute éternité«, dans une harmonie mystérieuse avecrhomme— harmonie que seul perçoit le philosophe. L’objet est posé comme objet d’intui-tion, non comme produit de l’activité sociale ou praxis. La nature de Feuerbach est cellede la forêt vierge, ou d’un attol récemment émergé dans le Pacifique.« Vgl. auch S. 89» . . . la nature ellemême n’existe pour nous que comme contenu dans l’expérience et la

pratique humaine«. Die Kritik an Feuerbachs »reiner Natur« läßt sich noch weiter trei- ben. Nicht nur ist, wie Lefèbvre mit Recht anführt, N atur ein je schon menschlich Bear- beitetes, sondern auch die noch nicht in menschliche Produktion einbezogenen Naturb e-reiche Lefèbvres U rwa ld oder Ato ll im Paz ifik — lassen sich einzig unter den Kategoriender bereits angeeigneten Natur anschauen und begreifen. Ganz wie in Hegels Ästhetik,entgegen der landläufigen Ansicht, die Wahrnehmung des Naturschönen das Kunst-schöne bereits voraussetzt, so wird auch bei Marx die noch nicht gesellschaftlich vermit-telte Natur nur unter dem Aspekt möglicher Bearbeitbarkeit relevant.

3 1 A u f diesen Umstand mach t besonders der frühe Engels aufmerksam in einem in derDeutschen Ideologie abgedruckten Fragment über Feuerbach (S. 598—600), das sich auf

den § 27 der Gru nds ätze der Philosophie der Zuk unft bezieht (S. 132 f.). Bei Feuerbachheißt es: »Was mein Wesen, ist mein Sein. Der Fisch ist im Wasser, aber von diesem Seinkannst Du nicht sein Wesen abtrennen. Schon die Sprache identifiziert Sein und Wesen.Nur im menschlichen Leben sondert sich, aber auch nur in abnormen, unglücklichenFällen, Sein vom Wesen — ereignet es sich, daß man nicht da, wo man sein Sein, auch sein

 Wesen hat, aber eben wegen dieser Scheidung auch nicht wah rh aft, nicht mit der Seeleda ist, wo man wirklich, mit dem Leibe is t . . . Aber alle Wesen sind — naturwidrige Fälleausgenommen — gern da, wo, und gern das, was sie sind, d. h. ihr Wesen ist nicht vonihrem Sein, ihr Sein nicht von ihrem Wesen abgetrennt.« Dem entgegnet Engels ideolo-giekritisch: »Eine schöne Lobrede auf das Bestehende. Naturwidrige Fälle, wenige,

abnorme Fälle ausgenommen, bist du gerne mit dem siebten Jahre Türschließer in einerKohlengrube, vierzehn Stunden allein im Dunkeln, und weil dein Sein, so ist es auch dein Wesen . . . Es ist dein >Wesen<, unter einen Arbeitszw eig subsumiert zu sein.« Indem derreiche Vermittlungszusammenhang Hegels bei Feuerbach zu der einen positiven Unm it-telbarkeit zusammenschrumpft, wird sein naiver Materialismus zum ebenso naiven Idea-lismus, der die in der gesellschaftlichen Realität gerade nicht vorhandene Identität vonErscheinung und Wesen des Menschen als simple Naturgegebenheit betrachtet.

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 Veranstaltungen herabgesetzt wird, reflektiert sich ph ilosophisch darin,

daß die Bestimmungen der Objektivität in immer höherem Maße ins

Subjekt einwandern, bis sie schließlich in der vollendeten nachkantischen

Spekulation ohne Rest in ihm aufgehen. Der Produktionsprozeß bleibt

demzufolge auch bei Hegel, trotz großartiger empirischer Einsichten im

einzelnen, im ganzen doch ein geistiger. In Hegels Logik, sagt Feuerbach,

ist das Denken »in ununterbrochener Einheit mit sich selbst; die Gegen-stände desselben sind nur Bestimmungen des Denkens, sie gehen rein im

Gedanken auf, haben nichts für sich, was außer dem Denken bliebe«32.

Der Widerspruch von Subjekt und Objekt wird bei Hegel innerhalb des

Subjekts als des Absoluten aufgehoben. Sosehr auf den einzelnen Stufen

des dialektischen Prozesses Nichtidentität das weitertreibende Moment

ist, so sehr triumphiert doch am Ende des Systems idealistische Identität.

Umgekehrt setzt sich in der Marxschen Dialektik in letzter Instanz dasNichtidentische durch, und zwar gerade, weil Marx im Gegensatz zu

Feuerbach die Bedeutung der Hegelschen Dialektik voll anerkennt:

»Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach 

 Abstreifung ihrer mystischen Form . . ,«33

Unter der »mystischen Form« der Hegelschen Dialektik versteht Marx

die idealistische Fassung des Gedankens der Vermitteltheit alles Unmit-

telbaren. An Feuerbachs Naturmonismus hält er insofern fest, als auch für

ihn Subjekt und Objekt »Natur« sind. Zugleich überwindet er dessenabstraktontologischen Charakter dadurch, daß er Natur und alles

Naturbewußtsein auf den Lebensprozeß der Gesellschaft bezieht. Da die

 verm ittelnden Subjekte, endliche, raumzeitlich bestimmte Menschen, sel-

 ber ein Stück der durch sie verm ittelten dinglichen W irklichkeit sind,

führt der Gedanke der Vermitteltheit des Unmittelbaren in seiner Marx-

schen Version nicht zum Idealismus. Bei Marx erweist sich die Unmittel-

 barkeit der N atur, sofern er sie Feuerbach gegenüber als gesellschaftlichgeprägt herausstellt, nicht als verschwindender Schein, sondern ihre

genetische Priorität gegenüber den Menschen und ihrem Bewußtsein

 bleibt bestehen.

Die außermenschliche Wirklichkeit, von den Menschen zugleich unab-

hängig wie mit ihnen vermittelt oder doch vermittelbar, beschreibt Marx

mit den von ihm synonym gebrauchten Termini »Materie«, »Natur«,

»Naturstoff«, »Naturding«, »Erde«, »gegeständliche Daseinsmomente

der Arbeit«, »gegenständliche« oder »sachliche Arbeitsbedingungen«.Insofern auch die Menschen einen Bestandteil dieser Wirklichkeit bilden,

32 Feuerbach, Gru ndsätze, § 1 1, S. 99.33 Briefe an Kuge lmann, Brief vom 6. 3. 1858, S. 57.

2 I

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ist der Marxsche Naturbegriff identisch mit der Gesamtwirklichkeit34.

Der Begriff der Natur als der Gesamtwirklichkeit läuft jedoch auf keirje

abschlußhafte »Weltanschauung« oder dogmatische Metaphysik hinaus,

sondern umschreibt lediglich den Denkhorizont, in dem der neue Mate-

rialismus sich bewegt, der nach einem Wort von Engels in der Erklärung

der Welt aus sich selbst besteht35. Dieser Begriff von Natur ist »dogma-

tisch« genug, um alles, was bei Marx Mystizismus oder Ideologie heißt,aus der theoretischen Konstruktion auszuschließen; er ist zugleich

undogmatisch und weitherzig genug gefaßt, um zu vermeiden, daß Natur

nun ihrerseits eine metaphysische Weihe erhält oder gar zu einem letzten

ontologischen Prinzip erstarrt.

Natur in diesem umfassenden Sinne ist der einzige Gegenstand der

Erkenntnis. Sie schließt die Formen der menschlichen Gesellschaft so in

sich ein, wie sie umgekehrt nur vermöge dieser Formen gedanklich und

 wirklich erscheint. Darin dem Feuerbachschen Sensualismus verhaftet,

geht Marx von der Sinnlichkeit als »Basis aller Wissenschaft«36 aus.

Materialistische Theorie ist ihm mit wissenschaftlicher Haltung schlecht-

hin identisch: »Nur wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt, sowohl

des sinnlichen  Bewußtseins als des sinnlichen  Bedürfnisses ausgeht — also

nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht — ist sie wirkliche 

Wissenschaft .»37

Die sinnliche Welt und die endlichen Menschen in ihrer jeweiligensozialen Verflechtung — Wesen und Erscheinung zugleich — sind die

einzigen Größen, mit denen die Marxsche Theorie rechnet. Es gibt für

Marx im Grunde nur »den Menschen und seine Arbeit auf der einen, die

Natur und ihre Stoffe auf der anderen Seite«38. Aus der objektiven Logik

der menschlichen Arbeitssituation versucht er, die Struktur auch der

anderen Lebensbereiche zu begreifen: »Die Technologie enthüllt das

aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produk-tionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebens-

 verhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen .«39

 Am Bilde ihres jeweiligen Kampfes mit der N atur orientiert, deuten die

Menschen in den verschiedenen Sphären ihrer Kultur die Welt, wobei für

34 Vgl. dazu Kritik der politischen Ökonomie, S. 269.35 Dialektik der Na tur, S. 13.

36 Natio nalöko nom ie und Philosophie, S. 194.37 A. a. O., S. 194. Dieses Prinzip gilt auch für den reifen Marx. Vgl. Das Kapital, Bd. I,

S. 389, Fußn. 89. Auch Sidney Hook vertritt in seinem Buch From Hegel to Marx, N. Y.1936, S. 28, die Ansicht, daß Marx den Materialismus als »clearest expression of themethodology of science« versteht.

38 Da s Kapital, Bd. I, S. 192.39 A. a. O. , S. 389, Fußnote 89.

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Marx wie für Feuerbach alle sich auf supranaturale Seinsregionen bezie-

henden Vorstellungen Ausdruck einer negativen Organisation des

Lebens sind. Die geschichtliche Bewegung40 ist eine wechselseitige Be-

ziehung von Menschen zu Menschen und zur Natur. Zwar umschließt

das Weltmaterial Subjekt wie Objekt, wesentlich bleibt aber, daß sich

historisch gegenüber der Einheit des Menschen mit der Natur ihre

Unversöhntheit, letztlich die Notwendigkeit der Arbeit, durchsetzt.Natur interessiert Marx in erster Linie als Moment menschlicher Praxis.

So heben schon die Pariser Manuskripte mit aller Entschiedenheit

hervor: » .. . die N atu r, abstrakt genommen, für sich, in der Trennung

 vom Menschen fixie rt,  ist für den Menschen nichts.«41

Solange die Natur nicht bearbeitet ist, ist sie ökonomisch wertlos, genauer

gesprochen, bloßes Wertpotential, das seiner Verwirklichung harrt: »Das

 bloße N aturm ate ria l, soweit keine   menschliche Arbeit in ihm vergegen-

ständlicht ist, soweit es daher bloße Materie ist, unabhängig von der

menschlichen Arbeit existiert, hat keinen Wert, da Wert nur vergegen-

ständlichte Arb eit i s t .. .«42

40 Marx kritisiert an Feuerbach in der Deutschen Ideologie, daß bei ihm geschichtlicheBewegung und Natur auseinanderfallen: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt dieGeschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er keinMaterialist.« (S. 43) Aber auch dort, wo Natur in die Geschichtsbetrachtung aufge-nommen wird, geschieht dies keineswegs immer so, daß sie als Moment gesellschaftlicher

Produktion auftritt. Bekannt sind namentlich seit Montesquieu die verschiedensten»geographischen Milieutheorien«, die in der N atur einen mechanisch wirkenden Au ßen -faktor sehen, dem sich die Menschen ebenso mechanisch anzupassen haben. Auch G. W.Plechanows M arxdeutung ist nicht ganz frei von solchen darwinistischen Entstellungen.In seinen Beiträgen zur Geschichte des Materialismus, Berlin 1946, erklärt er auf S. 135:»Der Charakter des natürlichen Milieus bestimmt den des sozialen Milieus.« Selbst inHegels Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S. 187, findet sich der »Naturzu-sammenhang« bloß als »geographische Grundlage der Weltgeschichte«, nicht primär alsgegenständliche Voraussetzung gesellschaftlicher Arbeit, sosehr sonst bei ihm das

 Arbeitsverhältn is reflektiert ist. Engels wendet sich in der Dia lektik der N atu r (S. 245 f.)

mit Nachdruck gegen die geographische Milieutheorie, indem er den menschlichenSubjektfaktor hervorhebt: „Die naturalistische Auffassung der Geschichte, wie z. B.mehr oder weniger bei Dra per und anderen N aturforschern, als ob die N atu r ausschließ-lich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine geschichtlicheEntwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergißt, daß der Menschauch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen schafft.

 Von der >Natur< Deutschlands zur Zeit, als die Germanen einwanderten, ist verdam mt wenig übrig. Erdoberfläche, Klim a, Veg etat ion, Fauna, die Menschen selbst haben sichunendlich verändert und alles durch menschliche Tätigkeit, während die Veränderungen,die ohne menschliches Zutun in dieser Zeit in der Natur Deutschlands, unberechenbar

klein sind.« Zum Verhältnis von geographischer Milieutheorie und MarxscherGeschichtsauffassung vgl. auch Leo Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesell-schaft, Halle 1948, S. 511. Uber die bloß mittelbare Einwirkung geographischer Gege-

 benheiten auf den Geschichtsverlau f vgl. J. W. Stalin, Ober dialektischen und histori-schen Materialismus. In: Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 662 f.

41 Nationa lökono mie und Philosophie, S. 264.42 Rohen twurf, S. 271. Zum Ro hen twurf vgl. II. Kapitel, Abschnitt A.

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Einige sonst bei Marx nicht explizit ausgesprochene philosophische

Motive lassen sich auch seinen Hinweisen zur Geschichte der Philosophie

in der »Heiligen Familie« entnehmen. Dafür, daß der Marxsche Materia-

lismus nicht ontologisch zu verstehen ist, spricht insbesondere die allge-

meine Charakteristik des Hegelschen Systems, die uns hier begegnet. »In

Hegel sind drei   Elemente, die spinozistische Substanz,  das  Fichtesche 

 Selbstbewußtsein,  die  Hegelsche   notwendigwiderspruchsvolle  Einheit   von beiden, der absolute Geist.  Das erste Element ist die metaphysisch

travestierte  N atu r  in der Trennung  vom Menschen, das zweite ist der

metaphysisch travestierte Geist   in der Trennung  von der Natur, das

dritte ist die metaphysisch travestierte  Einheit   von beiden, der wirkliche 

 Mensch und die wirkliche  Menschengattung.«43

Die Marxsche Frontstellung ist hier eine dreifache. Im spinozistischen

Substanzbegriff bekämpft er die Vorstellung eines menschlich unvermit-telten Ansich der Natur, im Fichteschen Selbstbewußtsein, das heißt hier

im Subjektbegriff des deutschen Idealismus insgesamt, kritisiert er die

 Verselbständigung des Bewußtseins und seiner Funktionen gegenüber der

Natur. Das vermittelnde Subjekt ist nicht einfach »Geist«, sondern der

Mensch als Produktivkraft. In Hegels Absolutem schließlich, der Einheit

 von Substanz und Subjekt, sieht er die nicht konkreth istorisch herge-

stellte, sondern »metaphysisch travestierte« Einheit der Momente. Wie

die Natur nicht vom Menschen, so ist umgekehrt auch der Mensch undseine geistigen Leistungen nicht von der Natur ablösbar. Die menschliche

Denkfunktion ist ein naturhistorisches Produkt. Marx bezeichnet den

Denkprozeß als Naturprozeß: »Da der Denkprozeß selbst aus den Ver-

hältnissen herauswächst, selbst ein  Naturprozeß   ist, so kann das wirk-

lich begreifende Denken immer nur dasselbe sein, und nur graduell, nach

der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird,

sich unterscheiden.«44 Von vornherein auf falschem Wege befindet sich, wer im Materialismus

eine einheitliche Idee, in seiner Geschichte eine rein immanente gedank-

liche Entwicklung erblickt45. Sieht man von gewissen formalen Zügen ab,

die aller materialistischen Philosophie eigentümlich sind, so zeigt es sich,

daß der Materialismus in seiner Methode, seinem spezifischen Interesse,

überhaupt in seinen inhaltlichen Merkmalen gesellschaftlichhistorisch

 wandelbar ist. Was in einem Jahrhundert von höchster W ic htigkeit für

43 Heilige Familie, S. 272.44 Briefe an Kugelmann, Brief vom 11. 7. 1868, S. 68.45 Zum philosophiegeschichtlichen Gegensatz von Idealismus und Materialismus vgl.

 besonders M ax Horkheimer, Materialismus und Metaphysik. In: Ze itschrift für So zial-forschung, Jahrgang II, Heft 1, Leipzig 1933.

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ihn ist, kann sich im darauffolgenden als nebensächlich erweisen. Stets

aber ist er, wie alle Philosophie, ein gedanklicher Aspekt des Lebenspro-

zesses der Menschen: »Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme

in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der

Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das

Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber

freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie fnitden Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere mensch-

liche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den

Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der

>Kopf< von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.«46

Steht für den Materialismus der bürgerlichen Aufklärung des siebzehnten

und achtzehnten Jahrhunderts die Materie in ihrer physikalischen oder

physiologischen Bestimmtheit im Mittelpunkt, so muß sie bei einer

Gestalt des Materialismus, dessen wesentlicher Inhalt in der Kritik der

politischen Ökonomie besteht, im weitesten Sinne als gesellschaftliche

Kategorie auftreten. Die metaphysischen und naturwissenschaftlichen

Sätze, namentlich die der Mechanik, auf denen, von wenigen Ausnahmen

abgesehen, der gesamte vormarxsche Materialismus fußt, beruhen gar

nicht auf ursprünglichen Fragestellungen, sondern sind etwas durchaus

 Abgeleitetes. Schon in seinem ph ilosophiehistorischen Exkurs in der

»Heiligen Familie« zeigt Marx, wie sehr der physikalische Materialismusin der Richtung seines Interesses wie in seinen dogmatischen Aussagen

über die Wirklichkeit an historisch begrenzte Probleme der gesellschaftli-

chen Emanzipation des Bürgertums gebunden ist. Dementsprechend tre-

ten bei Marx die traditionellen Gegenstände des Materialismus in dem

Maße zurück, in dem er sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion wie

Genesis begreift. Was zu den ABCThesen eines jeden Materialismus

gehört, hat auch bei ihm seinen Ort, freilich nicht als isolierte Behaup-tung, sondern wesentlich als etwas in der dialektischen Theorie der

Gesellschaft Aufgehobenes und erst von ihr aus ganz zu Verstehendes.

Das »Kapital« kritisiert am seitherigen Materialismus ausdrücklich den

Umstand, daß ihm die Beziehung seiner Formulierungen zum geschicht-

lichen Prozeß entgeht: »Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen

Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß   ausschließt, ersieht man

schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wort-

führer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.«47

46 Marx, D er leitende Artik el in Nr . 179 der Kölnischen Zeitung. (1842) In: Marx/Engels,Über Religion, S. 22.

47 Das Kapital, Bd. I, S. 389, Fußnote 89.

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In geradezu klassischer Weise zeigt die Marxsche Polemik gegen Feuer-

 bach in der »Deutschen Ideologie«, wie die Naturw issenschaften , eine

Hauptquelle materialistischer Aussagen, gar kein unmittelbares

Bewußtsein der natürlichen Wirklichkeit liefern, weil das menschliche

 Verhältn is zu dieser nicht prim är ein theoretisches, sondern ein prak

tischumgestaltendes ist. Ihrem Blickfeld, ihrer Methodik, ja, dem Inhalt

dessen nach, was jeweils Materie heißt, sind die Naturwissenschaftengesellschaftlich determiniert. Die erwähnte Polemik gegen Feuerbach,

die im Zusammenhang mit den zur gleichen Zeit verfaßten »Thesen«

 verstanden werden muß, steht ganz im Zeichen des bereits behandelten

Marxschen Übergangs vom »anschauenden« zum »neuen«, das heißt dia-

lektischen Materialismus. Marx zeigt, daß die Feuerbachschen Aussagen

über Natur keine letzten Befunde darstellen, sondern so hochgradig

 verm ittelt sind wie die N atur selbst: »Feuerbach spricht nam entlich vo n

der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur

dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre

ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? ... Selbst die Gegen-

stände der einfachsten sinnlichen Gewißheit< sind ihm nur durch die

gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Ver-

kehr gegeben... Selbst diese >reine< Naturwissenschaft erhält ja ihren

Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch

sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fort- währende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grund-

lage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch

nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheuere Verän-

derung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die

ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine

eigne Existenz sehr bald vermissen würde.«48

Zw ar ist für Marx die sinnliche Welt nicht »ein unm ittelbar von E wigk either gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern das Produkt der Industrie

und des Gesellschaftszustandes«49, aber diese gesellschaftlich vermittelte

 W elt bleibt zugleich eine natürliche, die geschichtlich jeder menschlichen

Gesellschaft vorausliegt. Bei aller Anerkennung des gesellschaftlichen

Moments »bleibt... die Priorität der äußeren Natur bestehen und aller-

dings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen, durch gene

ratio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung (von

 vorgesellsc haftlich er und gesellschaftlich verm itte lter N atur, A . S.) hatnur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden

48 Deutsche Ideolog ie, S. 41 f.49 A. a. O ., S. 40 f.

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 betrachtet. Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorherge-

hende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur,

die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Korallen-

inseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach

nicht existiert.«50 Daß hier Marx gegenüber dem gesellschaftlichen Ver-

mittlungsfaktor die Priorität der äußeren Natur und damit ihrer Gesetze

festhält, ist erkenntnistheoretisch sehr wichtig und an späterer Stelleausführlich zu diskutieren.

Nicht nur weil die arbeitenden Subjekte das Naturmaterial mit sich

 verm itteln, läßt sich von diesem nicht als von einem obersten Seins-

prinzip sprechen. Die Menschen haben es ja nie mit Materie »als sol-

cher« bei ihrer Produktion zu tun, sondern stets nur mit ihren konkre-

ten, quantitativ und qualitativ bestimmten Daseinsweisen. Ihr Allgemei-

nes, die Unabhängigkeit vom Bewußtsein, existiert nur im Besonderen.Es gibt keine Urmaterie, keinen Urgrund des Seienden. Nicht nur wegen

ihrer Relativität auf Menschen, in ihrem »Sein für anderes«, sondern

ebensowenig in ihrem »Sein an sich« taugt die materielle Wirklichkeit zu

einem ontologischen Prinzip. Der dialektische Materialismus kann mit

noch geringerem Recht als der dialektische Idealismus Hegels eine

»Ursprungsphilosophie« genannt werden. Es gibt keine selbständige Sub-

stanz, die unabhängig von ihren konkreten Bestimmtheiten existieren

könnte. Engels spricht sich über den Materiebegriff in den »Noten zum AntiDühring« folgen derm aßen aus: »NB Die Materie als solche ist eine

reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitati-

 ven Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existie-

rende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im

Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts

SinnlichExistierendes.«51

Noch einmal geht er auf die Frage der Materie in der »Dialektik derNatur« ein: »Die Materie und Bewegung k a n n . . .  gar nicht anders

erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewe-

gungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto

auch die Materie und Bewegung als solche. «52

Neuere Versuche einer Systematisierung des dialektischen Materialismus

 verzichten ebenso ausdrücklich auf den Begriff der Materie als eines

substantiellen »Trägers« sekundärer Akzidentien. Wie der Geist, so ist

auch die Materie kein absolut »fundamentales«, kein einheitliches Erklä

50 A. a. O ., S. 42.51 An tiDü hrin g, S. 470.52 Dia lektik der Na tur, S. 251.

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rungsprinzip der Welt: »Im Gegensatz zum metaphysischen Materialis-

mus verwirft der dialektische Materialismus die Vorstellung von einem

>letzten<, unveränderlichen Wesen der Dinge<, von einer >absoluten

Grundsubstanz*, auf deren >endgültige< Eigenschaften und Erscheinun-

gen sich alles Existierende zurückführen lasse. In der Natur gibt es nichts

Unveränderliches und keine absolute Grundsubstanz.«53

Sosehr diese dialektische Fassung des Materiebegriffs beweist, daß Engelsund die sich an ihn anschließende heutige Philosophie in Rußland der

Gefahr einer Ontologie sich bewußt sind und ihr entgehen möchten,

sowenig kann das gelingen, wenn sie mit dem Begriff Materie die Entste-

hung des Universums überhaupt verständlich machen wollen. Wo immer

Materie zur umfassendmetaphysischen Welterklärung herangezogen

 wird, geht man von ihr, ob man will oder nicht, als von einem allge-

meinen Prinzip aus, nicht aber von einer ihrer konkreten Daseinsweisen.

 Auch darauf weist Engels in einem Fragment seiner »Dialektik der

Natur« hin: »Causa finalis — die Materie und ihre inhärente Bewegung.

Diese Materie keine Abstraktion.  Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe

dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des 

 Nebelflecks  alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als 

solche verschwimmend,  nur als Materie, n ic h t' mit ihren spezifischen

Eigenschaften wirkend.«S4

Nur, wo mit Marx die materielle Realität als je schon gesellschaftlich verm ittelt anerkan nt wird, lä ßt sich Onto logie verm eiden und kommt die

Engelssche Formulierung wirklich zu ihrem Recht, daß Materie als solche

eine Abstraktion ist, daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie

existieren.

Sehr wesentlich für das Verständnis des Zusammenhangs des Marxschen

53 Grun dlagen der marxistischen Philosophie, Berlin 1959, herausgegeben von F. W. Konstantinow, Übersetzung aus dem Russischen, S. 131. Zur Frage des nichtontologischenCharakters des Materiebegriffs im dialektischen Materialismus vgl. auch den Aufsatz

 von G ötz Red low, Lenin über den marxistischen philosophischen B egrif f der Materie. In:Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 1959, 7. Jahrgang, H eft 2. Die Einsicht, daßes für den dialektischen Materialismus kein letztes Seinsprinzip geben k ann, a uf das allesandere sich reduzieren ließe, hat sich in Rußland erst in jüngster Zeit durchgesetzt. Wiestark die Sowjetphilosophie in den frühen zwanziger Jahren während ihrer von Deborinund seinen Schülern bestimmten Phase in ihrer Materieauffassung vom spinozistischenSubstanzbegriff abhängig w ar, zeigt G. L. Kline in seinem Buch Spin oza in Soviet

Philosophy, London 1952, mit großer Deutlichkeit. Die unmittelbar nachstalinistischePhase der Philosophie in Rußland läßt sich als eine realontologische Deutung der mate-rialistischen Dia lektik, in manchem an N. Hartm ann erinnernd, kennzeichnen. Man

 benutzt in Rußland sogar den Terminus »»materialistische Onto logie«, wie er vonaristotelischthomistischer Seite seit je zur Kennzeichnung des Marxismus verwandt

 wird.54 Dialek tik der Natur. S. 259.

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mit dem philosophischen Materialismus überhaupt ist auch die traditio-

nelle Frage nach dem Sinn von Geschichte und Welt. Die materialistische

Dialektik ist nichtteleologisch, so merkwürdig das zunächst klingen

mag. Weder ist ihr die Geschichte eine chaotische Faktensammlung wie

für Schopenhauer noch ein einheitlichgeistiger Sinnzusammenhang wie

für Hegel. Marx verselbständigt die Geschichte nicht pantheistisch. Am

ehesten noch nimmt sein Denken eine rechtfertigendidealistische Fär- bung an, w o er mit H egel auf die unumgängliche N otw endig keit von

Herrschaft und Grauen in der »Vorgeschichte« verweist. Zwar kommt

durch die einander gesetzmäßig ablösenden Gesellschaftsformationen so

etwas wie eine übergreifende Struktur in die menschliche Geschichte,

keineswegs aber im Sinne einer durchgehenden »Teleologie«. Die Welt

als Ganzes sieht Marx keiner einheitlichen sinnverleihenden Idee unter-

 worfen. Es gib t bei ihm ein zig, was Hegel den »endlichteleologischen

Standpunkt«55 nennt: endliche Ziele endlicher, raumzeitlich beding-

ter Menschen gegenüber begrenzten Bereichen der natürlichen und

gesellschaftlichen Welt. Der Tod als das antiutopische Faktum par excel

lence »erweist... die Ohnmacht aller sinngebenden Metaphysik und

 jeder Theodizee«56. Alle in der W irklichkeit auftretenden Ziele und

Zwecke gehen zurück auf Menschen, die ihren sich wandelnden Situa-

tionen gemäß handeln. Abgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn. Nur wo

das Subjekt wie Hegels Geist welthaft zu einem unendlichen ausgeweitet wird, können seine Zwecke zugleich die der W elt selber sein. Hegel gilt

der »endlichteleologische Standpunkt« als etwas Beschränktes, in die

Theorie des absoluten Geistes Aufzuhebendes. Marx dagegen weiß von

keinen anderen Zwecken in der Welt als denen, die von Menschen gesetzt

sind. Sie kann daher nie mehr Sinn enthalten, als es den Menschen

gelungen ist, durch die Einrichtung ihrer Lebensverhältnisse zu realisie-

ren. Auch wenn eine bessere Gesellschaft herbeigeführt wird, wird damitder leiderfüllte Weg der Menschheit zu ihr hin nicht gerechtfertigt: »Daß

die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirk-

licht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann,

ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der

Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen

diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammen-

hängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn.«57

55 System der Philosophie, II, a. a. O. , § 245, S. 35.56  Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930,

S. 91 f.57 A. a. O.y  S. 92.

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Dadurch, daß Marx nicht von der Vorstellung eines den Menschen vorge-

gebenen Gesamtsinnes ausgeht, wird Geschichte zu einer Abfolge immer

 wieder neu einsetzender Einzelprozesse, begreifbar nur von einer Philo-

sophie der Weltbrüche, die bewußt auf den Anspruch lückenloser Deduk-

tion aus einem Prinzip verzichtet. Wer die seitherige menschliche

Geschichte begreift, hat damit keineswegs einen Sinn der Welt überhaupt

 begriffen. Eine Formulierung wie die folgende aus Hegels »Vernunft inder Geschichte« wäre für Marx völlig undenkbar: »Wir müssen in der

Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt,

nicht einen besonderen des subjektiven Geistes oder des Gemüts, ihn

müssen wir durch die Vernunft erfassen, die keinen besonderen endlichen

Zweck zu ihrem Interesse machen kann, sondern nur den absoluten.«58

Das in mancher Hinsicht allzu metaphysische Marxverständnis Ernst

Blochs ist unter anderem gekennzeichnet durch die in seinen Schriften

immer wieder auftretende These, auch in der Marxschen Philosophie

gebe es so etwas wie einen Endzweck der Welt. Er spricht in einer seiner

 Arbeiten59, ganz wie Hegel, von dem »wohlfundierten Realproblem

eines >Sinns< der Geschichte, in Verbindung mit einem >Sinn< der Welt«,

das dem dialektischen Materialismus aufgegeben sei. Es wird bei der

Darstellung der Marxschen Utopie des Verhältnisses von Mensch und

Natur zu erörtern sein, welche Konsequenzen aus Blochs Annahme eines

 Weltsinnes bei Marx sich für seinen U topie begrif f ergeben. H ie r ist imZusammenhang mit dem Problem des Weltsinnes noch auf einen anderen

Gesichtspunkt aufmerksam zu machen. Marx verteidigt seinen unerbitt-

lichen Atheismus nicht nur unter Hinweis auf die Resultate der modernen

Naturwissenschaften60 oder ideologiekritisch. Ähnlich wie für Sartre ist

für Marx die Möglichkeit der Freiheit des Menschen nur durch die Nicht-

existenz eines »sinnstiftenden« Gottes verbürgt. Der Mensch ist essentiell

nicht festgelegt. Noch ist sein Wesen nicht total erschienen. Konträr, inder seitherigen Geschichte, die sich ja als »Vorgeschichte« dadurch

auszeichnet, daß die Menschen ihrer eigenen Kräfte gegenüber der Natur

58 Die Vernunft in der Geschichte, Hoffmeister, Hamburg 195 5, S. 29.59 Differenzierungen im Be gri ff Fortschritt, Berlin 1957, S. 44.60  Vgl. dazu Nationalökono mie und Philosophie, S. 196, wo Marx ganz im Sinne naturwis-

senschaftlicher Aufklärun g argumentiert: »Die  Erdschöpfung  hat einen gewaltigen Stoß

erhalten durch die Geognosie,   d. h. durch die Wissenschaft, welche die Erdbildung, das Werden der Erde als einen Pro zeß der Selbsterzeugung darstellt. Die generatio aequivocaist die einzige praktische Widerlegung der Schöpfungstheorie.« Auch in der DeutschenIdeologie, vgl. S. 42, vertritt er die These, daß das organische Leben aus der anorgani-schen Natur hervorgegangen sei. Der reife Marx, der die Resultate der Naturwissen-schaften aufmerksam verfolgt, bezieht sich häufiger auf Darwins Evolutionismus als dernaturhistorischen Voraussetzung seiner Geschichtslehre.

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nicht mächtig sind, wurde das menschliche Wesen brutal unter die mate-

riellen Bedingungen der Erhaltung ihrer Existenz subsumiert. Zu einer

realen Versöhnung von Wesen und Existenz gelangt die menschliche

Gattung nur, sofern sie sich zunächst theoretisch als die Ursache ihrer

selbst begreift. Hierauf gehen besonders die Pariser Manuskripte ein:

»Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen

steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein  Dasein   sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines ändern lebt, betrachtet

sich als abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines

ändern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens

 verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein  Leben geschaffen  hat,

 wenn er der Quell    meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig

einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine Schöpfung ist.«61

Marx weist die ontologisch gestellte  Frage nach dem Schöpfer des erstenMenschen und der Natur als ein »Produkt der Abstraktion«62 zurück:

»Frage dich, wie du auf jene Frage kömmst; frage dich, ob deine Frage

nicht von einem Gesichtspunkt aus geschieht, den ich nicht beantworten

kann, weil er ein verkehrter ist?... Wenn du nach der Schöpfung der

Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen

und der Natur. Du setzest sie als nichtseiend,  und willst doch, daß ich sie

als seiend   dir beweise. Ich sage dir nun: gib deine Abstraktion auf, so

gibst du auch deine Frage auf, oder willst du an deiner Abstraktion festhalten, so sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als

nichtseiend   denkend, denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du

doch auch Natur und Mensch bist. Denke nicht, frage mich nicht, denn

sobald du denkst und fragst, hat deine  Abstraktion   von dem Sein der

Natur und des Menschen keinen Sinn.«63

Diese merkwürdig emphatische und für das Marxsche Verhältnis zu aller

prima philosophia typische Stelle macht noch einmal deutlich, worum es bei M arx geht. Die auf das vorm enschliche und vorgesellschaftlich e Sein

der Natur gerichteten Fragen lassen sich nicht »abstrakt« stellen; sie

setzen jeweils schon eine bestimmte Stufe theoretischer und praktischer

 Aneig nung der N atur vo raus. Alle verm eintlich absolut ersten Substrate

sind immer schon behaftet mit dem, was aus ihrer Wirksamkeit erst

hervorgehen soll, und eben deshalb keine absolut ersten. Die Frage nach

dem »Entstehungsakt«64 von Mensch und Natur ist für Marx deshalb

6 1 Na tionalökono mie und Philosophie, S. 196.61  A. a. O ., S. 197.63 A. a. O.64 A. a. O., S. 198.

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auch weniger eine metaphysische als eine historischgesellschaftliche:

»Indem... für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Welt-

geschichte  nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch

die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so

hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner

Geburt   durch sich selbst, von seinem  Entstehungsprozeß.  Indem die

Wesenhaftigkeit  des Menschen und der Natur, indem der Mensch für denMenschen als Dasein der Natur, und die Natur für den Menschen als

Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die

Frage nach einem  fremden   Wesen, nach einem Wesen über der Natur

und den Menschen — eine Frage, welche das Geständnis von der Unwe-

sentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt — praktisch unmög-

lich geworden.«65

Der Marxsche Atheismus — ein im Grunde bereits »postatheistisches«Bewußtsein — wendet sich gegen jede Abwertung von Mensch und

Natur66. Für den Idealismus ist Gott, für den mit dem Humanismus

identischen Materialismus der Mensch das höchste Wesen. Im Gottesbe-

griff sieht Marx den abstraktesten Ausdruck von Herrschaft, stets

 verbunden mit einem dogmatisch vorgegebenen einheitlichgeistigen

Gesamtsinn der Welt. Ist Gott, so kommt der revolutionäre Mensch als

Hersteller zwar nicht eines Weltsinnes, aber doch eines sinnvollen gesell-

schaftlichen Ganzen, in dem jeder Einzelne sich aufgehoben und geehrt weiß, nicht mehr in Betracht. Prometheus ist für M arx nicht um sonst der

 vornehmste Heilige im philosophischen Kalender. Das menschliche

Selbstbewußtsein, sagt er in seiner Dissertation, muß als »oberste Gott-

heit«67 anerkannt werden. Geht die Theorie von vornherein von dem

historischen Vermittlungszusammenhang von Mensch und Natur in der

gesellschaftlichen Produktion aus, so ist auch der Atheismus nicht länger

eine bloß »weltanschauliche« Behauptung: »Der  Ath eismus,  als Leug-nung dieser UnWesentlichkeit (von Natur und Mensch, A. S.) hat keinen

Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine  Negation Gottes,   und setzt durch

diese Negation das  Dasein   des  Menschen;  aber der Sozialismus als Sozia-

lismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem

theoretisch  und  praktisch sinnlichen   Bewußtsein des Menschen und derNatur als des Wesens.«6* 

 A ls w ie problematisch auch im mer der Materialismus in der G eschic hte der

65 A . a . O .66  Vgl. auch die Kr itik an E. Sue in der Heiligen Familie, S. 314 , wo M arx am Christentum

 bemängelt, daß es N atu r »zur Schöpfung erniedrigt«.67 In: Marx/Engels, Uber Religion, S. 8.

68 Natio nalöko nom ie und Philosophie, S. 198.

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Philosophie sich erwiesen haben mag, sofern er als umfassende Welter-

klärung auftrat, sein eigentliches Interesse besteht gerade bei seinen

 bedeutendsten Vertretern nicht prim är in einer dogmatisch en Sammlung

metaphysischer Thesen. Wo er sich auf solche einläßt, haben sie eine ganz

andere Akzentuierung als die ihnen entgegengesetzten idealistischer

Herkunft. Aus der Ansicht, daß alles Materielle wirklich und alles Wirk-

liche materiell sei, gehen für den Materialisten unmittelbar keinerleiethische Maximen hervor.

 Äußerlich zw ar an theologischm etaphysische Fragestellungen, wie sie

der Hegelschen Philosophie eigentümlich sind, gebunden, versteht sich

auch der Marxsche Materialismus nicht in erster Linie als Antwort auf die

 bewegenden Fragen, die traditionellerweise der M etaphysik zugeschrie-

 ben werden. Darin den großen Enzyklo pädisten verw andt, ist er in den

letzten Fragen der Metaphysik so großzügig, wie er unerbittlich ist in bezug auf die N öte, die aus der unmittelbaren Praxis der Menschen

hervorgehen. In der »Deutschen Ideologie« gibt es einen Abschnitt von

Moses Heß, in dem auf drastischaufklärerische Weise die Idealisten

gekennzeichnet werden: »Alle Idealisten, die philosophischen wie die

religiösen, die alten wie die modernen, glauben an Inspirationen, an

Offenbarungen, an Heilande, an Wundermänner, und es hängt nur von

der Stufe ihrer Bildung ab, ob dieser Glaube eine rohe, religiöse oder eine

gebildete, philosophische Gestalt annimmt.. .«69

Befaßte sich der Marxsche Materialismus mit abstrakten weltanschauli-

chen Bekundungen, wie sie heute vielfach in den östlichen Ländern noch

üblich sind, so unterschiede er sich in nichts von jenem oben glossierten

schlechten Idealismus. Nicht das Abstraktum der Materie, sondern das

Konkretum der gesellschaftlichen Praxis ist der wahre Gegenstand und

 Ausgangspunkt materialistischer Theo rie. Demgem äß erklärt M arx in

seiner achten Feuerbachthese: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.  Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten,

finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im

Begreifen dieser Praxis.«70

Statt um die Frage nach der spirituellen oder materiellen Natur der

Seele, die selbst in ihrer materialistischen Beantwortung zu Zeiten eine

idealistische, nämlich ablenkende Funktion in der Gesellschaft haben

kann, kümmert sich der Marxsche Materialismus vorab um die Möglich-

keit, Hunger und Elend auf der Welt abzuschaffen. Mit den ethischen

Materialisten der Antike, deren Ansichten über die Lust selbst der Idea

69 Deutsche Ideologie, S. 578.70 Thesen über Feuerbach. In: Marx/Engels, Uber Religion, S. 56.

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list Hegel nicht fernsteht, hat Marx ein eudämonistisches Moment

gemeinsam. Sosehr zwar der Materialismus zunächst keine sittliche Hal-

tung ist, nicht in der blinden Vergötzung grobsinnlicher Freuden besteht,

sowenig reduziert er sich freilich auf der anderen Seite bloß auf eine

Theorie oder Methode. »Es geht dem Materialisten nicht um die absolute

 Vernunft, sondern um das Glü ck — auch in seiner verpönten Gesta lt: der

Lust — und nicht so sehr um das sogenannte innere Glück, das sich gar zuoft mit dem äußeren Elend zufriedengibt, sondern um einen objektiven

Zustand, in dem auch die verkümmerte Subjektivität zu ihrem Recht

kommt.«71 Wenn daher Engels in seiner Feuerbachschrift72 über das

angebliche »Philistervorurteil« höhnt, das den Materialismus nicht nur

als Theorie versteht, sondern auch mit sinnlichen Genüssen in Verbin-

dung bringt, so fragt es sich, was die ungeheueren und nicht nur theoreti-

schen Anstrengungen der Menschen, über den Kapitalismus hinauszuge-

langen, für einen Wert haben sollen, wenn es nicht auch um die Lust, um

die Herbeiführung sinnlichen Glücks dabei gehen soll. In der Engelsschen

Formulierung steckt etwas von jenem asketischen Zug, den Heine schon

früh an der sozialistischen Bewegung wahrnahm und der später zu einer

der Ursachen menschenfeindlicher Praxis werden sollte. Wer schon

nichts Rechtes zu beißen hat, soll wenigstens nicht ohne »wissenschaft-

liche Weltanschauung« sein.

Die theoretische Anstrengung, die darauf abzielt, daß kein Mensch aufder Welt mehr materielle und intellektuelle N o t leidet, bedarf keiner

metaphysischen »Letztbegründung«. Der kritische Materialismus ver-

schmäht es, darin die Tradition bloßen Philosophierens fortzusetzen, daß

er »Welträtseln« nachspürt oder sich im Stil neuerer Ontologie unent-

 wegt radik al in Frage stellt. Seine gedankliche Konstruktion ist die endli-

cher Menschen und erwächst aus bestimmten geschichtlichen Aufgaben

der Gesellschaft. Er will den Menschen aus dem selbstgeschmiedeten

Käfig undurchschauter ökonomischer Determination heraushelfen.

 Wenn die materialistische Theorie die gesellschaftlichen Voraussetzun-

71 He inz Maus, Materialismus. In: Zur Klärung der Begriffe, herausgegeben von HerbertBurgmüller, München 1947, S. 63.

72 Ludw ig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso phie, S. 29. Brechthat sehr scharfsinnig das »deutsche« Verhältnis zum Materialismus erfaßt: »Die Deut-

schen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machensie sofort eine Idee draus, ein Materialist ist dann einer, der glaubt, daß die Ideen vonden materiellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materienicht mehr vor. Man könnt glauben, es sind nur zwei Sorten von Leuten in Deutschland,Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, diealle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, diealle Weinsorten kennen.« In: Flüchtlingsgespräche, Berlin und Frankfurt 1961, S. 20 f.

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gen noch der zartesten Kulturgebilde herausarbeitet, so ist sie nichts

 weniger als die positive »Weltanschauung«, die heute im Osten aus ihr

gemacht wird. Im Grunde ist sie ein einziges kritisches Urteil über die

seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind

mechanisch ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen

lassen. Ernst Bloch sagt daher mit Recht, »daß es bisher noch kein

menschliches Leben gegeben hat, sondern immer nur ein wirtschaftliches,das die Menschen umtrieb und falsch machte, zu Sklaven, aber auch zu

 Ausbeutern«73. Ökonom ie wird von der Theo rie so scharf pointiert wie

 von der gesellschaftlichen W irklichkeit selber. Sie ist jedoch sowenig wie

das Proletariat ein metaphysisches Erklärungsprinzip für Marx. Von

ihrer alles beherrschenden soll sie wieder zur dienenden Rolle zurückge-

 brach t werden. Das »M aterialistische« der Marxschen Theorie ist gerade

kein Bekenntnis zum heillosen Primat der Ökonomie, dieser menschen-feindlichen, von der Wirklichkeit vollzogenen Abstraktion. Jene ist viel-

mehr der Versuch, endlich das Augenmerk der Menschen auf die gespen-

stische Eigenlogik ihrer Verhältnisse zu richten, auf diese Pseudophysis,

die sie zu Waren macht und zugleich die Ideologie mitliefert, sie seien

 bereits mündige Subjekte.

Horkheimer kennzeichnet die Anarchie der kapitalistischen Produktion

folgendermaßen: »Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle

eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allge-meinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen

Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und Staaten.«74

Indem die kapitalistische Gesellschaft von ihrem eigenen Lebensprozeß

 beherrscht wird, nimmt ihre Ratio nalität einen irrationalen, mythisch-

schicksalhaften Charakter an, worauf Thalheimer aufmerksam macht:

»So steht die kapitalistische Gesellschaft ihrer eigenen Wirtschaft

gegenüber nicht anders, als der australische Wilde dem Blitz, demDonner, dem Regen gegenübersteht.«75

73 Ernst Bloch, Spuren, Berlin 1950, S. 39. Völlig ver fehlt ist, verglichen mit einer solchenDeutung, der Versuch Alfred Seidels, den Marxschen Materialismus als hämische Entlar-

 vungslehre zu interpretieren. In seiner Dissertation Pro du ktivk räfte und Klassenkam pf,Heidelberg 1922, heißt es auf S. 25: » . . . in jener Bezeichnung seiner Geschichtsau ffas-sung als materialistische drückt sich der nihilistischanalytische >wahrheitssadistische<Zug von Marx aus, der mit diabolischer Freude alle Ideale und Ideologien herunterreißt

und nüchtern entzaubernd auf materielle Umstände und materialistische Interessenzurückführt«. Seidels These wird hier deshalb angeführt, weil sie noch immer weit

 verbreitet ist.74 M ax Horkheim er, Materialismus und Moral. In: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahr-

gang II, Heft 2, Leipzig 1933, S. 167.75 Au gust Thalheimer, Ein führung in den dialektischen Materialismus, WienBerlin 1928,

Marxistische Bibliothek, Bd. 14, S. 26.

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Die gesellschaftlich nicht richtig organisierte Naturbeherrschung, mag

sie auch noch so hoch entwickelt sein, bleibt Naturverfallenheit. Im-

mer wieder wird der Denunziant eines Übels so verstanden, als werde

es von ihm glorifiziert oder propagiert. Das Schulbeispiel einer völligen

Entstellung und Verzerrung dessen, was bei den Kritikern der politischen

Ökonomie Materialismus heißt, ist das Buch von Peter Demetz »Marx,

Engels und die Dichter«76. Demetz tut so, als habe Marx alles das erfun-den, wogegen seine Lehre steht. Nicht der Marxsche Materialismus hat,

 wie Dem etz meint, »die Gestalt des Dichters des Elements der Freiheit

 beraubt und damit zum eigentlich unpersönlichen Diener wirtschaftl i-

cher Vorgänge herabgewürdigt«77, sondern die reale Entwicklung der

den Menschen entfremdeten, weil unbeherrschten Produktion. Nicht,

 weil M arx ein primitiver Ökonom ist ist, verz ic htet er in seinen Schriften,

 bei Programmentwürfen und dergleichen auf alle moralisierenden undidealischen Redensarten mit geradezu asketischer Wachsamkeit.

Bezeichnend für seine Haltung ist ein Brief an F. A. Sorge, in dem er sich

über das Aufkommen eines »faulen Geistes« in der Partei beklagt und

 von einer »ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores«

spricht, »die dem Sozialismus eine >höhere, ideale< Wendung geben

 wollen, das heißt die materialistische Basis (die ernstes objektives

Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch

moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit,Gleichheit und fraternité«78. Gerade, indem Marx sich die materiellen

Probleme nicht abmarkten läßt, hält er dem hinter idealistischer Phra-

senhülle verborgenen humanen Kern eher die Treue als jene, die das

geschichtlich noch immer Ausstehende als bereits realisiert ausgeben.

Nicht die geistigen Inhalte als solche sind für Marx Ideologie, wohl aber

ihr uneingelöster Anspruch, gesellschaftliche W irklichkeit zu sein.

Die erste Natur als außerhalb der Menschen bestehende Dingwelt beschreibt Hegel als blindes, begriffloses Geschehen. D ie W elt des

Menschen, soweit sie Gestalt annimmt in Staat, Recht, Gesellschaft und

Ökonomie, ist ihm »zweite Natur«79, manifestierte Vernunft, objektiver

Geist. Dem hält die Marxsche Analyse entgegen, daß die zweite Natur

 bei Hegel eher zu beschreiben wäre mit den Begriffen, die er selbst auf

die erste anwendet, nämlich als Bereich der Begrifflosigkeit, in dem

76 Peter Dem etz, Marx, Engels und die Dich ter, Stuttgart 1959.77 A. a. O., S. 94.

78 Marx an F. A. Sorge, Brie f vom 19 .O ktob er 1877. In: Marx/Engels, Au sgewählte Briefe,S. 364.

79    Vgl. etwa Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hoffmeister, Berlin 1956, Einleitung§ 4, S. 28.

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 blinde N otw endig keit und blinder Zufall koinzidieren. Hegels zweite

Natur ist selber noch erste. Noch immer sind die Menschen aus der

Naturgeschichte nicht herausgetreten80. Diese Tatsache erklärt die vielen

Marxkritikern als unangemessen erscheinende quasinaturwissenschaftli

che Methode der Marxschen Soziologie, die schon wegen der »naturhaf-

ten« Beschaffenheit ihres Gegenstandes keine Geisteswissenschaft sein

kann. Wenn Marx die Geschichte der bisherigen Gesellschaft als einen»naturhistorischen Prozeß«81 behandelt, so hat das zunächst den kriti-

schen Sinn, daß »die Gesetze der Ökonomie in aller... plan und

zusammenhanglosen Produktion den Menschen als objektive Gesetze,

über die sie keine Macht haben, entgegentreten, also in Form von 

 Naturgesetzen«82. Marx hat die aus der perennierenden »Vorgeschichte«

gewonnene Erfahrung im Sinn, daß trotz aller technischen Triumphe im

Grund noch immer die Natur und nicht der Mensch triumphiert. Alsgesellschaftlich unbeherrschte ist die »ganze ausgetüftelte Maschinerie

moderner Industriegesellschaft bloß N atu r, die sich zerfleischt«83.

Uber eine solche kritische Akzentuierung hinaus gebraucht Marx jedoch

den Begriff der Naturgeschichte in dem weiteren, sich auf die gesamte

 W irklichkeit erstreckenden Sinne der evolutionistischen Theo rien des

neunzehnten Jahrhunderts. Wenn er dem »abstrakt naturwissenschaftli-

chen Materialismus« vorwirft, daß er den »geschichtlichen Prozeß*64 

ausschließt, so hat er nicht nur den der Gesellschaft, sondern ebensosehrden der Natur im Auge85.

 Wie bei den meisten mechanischen Materialisten des achtzehnten Jah r-

hunderts, so gibt es auch in der Philosophie Hegels, die in der Natur das

materielle Auseinander gleichgültiger Existenzen sieht, keine Naturge-

schichte im strengen Sinne: »Solcher nebulöser im Grunde sinnlicher

 Vorstellungen , wie insbesondere das sogenannte  Hervorgehen   z. B. der

Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das  Hervorgehen   derentwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren u.s.w. ist, muß

sich die denkende Betrachtung entschlagen.«86

80 Vgl. dazu den Engelsschen B rief vom 29. 3. 1865 an F. A . Lange. In: Marx/Engels, Au sgew ählte Briefe, S. 202 f.

81 Da s Ka pital, Bd. I, S. 8.

82 AntiD ühring, S. 447.83 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialek tik der Aufkläru ng, F rankfurt 1969,

S. 270.84 Das Kap ital, Bd. I, S. 389, Fußnote 89.85 Vgl. dazu Kurt Sauerland, De r dialektische Materialismus, a. a. O ., S. 163.86 System der Philosophie, II, a. a. O ., Zu satz zu § 249, S. 59. An einer Stelle wie dieser

 wird greifbar, was gegen Hegel mit Recht als abstrakter Idealismus der Naturb etrach

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Für Marx dagegen ist das gesetzmäßige Hervorgehen der Naturformen

auseinander eine Selbstverständlichkeit. Sein Entwicklungsbegriff ist

nicht nur an Hegel, sondern auch an Darwin geschult. Darauf weist

Engels in seiner Rezension des ersten Bandes des »Kapitals« hin, wo er

zur Marxschen Methode sagt: »Soweit er sich bemüht, nachzuweisen, daß

die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer ändern, höhe-

ren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nurdenselben allmählichen Umwälzungsprozeß auf dem sozialen Gebiet als

Gesetz hinzustellen, den  Darwin   naturgeschichtlich nachgewiesen

hat.«87

Daß Marx die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation 

als einen naturgeschichtlichen Prozeß «88 auffaßt, bedeutet, daß er die

geschichtlichen Abläufe in ihrer strengen Notwendigkeit betrachtet,

ohne sich auf aprioristische Konstruktionen oder psychologische Erklä-

rungsprinzipien einzulassen. Die Verhaltensweisen der Individuen ver-

steht er als Funktionen des objektiven Prozesses. In der seitherigen

Geschichte sind sie weniger als freie Subjekte denn als »Personifikation 

ökonomischer Kategorien*89 aufgetreten.

In seiner für das Verständnis des historischen Materialismus wesentlichen

Schrift »Was sind die >Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die

Sozialdemokraten?« aus dem Jahre 1894 geht Lenin besonders auf den

»naturhistorischen« Charakter der Marxschen Forschungsmethode undihre Beziehung zum Darwinschen Evolutionismus ein: »Wie Darwin

der Vorstellung ein Ende bereitet hat, als seien Tier und Pflanzenarten

durch nichts miteinander verbunden, zufällig entstanden, >von Gott

erschaffen<, unveränderlich, wie er als erster die Biologie auf eine völlig

 wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, indem er die Veränderlichkeit

der Arten und die Kontinuität zwischen ihnen feststellte — so hat Marx

seinerseits der Vorstellung ein Ende bereitet, als sei die Gesellschaft einmechanisches Aggregat von Individuen, an dem gemäß dem Willen der

Obrigkeit (oder, was dasselbe ist, der Gesellschaft und der Regierung)

 beliebige Veränderungen vorgenommen werden können, das zufällig

entsteht und sich wandelt, hat er als erster die Soziologie auf eine wissen-

tung geltend gemacht worden ist. Greifbar wird eine höchst charakteristische Inkonse-quenz. Der Begriff der Entwicklung, genommen am Leben, wird Hegel zum Movens des

Geistes, wodurch dieser in der Tat jene Abstraktheit, Dürre und L eblosigkeit verliert, wiesie für formale Logik und Reflexionsphilosophie kennzeichnend sind. Höchst paradoxer- weise wird Natur, an deren Bild Hegel die Konkretion des Begriffs gewann, selber zueinem Abstrakten; ihr wird schlecht vergolten.

87 Marx/Engels, Kleine ökonom ische Schriften, S. 301.88 Da s Kapital, Bd. I, S. 8.89 A . a. O.

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schaftliche Grundlage gestellt, indem er den Begriff der ökonomischen

Gesellschaftsformation als Gesamtheit der jeweiligen Produktionsver-

hältnisse festlegte und feststellte, daß die Entwicklung solcher Formatio-

nen ein naturgeschichtlicher Prozeß ist.«90

 An die Stelle aller Räsonnements über die Gesellschaft und den Fort-

schritt im allgemeinen tritt bei Marx die konkrete Analyse einer Gesell-

schaft, nämlich der bürgerlichkapitalistischen. Der Marxsche Materialis-mus ist so wenig wie Darwins Theorie eine inhaltliche Totalerklärung,

sondern der Versuch, den geschichtlichen Prozeß sachgerecht, ohne

metaphysische Dogm en, zu begreifen: »Genau so, w ie .. . der Tran s-

formismus keineswegs den Anspruch erhebt, die >gesamte< Geschichte

der Entstehung der Arten zu erklären, sondern nur den, die Methoden

dieser Erklärung auf die Höhe der Wissenschaft zu bringen, hat auch

der Materialismus in der Geschichte nie den Anspruch erhoben, alles

erklären zu wollen, sondern nur den, die nach einem Ausdruck von Marx

(>Das Kapital«) >einzig wissenschaftliche« Methode der Erklärung der

Geschichte herauszuarbeiten.«91

Marx selbst ist sich übrigens der Beziehung seiner Theorie zu Darwin, bei

aller Anerkennung der Spezifität sozialer Gesetze, bewußt: »Darwin  hat

das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt,

d. h. a uf die Bildun g der Pflanzen und Tierorgane als Produktionsinstru-

mente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsge-schichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der mate-

riellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche

 Aufm erksamkeit? U nd wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico 

sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte

unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht

haben?«92

Ganz ähnlich unterscheidet Engels in der »Dialektik der Natur« dieNatur von der Menschengeschichte: »Jetzt auch die ganze Natur in

Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß

selbstbewußter  Organismen von der Geschichte der Natur verschie-

den.«93

Natur und Menschengeschichte bilden für Marx eine Einheit in der

90 W. I. Lenin, Was sind die >Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die Sozialde mokra-ten? In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, Stuttgart 1952, S. 94.

91 A. a. O ., S. 98. Lenin bezieht sich hier au f den ersten Band des Kapitals, S. 389, Fußn ote89.

92 Das Kapital, Bd. I, S. 389, Fußn ote 89.93 Dia lektik der Na tur, S. 252.

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 Verschiedenheit. Dabei löst er weder die Menschengeschichte in pure

Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte.

 A u f der einen Seite ist zw ar die Geschichte der Gesellschaft ein »wirkli-

cher Teil der  Naturgeschichte«94, setzen sich in ihr die für die vormensch-

liche Geschichte charakteristischen Sachverhalte fort, so daß Marx die

Produktionsinstrumente, durch deren Herstellung und Anwendung die

Menschen sich wesentlich von den Tieren unterscheiden, als »verlängerteLeibesorgane«95 bezeichnen kann. Wie die Tiere, so müssen auch die

Menschen sich ihrer Umgebung anpassen. Dazu bemerkt die »Dialektik

der Aufklärung«: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist

handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden.

Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien,

Organisationskräfte — und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen

 wie die Zäh ne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zw eck dienen und

nur besser funktionieren — ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpas-

sung.«96

Demgegenüber ist auf der anderen Seite die spezifische Differenz

zwischen geschichtlichen Abläufen in der Natur und in der Gesellschaft

nicht zu vernachlässigen. Sie läßt es nicht zu, daß, wie bei den verschie-

densten Spielarten des Sozialdarwinismus, Naturgesetze einfach auf

gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden. In einem Brief an

Kugelmann kritisiert M arx scharf den Versuch F. A . Langes, sich überden Reichtum der menschlichen Geschichte auf abstraktnaturwissen-

schaftliche Art hinwegzusetzen: »Herr Lange h a t .. . eine große Entdek

kung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes

Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die  Phrase   (der

Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) >struggle

for life<, >Kampf ums Dasein<, und der Inhalt dieser Phrase ist das

Malthussche Bevölkerungs oder rather Ubervölkerungsgesetz. Statt alsoden >struggle for life<, wie er sich geschichtlich in verschiedenen

 bestimmten Gesellschaftsform en darstellt, zu analysieren, hat man nichts

zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase >struggle for life< und

diese Phrase in die Malthussche >Bevölkerungsphantasie< umzuset-zen.«97

 Von Naturgeschichte läßt sich im Grunde nur reden, wenn man die von

 bew ußten Subjekten gemachte Menschengeschichte voraussetzt. Sie ist

deren rückwärtige Verlängerung und wird von den Menschen als nicht 

94 Na tionalökonom ie und Philosophie, S. 194.95 Das Kapital, Bd. I, S. 187.96  Horkheimer/Adorno , Dia lektik der Aufk lärung , a. a. O ., S. 234.97 Marx an Kugelmann, Brief vom 27. 6.  1870. In: Briefe an Kugelmann, S. 110 f.

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Gesetzen der belebten Natur«100. Eben diese »eigenartigen Gesetze« der

Gesellschaft sind es, die bei Kautsky unter den Tisch fallen. Während für

Marx die kosmische und biologische Entwicklungsgeschichte nur die »na-

turwissenschaftliche Unterlage«101 seiner Geschichtsauffassung bilden,

ihr Hauptanwendungsgebiet aber die Geschichte der Gesellschaft ist,

stülpt Kautsky dieses Verhältnis um. Die menschliche Geschichte ist ein

 Anhängsel der Naturgeschichte, ihre Bew egungsgesetze bloße Erschei-nungsformen biologischer. Karl Korsch, übrigens einer der wenigen

 Autoren in der um fangreichen M arxliteratu r, bei denen sich ein

 Verständnis der komplizierten D ia le ktik von N atur und Geschichte fin-

det, kritisiert nachdrücklich Kautskys Entstellung der Marxschen

Geschichtstheorie: »Nicht die Natur oder die organische Natur und ihre

Entwicklungsgeschichte im allgemeinen, und auch nicht einmal die

menschliche Gesellschaft in ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwick-

lung, sondern die moderne »bürgerliche Gesellchaft< bildet für sie (Marx

und Engels, A . S.) die wirklich e Grun dlage, aus der alle früheren

geschichtlichen Gesellschaftsformen materialistisch zu begreifen sind.«102

Die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Menschengeschichte hat

für Marx auch einen ideologiekritischen Aspekt. In der Tat ist es bis

heute ein festes Bestandstück der Verteidigung von Herrschaft gewesen,

historischgesellschaftlich bedingte Tatbestände wie Kriege, Verfolgun-

gen und Krisen in unabwendbare Naturtatsachen umzufälschen. Marxhat zunächst die Klassenverhältnisse im Auge, wenn er sagt: »Die Natur

produziert nicht auf der einen Seite Geld oder Warenbesitzer und auf

der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist

kein naturgeschichtliches  und ebensowenig ein gesellschaftliches,  das

allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat

einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler

ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer

Formationen der gesellschaftlichen Produktion.«103

Marx kennt keine starren Gegebenheiten, weder solche der" geistigen

noch solche der biologischmateriellen Natur des Menschen. In seiner

Kritik an Max Stirner in der »Deutschen Ideologie« bemerkt er: »Wie

Sancho bisher alle Verkrüppelungen der Individuen und damit ihrer

100 Ka rl Ka utsk y, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, Berlin 1927, S. 630.101 Marx an Lassalle, Brief vom 16. 1. 1861. In: Ausgewä hlte Briefe, S. 150.102 Ka rl Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassun g, Le ipzig 1929, S. 34. Vg l. auch

die vorzügliche Arbeit desselben Verfassers, Marxismus und Philosophie, Leipzig 1930,S. 135 ff.

103 Das Ka pital, Bd. I, S. 177.

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 Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte , ohne sich um

die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärte er diese Verkrüp-

pelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht

im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich

nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppe-

lungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch

entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden kön-nen. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassen-

unterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und

müssen historisch beseitigt werden.«104

Die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Natur und

Geschichte hat schließlich noch eine methodischwissenschaftstheoreti-

sche Seite. Seit Dilthey und der südwestdeutschen Schule des Neukantia-

nismus ist es üblich geworden, historischen und Naturwissenschaften

prinzipiell verschiedene Forschungsweisen zuzuordnen. Unterscheidet

Dilthey zwischen kausal »erklärender«, den Naturwissenschaften eigen-

tümlicher und intuitiv »verstehender« Methode der historischen Geistes-

 wissenschaften, so zerschneiden Windelband und Ric kert die W irklich-

keit noch radikaler in zwei schlechthin getrennte Bereiche. Natur wird

kantianisch als das Dasein der Dinge unter Gesetzen gefaßt. Dem

entspricht der »nomothetische« Charakter der Naturwissenschaften. Die

Geschichte besteht aus einer Fülle wertbezogener, im G run de unverbundener»individueller« Befunde, die nur einer beschreibenden, »idiographischen«

Methode zugänglich sind, wodurch sie zu etwas jenseits aller rationalen

 Analy se w ird 105.

Für Marx gibt es keine Trennung schlechthin von Natur und Gesell-

schaft, damit auch keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied

zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft. So

schreibt er in der »Deutschen Ideologie«: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von

zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die

Geschichte der Menschheit abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes

nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte

der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.«106

104 Deutsche Ideologie, S. 449.

105 Zum ideologischen Mom ent der Trenn ung von naturwissenschaftlicher und historischerMethode vgl. auch Ernst Bloch, Uber Freiheit und objektive Gesetzlichkeit, politischgefaßt. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2. Jahrgang, Heft 4, Berlin 1954,S. 831 f.

106 Deutsche Ideologie. In: Mega, Bd. V, 1. Ab tg., Berlin 1932, S. 567. Diese Textvaria nte wurde in die endgült ige Fassung der Deutschen Ideologie, wie sie in der zugänglicheren Au sgabe Berlin 1953 vo rliegt , nicht aufgenommen.

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Ein »Gegensatz von Natur und Geschichte«107 wird von den Ideologen

dadurch erzeugt, daß sie das produktive Verhältnis der Menschen zur

Natur aus der Geschichte ausschließen. Natur und Geschichte, sagt Marx

gegenüber Bruno Bauer, sind »nicht zwei voneinander getrennte »Din

ge<«108. Die Menschen haben immer eine »geschichtliche Natur und eine

natürliche Geschichte«109 vor sich.

Der Vorwurf, daß Marx allzu »naturalistisch« verfahre, wenn er im»Kapital« vom geschichtlichen Prozeß der ökonomischen Gesellschafts-

formation als von einem naturgeschichtlichen spricht, kann ihn eben

deshalb nicht treffen, weil in ihm dogmatisch die hier gerade kritisierte

These vom prinzipiellen methodischen Unterschied zwischen dem Ver-

halten des Natur und des Geschichtsforschers vorausgesetzt wird. Wis-

senschaftliches Denken kann keinen Bereich sui generis anerkennen, der

gesetzmäßiger Erklärung absolut unzugänglich wäre.

Der Methodendualismus bei Dilthey und WindelbandRickert beruht bei

allen Bemühungen dieser Autoren um die Geschichte auf geschichtsfrem-

den Abstraktionen, die freilich zunächst auch den kritischen Sinn haben,

daß der Geschichtsdeutung nicht dadurch Tür und Tor geöffnet werden

sollte, daß beliebige Sinnschemata an sinnindifferente Befunde herange-

tragen werden. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet, und es sieht

so aus, als sei der Geschichtsverlauf vö llig strukturlos und bloß noch der

Einfühlung und idiographischen Deskription zugänglich.Marx wendet sich in der Rezension »Die moralisierende Kritik und die

kritische Moral« auf eine für das Verständnis seiner Methode höchst

instruktive Weise gegen die undialektischen Alternativen, die, wie wir im

erörterten Fall gesehen haben, entweder Natur und Geschichte ineinan-

der aufgehen lassen oder aber ihre Differenz verabsolutieren: »Es

 bezeichnet den ganzen Grobianismus des »gesunden Menschenverstan-

dess der aus dem »vollen Leben< schöpft und durch keine philosophischenund sonstigen Studien sich seine Naturanlagen verkrüppelt, daß er da,

 wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und

daß er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht. Stellt er

unterschiedene Bestimmungen auf, so versteinern sie sich ihm sofort

unter der Hand, und er erblickt die verwerflichste Sophistik darin, diese

Begriffsklötze so zusammenzuschlagen, daß sie ins Brennen gera-

ten.«110

107 Deutsche Ideologie, S. 36.108 A. a. O ., S. 41.109 A. a. O.110 Aus: Franz Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich

Engels, 2. Bd. (Juni 18441847), Stuttgart 1920, S. 456.

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 Wie es für M arx keine reine Im manenz in der Abfolge der Ideen gibt, die

»geistesgeschichtlich« zu erforschen wäre, so gibt es auch keine reine,

geschichtlich unmodifizierte Natur als Erkenntnisgegenstand der Natur-

 wissenschaften. N atur, die Sphäre des Gesetzmäßigen und Allgemeinen,

ist ihrem Umfang und ihrer Beschaffenheit nach jeweils bezogen auf die

Zwecke gesellschaftlich organisierter Menschen, die von einer bestimm-

ten historischen Struktur ausgehen. Die historische Praxis  der Menschen,ihr körperliches Tun, ist das immer wirksamer werdende Bindeglied

zwischen den getrennt erscheinenden Bereichen. Der Marx der Pariser

Manuskripte verspricht sich von der Natur und Geschichte versöhnenden

Rolle der Praxis im Kommunismus sogar ein Zusammenfallen von Natur-

 wissenschaft und Geschichtsw issenschaft, die er hier als Wissenschaft vom

Menschen bezeichnet: »Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl

die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wissenschaft von demMenschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine 

 Wissenschaft sein.«111

Eine Wissenschaft deshalb, weil innerhalb ihrer Verschiedenheit vermit-

tels der Industrie die »gesellschaftliche  Wirklichkeit der Natur«112 und

die mit ihr sich entwickelnde natürliche Wirklichkeit des Menschen

einander immer angemessener werden, so daß die »natürliche Wissen-

schaft vom Menschen  mit der menschlichen  Naturwissenschaft«113 iden-

tisch wird.

 B) Zur Kritik der Engelsschen Form der N atu rdia lektik

Ein Versuch, den Begriff der Natur bei Marx darzustellen, kommt um

eine Erörterung der Engelsschen Ansätze zu einer dialektischmateriali-

stischen Theorie der Natur nicht herum. Soweit Engels als strenger Anhänger des historischen Materialism us auftritt, ist ihm bew ußt, daß die

erscheinende Natur wie alles naturwissenschaftliche und philosophische

 Wissen von ih r stets schon bezogen sind auf die wechselnden Formen

gesellschaftlicher Praxis. Ähnlich wie Marx, versucht er daher auch

immer wieder nachzuweisen, daß die Naturwissenschaft ihrem jeweiligen

 Arbeitsmaterial, wie ihrer Methode und Problemstellung nach Ausdruck

und Hebel der fortschreitenden Produktivkräfte in einem ist114.

11 1 Nation alöko nom ie und Philosophie, S. 194 f.112 A. a. O ., S. 195.113 A. a. O.114 Vgl. dazu die problematische Behauptung des Aufsatzes Von der Philosophie des Prole-

tariats zur proletarischen Weltanschauung von Iring Fetscher, daß Engels »für die ge-

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Im folgenden ist zu zeigen, daß Engels da, wo er über die Marxsche

Fassung des Verhältnisses von Natur und Sozialgeschichte hinausgeht, in

eine dogmatische Metaphysik zurückfällt. Um eine solche handelt es sich

 bei ihm, so sehr er es versch mäht, für seine Dialektisieru ng der N aturw is-

senschaften noch den Begriff einer Naturphilosophie in Anspruch zu

nehmen. — Anstatt die Engelssche Ansicht a limine als baren Unsinn

abzutun, wie dies bei einigen Kritikern der Fall ist, kommt es freilichzunächst darauf an, sich über die problemgeschichtliche Situation zu

 verständigen , aus der heraus Engels zu ihr gelangt ist. Keineswegs aber

genügt dazu der Hinweis auf irgendwelche parteitaktischen oder politi-

schen Weltanschauungsbedürfnisse der Arbeiterschaft, wie Fetscher115

meint, bei dem das Spezifische der philosophischen Entwicklung von

Engels zu kurz kommt.

Mit dem Zusammenbruch der Systeme der klassischen Philosophie gehtauf der einen Seite jedes Verständnis der idealistischen Problematik und

mit ihr die Dialektik verloren, auf der anderen Seite wird der flach-

mechanische »Reisepredigermaterialismus«, Ausdruck der endgültigen

Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie, in den fünfziger Jah-

ren immer einflußreicher. Engels geht es um eine Naturkonzeption, die

zwar materialistisch ist, aber zugleich nicht einfach hinter die Resultate

der Dialektik zurückfällt. Im »AntiDühring« schreibt er: »Marx und ich

 waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischenPhilosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der

Natur und Geschichte hinüber gerettet hatten.«116

Dieses »Hinüberretten« bezieht sich nicht nur auf die erste Auseinander-

setzung mit Hegel, die mit der »Deutschen Ideologie« und den Feuer-

 bachthesen, diesem eigentlichen Geburtsdokumen t des dialektischen

Materialismus, abschließt, sondern mehr noch auf die  zw eite Hegelaneig-

sellschaftliche Bedingtheit auch des naturwissenschaftlichen Erkennens kein Auge« zuhaben scheine. In: Marxismusstudien, Zweite Folge, herausgegeben von I. Fetscher,Tübingen 1957, S. 42, Fußnote 1. Hier wird versucht, gerade diese Seite des EngelsschenDenkens zum Verständnis des Marxschen Naturbegriffs heranzuziehen. Merkwürdig ist bei Engels eben das beziehungslose N ebeneinander eines gesellschaftlich vermittelten undeines dogmatischmetaphysischen Naturbegriffs.

115 Marxismusstudien, S. 41. So verdankt sich zw ar der zwischen 187 618 78 entstandene

 AntiD ührin g solchen äußeren parteipolitischen Umständen. Engels ist aber schon seitdem Jahre 1858 mit dem Versuch einer dialektischen Durchdringung der Naturwissen-schaften beschäftigt. Im Brief an M arx vom 14. 7. 18 j8 bittet er um die Übersendung derHegelschen Naturphilosophie und bemerkt: »So viel ist gewiß, hätte er heute eine N atur-philosophie zu schreiben, so kämen ihm die Sachen von allen Seiten entgegen geflogen.«In: Ausgewählte Briefe, S. 130.

116 AntiDühring, S. 10.

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nung117, deren Beginn für Engels wie für Marx in das Jahr 1858

fällt118.

Bis zu den Feuerbachthesen läßt sich von einer Differenz in den theoreti-

schen Ansichten von Marx und Engels kaum sprechen. Gegen Ende der

fünfziger Jahre trennen sich jedoch teilweise die Wege der Autoren.

Beide wenden sich, wenngleich auf sehr verschiedene Art, positiver

 Wissenschaft zu.Marx konkretisiert in der großen historischökonomischen Analyse des

»Kapitals« das gemeinsam erarbeitete Programm der Thesen, damit auch

die für die »Deutsche Ideologie« so wesentliche Frage nach dem

 Verhältnis von N atur und gesellschaftlicher Praxis, indem er versucht,

»durch Kritik eine Wissenschaft«, nämlich die politische Ökonomie,

»erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu

können«119.Engels dagegen interpretiert mit Hilfe dialektischer Kategorien fertig

1 17 Deren Bedeutung für den mittleren und späten Marx w ird von den meisten Interpretenübersehen, wie insgesamt außer acht gelassen wird, daß seine Hinwendung zur positiven

 Wissenschaft Philosophie als wesentliches Moment nicht ausschließt und umgekehrt.Marx hat ein gebrochenes Verhältnis sowohl zum Begriff der Wissenschaft als auch zudem der Philosophie. Gegenüber einem begrifflosen Empirismus, der sich in derOrdnung der »alltäglichen Erfahrung« erschöpft, »welche nur den täuschenden Scheinder Dinge erfaßt«, (Lohn, Preis und Profit, S. 71. In: ökonomische Aufsätze, Singeno. J.) hebt Marx in hegelianischphilosophischer Weise die Rolle der begrifflichen Arbeithervor. Gegenüber spiritualistischer Metaphysik aller Schattierungen, auch der Hegelschen, zögert Marx auf der anderen Seite nicht, empirischnaturgeschichtliche Befundeanzuführen. Dialektischer M aterialismus ist weder W issenschaft als positivistische F ak-tensammlung noch Philosophie im Sinne eines spekulativen Uberfliegens des Tatsächli-chen. Es ist daher verfehlt, wenn Fetscher das wissenschaftsgebundene Denken vonEngels schlechthin dem Marxschen als einem ausschließlich philosophischen entgegen-setzt. Fetscher hält sich an das Programm der »Aufhebung der Philosophie durchihre Verwirklichung«, wie es sich beim jungen Marx findet, und konfrontiert es als »Phi-

losophie des Proletariats« mit der »proletarischen Weltanschauung« (Marxismusstudien,S. 2660), wie sie von Engels während der siebziger und achtziger Jahre ausgearbeitet

 worden sei. M it Recht erblickt er in den Lehren des späten Engels eine problem atische»weltanschauliche« Ausweitung des Marxschen Ansatzes, übersieht aber zugleich, daßdie Schriften des mittleren und späten Marx, namentlich das Kapital und sein Rohent-

 w urf ihrem philosophischen Gehalt nach mehr bedeuten als eine gelegentliche Wieder-aufnahme des Entfremdungsmotivs, daß sie, teils eine implizit, teils eine explizit ausge-sprochene materialistische Philosophie in sich bergen.

118 Vgl. dazu den Brie f von M arx an Engels vom 14. 1. 1858, in dem er über seine Vorarbeiten zum Kapital berichtet und ausdrücklich auf H eg el zu sprechen kom mt: »In

der Methode  des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich by mere accident— Freiligrath fand einige, ursprünglich dem Bakunin gehörige Bände H egels und schicktesie mir als Präsent — Hegels Logik wieder durchgeblättert hatte. Wenn je wieder Zeit fürsolche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in zwei oder drei Druckbogen das  Ratio-nelle  an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert   hat, dem gemeinenMenschenverstand zugän glich zu machen .. .« . In: Ausgew ählte Briefe, S. 121.

119 Marx an Engels, Brief vom 1. 2. 1858, a. a. O ., S. 123.

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 vorliegende Resultate der modernen Naturw isse nschaft. Während Marx,

darin sehr hegelianisch, die dialektisch darzustellende Wissenschaft erst

aus der Kritik ihres seitherigen Standes hervorgehen läßt, die materiali-

stische Dialektik daher von den Inhalten der politischen Ökonomie an

keiner Stelle ablöst, bleibt die Engelssche Naturdialektik notwendig eine

der Sache äußerliche Betrachtungsweise. Das wird besonders deutlich,

 wenn er etwa, völl ig unbeküm mert um ihre idealistisch spekulativen Voraussetzungen, Hegelsche Kategorien auf den biologischen Begriff der

Zelle »anwendet«: »Die Zelle ist das Hegelsche Ansichsein und geht in

ihrer Entwicklung genau den Hegelschen Prozeß durch, bis sich schließ-

lich die >Idee<, der jedesmalige vollendete Organismus daraus entwik

kelt.«I2°

Da es uns hier wesentlich um die Differenz des Engelsschen und des

Marxschen Naturbegriffs121 zu tun ist, beschränken wir uns darauf, die

metaphysischen Grundthesen des späten Engels122 anzuführen, um aus

ihnen die Motive einer Kritik zu gewinnen. — Es sei vorausgeschickt, daß

Engels’ Naturlehre nicht so sehr eine »Subtilisierung der damals allge-

mein herrschenden vulgärmaterialistischmonistischen Konzeptionen«

ist, wie es sich Fetscher123 darstellt, als vielmehr der Versuch einer dialek-

tischen Fortbildung der systematischen Gestalt des französischen Aufklä-

rungsmaterialismus. Mit deutlicher Anspielung auf Holbach spricht

120 Engels an M arx, Brie f vom 14. 7. 1858. In: Ausgew ählte Briefe, S. 130.121 Inwieweit sich Marx dieser Differenz seines Naturbe griffs zum Engelsschen bewußt war,

ist nicht ganz auszumachen. Fest steht, daß er mit dem Manuskript des AntiDühring ver trau t war und sich im Kapital, Bd. I, S. 323, auf das von Engels so sehr hervorgeho- bene »Gesetz des Übergangs von Quan tität in Qualität« beruft als gleich bewährt inGeschichte und Naturwissenschaft Zur Frage der theoretischen Differenzen zwischenMarx und Engels vgl. auch Manfred Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungenMarx, Frankfurter Dissertation, Berlin i960, S. 159.

122 Die an sie und Lenin sich anschließenden Versuche im Ostbereich, mit ihrer Hilfe

den jeweils neuesten Stand der Physik philosophisch zu bewältigen, bleiben hier außerBetracht. Sie sind durchaus von Interesse, weil sie zeigen, daß die Sowjetphilosophenunter dem Schein strenger Bindung an die empirischen Daten der Naturwissenschaftmitunter vor spekulativen Formulierungen im Stil SchellingHegelscher Naturphiloso-phie nicht zurückschrecken. Wie Hegel mit der Anzahl der Planeten, so haben auch siedie größte Mühe, die Resultate der Empirie mit den Thesen ihres »weltanschaulichen«Materialismus in Einklang zu bringen, was, wie bekannt, unter Stalin sogar zu einergrotesken Verfemung der Einsteinschen Relativitätstheorie führte, von der maninzwischen abgekommen ist Stets sind es vorliegende Resultate  der Naturwissenschaf-ten, die man mit Hilfe von reflexionsphilosophisch gehandhabten dialektischen Katego-

rien zu ordnen sucht Davon, daß die östlichen Naturwissenschaften sich methodischunmittelbar  an die Engelssche Naturdialektik anschlössen, kann keine Rede sein. Wo eseinmal zu einem derartigen Versuch kommt, wie in dem Buch Die dialektische Methodein der Biologie von Jacob Segal, Berlin 19 58, springt einem sofo rt ins Auge, wie sehr dieDia lektik in dieser Fassung zu einer Sammlung von Gem einplätzen werden muß, die demempirischen Forscher unter anderer Form längst bekannt sind.

123 Vgl. Marxismusstudien, S. 27.

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Engels in der Feuerbachschrift von seinem Unternehmen als von »einem

für unsere Zeit genügenden »System der Natur<«124. Daneben spielt die

romantische Naturphilosophie mit ihrem qualitativdynamischen Cha-

rakter für Engels eine nicht unerhebliche Rolle125.

Die bis in die unmittelbare Gegenwart für den sowjetischen Materia-

lismus verbindliche Metaphysik besteht in folgenden, im »AntiDühring«

entwickelten Thesen: i. » D ie .. . Einheit der W elt besteht in ihrer M ate-rialität.«126 2.  »Die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und

ein Sein außer der Zeit ist ebenso großer Unsinn wie ein Sein außerhalb

des Raums.«127 3. »Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie.  Nie

und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben, oder kann es sie

geben... Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in

Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungsform.«128

 Was diesen Materialismus von allen mechanischen Materialism en vonDemokrit bis Holbach unterscheidet, ist sein nichtreduktiver Charakter.

Innerhalb der materiellen Einheit der Welt erkennt Engels Formunter-

schiede an. Die höheren Daseins und Bewegungsformen der Materie

gehen nach seiner Ansicht zwar aus den niederen hervor, ohne sich jedoch

auf diese bruchlos reduzieren zu lassen. Es gibt keine letzte Grundform

materieller Bewegung. Mechanische, chemische., biologische und psychi-

sche Bewegungsform sind qualitativ   voneinander verschieden und doch

Erscheinungsweisen des einen materiellen Wesens der Welt. Das Fort-schreiten vom Niederen zum Höheren versucht Engels mit Hilfe der

Dialektik einsichtig zu machen, die er folgendermaßen definiert: »Die

Dialektik ist... die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs und

Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Den-

kens.«129

124 Lud wig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 45. Daßim Gegensatz zu Fetschers Ansicht Engels mit dem französischen Materialismus desachtzehnten Jahrhunderts viel mehr gemein hat als mit den Vulgarisatoren seiner Zeit,geht schon daraus hervor, daß Engels bereits in den frühen vierziger Jahren lebhaftesInteresse an der französischen Aufklärung bekundet, wobei er, freilich anders als Marx,der in der Heiligen Familie, S. 261, am Materialismus etwa des Helvetius zu rühmen

 weiß, daß er ihn »sogleich in bezug auf das gesellschaftliche Leben« faßt, das Schw erge- wicht mehr auf die metaphysische Seite legt. 1844 bezeichn et Engels in dem im Vorw är tserschienenen Artikel Die Lage Englands, I. Das 18. Jahrhundert bei aller sich damalsschon abzeichnenden Kritik den Materialismus als »die Spitze der Wissenschaft des 18.

Jahrhunderts«, als »das erste System der Naturphilosophie«, als das Ergebnis einer »Vol-lendung der Naturwissenschaften«. In: MarxEngels, Werke, Bd. I, S. 551.

125 Da zu seine Äußerungen im AntiD ühring, S. 11 f.126 A. a. O., S. 51.127 A. a. O., S. 61.128 A. a. O., S. 70.129 AntiDühring, S. 173.

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 Aus den drei genannten Bereichen glaubt die »Dia lektik der Natur« ,

übrigens Engels’ reifstes philosophisches Werk der Spätzeit, drei dialekti-

sche Grundgesetze abstrahieren zu können, die ebenfalls in die sowjet-

marxistische Theorie eingegangen sind: i. »Das Gesetz des Umschlagens

 von Q uantität in Q ualit ät und umgekehrt: 2. das Gesetz von der Durc h-

dringung der Gegensätze; 3. das Gesetz von der Negation der Nega-

tion.«130Der Gerechtigkeit halber sei vermerkt, daß Engels im Unterschied zu

seinen gegenwärtigen östlichen Anhängern gar nicht in erster Linie

darauf bedacht ist, die Dialektik den Naturwissenschaftlern als unmittel-

bare  Forschungsmethode zu empfehlen. Was ihm im Grunde vorschwebt,

ist eine enzyklopädische Verarbeitung des modernen naturwissenschaftli-

chen Materials: »Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure

Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit,

ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach sei-

nem inneren Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar gewor-

den ist.«131

Mit dieser Idee, Geschichte und System der Natur wie der Naturwissen-

schaft zu einer Einheit zu verschmelzen, nimmt Engels Erwägungen

seiner Frühzeit wieder auf. Das erste Modell einer solchen Einheit sieht

er 1844 in einem Artikel über das achtzehnte Jahrhundert im Werk der

französischen Enzyklopädisten: »Der Gedanke der Enzyklopädie warfür das 18. Jahrhundert charakteristisch; er beruhte auf dem Bewußtsein,

daß alle diese Wissenschaften unter sich Zusammenhängen, war aber

noch nicht imstande, die Übergänge zu machen, und konnte sie daher nur

einfach nebeneinander stellen.«132

Hatten die Did erot und D ’Alem bert noch in An lehnung an Francis Bacon

die Wissenschaften nach Erkenntnisvermögen eingeteilt, so setzt sich im

neunzehnten Jahrhundert die Tendenz durch, sie nach Sachzusammen-

hängen zu ordnen. So in den Wissenschaftshierarchien St. Simons und

Comtes, von denen Engels sicherlich nicht unbeeinflußt geblieben ist.

Besonders aber schließt er sich Hegel an, »dessen ... Zusammenfassung

und rationelle Gruppierung der Naturwissenschaften eine größere Tat ist

als all der materialistische Blödsinn (solcher Autoren wie Büchner, Vogt

etc., A. S.) zusammen«133, wenn er eine Klassifikation der Naturwissen-

130 Dialektik der Natu r, S. j 3. Das »Gesetz der Ne gation der Negation« geriet während derStalinschen Ära als Relikt des Hegelianismus bei Marx in Verruf und ist erst nach demXX. Parteitag der KPdSU wieder »rehabilitiert« worden.

131 A. a. O ., S. 312.

132 Engels, Die Lage Englands. I. Das 18. Jahrhundert. In: MarxEngels, Werke, Bd. I,

S. SSI.133 Dialek tik der N atu r, S. 2 17.

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schäften von der Mathematik über Mechanik, Physik, Chemie bis zur

Biologie auf der Grundlage der verschiedenen Bewegungsformen der

Materie zu geben versucht: »Wie eine Bewegungsform sich aus der

ändern entwickelt, so müssen auch ihre Spiegelbilder, die verschiednen

 Wissenschaften, eine aus der ändern mit N otw endig keit hervorge-

hen.«134

Um auf die angeführten abstraktmetaphysischen Thesen und dialekti-schen Gesetze zurückzukommen, so sind sie, wie oben gesagt, bestenfalls

eine Interpretations und Darstellungsmöglichkeit naturwissenschaftli-

cher Forschungsresultate. Keineswegs aber haben sie etwas mit der natur-

 wissenschaftlichen Methode selber zu tun, die ja formallogisch orientiert

und undialektisch in dem Sinne ist, daß sie auf die historische Vermitt-

lung ihrer Gegenstände nicht reflektiert.

Marx äußert sich im »Kapital« ausdrücklich zur Frage nach dem Verhältnis von Forschungs und Darstellungsw eise einer Wissenschaft:

»Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungs-

 weise unterscheiden. Die Forsch ung hat sich den Stoff im Deta il anzueig-

nen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren

innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die

 wirkliche Bew egung entsprechend dargestellt werden. Gelin gt dies und

spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als

habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.«135Nun sind bei einem Gegenstand wie der von Menschen gemachten

Sozialgeschichte Forschungs und Darstellungsweise bei aller formellen

 Verschiedenheit doch innerlich aufeinander bezogen, während die Deu-

tung der von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur dieser letztlich

gleichgültig bleiben muß.

 Wenn der frühe Engels in den »Umrissen zu einer Krit ik der N atio nal-

ökonomie« am Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts auszusetzenhat, daß er »nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen als

 A bsolutes«'36 gegenüberstellt, so verfällt auch seine eigene Altersphilo-

sophie diesem Verdikt. In dem Maße, wie ihre Behauptungen bezüglich

der Natur von der lebendigen Praxis der Menschen isoliert sind, fallen sie

unter die Kritik der Feuerbachthesen. Natur und Mensch schließen sich

 bei Engels nicht prim är verm ittels historischer Praxis zusammen; der

Mensch erscheint nur als Evolutionsprodukt und passiver Spiegel des

Naturprozesses, nicht aber als Produktivkraft. Wenn die materialistische

134 A. a. O ., S. 166.135 Da s Kapital, Bd. I, S. 17.1 36 Umrisse zu einer Kritik der Na tiona lökonom ie. In: Kleine ökonomische Schriften, S. 10.

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Naturauffassung, wie er in der Feuerbachschrift sagt, nichts ist »als

einfache Auffassung der Natur so wie sie sich gibt, ohne fremde

Zutat«137, so bedeutet das gegenüber der Marxschen Position einen

Rückfall in naiven Realismus138. Nicht nur lassen sich für Marx, was die

sinnliche Welt im allgemeinen betrifft, ursprünglich Gegebenes und

durch Praxis vermittelte »fremde Zutat« nicht trennen, sondern darüber

hinaus, hat er ein klares Bewußtsein davon, daß von dem »materiellenSubstrat« der besonderen Warenkörper, »das ohne Zutun des Menschen

 vo n N atur vo rhanden ist«139, nur unter Abstraktion   von aller vermit-

telnden nützlichen Arbeit die Rede sein kann.

Daß sich für Engels die äußere Wirklichkeit zum Inbegriff bloßer »Tatsa-

chen« verfestigt, zeigt unter anderem sein Versuch, in einem Brief an

C. Schmidt die Differenz zwischen idealistischer und materialistischer

Dialektik anzugeben. Hier heißt es: »Die Verkehrung der Dialektik bei Hegel beruht darauf, daß sie >Selbstentwicklung des Gedankens< sein

soll und daher die Dialektik der Tatsachen nur ihr Abglanz, während

die Dialektik in unserm Kopf doch nur die Widerspiegelung der sich in

der natürlichen und menschengeschichtlichen Welt vollziehenden, dialek-

tischen Formen gehorchenden, tatsächlichen Entwicklung ist.«140

Engels verkennt hier einmal, daß es zu einer »Dialektik der Tatsachen«

überhaupt erst kommt, wenn »natürliche und menschengeschichtliche

 Welt« nicht als zwei getrennte Bereiche betrachtet werden. Zum anderen

 beschränkt sich bei M arx die Denkbewegung keineswegs auf eine bloße

 Widerspiegelung des Tatsächlichen . Die unkritische Verdoppelung der

 bestehenden Verhältnisse im Bew ußtsein hat fü r M arx gerade ideologi-

schen Charakter. Im Abschnitt C des III. Kapitels ist zu zeigen, wie für

Marx das widerspiegelnde Bewußtsein zugleich ein Moment der »prak-

tischkritischen«141 Tätigkeit des Menschen ist. Stets geht der Gedanke

als wesentlicher Bestandteil in die von ihm widergespiegelte Realität ein.Die objektivökonomische Dialektik, welche Marx zufolge die Kulturge-

halte trägt, birgt in sich selbst bereits den Geist tätiger Subjekte.

137 Engels, Lud wig Feuerbach, a. a. O., S. 67.138 Natur bleibt daher im genauen Hegelschen Sinn bei Engels »unbegriffen«. »Einen

Gegenstand begreifen«, sagt Hegel, »h eiß t. . . nichts als ihn in der Form eines Bedingten  

und Vermittelten  fassen, somit insofern er das Wahre, Unendliche, Unbedingte ist, ihnin ein Bedingtes und Vermitteltes zu verwandeln und auf solche Weise, statt das Wahredenkend zu fassen, es vielmehr in Unwahres verkehren.« In: Encyclopädie der philo-sophischen Wissenschaften im Grundrisse, a. a. O., § 62, S. 86.

139 Da s Kapital, Bd. I, S. 47. Vg l. auch Kapitel II, Abschnitt A.140 Engels an C. Schmidt, Brie f vom 1. 11. 1891. In: Ausgew ählte Briefe, S. 525 f.141 Vg l. die erste Feuerbachthese. In: Uber Religion , S. 54.

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 Während N atur und Geschichte bei M arx unauflöslich ineinander verw o-

 ben sind, sieht Engels in ihnen zwei verschiedene »A nwendungsgebie-

te«142 der materialistischdialektischen Methode. Dadurch, daß die

Momente der Dialektik von den konkretgeschichtlichen Gehalten abge-

löst werden und zu den drei oben aus der »Dialektik der Natur« ange-

führten hypostasierten »Grundgesetzen«, die der Realität gegenüberste-

hen, zusammenschrumpfen, wird die Dialektik zu dem, was sie bei Marx

am allerwenigsten ist, Weltanschauung, positives Weltprinzip143.

Im vorigen Abschnitt wurde bereits dargetan, daß Engels zwar auf der

einen Seite darauf besteht, daß »Materie als solche« ein ens rationis ist,

daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie existieren, daß bei ihm

aber andererseits, wo das kosmogonische Problem geklärt werden soll,

Materie nicht in ihren Bestimmtheiten, sondern als oberstes Prinzip

auftritt. Der Engelssche Naturbegriff ist also in letzter Instanz doch onto-logisch. Das kann selbst die katholische Interpretation, die im allge-

meinen dazu neigt, den dialektischen Materialismus als Ontologie hinzu-

stellen, von Marx da, wo sie ihn in seiner spezifischen Differenz zu

Engels wirklich einmal ernst nimmt, nicht behaupten. Jakob Hommes

 bem ängelt in seinem Buch »Der technische Eros« am Marxschen Mate

142 Da rin folgt ihm noch die heutige sowjetische Philosophie mit ihrer von Stalin in derSchrift Uber dialektischen und historischen Materialismus 1938 eingeführten starrdogmatischen Unterscheidung von dialektischem und historischem Materialismus, wovonder eine es nur mit der Natur, der andere es nur mit der Gesellschaft zu tun haben soll.

 Als ob nicht bei Marx der M aterialismus eben deshalb historisch wäre, weil er dialektischist und umgekehrt. Als ob nicht das historischgesellschaftliche Sein der Menschen dieNatur als Moment so in sich enthielte, wie diese umgekehrt das gesellschaftliche Seinumschließt. Mit zwei verschiedenen »Untersuchungsfeldern« der Dialektik operierenauch Dieter Bergner und W olfgang Jahn in ihrem Pamphlet Der Kreuz zug der evangeli-schen Akademien gegen den Marxismus, Berlin i960. Die einwandfrei nachweisbaresachliche  Differenz der Naturkonzeptionen von Marx und Engels verflüchtigt sich bei

ihnen zur bloßen Verschiedenheit des methodischen Vorgehens: »Es besteht... dieMöglichkeit, die Aufmerksamkeit auf die materielle Grundlage des Denkens zu richten,das heißt die Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu untersu-chen, oder von dieser Problematik zu abstrahieren und sich mit den Problemen der objek-tiven Dialektik in der Natur zu beschäftigen.« (S. 51 f.) Daß genau diese, für Engels’Theo rie der N atu r wie für alle materialistische Metaphysik ch arakteristische Abstraktionzugleich die Grenze der Möglichkeit einer Dialektik markiert, bleibt den Verfassern

 verborgen.143 Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen von H erbert Marcuse, die sich auf die Fort-

setzung der Engelsschen Konzeption der Dialektik in der gegenwärtigen sowjetischen

Philosophie beziehen: »Consequently, in trying to present dialectic >as such<, SovietMarxists can do nothing but distill from the concrete dialectical analysis of the >classics<certain principles, illustrate them, and confront them with >undialectical< thought.« In:Soviet Marxism, London 1958, S. 143. Es ist kein Zufall, daß es bei Marx keine abstrakte

 Aufzäh lu ng dialektischer »Gesetze« und »Prinzipien« g ib t— mit Recht spricht Marcuse vo n »empty shells« — und daß er sich im Gegen satz zu Engels kaum des Ausdrucks»Weltanschauung« bedient.

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rialismus, daß seine realistische Position in der Erkenntnistheorie durch

die dialektische Methode doch wieder entwertet werde. Ein Vorwurf, der

sich im Grunde gegen das subjektive Moment, die umgestaltende Praxis,

 wendet, wie M arx sie aus dem deutschen Idealismus in seine Theorie

überführt hat. Hommes ist durchaus im Recht, wenn er sagt, daß die

 wirklichen Dinge, die M arx zufo lg e im menschlichen Bewußtsein sich

 widerspiegeln, »in keiner Weise mehr die vom Menschen unab hängigexistierende Natur als solche«144 darstellen. Zwar werde bei Marx der

Gegenstand nicht durch das theoretische Wirken des Menschen gesetzt,

aber die gegenständliche Welt verliere den Charakter der Geschöpflich

keit, werde letztlich doch nur zur Verkörperung menschlichen Tuns.

Der »ontologische« Zug des Engelsschen Verständnisses der Natur geht

ohne weiteres auch aus den oben zitierten metaphysischen Grundthesen

hervor. Diese verdanken sich, wie im vorherigen Abschnitt hinsichtlich

der Naturwissenschaften zu zeigen versucht wurde, keineswegs einer »ur-

sprünglichen« Fragestellung, sondern sind samt und sonders historisch-

gesellschaftlich vermittelt.

So ist zur Engelsschen These, daß die Einheit der Welt in ihrer Materia-

lität bestehe, zunächst einmal zu sagen, daß die Frage nach der Einheit

der Welt idealistischer Philosophie angehört. Bei Kant stiftet die formale

Einheit des Selbstbewußtseins das Bewußtsein der Einheit der erschei-

nenden Welt. Indem die Hegelsche Dialektik über das starre Gegenüber von Form und Materie der Erkenntnis, wie es fü r Kants Philosophie

kennzeichnend ist, hinausgelangt, kommt sie dem, was auch für Kant im

Grunde schon vorauszusetzen ist, noch näher, nämlich der organisieren-

den Rolle gesellschaftlicher Arbeit. Natur wird, in den Dienst ihrer

Prozesse gestellt, in der Tat zu einer Einheit, mit dem Geist identisch,

 bloßes »Substrat von Herrschaft«145. D aß im nachkantischen Idealis-

mus der Geist zu einem allgemeinen, an die individuellen Iche nichtgebundenen Subjekt wird, bezeugt den rationalen, systematisierenden

Charakter der gesellschaftlichen Arbeit146. Bei Marx, der in der gesell-

schaftlichen Produktion die Wahrheit der abstraktidealistischen

erblickt, kehrt die Vorstellung eines solchen überindividuellen Subjekts

 wieder, wenn er etw a im »K apital« das sich reproduzierende Ganze als

144 Jakob Hommes, Der technische Eros, Freiburg 1955, S. 80.145 Horkh eimer/Ad orno, Dialekt ik der Au fklärun g, a. a. O ., S. 15.146 Vgl. zu diesem Punkt Ad orn o in den Aspekten der Hegelschen Philosophie, wo es heißt:

»Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben durch die geschlossene Universa-lität von gesellschaftlicher A r b e i t F r a n k f u r t 1957» S. 31.

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»Gesamtarbeiter«147 bezeichnet und die individuellen Arbeiten sich ihm

als bloße Organe dieses Gesamtarbeiters darstellen.148

Reale Herrschaft und, nicht nur eine »lange und langwierige Entwicklung

der Philosophie und Naturwissenschaft«149, wie Engels meint, so sehr sie

freilich hinzugehört, bringt den Begriff der Welteinheit zustande. Die

Rede von der Materialität der Welt bedeutet somit gar nichts Positives.

Sie spricht nur naiv den totalen Materialcharakter des natürlich Gege- benen aus. »Das Sein wird« immer schon »unter dem Aspekt der V er-

arbeitung und Verwaltung angeschaut.«150 Was die These von der Raumzeitlichkeit alles natürlichen Seins angeht, so

ist zwa r richtig, daß Raum und Zeit nicht ohne Dinge zu denken sind und

umgekehrt. Für Marx erscheint die Natur nur durch die Formen gesell-

schaftlicher Arbeit hindurch. Darin noch über ihn hinausgehend, hat die

Durkheimschule, obgleich mit großen Schwierigkeiten belastet, nachzu-

 weisen versucht, daß mit den höchsten form alen Bedingungen der

Erkenntnis auch Raum und Zeit gesellschaftlich entsprungen sind.

 Ähnlich steht es um die These von der Bew egung als der Daseinsweise der

Materie. Wie aller Materialismus erkennt auch der dialektische an, daß

die Gesetze und Bewegungsformen der äußeren Natur unabhängig und

außerhalb eines jeglichen Bewußtseins existieren. Dieses Ansich wird

aber nur relevant, insofern es zum Füruns wird, das heißt insofern die

N atu r einbezogen ist in menschlichgesellschaftliche Zw ecke 1S1.Der Engelssche Versuch, den Bereich der vor und außermenschlichen

Natur im Sinne einer rein objektiven   Dialektik zu interpretieren, muß inder Tat zu der von einigen Kritikern152 immer wieder hervorgehobenen

147 Vgl. Das Kapital, Bd. I, S. 533 f.148 Vgl. dazu vo r allem das III. Kapitel.

149 AntiDühring, S. 51.150 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 91. Wenn Heidegger im

Brief über den Humanismus Marx vor allzu »billigen Widerlegungen« durch denHinweis zu verteidigen sucht, daß sein Materialismus nicht in der nackten These besteht,»alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß allesSeiende als das Material der Arbeit erscheint«, so entgeht ihm, daß es sich hier nicht umeine einfache Alternative handelt. Das Verhältnis des vormarxschen zum historischenMaterialismus ist komplexer. Der Marxsche löst den seitherigen Materialismus nichteinfach ab, sondern ist zugleich dessen kritische Selbstreflexion, indem er zeigt, was derSatz »alles ist nur Stoff« in letzter Analyse  bedeutet: alles ist nur Stoff für die jeweils

herrschende Praxis. Zitiert nach M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern1954, S. 87 f.i 5 i Ein Gedanke, der näher ausgeführt wird im Abschnitt A des III. Kapitels.152 Vgl. dazu M erleau Pon ty, der in dem Au fsatz Marxisn\e et philosophie die Frage stellt,

 wie ein Materialismus beschaffen sein müsse, um zugleich im strengen Sinne als dialek-tisch gelten zu können: »On s’est quelquefois demandé avec raison comment un matéria-lisme pouvait être dialectique, comment la matière, si l’on prend le mot à la rigueur,

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Unverträglichkeit von Dialektik und Materialismus führen. Wird die

Materie als in sich dialektisch strukturiert dargestellt, so hört sie auf,

Materie im Sinne der exakten Naturwissenschaft zu sein, auf welche

Engels und seine russischen Nachfolger ihre Ansicht glauben stützen zu

können.

Diskussionen um die Blochsche Philosophie haben gezeigt, daß die Idee

einer Naturdialektik, die sich auch unabhängig von menschlicher Denk-tätigkeit und Produktion vollziehen soll, notwendig zu der pantheistisch

hylozoistisch en Auffassu ng eines »Natursubjekts« führen muß, wom it die

materialistische Position selbstredend verlassen w ir d 153.

Die für Engels wesentlichen Kategorien der Naturdialektik wie Qualität,

Quantität, Maß, Kontinuität, Diskretion etc. sind sämtlich dem ersten

Teil der Hegelschen Logik, der »Logik des Seins«, entlehnt, die Hegel in

der »Propädeutik« bezeichnenderweise noch »ontologische Logik«

nennt. Eine gewissermaßen »vorsubjektive« Dialektik ist dort deshalb

möglich, weil sich im Fortgang der Sache die »Logik des Seins« als

 verm ittelt durch die des »Wesens« und schließ lich durch die des

»Begriffs« erweist,  Natur in Geist, Objektivität gänzlich in Subjektivität

übergeht, was dem Engelsschen Materialismus natürlich verwehrt

ist154.

Entfällt, wie bei Marx, der sich realisierende absolute Begriff als Motor

der Widersprüche und verbleiben als Träger des Geistes einzig geschicht-lich bedingte Menschen, so kann auch von einer eigenständigen Dialektik 

pouvait contenir le principe de productivité et de nouveauté qui s’appelle une dialecti-que.« In: Sens et nonsens, Paris 1948, S. 228. Zur Kritik an der Engelsschen Naturdia-lektik vgl. auch die scharfsinnige Ana lyse von J. P. Sartre, Matéria lisme et révolution. In:Situations, I, Paris 1947. Vgl. ferner Iring Fetscher, Stalin über dialektischen und histori-schen Materialismus, Frankfurt 1956, S. 22, S. 38.

153 Vgl. dazu den von östlicher Seite gegen Bloch geschriebenen Sammelband, Ernst Blochs

Revision des Marxismus, Berlin 1957, dessen Autoren die Engelssche Position gegenBloch auszuspielen versuchen, wobei sie völlig übersehen, daß ihnen in Blochs »Abwei-chung« von der orthodoxen Lehre diese nur in konsequenterer Gestalt begegnet. Selbstder Bloch besonders angekreidete »Teleologismus« h at sein Vo rbild bei Engels. So betontdie Dia lektik der Natur, S. 221, gegen Haeckel, der in diesem Fall der zwa r primitivere,aber strengere Materialist ist: »Daß die Materie das denkende Menschenhirn aus sichentwickelt, ist ihm purer Zu fa ll. . . In Wahrheit aber ist es die N atur der Materie, zurEntwicklung denkender Wesen fortzuschreiten, und dies geschieht daher auch notwendigimmer, wo die Bedingung . . . dazu vorhanden.« Vg l. auch S. 259, wo Engels die Materiesogar als »causa finalis« bezeichnet. Bei Engels, dessen Materiekonzeption sich bemüht,

gleich weit entfernt zu sein von Mechanismus und Vitalismus, was etwa die Frage nachdem Wesen des organischen Lebens angeht, liegt die geheime Spiritualisierung derMaterie nicht so unmittelbar auf der Hand wie bei Bloch, dessen Fortentwicklung desEngelsschen Materiebegriffs im Sinne romantischer Naturspekulation offenbart, was imGrunde auch schon für Engels gilt.

154  Vgl dazu auch Herbert Marcuses Bemerkungen zur Hegelschen Logik und ihrem Verhältn is zum Materialismus. In: Soviet Marxism , a. a. O ., S. 143.

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der den Menschen äußerlichen Natur nicht die Rede sein. Es fehlen hier

alle für Dialektik wesentlichen Momente. Darauf hat als erster in der

Marxforschung Georg Lukäcs in »Geschichte und Klassenbewußtsein«

kritisch hingewiesen: »Die Mißverständnisse, die aus der Engelsschen

Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich darauf, daß

Engels — dem falschen Beispiel Hegels folgend — die dialektische

Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch dieentscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Sub-

 jekt und O bje kt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Verän-

derung des Substrats der Kategorien als G rund lage ihrer Veränderun g im

Denken etc. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.«155

Die der menschlichen Gesellschaft vorausgehende Natur bringt es nur zu

Polaritäten und Gegensätzen einander äußerlicher Momente, bestenfalls

zur Wechselwirkung, nicht aber zum dialektischen Widerspruch. Wie dasHolbachsche, so ist auch das Engelssche »System der Natur« ein System

 bloßer Wechselw irkungen : »Wechselwirkung  ist das erste, was uns entge-

gentritt, wenn wir die sich bewegende Materie im ganzen und großen,

 vom Standpunkt der heutigen Naturw issenschaft betrachten.«156

Die Kategorie der Wechselwirkung aber steht, wie Hegel sagt, »so zu

sagen an der Schwelle des Begriffs«157, das heißt sie steht zwischen dem

kausalmechanischen und dem dialektischbegreifenden Denken. Dem

 vordialektisch en Charakter der N atur selbst entspricht der EngelsscheBegriff von Dialektik, der eigentümlich changiert zwischen der alten

Mechanik und einer strengen Dialektik, wie sie bei Hegel und Marx

 vorliegt.

Da in der Natur selber nur die Keime zur Dialektik angelegt sind,

können die bei Engels über den alten mechanischen Materialismus

hinausweisenden Momente nicht ganz zu ihrem Recht kommen. Gegen-

über dem an sich schon undialektischen blanken Objektivismus, denEngels erkenntnistheoretisch vertritt, erweist sich die Frage, ob die Bewe-

gungsgesetze der Natur mechanischer oder dialektischer Art seien, als

 völl ig sekundär.

Die hier zur Engelsschen Naturauffassung vorgebrachten kritischen

Bemerkungen bedeuten indessen nicht, daß der Begriff einer Dialektik

der Natur schlechthin zu verwerfen wäre. Es ist vielmehr nachzuweisen,

daß die Marxsche Theorie selber schon die Dialektik der Natur enthält,

mit der Engels sie glaubt ergänzen zu müssen. Insofern für Marx alles

1 5 5 Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Diale ktik ,Berlin 1923, S. 17.

1 56  D ialek tik der N atur , S. 246.157 System der Philosophie, I, a. a. O ., Zus atz zu § 1 56, S. 346.

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 II. Kapitel 

Die gesellschaftliche Vermittlung der Natur und die

naturhafte Vermittlung der Gesellschaft

 A ) Natur und'Warenanalyse

Die Natur als das den Menschen gegenüberstehende Material ist Material

als ungeformtes nur im Hinblick auf die Zwecke ihrer Tätigkeit. An sich

ist der Naturstoff, den Marx der Materie gleichsetzt, bereits geformt, dasheißt, er unterliegt physikalischen und chemischen Gesetzen, die von den

Naturwissenschaften in ständigem Kontakt mit der materiellen Produk-

tion ermittelt werden. N ich t obw ohl, sondern gerade weil die Natu rstoffe

eigengesetzlich sind, lassen sich menschliche Zwecke vermittels der

Naturprozesse realisieren. Dabei sind die Inhalte dieser Zwecke nicht

nur historischsozial, sondern ebensosehr durch die Struktur der Materie

selber begrenzt. Stets bleibt es freilich eine Funktion des Standes der

materiellen und intellektuellen Produktivkräfte, welche und in welchemUmfange die der Materie immanenten Möglichkeiten verwirklicht wer-

den können, wie auch die Struktur der Materie keineswegs ein für

allemal feststeht. Ihr Begriff reichert sich vielmehr ununterbrochen an im

 Verlaufe der Geschichte der Naturw issenschaften, die aufs engste verw o-

 ben ist in die der gesellschaftlichen Praxis. Aus diesem Gru nde macht

Lenin den Materiebegriff des dialektischen im Gegensatz zu dem des

mechanischen Materialismus auch nicht abhängig von irgendwelcheninhaltlichen Aussagen, die an einen historisch bestimmten Stand des

naturwissenschaftlichen Bewußtseins gebunden sind, sondern hält wie

Marx daran fest, daß die Menschen, unter welchen geschichtlichen

Bedingungen sie auch leben mögen, sich einer unaufhebbaren dinglichen

 W elt gegenüber sehen, die sie sich, um zu überleben, aneignen müssen.

 Als im Zusammenhan g mit den einschneidenden Neuen tdec kungen der

Physik um die Jahrhundertwende allgemein vom »Verschwinden der

Materie« und der künftigen Unmöglichkeit eines philosophischen Mate-rialismus gesprochen wird, weist Lenin in »Materialismus und

Empiriokritizismus« darauf hin, daß der philosophische Materiebegriff

 von den geschichtlich wechselnden Ansichten der Physiker über die

 Struktur  der Materie nicht berührt wird. »Denn die einzige >Eigenschaft<

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der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus

gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein,  außerhalb

unseres Bewußtseins zu existieren.«1 Nicht der Materialismus überhaupt,

sondern seine traditionelle mechanische Form ist für Lenin hinfällig

geworden. Die Mechanik, jahrhundertelang Totalerklärung der Welt,

 w ird durch den naturw is senschaftl ic hen Fortschritt zum blo ßen M om ent

der Erkenntnis wie der physischen Welt selber herabgesetzt: »>DieMaterie verschwindet< heißt: es verschwindet jene Grenze, bis zu welcher

 w ir die M aterie bisher kannten, unsere Kenntnis d rin gt tiefe r, es

 verschw in den solche Eig enschaften der M ate rie , die frü her als absolut,

unveränderlich, ursprünglich gegolten haben (die Undurchdringlichkeit,

die Trägheit, die Masse usw.) und die sich nunmehr als relativ, nur

einigen Zuständen der Materie eigen entpuppen.«2

Dieser erkenntnistheoretischen Definiton der Materie als der außer-

halb und unabhängig von allem Bewußtsein existierenden objektiven

Re alität entspricht vö llig die schon vo m jun gen M arx in der »Fleiligen

Familie« unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Arbeit gegebene

Materiebestimmung: »Die Materie selbst hat der Mensch nicht geschaf-

fen. Er schafft sogar jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter der

 V orau ssetzun g der M aterie.« 3

Mit ähnlich objektiver Blickrichtung schreibt er in den Pariser Manu-

skripten: »Daß der Mensch ein leibliches,  naturkräftiges, lebendiges, w ir kliches, sinnlich es, gegenständliches W esen ist, heiß t, d aß er wirkli- '   

che, sinnliche Gegenstände   zum Gegenstand seines Wesens, seiner

Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen Gegen-

ständ en sein Leben äuß ern kan n.« 4 — »Ein W esen, welches seine N atu r

nicht außer sich hat, ist kein natürliches,  nimmt nicht Teil am Wesen der

N a t u r . « 5

In durchaus Hegelscher Weise wird hier Natur als  Ä ußerlichkeit   bestim m t. D ie N a tu r hat wesentlich dinglichen C h arak ter. A u ch der

Mensch ist ein Naturding. Eine Ansicht, in der Marx auf allen Stufen

seiner Entwicklung Feuerbach folgt, der bei aller auch ihm gegenüber

anzumeldenden Kritik darin über den herkömmlichen Material ismus mit

1 W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizism us, Mo skau 1947, S. 276.

2 A . a. O .3 H eilige Fam ilie, S. 15 1. Es versteht sich, da ß beide M ateriebestimm ungen A spekte ein

und desselben Sachverhalts sind, nämlich der Einheit von Arbeits und Erkenntnispro-

zeß. Zu dem strengen gegenstandstheoretischen Realismus bei Marx vgl. auch Rohent-

 w u rf, S. 384 und S. 388 f.

4 Nationalökonomie und Philosophie, S. 249.

5 A . a. O ., S. 250.

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seiner vorwiegend mechanischen oder physiologischen Betrachtungs-

 weise hin ausgeht, d aß er M ensch und N a tu r qualitativgegen stän d li ch

 begreift. Für M arx hat Feuerbach gegenüber den »reinen M ate ria liste n«

den Vorzug, »daß er einsieht, wie^auch der Mensch sinnlicher Gegen

stand< ist«6. In seiner Arbeit vergegenständlicht sich der Mensch, ohne

aber damit Naturgegenständlichkeit als solche zu »setzen«. Vermittlung

ist für Marx nicht identisch mit Setzung7. Das menschliche Wesen»schafft, setzt nur Gegenstände, weil es  durch Gegenstände gesetzt ist,

 w eil es von H aus aus  N a tu r   ist. In dem A k t des Setzens fä llt es also n icht

aus seiner >reinen Tätigkeit in ein  Schaffen   des Gegenstandes,  sondern

sein gegenständliches  Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätig

keit,  seine Tätigkeit als einer Tätigkeit eines gegenständlichen natürli-

chen W esens.«8

Erneut aufgenommen werden solche Motive im »Kapital«. Daß die

 A rb eit ein P rozeß zw ischen  D ingen   ist, bildet hier die philosophisch-

materialistische Voraussetzung der ökonom ischen A nalyse: »Der Mensch

selbst, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ist ein Naturgegen-

stand, ein Ding, wenn auch ein lebendiges, selbstbewußtes Ding, und die

 A rb eit selbst is t dingliche  Äuß erun g jener Kraft .«9

 A n anderer Ste lle heißt es von der A rb eitskraft, sie sei »vor allem in

menschlichen Organismus umgesetzter Naturstoff«10. Die Arbeit, selbst

nur Äußerung einer Naturkraft, ist stets auf ein Substrat verwiesen, welches sich in A rb e it n ic ht auflösen lä ßt. A u f dieses natürliche Substrat

der Arbeit geht Marx in systematischer Form wiederum im »Kapital« ein,

und zwar bei seiner Analyse des Doppelcharakters der Ware und der in

ihr vergegenständlichten Arbeit. Die Ware ist eine Einheit entgegenge-

setzter Bestimmungen. Als »Zelle«11 der bürgerlichen Gesellschaft

reflektiert sie in sich die Beziehung von Natur und historischem Prozeß,

 wie sie au f der Stufe avancierter P ro d u k tiv kräfte sich darstellt. Sie

enthält Natur als »Sein an sich« wie als »Sein für anderes«.

 A ls Tau schw ert setzende is t die A rb eit fü r M arx abstraktallgem eine und

gleiche, als Gebrauchswert setzende ist sie konkretbesondere und

 besteht aus den verschiedensten Arbeitsw eis en. D er Tau schw ert ein er

6 D eutsc he Ideo logie , S. 42.

7 Eine solche Identität erkennt Marx in dem emphatischen Hegelschen Be gr iff der »V er-söhnung«, worin in der Tat eine Vermittlung von Widersprüchlichem als ein positiv

Gesetztes erscheint

8 H eilig e Fam ilie, S. 84.9 Da s Kap ital, Bd. I, S. 21 1.

10 A . a. O ., S. 223.

11 W . I. Lenin, Au s dem philosophischen N ac hla ß, Berlin 1954» S. 287.

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 W are enthält absolu t kein en N atu rsto ff. E r is t gegen über ih ren natürli-

chen Qualitäten gleichgültig, weil in ihm als der Verkörperung menschli-

cher Arbeit überhaupt, gemessen durch die verausgabte Zeit, al le Natur-

 bestim m theiten ausgelö scht s in d 12. Ist der T au sch w ert ein e fü r die

 b ü rgerliche P ro d u ktion sform typisch e »übernatü rliche E ig ensch aft«13,

so tritt uns in den Gebrauchswerten die Ware in ihrer »hausbackenen

Naturalform«14 entgegen. An ihr ist die vorliegende Untersuchung ihrer A u fgab e gem äß beso nders interessiert . G ebrauchsw erte sind durch

 beso ndere zw eckgerichtete T ätig k e it verm ittelte beso ndere N atu rstoff e,

die der Befriedigung besonderer menschlicher Bedürfnisse dienen. Näher

 bestim m t M arx sie so: »D ie G ebrauchsw erte R ock, L ein w an d usw., kurz

die Warenkörper, sind Verbindungen von zwei Elementeny  Naturstoff

und Arbeit. Zieht man die Gesamtsumme aller verschiednen nützlichen

 Arbeiten ab, die in R ock, L einw and usw . steck en , so bleibt stets ein mate

i rie lles Substrat zurück , das ohne i u t u n   des Menschen von Natur

 vorhanden is t.« 15

 W ie die A rb e it der form ale , so ist der N a tu rs to ff der m ateria le »W ert-

 bildner«. W obei nach dem bereits über den C h arak te r der A rbeit

Gesagten die Trennung von Naturstoff und Arbeit keine absolute sein

kann. Am einzelnen Gebrauchswert mag sich noch in abstracto scheiden

12 Vg l. dazu D as K ap ital, Bd. I, S. 88, w o es heißt: »D a Tausc hw ert eine bestimm te gesell-

schaftliche Manier ist, die auf ein Ding verwandte Arbeit auszudrücken, kann er nicht

mehr N atu rsto ff enthalten, a ls etwa der Wechselkurs.* 13 A . a. O ., S. 62.

14 A. a. O., S. 52.

15 A .a .O . , S . 47. Zum Naturalm om ent der Arb eit vgl . auch die K rit ik des Gothaer

Program m s, S. 17, wo die N at u r als »erste Quelle aller Arbe itsmittel und Gegenstände«

 bezeic hnet wir d. M it R ech t w endet sich hie r M arx gegen die ideolo gis ch e Form ulieru ng

des ursprünglichen Program m entwu rfs, daß die Arbeit »die Quelle alles Reichtums und

aller Kultur« sei. »Denn aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, derkein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts und Kulturzu-

ständen der Sklave der anderen Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegen-

ständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbei-

ten, also auch nur mit ihrer Erlaubnis leben.« Zur Interpretation der Rolle der Natur in

der Krit ik des Go thaer Programm s vgl . Th. W . Adorn o, Aspekte der Hegelschen Philo-

soph ie, a. a. O ., S. 28, und W. B enjam in, Sch riften , Bd . 1, Fr an kfu rt 195 5, S. 500 f. Au chin der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie findet sich auf S. 30 der Gedanke,

daß die Arbeit keineswegs als einzige Quelle des stofflichen Reichtums gelten könne: »Da

sie die T ätig k eit ist, das Sto ffliche für diesen oder jenen Zw eck anzue ignen , bed arf sie des

Stoffes als Voraussetzung.« Die Vorstellung, daß die Arbeit einzige Quelle des Reich-tums sei, gehört zu dem die Zirkulationssphäre insgesamt kennzeichnenden ideologi-

schen Schein. In der Zirkulationssph äre entsteht der Tru g, d aß alle Elemente des Produk-

tionsprozesses der Warenzirkulation entstammen: »Diese einseitige Auffassung über-

sieht die von den Warenelementen unabhängigen Elemente des Produktionsprozesses.«

In: Das Kapital, Bd. II, S. 94. Auch hier hat Marx das der Gesellschaft vorgegebene

Naturmaterial im Auge. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, a. a. O., S. 11.

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lassen, was auf Arbeit, also tätige Menschen, zurückgeht und was als

»materielles Substrat« der Warenkörper naturgegeben ist. Was aber die

Erfahrungswelt im ganzen angeht, so ist hier eine Trennung des Natur-

stoffs von den praktischgesellschaftlichen Weisen seiner Veränderung

real nicht durchführbar. In welchem quantitativen und qualitativen Ver-

hältnis Mensch und Naturstoff am Zustandekommen der Arbeitspro-

dukte beteiligt sind, ist für Marx generell nicht zu entscheiden. Daßdieses Verhältnis nicht formelhaft fixierbar ist, macht eben den Prozeß

der Momente zu einem dialektischen16. Einmal erzeugt, steht die Welt

der aus A rbe it plus N atu rsto ff zusamm engesetzten Gebr auchsw erte —

 verm enschlichte N a tu r — den Mensch en eben so als ein O bje ktives, als ein

 von ihnen u n abh än gig Dase ie ndes gegenüber, w ie der m enschlich noch

nicht durchdrungene Naturstoff in seiner ersten Unmittelbarkeit.

Dadurch, daß menschliche Produktivkraft als intel lektuelle wie prakti-sche dem Naturstoff sich aufprägt, wird dessen bewußtseinsunabhängiges

Dasein nicht so sehr aufgehoben wie vollends bestätigt. Die bearbeiteten

Naturstoffe bleiben Bestandteile der sinnlichen Welt: »Die Form des

H olzes z. B. w ird verän dert, wenn man aus ihm einen Tisch m acht.

Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches

Ding.«17

 A u f im m er höheren Stufen der Produktio nsprozesse ste llt sich die n atur-

hafte Unmittelbarkeit — jetzt als menschlich vermittelte — wieder her.Eben diesen Zusamm enhang hat M arx im A uge, w enn er sagt: »Während

des Arbeitsprozesses setzt sich die Arbeit beständig aus der Form der

Unruhe in die des Seins, aus der Form der Bewegung in die der Gegen-

ständlichkeit um.«18

Im dinghaftfertigen Resultat der Arbeit erlischt die es vermittelnde

Bewegung, wie es umgekehrt, sofern es in weitere Prozesse eingeht,

 w iederum zum blo ßen M om ent verm itteln der B ew egung herabgesetzt w ird. W as a u f ein er Produktio nsstufe ein U nm ittelb ares ist, ist a u f ein er

anderen ein Vermitteltes: »Wenn ein Gebrauchswert als  Prod u kt   aus

dem Arbeitsprozeß herauskommt, gehn andre Gebrauchswerte, Produkte

früherer Arbeitsprozesse, als  Prod uktio nsm ittel   in ihn ein. Derselbe

Gebrauchswert, der das Produkt dieser, bildet das Produktionsmittel

 je ner A rbeit. Produ kte sind daher n icht nur das Resultat, sondern

zugleich  Bedin gung  des A rbeitspro zesses.«19

16  Vg l. dazu auch De utsche Ideologie, S. 41.

17 D as K ap ital, Bd. I, S. 76.18 A . a. O ., S. 197.

19 A. a. O., S. 189.

*3

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Diese den Arbeitsprozeß definierende »Vergegenständlichung als Entge

genständlichung«20 hat darüber hinaus noch einen allgemeineren theo-

retischen Gehalt. Im Gegensatz zu dem, was die Engelssche Feuerbach-

schrift behauptet, daß nämlich »die Welt nicht als ein Komplex von

fertigen  D in gen   zu fassen ist, sondern als ein Komplex von  Prozessen«21, 

 b ild et fü r M arx das dia lektis che Prozeßdenken zum verd inglichten

Bewußtsein keine abstrakte Alternative. Wie man die Dinge nicht meta-

physischstarr als fertig und unveränderlich ansehen darf, ohne in einen

Irrtum zu verfallen, so darf man sie umgekehrt auch nicht restlos in die

Momente der sie vermittelnden gesellschaftlichen Prozesse auflösen, was

den gleichen metaphysischen Fehler mit umgekehrten Vorzeichen bedeu-

ten würde. Es kommt vielmehr darauf an, die konkrete Dialektik von

Unmittelbarkeit und Vermitteltheit des dinglichen Seins in ihrer jeweili-

gen Gestalt zu entfalten.Insbesondere an die im »Kapital« im Abschnitt über den »Fetischcha-

rakter der Ware und sein Geheimnis«22 angestellten Erwägungen haben

sich idealistische Feh linterpretationen angeschlossen. M ar x zeig t hier,

daß die kapitalistische Produktion, indem sie die Arbeitsprodukte in

 W aren überfü hrt, den zugrunde lieg enden gesellschaftl ic hen V erh ältnis-

sen eine »gespenstige Gegenständlichkeit«23 verleiht, wobei die Waren-

form der Arbeitsprodukte »mit ihrer physischen Natur und den daraus

entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen hat.

Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst,

 welches hier für sie die phantasm agoris che Form vo n D in gen

annimmt.«24 Indem die Arbeitsprodukte zu Waren werden, verkör-

pern sie nicht länger den lebendigen Austausch der Menschen mit der

Natur, sondern treten als tote und dinghafte Realität auf, als objektive

Notwendigkeit, von der das menschliche Leben wie von einem blinden

Schicksal beherrscht wird.Getäuscht durch den »gegenständlichen Schein«25, der auf die gesell-

schaftl iche Verwandlung der Arbeitsprodukte in Waren zurückgeht,

haben die Ökonomen weitschweifige und dem Wesen der Sache nach

unergiebige Erörterungen über die Rolle der Natur bei der Bildung des

Tauschwerts angestellt, wobei sie das wirkliche Verhältnis von

20 Nationalökonomie und Philosophie, S. 243.21 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie,

S. 42.

22 D as Ka pit al, Bd. I, S. 76—89.23 A . a. O ., S. 42.

24 A . a. O ., S. 78.

25 A . a. O ., S. 88.

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Gebrauchswert und Tauschwert verkehrten. Dem falschen Bewußtsein

stellt es sich so dar, daß »der Gebrauchswert der Sachen unabhängig von

ihren sachlichen Eigenschaften, dagegen ihr Wert ihnen als Sachen

zukommt«26. Die Naturbestimmtheit der Ware erscheint als gesell-

schaftliche, ihre gesellschaftliche als ihr anhaftende Naturbestimmtheit.

Die Ökonomen sind verdutzt, »wenn bald als gesellschaftliches Verhält-

nis erscheint, was sie eben plump als Ding festzuhalten meinten, unddann w ieder als D in g sie neckt, was sie kau m als gesellschaftliches

 V erhältnis fix iert hatte n.« 27

Gesellschaftlich ist die Produktion immer. Immer ist sie »Aneignung der

Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelst   einer

 bestim mten G esellschaftsform «28, wenn auch die Indiv id uen zunächst

unabhängig voneinander ihren Privatarbeiten nachgehen. Der

Gebrauchswert der von ihnen erzeugten Dinge realisiert sich ohne

 Austa usch »im unm ittelb aren V erhält nis zw is chen D in g und M ensch«29.

Der gesellschaftl iche Charakter der voneinander unabhängig betriebe-

nen Privatarbeiten offenbart sich dagegen erst im Austausch der Arbeits-

produkte, das heißt im gesellschaftl ichen Gesamtprozeß. Die vorbürger-

lichen Produktionsformen, deren Wesen in persönlichen Abhängigkeits-

 verhältnissen zw is chen den M ensch en besteht, sind durchsichtig genug,

um zu verhindern, daß »Arbeiten und Produkte. . . e ine von ihrer

Realität verschiedne phantastische Gestalt«30 annehmen. Die Arbeits-produkte werden nicht zu Waren. Die »Naturalform der Arbeit«31 als

konkretbesondere und nicht die Arbeit als abstraktallgemeine und glei-

che stellt hier die G ru nd form gesellschaftlicher A rbe it dar.

Die spezifisch Marxsche Entdeckung, daß historische Verhältnisse in der

 W arenfo rm versach lich t w erden, kann zu dem id ealistischen M iß v er-

ständnis führen, M ar x habe alle ökon om ischen Katego rien a ufgelöst in

Beziehungen von Menschen, es gebe daher in der Welt keine leibhaftig-materiellen Dinge, sondern nur Beziehungen und Prozesse32. Zweifellos

ist es ein Hauptmotiv der Marxschen Analyse, die zu Dingen verfestigte

Oberfläche der ökonomischen Realität zu durchstoßen, um zum dahinter

26  A. a. O., S. 89.

27 Zu r Kr itik der politischen Ökon om ie, S. 28.

28 A .a .O ., S. 241. Z ur gesellschaftlichen Bestimm theit jeder menschlichen Na turan eig

nung vgl . auch Lohn arbeit und Kap ital. In: öko nom ische A ufsätze, S. 27 f.29 Das Kapital, Bd. I, S. 89.30 A. a. O., S. 83.

31 A. a. O.

32 So an einigen Stellen bei Bloch, dessen stark vom frühen Lukäcs inspirierte Kritik am

 bürg erl ic hen »W ar endenken« in die G efa h r ein er Pre isgabe der m ateria listischen Posi-tion gerät.

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stehenden Wesen, den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen,

 vorzu d rin gen. W obei allerdin gs diese Bezie hungen für M arx , w ie schon

ausgeführt, keineswegs ein Letztes bedeuten. Gerade die Analyse des die

Zirkulationssphäre tragenden Produktionsprozesses ergibt, daß die

menschliche Arbeit durchaus nicht den einzigen »Bildner« stofflichen

Reichtums darstellt. Die Daseinsweise der abstraktallgemeinen Arbeit,

ihre »Erscheinungsform«33 ist stets die konkretbesondere und setzt einauf menschlichgesellschaftliche Bestimmungen irreduzibles Natursub-

strat voraus. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind durch Naturdinge

 verm ittelt und um gekehrt. Ständig sind sie solche der M ensc hen »zuein -

ander und zur Natur«34.

Sowenig sich Natur in die Momente eines metaphysisch gefaßten »Gei-

stes« auflösen läßt, so wenig geht sie auf in den historischen Weisen ihrer

praktischen Aneignung. Dieser neuhegelianisch»aktualistischen« An-

sicht verfällt Lukäcs in seiner im übrigen für die Geschichte der Marxin-

terpretation bedeutsamen Schrift »Geschichte und Klassenbewußtsein«.

Im Zusammenhang mit seiner ausführlichen Erörterung der philosophi-

schen Aspekte des Warenfetischismus kommt er auch auf den Marxschen

Naturbegriff zu sprechen: »Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie,

d. h. was auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung

als Natur gilt, wie die Beziehung dieser Natur zum Menschen beschaffen

ist und in welcher Form seine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, also was die N a tu r der Form und dem Inhalt , dem U m fan g und der G egen -

ständlichkeit nach zu bedeuten hat, ist stets gesellschaftlich bedingt.«35

Lukäcs weist mit Recht darauf hin, daß alles Naturbewußtsein wie die

erscheinende Natur selber historischsozial bedingt sind. Natur ist aber

für Marx nicht nur  eine gesellschaftliche Kategorie. Sie läßt sich nach

Form, Inhalt, Umfang und Gegenständlichkeit keineswegs ohne verblei-

 benden Rest in die his to rischen Prozesse ih rer A n eign u n g auflösen. Ist

Natur eine gesellschaftliche Kategorie, so gilt zugleich der umgekehrte

Satz, daß Gesellschaft eine Naturkategorie darstel lt . Obwohl für den

Material isten Marx die Natur und ihre Gesetze unabhängig von al lem

menschlichen Bewußtsein und Willen bestehen, lassen sich Aussagen über

sie überhaupt nur mit Hilfe gesellschaftlicher Kategorien formulieren

und anwenden. Ohne die menschlichen Anstrengungen zur Beherrschung

der Natur ist der Begriff der Naturgesetze undenkbar. Die gesellschaft

33 D as Ka pit al, Bd . I, S. 64.34 A . a. O ., S. 85.

35 Ge org Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische D ialektik,Berlin 1923, S. 240.

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l iehe Geprägtheit der Natur und ihre Eigenständigkeit bilden eine

Einheit, innerhalb deren die Subjektseite durchaus nicht die ihr von

Lukäcs zugeschriebene »erzeugende« Rolle spielt36. Die durch menschli-

che Arbeit »filtrierte«37, nicht eigentlich hervorgebrachte Stoffwelt

 ble ib t jenes vo n M arx so oft hervorgehobene » S u b s tr a t ... , das ohne

Zutun des Menschen... vorhanden ist«38. Es handelt sich daher auch bei

der von Marx ins Auge gefaßten theoretischen und praktischen Aufhe- bung der E ntfrem du ng nicht so sehr darum , wie H egel, die G egenständ -

lichkeit als solche, sondern ihren entfremdeten Charakter aufzuheben39.

In seiner Phänomenologie durchschaut der Hegelsche Geist auf immer

höheren Stufen seiner Entwicklung die ihm zunächst äußerliche Welt der

Gegenstandsformen als ein Scheinhaftes, als ein von ihm selber Gesetz-

tes, bis er schließlich im absoluten Wissen in der Reflexion auf die Tota-

lität der von ihm durchlaufenen Momente restlos aus seiner Entäußerung

in sich zurückkehrt. Marx, der mit Feuerbach den Geist einzig als den

endlicher und vergänglicher Menschen versteht, kritisiert deshalb Hegels

Philosophie als gigantischen Subjektivismus, bei dem das absolute Selbst-

 bewußtsein aller G egenständ lichkeit zu G runde liegt40. D ie Hegelsche

36  So kritisiert Siegfried Marek in seiner Schrift Die Dialektik in der Philosophie der

Gege nw art, i . H albban d, Tübingen 1929, auf S. 131 die Darstellung des M arxschen

Naturbegriffs bei Lukäcs, wobei er mit Recht die Frage stellt, »ob das Sein der Natur

restlos als G esellscha ftspro du kt aufzufassen« sei.

37 D as Ka pital, Bd. I, S.' 186.38 A . a. O ., S. 47.

39 Vgl. dazu die Marxsche Kritik am Hegelschen Begriff des absoluten Wissens in dem

Pariser Manuskript Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt. Zur

Marxschen Kritik und Deutung von Hegels Phänomenologie vgl. besonders G. Lukäcs,

Der junge Hegel, Berlin 1954.

40 Eine Kritik, die freilich nicht nur am strengen H ege l der Phänom enologie gewon nen ist.

M arx hat es gerade während der Entstehungszeit seiner Theorie w eniger mit dem H ege l-

schen Idealismus selbst als mit seiner junghegelianischen Verzerrung zu tun. Bei Bruno

Bauer und seinem An han g w ie bei den »wahren Sozialisten« läßt sich die Tend enz nach

 weise n, H egels »Geist« a u f ein bein ah e fich tisch gefa ßtes unendlich es Selb st bew ußts einzu reduzieren. So auch bei Karl Grün, dessen extremen Subjektivismus Marx und Engels

in der Deutschen Ideologie kritisieren, wo es auf S. 495 f. heißt: »Wir sehen hier übri-

gens, was die >wahren S o zia list en   unter der »freien Tätigkeit« verstehen. Unser Verfasser

 verrä t un s unvorsic htigerw eis e, daß sie die T ä tig k e it ist, die »nicht durc h die D in ge außer

uns bestimmt wird«, d. h. der actus purus, die reine, absolute Tätigkeit, die nichts als

Tätigkeit ist und in letzter Instanz wieder auf die Illusion vom »reinen Denken« hinaus-

läuft. Diese reine Tätigkeit wird natürlich sehr verunreinigt, wenn sie ein materielles

Substrat und materielles Resultat h a t. . . « D aß die an dieser Stelle kritisierte Position

nicht einfach m it der Hegelschen gleichzusetzen ist, l iegt auf der H and. Wenn auch M arx

in seiner Polemik gelegentlich den Hegelschen Idealismus ohne große Umstände mit demder Junghegelianer in einen T o p f wirft, so bleibt ihm letztlich doch die wesentliche D iffe-

renz des objektiven von den Spielarten des subjektiven Idealismus bewußt. So, wenn er

etwa in der H eiligen F am ilie au f S. 341 schreibt: »Es versteht sich endlich von selbst, daß, wen n H egels Ph än om enolo gie ih rer sp ekula tiv en Erbsünde zu m T ro tz an vie le n Punkte n

die Elemente einer wirklichen Charakteristik der menschlichen Verhältnisse gibt, Herr

Bruno und Konsorten dagegen nur eine inhaltslose Karikatur l iefern . . .«

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Spekulation kümmert sich weniger darum, daß das menschliche Wesen

sich in einer ihm selbst entgegengesetzten Weise verg egen ständ licht

Marx denkt hier an die reale Trennung der Arbeitsprodukte von ihren

Produzenten , sondern daß es »im Unterschied vom und im Gegensatz

zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und

als das aufzuhebende W esen der E ntfremd ung «41.

Im Gegensatz dazu besteht für Marx die Aufhebung der Entfremdungnicht in Philosophie, sondern im Sozialismus als der höchsten Gestalt

realer Vermittlung von Mensch und Natur, wobei deren Gegenständlich-

keit nicht einfach verschwindet, sondern das Äußerliche, Anzueignende

 ble ib t, auch wenn es den Mensch en ad äqu at w ird. A rbeiten müssen die

Menschen immer: »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche  

 A rbeit, ist die A rb eit daher eine von allen G esellschaftsfo rm en u nabhän-

gige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um

den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche

Leben zu vermitteln.«42

In stärkerem Maße noch bedient Marx sich im »Rohentwurf«43 des

41 Na tiona löko no m ie und Philosophie, S. 24 1, vg l. auch S. 244.42 D as Ka pita l, Bd. I, S. 47.

43 D ie unter dem Tite l Grundrisse der K ritik der politischen Ö kon om ie herausgebrachten

 Vorarbeiten zu m ersten Band des K a p ita ls so wie zu der Schrif t Z u r K ritik der politisch en

Ökonomie aus den Jahren 1857—59 wurden bislang für das philosophische Marxver-

ständnis fast gar nicht herangezogen, obwohl sie gerade hinsichtlich der Beziehung von

Marx zu Hegel und — vermittelt durch Hegel — zu Aristoteles außerordentlich viel neues

M aterial enthalten. Entwicklun gsgesch ichtlich gesprochen, stellen sie das Bindeglied dar

zwischen den Pariser Manuskripten und der ausgebildeten materialistischen Ökonomie

des reifen Marx. Der Rohentwurf, der trotz seines teilweise fragmentarischen Charakters

zweifellos die philosophisch bedeutendsten Formulierungen von Marx enthält, macht

mehr noch als die endgültige Fassung des Kapitals selbst deutlich, daß gerade auch dasDenken des späteren Marx stärker von Hegelschen Positionen bestimmt ist als er selbst

 W o rt habe n w ollte . Ein Stu diu m des R ohentw urf s kann insbes ondere zum A bbau derheute die Marxforschung erheblich belastenden Legende beitragen, nach der nur dasDenken des »jungen Marx« philosophisch von Interesse sei, während die spätere ökono-

mische Sachproblematik alle Impulse des realen Humanismus verschüttet habe. Ein

 be so nd ers ch arak te ris tisch es Beis pie l fü r die unhaltbare These, d aß zw is ch en dem

Denken des jungen und des reifen Marx ein absoluter Bruch bestehe, liefert Ralf Dahren-

dorf in seiner Dissertation Marx in Perspektive, Hannover 1952, S. 165 f . Für Dahren-

do rf fällt das Marxsche W erk »in zwei durch keinen sinnvollen prinzipiellen Zusamm en-

hang verknüpfbare Teile« auseinander. Er unterscheidet eine »prophetische Geschichts-konzeption« der Frühzeit von den »sozialwissenschaftlichen Hypothesen« des mittleren

und reifen Marx. Dahrendorf übersieht, daß die wesentlichen Kategorien der MarxschenD ialektik gerade im Spätw erk en tfaltet werden und es für eine objektive Interpretation

nur darauf ankommt, sie aus ihrer ökonomischen Verkleidung herauszulösen. Indem die

offizielle Interpretation, Marx scheinbar ernstnehmend, auf dem »ethischen Kern«, dem

»existentiellen Anliegen« der Theo rie des jungen M arx insistiert, verba ut sie zugleich denBlick a uf die gerade hinsichtlich einer Verwirklichung des vom jungen M arx Gemeinten

 be deu tsam e A naly se des Gesa m tp ro zesses kapit alisti scher Produktio n.

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»Kapitals« philosophischer Kategorien, w o er den unauflösbaren Zu sam -

menhang von Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Naturseins von

Menschen entfaltet.

In ihrer formgebenden und zweckmäßigen Tätigkeit gehen die Menschen

über die naturwüchsige, noch abstrakte Unmittelbarkeit des stofflichen

Daseins hinaus. G an z im Sinne Hegels versteht M arx die produ ktive

Tätigkeit zugleich als eine Konsumtion44, ein Verzehren, sowohl des bearbeiteten M ate ria ls als auch der T ä tig k e it selber. A rb e it ist die nic ht

nur gedankliche, sondern leibhaftige Negation des Unmittelbaren, eine

Negation, die ebensosehr Negation der Negation ist, insofern sich,

nachdem die Menschen theoretischpraktisch durch die Naturstoffe hin-

durchgegangen sind, deren materielle Gegenständlichkeit jeweils wieder-

herstellt.

Der Produktionsprozeß hat drei abstrakte Momente. Die Materie, die insich unterschieden ist in Rohstoff und Instrument, und die Form, welche

als Arbeit eine stoffliche Beziehung selber stofflicher Momente darstellt.

Nicht nur der bearbeitete Rohstoff, sondern auch das auf ihn angewen-

dete Instrument wird durch die Arb eit aus der M öglichke it in W irklich-

keit übersetzt und durch seine Beziehung zum Material aufgezehrt. Im

»neutralen Produkt«45 der Arbeit sind die drei Momente des Prozesses

ebensosehr vernichtet wie reproduziert: »Der ganze Prozeß erscheint

daher als  p rod u ktive K onsum tio n ,  d. h. als Ko nsu m tion, d ie wed er im

 N ichts   endet, noch in der bloßen Subjektivierung des Gegenständlichen,

sondern die selbst wieder als ein Gegenstand   gesetzt ist. Das Verzehren

ist nicht einfaches Verzehren des Stofflichen, sondern Verzehren des

 Verzehrens selbst; im A u fheben des Stofflich en A ufheben dieses A u fh e-

 bens und daher  Setzen   desselben. Die  Form gebende   (Gro ßschr . b. M .,

 A . S.) T ätig ke it verzeh rt den G egensta nd und verzeh rt sich selbst, aber

sie verzehrt nur die gegebne Form des Gegenstands, um ihn in neuergegenständlicher Form zu setzen, und sie verzehrt sich selbst nur in ihrer

subjektiven Form als Tätigkeit. Sie verzehrt das Gegenständliche des

Gegenstandes — die G leichg ültigk eit gegen die Form — und das Sub jektive

der Tätigkeit, formt den einen, materialisiert die andre. Als  P rod u kt   ist

aber das Resultat des Produktionsprozesses Gebrauchswert.«46

44 V gl. dazu auch Das K apita l, Bd. I, S. 191. Z ur D ialektik von Kon sum tion und Pro du k-

tion vgl. besonders Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 244—249. Bemerkenswertist, daß sich Marx, wo er die Identität von Konsumtion und Produktion entwickelt, der

außermenschlichen Natur als eines Modells bedient. Auf S. 244 sagt er: »Die Konsum-

tion ist unmittelbar auch Pro duk tion, wie in der N atu r die Konsum tion der Elemente undder chemischen Stoffe Produktion der Pflanze ist.«

45 Ro hen tw urf, S. 208.46 A. a. O.

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 A lle durch A rb e it angeeig neten N atu rsto ffe sind G ebrau chsw erte. A ber

nicht alle Gebrauchswerte sind angeeignete, das heißt menschlich vermit-

telte Naturstoffe. Luft, Wasser und dergleichen sind wie alle Natur ohne

Zutun des Menschen vorhanden. Ihr für den Menschen nützlicher

Charakter verdankt sich jedoch keiner Arbeit. Im allgemeinen ist das

 A rbeitsm ittel, das Produktio nsinstrum ent, »ein D in g oder ein K om ple x

 vo n D ingen, die der A rb eiter zw is chen sich und den Arbeits gegenstandschiebt, und die ihm als  L eit er   seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand

dienen«47, selber bereits Gebrauchswert, eine »Verbindung von

N atu rst o ff und menschlicher Ar be it«48. D a aber ursprüng lich der Arb eits-

prozeß nur zwischen den Menschen und der Erde als dem »allgemeinen 

Gegenstand »49   der Arbeit vonstatten geht, gehen in ihn immer auch

Produktionsmittel ein, die nicht schon selber Produkte sind, also keine

 V erbindun g des N atu rstoffs m it m enschlicher Z u tat darstellen, obw ohl

alle Natur einzig im jeweiligen historischen Rahmen gesellschaftlicher

Prozesse bedeutsam wird. Sie bringen Gebrauchswerte hervor, ohne

zugleich Tauschwerte hervorzubringen.

 A lle A rb e it hebt dam it an, die D in ge v o n ihrem »unm itte lb aren Zu sam -

m enhang mit dem Erd gan zen loszulösen«50, H o lz zu fällen, E rz aus

seiner Ader zu brechen. Die meisten Arbeitsgegenstände, mit denen es

die Menschen zu tun haben, sind jedoch durch frühere Arbeit bereits »fil-

triert«51. Sie sind »Rohmaterial«. Die Rohmaterialien können nunals »Hauptsubstanz« oder als »Hilfsstoff«52 zur Bildung eines Produkts

 beitragen. O b ein G ebrau chsw ert als R ohm aterial, A rbeit sm ittel oder

Produkt fungiert, hängt ganz von der Rolle ab, die er im Arbeitsprozeß

spielt.

Z u seiner eigentlichen Bestim m ung gelangt ein G ebrau chsw ert, indem er

negiert w ird. In der K on sum tion b ew ährt er sich. W ird er als bereits bear-

 beiteter S to ff w eiteren P rodu ktion sp rozessen zu gefü h rt, so erw eist er sichals ein gleichsam noch >unwahres Dasein< der Natur für den Menschen,

als ein noch nicht genügend mit ihm Vermitteltes, seinen Bedürfnissen

noch nicht hinreichend Angemessenes. Die in ihm bereits vergegenständ-

lichte, dinghaft erstarrte Arbeit wird, sofern der Stoff, in den sie einge

47 D as Ka pital, Bd. I, S. 187. V gl. dazu auch S. 189, wo M arx ausdrü cklich sagt: »W as aber

die  A rbeit sm itte l  insbesondere betrifft, so zeigt ihre ungeheuere Me hrzah l dem ob erfläch-lichsten Blick die Spur vergangner Arbeit.«

48 A . a. O ., S. 192.

49 A . a. O ., S. 186.

50 A. a. O.

51 A . a. O .

 j2 A . a. O ., S. 189.

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gangen ist, weiterer Bearbeitung unterworfen wird, wieder verlebendigt,

 w obei die alte verm ittelte U n m ittelb arkeit, sich in neuen, re ichere n

Gebrauchswerten53, »vermittelteren Unmittelbarkeiten« aufhebt,

in ihnen untergeht: »Die lebendige Arbeit muß diese Dinge ergreifen, sie

 von den Toten erw ecken, sie au s nur m öglichen in w irklich e und

 w irkende G ebrauchsw erte verw andeln . V om Feuer der A rb e it beleckt,

als Leiber derselben angeeignet, zu ihren begriffs und berufsmäßigenFunktionen im Prozeß begeistet, werden sie zwar auch verzehrt, aber

zweckvoll, als Bildungselemente neuer Gebrauchswerte, neuer Produkte,

die fähig sind als Lebensmittel in die individuelle Konsumtion oder als

Prod uktionsm ittel in neuen Arb eitspro zeß einzugehen.«54

 V erzeh rt die in dividuelle K on su m tion die G ebrau chsw erte als L ebens-

mittel des lebendigen Individuums, so verzehrt sie die produktive

Konsumtion als »Lebensmittel der Arbeit, seiner sich betätigenden A rb eitskraft«55. U m die P ro d u k te vergangener A rb e it in ih rem din gli -

chen Sein als Gebrauchswerte zu erhalten, ist es erforderlich, daß sie

 w eiterhin in K o n ta k t m it lebendig er A rb eit stehen, d aß sie als Resultate

 wie E xistenzbedingun gen des Arbeitsprozesses in ih n »hin ein gew or-

fen«56 werd en, wie M ar x sich ausdrü ckt.

 W erden die in einem G ebrau chsw ert steckenden M öglich keiten w eder im

Sinne individueller noch produktiver Konsumtion realisiert, wird er also

nicht im Dienste menschlicher Zwecke benutzt, so fällt er dem »natürli-

chen Stoffwechsel«57 anheim. Die sich auf der Basis der ersten erhebende

zweite, künstliche, vermenschlichte Natur verwandelt sich in erste Natur

zurück, die »Umsetzung« der Naturstoffe durch Menschen wird durch

die zerstörende Kraft außermenschlicher Natureinflüsse rückgängig

gemacht. Jeder Autofriedhof bestätigt den Marxschen Gedanken, daß

»die beständige Auflösung des Individualisierten (das heißt hier mensch-

lich Angeeigneten, A. S.) in das Elementarische ebensosehr ein Momentdes Naturprozesses ist, wie die beständige Individualisierung des Ele

mentarischen«58.

53 V gl. auch Ro hen twu rf, S. 267.54 D as K apital, Bd. I , S. 191. D ie Weiterverarbeitung vo n Gebrauchswerten, die

fortgesetzte Umwandlung der mineralischen, pflanzlichen, tierischen und menschli-chen Natur — als Resultat wie Bedingung der Veränderung der außermenschlichen —

kann sich über größ ere Zeiträu m e erstrecken. D azu heißt es au f S. 189: »Tiere und Pflan -

zen, die man als Na turp rod uk te zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht

der Arbeit von vorigem Jahr, sondern, in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch vie le G enerati onen, unte r m en sc hlicher K on tr olle, verm itt els t m en sc hlicher A rb eit fo rt-

gesetzten U mw andlung.«5 5 A . a. O ., S. 192.

56  A. a. O., S. 191.57 A. a. O.

58 Ro hen twu rf, S. 11 6.

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M arx deutet diesen natürlichen Z erfa ll der nich t zu m enschlichen

Zwecken negierten Gebrauchswerte noch auf eine andere, philosophisch

nicht minder relevante Weise. Bei unseren seitherigen Erörterungen

haben w ir imm er wieder angeführt, da ß für M arx die Gebrauchswerte

 V erbin dungen von zw ei Elem ente n sind, vo n N a tu rs to ff und form ieren-

der Arbeit. Zwar hat die Natur »schlummernde Potenzen«59, zwar sind

die ihr eigenen Formen menschlicher Formierung zugänglich, doch wird bei M arx der N a tu r und M ateriebegriff, den der vorm enschlichen N a tu r

miteingeschlossen, nicht in ein »halbmythisches Na turs ub jekt« 60 ver w an -

delt, wodurch er zur Hegelschen Identität von Subjekt und Objekt

zurückkehrte, die er doch gerade materialistisch kritisiert. Das Weltma-

terial Natur, Subjekt wie Objekt der Arbeit umfassend, ist kein homo-

genes Substrat. Das Moment ihrer Nichtidentität hält sich, gerade auf

G run d der Arbeit, die doch andererseits Sub jekt und O bje kt auch verbin-det, unter allen gesellschaftlichen Bedingungen durch. Was die physische

Natur selbst angeht, so kann nur eine eschatologisch orientierte Meta-

physik wie die Blochsche davon sprechen, »daß ihr Bedeutungsgehalt. . .

in der Zeit noch nicht erschienen« sei, daß er »gleich dem der Menschen

noch in utopischer Latenz«61 stehe.

Nichtidentität von Subjekt und Objekt bedeutet, bezogen auf das hier

diskutierte Problem, daß die menschliche Form den Naturstoff gegen-

über gleichgültig, äußerlich bleibt, was sich eben dann besonders bem erkbar m acht, w enn ein G ebrau chsw ert dem natürlichen Z e rfa ll aus-

gesetzt wird.

Marx hebt diese Gleichgültigkeit von Form und Stoff energisch hervor,

 w obei er a u f den U nterschied der naturw üchsig en G eform th eit des S tof-

fes, von der alle Arbeit auszugehen hat, von seinen menschlich vermit-

telten Formbestimmtheiten zu sprechen kommt: »Aus (der) bloß verge-

genständlichten Arbeitszeit, in deren dinglichem Dasein die Arbeit nurnoch als verschwundene, als äußerliche Form   ihrer natürlichen Substanz

 besteh t, die die se r Substanz selbst äußerlich is t (z. B. dem H o lz die Form

des Tisches, oder dem E isen die Form der W alze ), als blo ß existierend in

der äußren Form des Stofflichen, entwickelt sich die Gleichgültigkeit des

Stoffs gegen die Form; sie erhält sie durch kein lebendiges, immanentes

Gesetz der Re produ ktion, wie der Baum z. B. seine Form als Baum erhält

(das H o lz erh ält sich als Baum in bestimm ter Form , w eil diese Form eine

Form des H olzes ist; während die Form als Tisch dem H o lz zu fäl l ig ist,

59 D as K ap ital, Bd. I, S. 185.

60 Vg l. Ernst Bloch, D as Prinzip Hoffnu ng, Bd. II, Berlin 19 55 ,8. 244 f.

61  A . a. O ., Bd. III, Berlin 1959, S. 391.

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nicht die immanente Form seiner Substanz), sie existiert nur als dem

Stofflichen äußre Form, oder sie existiert selbst nur Stofflich. (Großschrb.

 b. M ., A . S.) D ie A u flösu n g, der ih r S to ff daher ausgesetz t ist, lö st sie

ebenso auf.«62

Indem der Gebrauchswert sich auflöst, geht das seinem Stoff mitgeteilte

 A rbeitsquantum verlo ren.

Freilich handelt es sich hierbei um eine bloß relative Gleichgültigkeit der

Form gegenüber dem Stoff. In dem schon oben erwähnten Fall, daß ein

Produkt aus Naturstoff und Arbeit weiteren Arbeitsprozessen einverleibt

 w ird, is t es kein esfalls gle ich gü lt ig, w ievie l und welche A rb eit es bereits

in sich birgt: »Das Quantum der vergegenständlichten Ar be it  wird erhal-

ten, indem ihre Q ua lität als Gebrauchswerte fü r fernere Arb eit   erhalten

 w ir d durch den K o n ta k t m it der lebendig en A rbeit.« 63

Ist für den einfachen Produktionsprozeß charakteristisch, daß in ihm diequalitative Bestimmtheit der bereits verausgabten Arbeit erhalten bleibt,

so erweist sich dieses Erhalten im Verwertungsprozeß zugleich als ein

Erhalten des Arbeitsquantums. Zwar fügt lebendige Arbeit der bereits

 vergegenständlichten neues A rbeit squantu m hin zu. A b er es ist nic ht das

hinzutretende Arbeitsquantum, wodurch das vergegenständlichte erhal-

ten wird, sondern die Qualität der Arbeit als lebendiger Arbeit über-

haupt. Dem Produkt hinzugefügt, hebt sie die an ihm bestehende Gleich-

gültigkeit von Form und Stoff auf: »Die vergegenständlichte Arbeit hört

auf tot an dem Stoff als äußre, gleichgültige Form zu existieren, da sie

selbst wieder als Moment der lebendigen Arbeit gesetzt ist; als Beziehung

der lebendigen Arbeit auf sich selbst in einem gegenständlichen Material,

als Gegenständlichkeit   lebendiger Arbeit (als Mittel und Objekt) (die

gegenständlichen  Bedingungen der lebendigen Arbeit). Indem so die

lebendige Arbeit durch ihre Verwirklichung im Material dieses selbst

 verändert, eine V eränderu ng, die durch den Z w eck der A rb eit bestim m tund die zweckmäßige Tätigkeit derselben — (eine Veränderung, die nicht

 w ie im to ten G egensta nd das Setz en der Form als äußerlich dem Stoff,

 b lo ßer verschw in dender Schein seines Bestehens), — w ir d das M ateria l so

in bestimmter Form erhalten, der Formwechsel des Stoffs dem Zweck der

 A rb eit unterw orfe n. D ie A rb e it is t das lebendig e, gesta ltende Feuer; die

 V ergän gli chkeit der D in ge, ih re Z eitlich keit, als ih re Form ung durch die

lebendige Zeit.«64

62 Rohentwurf, S. 265.

63 A. a. O., S. 268.64 A. a. O., S. 265 f.

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 V o n Stufe zu Stufe n im m t der bearbeitete S to ff im Produ ktion sprozeß

eine dem menschlichen Konsum nützlichere Form an, »bis er zuletzt die

Form erhalten, worin er direkt Gegenstand desselben werden kann, wo

also die Aufzehrung des Stoffs und die Aufhebung seiner Form menschli-

cher G enu ß w ird, seine Verän deru ng sein G ebrau ch selbst ist«6S.

Die höchste Form der Vermittlung des Stoffs ist zugleich die höchste

Form seines unmittelbaren Daseins als eines Gebrauchswerts für dieMenschen. Soweit menschliche Arbeit es vermag, verwandelt sie das An-

sich der N atu r in ein Füruns.

 B ) D er B e g r iff des Stoffw echsels von M ensch und Natur:  

historische Dialektik und »negative* Ontologie

Sieht der von Feuerbach und der Romantik bestimmte Marx der Pariser

Manuskripte in der Arbeit einen Prozeß fortschreitender Humanisierung

der Natur, einer Humanisierung, die zusammenfällt mit der Naturalisie-

rung des Menschen, in der von Arbeit geprägten Geschichte also die sich

immer deutlicher herstellende Gleichu ng Naturalism us = H um anis-

mus66, so bedient sich der w eitaus kritischere M ar x der ökon om ischen

 A n aly se, w o er den z w a r veränderlichen, aber im G ru nd e unaufhebbaren

Kampf der Menschen mit der Natur erörtert, des naturwissenschaftlichgefärbten, aber deshalb nicht weniger spekulativen Terminus »Stoff-

 wechse l« . D ie ser Stoffw echsel ist an die den M ensc hen vorgegebenen

Naturgesetze gebunden. Alle Formierung des Naturstoffes muß den

materialeigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. »Der Mensch kann in

seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, das heißt nur die

 Form en der Stoffe ändern .«61  Darüber hinaus geht auch die Formierung

selbst nicht ohne Unterstützung durch Naturkräfte vonstatten, zu denenMarx auch die tätigen Subjekte rechnet.

Indem die M enschen die im N atu rm ate rial »schlumm ernden Potenzen «68

entbinden, »erlösen« sie es: das tote Ansich in ein lebendes Füruns

 verw andeln d , verlä n gern sie gle ic hsam die Reih e der vo n der N atu rg e-

schichte hervorgebrach.ten Gegenstände und setzen sie auf einer qualita-

tiv höheren Stufe fort. Durch menschliche Arbeit hindurch treibt die

Natur ihren Schöpfungsprozeß weiter. Die umwälzende Praxis gelangt

65 A . a. O ., S. 226.

66 N ationalöko no m ie und Philosophie, S. 181.67 D as K ap ital, Bd. I, S. 47.68 A . a. O ., S. 185.

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so zu einer nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch »kosmischen«69

Bedeutung.

Es ist außerordentlich bemerkenswert, daß hier, wo Marx menschliche

 A rb e it als F orm verän deru n g der M aterie gem äß ih rer G esetzm ä ß ig-

keit70 bezeichnet, er zugleich einen ganz allgemeinen philosophischen

Sachverhalt im Auge hat: die Welt ist in bestimmten Formen sich bewe-

gende Materie. Daß Marx mit Engels71 in dieser Frage zumindest inabstracto einig ist, geht schon daraus hervor, daß er zur Erhärtung seiner

oben zitierten Ansicht, daß der Mensch sich in der Produktion nur so

 verhalten könne w ie die N a tu r selbst, das 1773 erschienene W erk »M edi

tazioni sulla Economia Politica« des italienischen Ökonomen Pietro

 V erri heranzie ht. Bei V erri heiß t es: »Alle Erschein ungen des W eltalls,

seien sie hervorgerufen von der Hand des Menschen oder durch die allge-

meinen Gesetze der Physik, sind nicht tatsächliche  N euschöpfungen,  son-dern lediglich  eine Umformung  des Stoffes.  Zusam m ensetzen und Tren

nen  sind die einzigen Elemente, die der menschliche Geist immer wieder

 bei der A n aly se der V orstellu ng der R eproduktion findet; und eben so

 verh ält es sich m it der R eprodu ktion des W e r t e s .. . und des Reichtu m s,

 wenn Erde, L u ft und W asser a u f den Feld ern sich in K o rn verw andeln ,

oder auch wenn sich durch die H an d des Menschen die Absche idun g eines

Insekts in Seide verwandelt, oder einige Metallteilchen sich anordnen,

um eine Repetieruhr zu bilden.«72So wie die von Menschen unabhängigen Naturprozesse ihrem Wesen

nach stofflichenergetische Umsetzungen sind, so fällt auch die menschli-

che Produktion aus dem Naturzusammenhang nicht heraus. Natur und

69 Vgl. dazu Roger Garaudy, La theorie materiaüste de la connaissance, Paris 1953, S. 301. DerGedan ke einer solchen »kosmischen« D imen sion des menschlichen Tuns läßt sich bis zur alchi-

mistischen Transmu tationslehre der Renaissancephilosophen, einer noch magischen K eimform

moderner Naturbeherrsch ung, zurü ckver folgen. D er Mensch treibt das in der W elt Ang elegte zuseinem Ende. So heißt es etwa bei Paracelsus: »Denn die N atur ist so subtil und so scharf in ihren

Dingen, dass sie ohne gr oße Kunst n icht will gebraucht werden: Denn sie gibt nichts an Tag, das

auf sein Statt vollendet sei, sondern der Mensch muß es vollenden: diese Vollendung heisset

 Alchim ia.« In: Paracelsus, seine W eltschau in W orten des W erke s, herau sgegeben vo n E. Jaeckle,Zürich 1942, S. 83.

70 Freilich kann menschliche Praxis nur so verfahren, wie die Natur selber, nämlich die

Formen ihrer Stoffe ändern. Jedoch konnte M arx nicht ahnen, daß es dem zw anzigsten

Jahrhundert Vorbehalten sein sollte, die Wirksamkeit von an sich in der Natur enthal-

tenen Energien ins Ungeheuerliche zu steigern. Der künstlich herbeigeführte Zerfall

radioaktiver Elemente geht zwar nur auf der Basis des natürlichen vonstatten, stellt aberihm gegenüber eine durchaus neue Q ua lität dar.

7 1 So bemängelt die Feue rbachsch rift au f S. 24 am alten M aterialism us dessen U nfäh igke it,

»die Welt als einen Prozeß, als einen in einer geschichtlichen Fortbildung begriffenenSto ff aufzufassen«.

72 Pietro Verri, in der Au sgabe der italienischen Ökon om en von C usto di, Parte M oderna,

Bd. X V , S. 22. Bei M arx zitiert im K apita l, Bd. I, S. 47 f., Fuß note 13.

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Gesellschaft sind einander nicht starr entgegengesetzt. Der gesellschaft-

lich tätige Mensch »tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht

gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und

Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in

einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er

durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert,

 verändert er zugle ich seine eig ne N atu r.« 73

Der Stoffwechsel hat zum Inhalt, daß die Natur humanisiert, die

Menschen naturalisiert werden. Seine Form ist jeweils historisch

 best im m t. D ie A rbe itskraft, je ner in »mensch lich en O rgan ism us um ge-

setzte Naturstoff«74, betätigt sich an außermenschlichen Naturstoffen;

Natur setzt sich mit Natur um. Wie die Menschen ihre Wesenskräfte den

 bearbeitete n N atu rd in gen ein verle ib en, so gew in nen um gekehrt die

Naturdinge als im Laufe der Geschichte immer reicher werdendeGeb rauch swerte eine neue gesellschaftliche Q ua lität.

Daß die Dinge zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse qualitativ ver-

ändert werden, das eben will Marx mit dem Terminus »Bewegung (des

Menschen, A. S.) auf die Natur« ausdrücken. Bewegung, diese wesentli-

che Kategorie dialektischen Denkens, ist für den dialektischen Materia-

lismus im Unterschied zum mechanischen »nicht bloß Ortsveränderung,

sie ist auf den übermechanischen Gebieten auch Qüalitätsverände

rung«75.

Zwar unterscheiden sich die angeeigneten Naturstoffe qualitativ von den

menschlicher Tätigkeit noch nicht unterworfenen. Zugleich aber muß

 beachte t w erden, d aß die ingeniö sesten m enschlichen E rfindungen ver-

 wiesen sin d a u f das, w as die N atu rbasis der M ö glich keit nach in sich

 b irgt. N u r von ihr aus kann das vo n V erri angefü hrte »U m form en«, »das

Zusammensetzen und Trennen« erfolgen, können quantitative Verände-

rungen zu qualitativen führen. Die Natur ist und bleibt dasjenige,»womit   und worin   er (der Arbeiter, A. S.) allein seine Arbeit verleibli

chen kann.«76

Mit dem Begriff des »Stoffwechsels« leitet Marx ein völlig neues

 V erständnis der m enschlichen Beziehung zu r N a tu r ein. M it der A u fk lä -

rung, wie sie namentlich seit Bacon in diesem Punkt sich entfaltet hat,

teilt er zunächst die Ansicht, daß Natur wesentlich unter dem Gesichts-

punkt des menschlichen Nutzens betrachtet werden müsse. Den Begriff 

73 D as Kap ital, Bd. I, S. 185.

74 A. a. O., S. 233, Fußnote 27.

75 D ialektik der N atu r, S. 269.

76 D as Ka pita l, Bd. I, S. 200.

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Leb ens «79*, das selbst ein Stü ck N at u r ist, und da m it als deren S elbstb ew e-

gung.

Einzig so läßt sich sinnvoll von einer »Dialektik der Natur« sprechen.

Der Naturdialektiker Marx bleibt nicht bei dem vormenschlichen Natur-

sein un d seiner Geschichte kon tem plativ stehen hierin ist sonderbarer-

 weise Engels a u f w eite Strecken m it dem von ih m sonst so scharf kriti-

sierten Feuerbach einig , betrachtet die Wirklichkeit nicht nur »unter

der Form des Objekts«80, aber bei aller Anerkennung Hegels auch nicht

nur »unter der Form des Subjekts«, sondern hält an der Unauflöslichkeit

der Momente ineinander fest. Das Bewußtsein dieser Unauflöslichkeit

macht überhaupt den Kern seines Materialismus aus81. Im Gegensatz

zum Hegelschen wird das Marxsche SubjektObjekt nie ganz ins Subjekt

hineingenommen.

 W as oben die in M arx angelegte N atu rsp eku latio n gen annt w orden ist,stellt nichts anderes dar als den sein gesamtes Werk durchziehenden

 Versuch, in im m er neuen und zum T eil m erkw ürdig b io lo gis chen M eta-

phern die wechselseitige Verschränkung von Natur und Gesellschaft

innerhalb des naturalen Ganzen auf ihren angemessenen Begriff zu brin-

gen. Den im »Kapital« sich identisch durchhaltenden Ausdruck »Stoff-

 wechsel« schein t M arx schließlich fü r die beste Form ulierung des Sach-

 verhalts gehalten zu haben .

In den Pariser Manuskripten erscheint Natur im Anschluß an Hegels

»Ph änom enologie des Geistes« als »der unorganische Leib  des Menschen,

näm lich die N atu r, sow eit sie nicht selbst m ensch licher K ör p er ist«82. Sie

ist sein Leib, »mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht

zu sterben«83. Wie der Vorgang der Assimilation in der belebten Natur

überhaupt das Unorganische in ein Organisches verwandelt, so assimi-

liert sich der Mensch in der Arbeit jenen »unorganischen Leib«, macht

ihn aber mehr und mehr zu einem »organischen« Bestandteil seinerselbst. Das aber ist ihm nur möglich, weil er unmittelbar   selbst zur Natur

gehört, die keineswegs bloß eine seiner Innerlichkeit gegenüberstehende

 A u ßen w elt ist: » D aß das physische und geis tige Leben des M enschen mit

der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur

79a Das K apital, Bd. I, S. 192.

80 Erste The se über Feuerb ach. In: Ub er Relig ion , S. 54.81 Zu m Problem eines dialektischen un d zu gleich m aterialistischen D enken s vgl.

Th. W . Ado rno , Zu r Me takritik der Erkenntnistheorie, Stu ttgart 1956, wo es au f S. 193heißt: »Die theoretische Grenze gegen den Idealismus liegt nicht im Inhalt der Bestim-

mung ontologischer Substrate oder Urworte, sondern zunächst im Bewußtsein der Irre

duktibilität dessen was ist, auf einen wie immer gearteten Pol der unaufhebbaren Diffe-renz.«

82 N ation alök on om ie und Philosophie, S. 148.83 A . a. O., vgl. dazu auch D ialektik der N atu r, S. 191.

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zu den objektiven Bedingun gen der Arbeit, und zun ächst den natürlichen

— objektiven Bedingungen der Arbeit — denn, wie das arbeitende Subjekt

natürliches Individuum, natürliches Dasein — erscheint die erste objektive

Bedingung seiner Arbeit als Natur, Erde, als sein unorganischer Leib; es

selbst ist nicht nur der organische Leib, sondern diese unorganische Na tur  

als Subjekt .«92 

Daß der Mensch ans Vorgefundene natürliche Dasein gekettet ist wie anseinen Leib, ist hier nicht mehr kennzeichnend für den Arbeitsprozeß

schlechthin, sondern für seine vorbürgerlichen Formen. Sklaverei und

Leibeigenschaft kennen im Grunde keine Trennung der Arbeit von ihren

naturgegebenen Voraussetzungen. Beide Momente verschmelzen zu

einer undifferenzierten  Natu rbasis   für die Existenz des Sklavenhalters

oder Feudalherrn: »Der Sklave steht in gar keinem Verhältnis zu den

objektiven Bedingungen seiner Arbeit; sondern die  A rb e it   selbst, sowohl

in der Form des Sklaven, wie der des Leibeignen, wird als unorganische 

 Bedin gung   der Produktion in die Reihe der andren Naturwesen gestellt,

neben das Vieh oder als Anhängsel der Erde.. . Diese natürlichen  

 E xis tenzbedin gungen,  zu denen er sich als zu ihm selbst gehörigem, unor-

ganischem Leib verhält, sind selbst doppelt; i. subjektiver und 2. objek-

tiver Natur. Er findet sich vor als Glied einer Familie, Stammes, Tribus

etc.........als solches Glied bezieht er sich auf eine bestimmte Natur ... als

unorganisches Dasein seiner selbst, als Bedingung seiner Produktion undReproduktion.«93

Diese ursprüngliche und gerade deshalb abstrakte Identität des Men-

schen mit der Natur, die so weit geht, daß der Mensch nicht nur als eine

 W eise des organis chen D asein s der N a tu r au ftritt, sondern die N atu r

umgekehrt auch als »unorganisches Dasein seiner selbst«94, geht mit dem

Entstehen bürgerlicher Produktionsbedingungen über in ihr ebenso

abstraktes Gegenteil: die radikale Scheidung der Arbeit von ihren objek-

tiven Naturbedingungen. Soweit die Einheit von Mensch und Naturstoff

in Gestalt von Gebrauchswerten auch noch unter bürgerlichen Verhält-

nissen erhalten bleibt, ist sie für Marx eine Selbstverständlichkeit und

nichts der Erklärung Bedürftiges, eben weil sie »den disparatesten

Produktionsepochen gemeinsam«95 ist. Was die Kritik der politischen

Ökonomie interessiert und erklären will, ist die erwähnte und nur für die

92 Ro hen twu rf, S. 388; Sperrung in den letzten beiden Zeilen vom Verfasser.93 A .a .O ., S. 389.

94 A . a . O . , S . 763.

95 A .a .O ., S. 389.

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 bürgerliche G esellsch aft typis che »Trennung   zwischen diesen unorgani-

schen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein,

eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von

Lohnarbeit und Kapital«96.

Unterm Kapitalismus scheidet der Arbeiter als objektive Bedingung der

Produktion aus, wodurch er sich zu dieser erst im eigentlichen Sinne »ver-

hält«, was beim Sklaven und Leibeigenen als eines bloßen Akzidens derErdmaterie nicht der Fall ist. Der Kapitalist eignet sich den Arbeiter

nicht unmittelbar als Naturding, sondern vermittelt durch den Tausch als

Träger abstrakter Arbeit an. Der Arbeiter wird so ein »objektivloses, rein

subjektives Arbeitsvermögen«97, das in den entfremdeten dinglichen

 Voraussetzungen der A rb e it »als für sich seiendem W ert«98 seine N e g a -

tion erblickt.

Marx schildert hier eine bedeutsame Seite der in der Literatur vieldisku-tierten Dialektik des Übergangs von der antikfeudalen zur bürgerlichen

 Ära: solange die N a tu r agrarisch angeeig net w ird, also ein von den

Menschen schlechterdings Unabhängiges ist, sind diese mit ihr abstrakt

identisch, versinken sie sozusagen im naturalen Sein; wo es ihnen

dagegen gelingt, die Natur allseitig technischökonomisch und wissen-

schaftlich zu beherrschen, indem sie sie in eine Maschinenwelt verwan-

deln, erstarrt sie zu einem abstrakten, den Menschen äußerlichen An

s ich" .

 Von hier aus lä ß t sich auch ein B lick w erfe n a u f das an anderer Stel le zu

 behandelnde U top iep roblem : die ric htige G esellschaft w äre ein Prozeß,

in dem die Menschen weder mit der Natur einfach in eins zusammen-

fallen n och vo n ihr r ad ika l geschieden sind 100.

Es wurde oben gesagt, d aß die Analyse der Trennun g von Loh narbeit und

Kap ital bei M arx hinau släuft a uf die des Tauschwertcharakters der W are,

der gegenüber ihrem Gebrauchswert gleichgültig ist. Der besonderenBlickrichtung dieser Analyse auf die Warenform der Arbeitsprodukte

unter bürgerlichen Produ ktionsverhältnissen m ag auch der bei dem D ia -

lektiker Marx merkwürdige Umstand zuzuschreiben sein, daß er überall

dort, wo er den Arbeitsprozeß als Stoffwechsel zwischen Mensch und

Natur beschreibt, sich mit einer Aufzählung seiner abstrakten, weil für

alle Produktionsstufen zutreffenden Momente »zweckmäßige Tätigkeit

oder Arbeit«, »Gegenstand«, »Mittel«101, begnügt und von seiner jewei

96 A . a. O ., S. 397.97 A. a. O.

98 A . a. O .

99   Vg l. zu dieser Pro blem atik das III. Kap itel.100 Vg l. dazu das IV. Ka pitel.

101 D as K ap ital, Bd. I, S. 186.

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ligen geschichtlichen Bestimmtheit absieht. Sofern die Arbeit als Erzeu-

gerin von Gebrauchswerten auftritt, ist sie für Marx »eine von allen

Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen

ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und

Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.«102

 W enn M arx sagt, d aß die allgem ein e N a tu r der Produ ktion von

Gebrauchswerten dadurch nicht geändert werde, daß sie im Dienste desKapitalisten vonstatten geht, und deshalb den Arbeitsprozeß »unabhän-

gig von jeder bestimmten gesellschaftlichen   Form«103 als einen Prozeß

 betrachtet, »worin der M ensch seinen Stoffw echsel m it der N a tu r durch

seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert«104, so heißt das noch

lange nicht, daß für Marx »die allgemeinsten Strukturen des Menschen

und der Arbeit übergeschichtlich, zeitlos sind«105, wie der diese Stelle

interpretierende Thomist Marcel Reding meint, der den dialektischen

Materialismus als Ontologie versteht.

Der Wechsel der geschichtlichen Phasen ist gegenüber der Beschaffenheit

der Momente des Arbeitsprozesses keineswegs schlechthin gleichgültig.

Marx besteht in der »Kritik der politischen Ökonomie« darauf, daß alle

Bearbeitung der Natur nur »innerhalb und vermittelst   einer bestimmten

Gesellschaftsform«106 sich abspielt. Das Denken fixiert zwar allgemeine

Bestimmungen, die allen ökonomischen Formationen gemeinsam sind,

»aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sindnichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche

geschichtliche Prod uktion sstufe begriffen ist«107.

Das Allgemeine, soweit es mehr ist als eine für die Forschung zweckmä-

ßige Abbreviatur, ist bei Marx stets ein »Konkretum« im Hegelschen

Sinne. Es birgt eine Fülle besonderer Bestimmtheiten in sich108. Wenn

Marcel Reding behauptet, Marx erkläre die »Struktur der Arbeit und des

arbeitenden Menschen«109 für invariant, so verliert er damit das ebenso

 w ichtige M om ent des H is toris chen, ohne w elches seine Aussage arm und

leer bleibt. An einem sehr eindringlichen Beispiel läßt sich zeigen, wie

ernst Marx die historische Dialektik von Identität und Nichtidentität der

Menschennatur nimmt. Geschichte ragt selbst in die physiologische

Struktur des Menschen hinein: »Hunger ist Hunger, aber Hunger, der

102 A . a. O ., S. 47.

103 A. a. O., S. 185.104 A. a. O.

105 M arcel Red ing, D er politische Atheism us, G ra z 195 7, S. 92.

106 Zu r K ritik der politischen Ökon om ie, S. 241.107 A. a. O., S. 242.

108 V gl. daz u a. a. O ., S. 237.

109 Marcel Reding, a. a. O., S. 92.

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durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegessnes Fleisch befriedigt, ist

ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und

Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern

auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produ-

ziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv.«110

Die Menschennatur, dieses »Ganze von Bedürfnissen und Trieben«111, ist

nur als ein historischer Prozeß zu begreifen, in dem nicht etwa einkonstanter und ein variabler Bestandteil unvermittelt nebeneinander

 bestehen, so ndern in dem das Beso ndere das Leben des A llgem ein en

ausmacht112. Das menschliche Wesen entspringt jeweils einer bestimm-

ten Gesellschaftsform, es ist »kein dem einzelnen Individuum innewoh-

nendes Abstraktum«, sondern »das Ensemble der gesellschaftlichen Ver-

hältnisse«113.

Marx ist kein positiver Ontologe. Und doch ist das angeführte ontologi-

sche Mißverständnis Redings kein Zufall. Ihm kommt das bei Marx gele-

gentl ich nicht ganz explizierte Verhältnis von Nominalismus und

Begriffsrealismus entgegen, wie es sich in seiner Behandlungsweise des

 Verhältnisses allgem ein er und beso nderer G esetzm äßigkeit im G eschic hts-

 verlau f w id erspie gelt . So w ird auch in einem A u fsatz A d orn os, der

darauf hinweist, daß selbst die dialektische Theorie über Comtes Unter-

scheidung von sozialer Statik und Dynamik nicht ganz hinaus ist,

festgestellt: »Er (Marx, A. S.) konfrontiert die invarianten Naturgesetzeder Gesellschaft mit den spezifischen einer bestimmten Entwicklungsstu-

fe, >den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftli-

chen Antagonismen mit den >Naturgesetzen der kapital istischen Pro-

duktion^«114

Hiernach unterscheidet Marx zwischen den für eine Gesellschaftsforma-

tion allgemein geltenden Gesetzen und ihren mehr oder weniger entfal-

teten Erscheinungsformen. Er fixiert darüber hinaus in noch einschnei

i io Zu r Kr itik der politischen Ök on om ie, S. 246.

i n R oh entw urf, S. 157.112 Zu r geschichtlichen Bestim mth eit der M enschenn atur vg l. auch die zahlreichen und für

das Marxverständnis äußerst wichtigen Stellen im Rohentwurf. Vgl. ferner Vernon

 Venable , H um an N a tu re: T h e M a rxian V iew , N . Y . 1945, eine m ateria lr eic he D isserta -

tion, die allerdings die Pariser Manuskripte und den Rohentwurf außer Betracht läßt.

Zum Verhältnis von Triebstruktur und Sozialgeschichte äußert sich Ernst Bloch bei

seinem Versuch einer marxistischen D eutun g der Psychoanalyse. In: Das P rinzip H o ff-nung, Bd. I, Berlin 1954, S. 80 ff.

113 Sechste These über Feuerbach . In: U ber R eligion, S. 55.

114 Th. W. Adorno, Uber Statik und Dynamik als soziologische Kategorien. In: Soziologica

II, Frank furter Beiträge zur So ziologie, Bd. 10, S. 237, FN 21. V gl. K arl M arx, D as

Kapital, Bd. I , Buch 1, Vorwort zur 1. Auflage, zitiert nach der von Friedrich Engels

herausgegebenen 10. Auflage, Hamburg 1922, S. IV.

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denderer Weise den Stoffwechsel von Mensch und Natur in seinen

abstrakten Momenten als »ewige Naturnotwendigkeit«115 gegenüber sei-

nen konkretgeschichtlichen Gestalten. Bei alldem kann es sich freilich

nicht nur darum handeln, daß die Dialektik des Besonderen und Allge-

meinen ungenügend ausgetragen würde, also um ein rein theoretisch zu

entscheidendes Problem, sondern um die Tatsache, daß unsere geschicht-

liche W irklich keit selber, zun ächst einm al als »Vorgeschichte« verstan-den, von perennierenden Kategorien beherrscht wird, die allem Wechsel

gegenüber relativ gleich gü ltig sind, so daß nach M arx die Lo hn arbe it ein

Moment von Sklaverei wie noch von Knechtschaft an sich hat, ebenso wie

Knechtschaft und Sklaverei ein Moment der Lohnarbeit: der Unterschied

 besteht darin, d aß die A rb e itskraft das eine M al unm ittelb ar, das andere

Mal auf dem Umweg über den Markt reproduziert wird. Es gab ausge-

zeichnet gehegte Sklaven im Altertum, und es gibt in den höchstentwik

kelten Ländern der Gegenwart Wanderarbeiter unter dem Niveau116.

Entscheidend dafür, daß Herrschaft über Menschen zustande kommt, ist

freilich eine gewisse Stufe von Arbeitsproduktivität: «Braucht der Arbei-

ter alle seine Zeit, um die zur Erhaltung seiner selbst und seiner Rasse

nötigen Lebensmittel zu produzieren, so bleibt ihm keine Zeit, um unent-

geltlich für dritte Personen zu arbeiten. Ohne gewissen Produktivitäts-

grad der Ar be it keine solche disponible Z eit für den Arbe iter, ohne solche

überschüssige Zeit keine Mehrarbeit und daher keine Kapitalisten, aberauch keine Sklavenhalter, keine Feudalbarone, in einem Wort keine

Großbesitzerklasse.«117

Sich kritisch gegen jene wendend, die versuchen, mit dieser als natur-

 w üchsig sich darste llenden P ro d u k tiv itä t der A rb eit »mystische V orstel-

115 D as K ap ital, Bd. I, S. 47.

116 Es ist von Interesse, da ß etw a zu r gleichen Ze it der wah rlich keiner SozialrevolutionärenNeigung en verd ächtige Schopen hauer genau wie Ma rx das Mom ent der Identität an den

 ver sch ie denen H errschaft sfo rm en w ahrgenom m en hat. Bei Schopenhauer h eiß t es: »Ar

muth und Sklaverei sind . . . nur zwe i Formen, fast mochte man sagen, zwei Nam en, der

selben Sache, deren Wesen darin besteht, daß die Kräfte eines Menschen großentheils

nicht für ihn selbst, sondern für Andere verwendet werden; woraus für ihn theils Ueber

ladung mit Arbeit, theils kärgliche Befriedigung seiner Bedürfnisse hervorgeht. Denn die

N atu r hat dem Menschen nur so viel Kräfte gegeben, daß er, unter mä ßiger Anstrengung

derselben, seinen Un terhalt der Erde abgewinnen kan n: großen Ueberschuß von Kräften

hat er nicht erhalten. Nimmt man nun die gemeinsame Last der physischen Erhaltung

des Daseyns des Menschengeschlechts einem nicht ganz unbeträchtlichen Theiledesselben ab; so wird dadurch der übrige übermäßig belastet und ist elend. So zunächst

entspringt also jenes Uebel, welches, entweder unter dem Namen der Sklaverei, oder

unter dem des Proletariats, jederzeit auf der großen Mehrzahl des Menschengeschlechtes

gelastet hat.« In: Säm tliche We rke, herausgegeben vo n D r. Pau l Deussen, 5. Bd.,

München 1913, Parerga und Paralipomena, 2. Bd., S. 268.1 17 D as K ap ital, Bd. I, S. 536.

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lungen«118 zu verbinden, entwickelt Marx, daß der Mehrwert nur »in

dem ganz allgemeinen Sinn« eine »Naturbasis« hat, »daß kein absolutes

Naturhindernis den einen abhält, die zu seiner eignen Existenz nötige

 A rbeit von sich selbst ab und einem ändern a u fzu w älz en , z. B. ebenso -

 wenig , wie absolu te N atu rhindernisse die einen abhalten, das Fle isch der

ändern als Nahrung zu verwenden«119.

 W as ferner die P ro d u k tiv itä t der A rb e it angeht, vo n der bei der B etrach-tung des spezifischen Kapitalverhältnisses auszugehen ist, so ist diese

nicht einfach »Gabe der Natur, sondern einer Geschichte, die Tausende

 von Jahrhunderten u m faß t« 120. A b er auch dann, w enn die natu rgesetzte

Produktivität der Arbeit aufhört, die ebenso naturgesetzte Quelle der

Herrschaft des Menschen über den Menschen zu bilden, auch dann, wenn

das historisch Entsprungene sich nicht länger zu einem »Naturwüchsi-

gen« perpetuiert, bleibt das Leben von seiner allgemeinsten Notwendig-

keit, dem Stoffwechsel von Mensch und Natur bestimmt. Zwar wird diese

N otw en digk eit M arx zufo lge eine beherrschte sein, und die Menschen

 werden nur m it der dinglichen N a tu r, nic ht m ehr m itein ander im

Kam pfe liegen. A be r dieser K am p f bedeutet, daß au ch die klassenlose

Menschheit ein mit ihr letztlich Unidentisches sich gegenüber weiß, so

daß Reding mit seiner These von der Zeitlosigkeit der Struktur der

 A rbeit au f ironische W eise doch noch recht behält. Es gibt in der T a t so

etwas wie eine, allerdings negätiv zu fassende Ontologie121.M arx liebt es, sich in einer m itunter etwas drastischen A rt die N o t-

 w endigkeit gesellschaft licher Prozesse am M odell von N a tu rv erh ä lt-

nissen zu verdeutlichen, wofür das beste Beispiel der hier diskutierte

Begriff des Stoffwechsels selbst ist. Wie Engels, so verfolgt auch er die

naturwissenschaftlichen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts und

dessen philosophische Verallgemeinerungen im Hinblick auf eine Weiter-

entwicklung der Theorie der Gesellschaft. Die Vorarbeiten zum »Kapi-

tal« fallen in das Jahrzehnt von 1850—1860, in dem in Deutschland der

naturwissenschaftlich orientierte Materialismus der Büchner, Vogt und

M oleschott mächtig ins K rau t schießt. Nu n hat sich M arx gan z w ie Engels

 w ie derholt äußerst krit is ch zu dieser dogm atis chen und zum eis t grob -

mechanischen Form des Materialismus ausgesprochen122, was aber nicht

118 A . a. O ., S. 537. 119 A . a. O ., S. 536 f. 120 A. a. O ., S. 537.

121 Zum Problem einer »negativen On tologie« bei M arx vgl. auch besonders die Soziolo gi-schen Exkurse, a. a. O ., S. 30, sowie das IV. K apitel.

122 Vgl. d azu die Briefe an Ku gelmann , die, wie auch der Briefwechsel mit Engels, bezeugen, daß

Marx nicht nur mit dem m aterialistischsensualistischen Phys iologen Cabanis und m it de Tr acy,

 von dem de r Ide ologieb eg riff stam mt, sondern auch mit der M aterialismusdiskussion der fü nfz i-

ger Jahre, zum T eil an H and des von ihm allerdings kritisierten Buches über die Geschich te des

Materialismus von F. A. Lange, vertraut ist.

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auszuschließen braucht, daß er ihm gewisse Motive verdankt. Wie aus

einer gelegentlichen Bemerkung hervorgeht, ist Marx mit dem Gebrauch

des Begriffs »Stoffwechsel« bei dem Wortführer der materialistischen

Bewegung, Jacob Moleschott, durchaus vertraut gewesen. Zunächst unter

dem Einfluß der Schellingschen Naturphilosophie und des Hegelianis-

mus stehend, wird der heute fast ga nz vergessene M oleschott später

nicht zuletzt durch seine Bekanntschaft mit Feuerbach — zu einem Natur-forscher und physiologischen Materialisten mit sozialer Tendenz, in des-

sen Lehren der späte, immer entschiedener zu einem naturwissenschaft-

lich gefärbten Materialismus neigende Feuerbach die Durchführung sei-

nes Jugend program m s einer »Philosophie der Z uku nft« erb lickt123.

Zu denken wäre etwa an solche populären Schriften wie »Physiologie des

Stoffwechsels in Pflanzen und Tieren«, 1851, »Der Kreislauf des

Lebens«, 1857, oder »Die Einheit des Lebens«, 1864. Der in diesen

Schriften vorgetragene und mit einer Fülle empirischen Materials

gestützte Materialismus, der am Bilde der Physiologie des Menschen die

Natur als einen großen Umsetzungs und Stoffwechselprozeß schildert,

ist immer wieder von spekulativen Spuren durchsetzt. Wie alles Sein der

Dinge ein Sein durch Eigenschaften darstellt, so gibt es für Moleschott

keine Eigenschaft eines Dinges, die sich nicht bloß dadurch manifestierte,

daß dieses Ding zu anderen in eine Beziehung tritt124.

Es seien hier nur aus dem Buch »Der Kreislauf des Lebens« einige hand-feste Äußerungen Moleschotts zu seiner Stoffwechsellehre angeführt, aus

denen sich mit einem gewissen Grad von Sicherheit entnehmen läßt, daß

diese von Marx, selbstverständlich nicht unverwandelt, benutzt worden

ist: »Was der Mensch ausscheidet, ernährt die Pflanze. Die Pflanze

 verw and elt die L u ft in feste Bestandte ile und ernährt das Th ie r. Raub

thiere leben von Pflanzenfressern, um selbst eine Beute des Todes zu

 w erden und neues keim endes Leben in der Pflan zen w elt zu verbreiten.

Diesem Austausch des Stoffs hat man den Namen Stoffwechsel gegeben.

Man spricht das Wort mit Recht nicht ohne ein Gefühl der Verehrung

aus. Denn wie der Handel die Seele ist des Verkehrs, so ist das ewige

Kreisen des Stoffs die Seele der Welt.«125 »Bewegung der Grundstoffe,

123 V gl. dazu: D ie Na turw issensch aft und die Revolution , eine Feuerbachsche Rezension der

Moleschottschen Sch rift Lehre der Na hrun gsm ittel, 1850. In: Ka rl Grü n, Lu dw ig Feuer- bach in seinem Brie fw echsel und N a ch la ß sowie in se in er philoso phis chen C harakteren t- w ick lu ng. Le ipzig und H eid elb erg 1874, Bd. II , S. 81.

124 Vgl. Jacob Mo leschott, De r Kreislauf des Lebens, M ainz 1857, S. 27 f. Gedankeng änge

dieser A rt m achen M olescho tt in den Au gen F. A . Langes zu einem »Epigonen der

Naturphilosophie«. In: Geschichte des Materialismus, 2. Buch, Iserlohn 1875, S. 97.125 Jacob Mo leschott, De r K reislau f des Lebens, a. a. O ., S. 40 f.

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Feuerbachs Naturalismus sieht er den »phantastischen Jugendtraum«133

der Schellingschen Naturspekulation verwirklicht.

Moleschotts Vorstellung von der Natur als einem Kreislaufprozeß findet

sich schon beim frühen Schelling recht häufig134. »Der erste Übergang

zur  In divid u alität «, heißt es bei ihm, »ist  Form ung   und Gestaltung  der

Materie.«135 Die Dinge werden durch Bearbeitung aus dem unmittelba-

ren Naturzusammenhang herausgelöst und nehmen eine individuellePrägung an. Zu dieser menschlichen Prägung führt unbewußt der Natur-

prozeß selbst hin. Besteht für Schelling schon der über die anorganische

Materie hinaustreibende »organisirende Proceß« im »unendlichen Indi-

 vid ualism en der M ate rie «136, so setzt sich dieses Individualisieren, ver-

mittelt durch menschliche Arbeit, auf höherer Stufe fort: »Im gemeinen

Leben wird alles, was von sich selbst oder durch Menschenhand  Figur 

erhalten hat, als Individuum betrachtet oder behandelt.«137

Im »Rohentwurf« spricht Marx, sich ganz der Schellingschen Sprache

 bed ienen d, von der »beständige(n ) Individ ualisierung des Ele m entari-

schen«, welche ebensosehr ein Moment des Naturprozesses ist, wie die

»beständige Auflösung des Individualisierten in das Elementari-

sche«.138

Der Arbeitsprozeß ist eingebettet in den großen Naturzusammenhang.

Natur als die höhere Einheit von Gesellschaft und jeweils angeeignetem

Natursegment setzt sich in letzter Instanz gegenüber allen menschlichenEingriffen durch. Die menschlich durchdrungenen Naturstoffe sinken in

erste Unmittelbarkeit zurück. Mit Recht führt Schelling an, daß von

keiner rohen Materie gesagt werden könne, sie sei zerstörbar, »als inso-

fern sie durch menschliche Kunst eine bestimmte Form erhalten hat«139.

 W ie der B eg riff des Leb enspro zesses, von dem in den M arxschen

Schriften seit der »Deutschen Ideologie« die Rede ist, sich bei Schelling

und Hegel nur auf die organische Natur bezieht, so gehört auch die V orstellu ng von der äußere n N a tu r als des unorganis chen Leibes des

Menschen, wie sie in den Pariser Manuskripten auftaucht, oder die

Bezeichnung des Arbeitsprozesses als Stoffwechsel von Mensch und

*33   Vgl Ka rl Grü n, L. Feuerbach, a. a. O ., S. 361.

134  Vgl F. W. J. von Schelling, Ideen zu einer Philosophie der N atu r, 1797/9 8. In : Sämmtliche Werke, 1. A bt. , II. Bd., Stuttgart und Au gsbur g 1857, S. 54, S. m . Au ch die

Engelssche Naturdialektik spricht von dem »ewigen Kreislauf, in dem die Materie sich b e w e g t. . . « In : D ia le ktik der N a tu r, S. 27 f.

135 Sche lling, Ideen, a. a. O ., S. 518.136 A . a. O ., S. 520.

137 A. a. O., S. 518.

138 Ro hen twu rf, S. 116. Vgl. daz u auch Ab schn itt A dieses Kap itels.139 Sche lling, Ideen, a. a. O ., S. 519.

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 vo n ihnen hergestellte n G egensta ndsfo rm en doch zum in dest a u f solche

Grundstoffe wie Erde, Wasser und Luft angewiesen142. Darüber hinaus

geht auch eine zum Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge so wichtige

Erscheinung wie die Teilung der Arbeit nicht nur aus der immanenten

Entfaltung der Ökonomie hervor, sondern ist auch durch Vorgefundene

Naturtatsachen bedingt: »Es ist nicht die absolute Fruchtbarkeit des

Bodens, sondern seine Differenzierung, die Mannigfaltigkeit seinernatürlichen Produkte, welche die Naturgrundlage der gesellschaftlichen

Teilung der Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der

Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Vermannigfachung seiner

eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten, Arbeitsmittel und Arbeitsweisen

spornt.«143

Marx betont besonders, daß Gebiete mit gewissen geographischen und

klimatischen Mängeln zunächst eher die Entwicklung der Industrie för-

dern als solche, die über einen großen, ohne menschliches Zutun vorhan-

denen Reichtum an Lebensmitteln verfügen: »Eine zu verschwenderische

N atu r >hält ihn (den M enschen, A. S.) an ihrer H an d wie ein Kin d am

Gängelband<. Sie macht seine eigne Entwicklung nicht zu einer Natur-

notwendigkeit. Nicht das tropische Klima mit seiner überwuchernden

 V egetation , so ndern die gem äßigte Zon e ist das M utterla nd des K ap i-

tals.«144

 A u ch der histo rischen V eränderu ng der Subjektseite sin d natü rlicheGre nzen gesetzt. Schon in der »D eutschen Ideologie« geht M arx v on der

»körperlichen Organisation« der Individuen und »ihr dadurch gegebenes

 V erh ältnis zu r übrig en N a tu r« 145 aus. W eit ausführlicher b efaßt sich das

»Kapital« mit der Frage, inwiefern der Arbeitsprozeß an die Physiologie

des Menschen gebunden ist: » .. . wie verschieden die nützlichen Arbeiten

oder produktiven Tätigkeiten sein mögen, es ist eine  physio lo gische  

 W ahrheit, d aß sie Funktionen des menschlichen  Organismus sind, unddaß jede solche Funktion, welches immer ihr Inhalt und ihre Form,

 w esentlich Verausgabung   von menschlichem   Hirn, Nerv, Sinnesorgan

usw. ist.«146 »D er einzelne M ensch kann nicht au f die N atu r w irken ohne

Betätigung seiner eignen Muskeln unter Kontrolle seines eignen Hirns.

 W ie im N atu rsystem K o p f und H an d zusam m engehören, verein t der

 A rb eitsp rozeß K o p farb eit und H an d arbeit.« 147

142 V gl. dazu auch Ernst Bloch, Da s Prinzip Ho ffnun g, Bd. II, a. a. O ., S. 239.143 D as K ap ital, Bd. I, S. 539.

144 A . a. O ., S. 538 f.

145 Deu tsche Ideologie, S. 16.

146 D as Ka pital, Bd. I , S. 77.

147 A. a. O., S. 533.

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 W ie sehr die arbeitenden Subje kte an die V oraussetzungen des N a tu rsy -

stems gebunden sind, zeigt gerade die moderne Industrie. In ihr differen-

zieren sich zwar die Arbeitsprozesse erheblich, indem sie sich immer

mehr in »bewußt planmäßige und je nach dem bezweckten Nutzeffekt

systematisch besonderte Anwendungen der Naturwissenschaft«148 ver-

 wandeln . Z u gle ich aber enthüll t die T echnolo gie »die wenigen großen  

Grundformen der Bewegung,  worin alles produktive Tun des menschli-chen Körpers, trotz aller Mannigfaltigkeit der angewandten Instrumente,

notwendig vorgeht, ganz so, wie die Mechanik durch die größte Kompli-

kation der Maschinerie sich über die beständige Wiederholung der einfa-

chen mechanischen Potenzen nicht täuschen läßt«149.

Es ist kein Zufall, wenn Marx hier die Mechanik, ein ungeschichtliches

Modell, zum Vergleich heranzieht. Seiner materialen Seite nach unter-

l iegt der Arbeitsprozeß keinem die Produktionsstufen radikal voneinan-der trennenden Wandel, weshalb Marx ausdrücklich sagt, daß nicht was, 

sondern wie   produziert wird, die Produktionsstufen voneinander unter-

scheidet150.

Marx stellt mit dem Begriff des Stoffwechsels den gesellschaftlichen

 A rbeitsprozeß am Bilde eines N atu rvo rgan gs dar. W ie w eit er dabei

geht151 und mit welchem relativen Recht er sich einer solchen Analogie

 bedient, w ird hie r zu zeig en versucht. W ie seit der A n tik e die V eränd e-

rung gesellschaftlicher Gebilde bis hin zu Machiavelli und Pareto alsnaturgesetzlicher Kreislauf verstanden worden ist, so findet sich auch

schon ebenso früh der Versuch, die Veränderung und wechselseitige

Umsetzung der Naturdinge vermittels gesellschaftlicher Kategorien zu

deuten. Ein häufig auftretendes Modell ist dabei der Austausch von Ware

und Geld, von Geld und Ware. So in der Dialektik des Heraklit: »Alle

Dinge sind Austausch für Feuer und Feuer für alle Dinge so wie Waren

für Gold und Gold für Waren.«152Etwas Analoges begegnet uns bei Marx. Ihm stellt sich der Stoffwechsel

 von M ensch und N a tu r — ein S p ezialf a ll der U m setzu ng von N atu rd in gen

— so unter die Kategorie des Austausches dar, wie er umgekehrt zur

Charakterisierung des Austauschprozesses auf den Begriff des Stoffwech-

sels rekurriert. Im unmittelbaren Arbeitsprozeß, dem Stoffwechsel von

148 A . a. O ., S. 512.149 A. a. O.

150 V gl. a. a. O ., S. 188.

151 So bezeichnet Ma rx die mechanischen Ar beitsm ittel als das > K n ochen und Muskelsy

stem der Produ ktion* > solche Arbeitsmittel, die als Behälter des Arbeitsgegenstandesdienen, als das • Gefäßsystem der Produktion«.  Vgl. a. a. O., Bd. II, S. 188.

152 H erm ann Diels, Fragm ente der Vo rso kra tiker , I, Berlin 1922, 4. A uflag e, fr. 90.

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 III. K a pitel 

Die Auseinandersetzung von Gesellschaft und Natur und

der Erkenntnisprozeß

 A ) N aturgesetz und Tele olo gie

Die bedürftige Menschennatur ist auf die dingliche Äußerlichkeit ange-

 wiesen. M arx w ird n icht müde zu beto nen, d aß die Menschen, um ih r

Leben zu reproduzieren, in einem ununterbrochenen Austauschprozeß

mit der Natur stehen müssen. Die Menschen verändern die »Formen derNaturstoffe«1 in einer ihnen um so nützlicheren Weise, je genauer sie

diese Formen kennen. Der Erkenntnisprozeß ist daher für Marx kein

 blo ß in nertheoretischer V o rg an g. E r steht im D ie nste des Leb ens. In der

 Vorstellung, d aß er ein se lb stg enügsa m es, vom Leb en abgespaltenes D a -

sein habe, kurz in aller kontemplativen Philosophie, sieht Marx einen

 Ausdru ck m enschlicher Selb ste ntfrem dung. Bei Strafe ihres U n tergangs

müssen sich die Menschen mit den »Formen«,2 das heißt den Gesetzen

des von ihnen bearbeiteten Materials, mit dem Wesen der sie umge-

 benden N aturerscheinungen, vertrau t m achen. A lle N atu rbeherrschung

setzt die Kenntnis der natürlichen Zusammenhänge und Prozesse voraus,

 wie sie, um gekehrt, erst aus der praktis chen U m gestaltu ng der W elt

hervorwächst3.

Daß die Menschen die Natur nur beherrschen können, indem sie sich

ihrerseits den Naturgesetzen unterwerfen, ist ein bereits für die früh-

 bürgerliche W issenschaftsgesin nung charakteris tischer G edanke. » N a-ture is only subdued by Submission«4, heißt es bei Francis Bacon im

1 D as Ka pi tal, Bd. I, S. 76.2 Dieser bei Engels fehlende und vom reifen Marx h äufig zur Kenn zeichnung der Eigenbe-

stimmtheit der zu bearbeitenden Naturstoffe gebrauchte Begriff der »Form« dürfte

philosophiehistorisch auf Aristoteles und die Formenlehre Francis Bacons zurückgehen,

in der sich häufig antikes Erbe mit modernem Denken mischt. Ähnlich wie für Bacon,ist auch für M arx die Gefo rm theit der Stoffe gleichbedeutend dam it, daß sie allgemeinen

Gesetzen unterliegen. W ie für Baco n, ist auch für Marx die Erkenntnis der »Formen« der

Natur nichts als ein Mittel ihrer besseren Beherrschung. j M arx weis t im K a p ital, Bd. I, d arau f hin, d aß ganze N atu rw is senschaften ih r Entste hen

praktischgese llschaftlichen Erfordernissen verd anken . Vg l. besonders S. 539, Fuß note 5.

4 Francis Bacon , N ovu m Org an on , Lon don 1893, S. 11.

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»Novum Organon«. Schon für Bacon setzen sich die theoretisch

erkannten Ursachen in Regeln praktischen Verhaltens um.

 A u f ein er fo rtgeschrit teneren Stufe der bürgerlichen G esellschaft in te r-

pretiert Hegel5 den homo sapiens ausgehend vom homo faber. Bereits

 w ährend seiner vorphänom enolo gischen Phase beschäftigt er sich mit

dem Verhältnis von materialeigener Gesetzmäßigkeit und menschlichen

Zwecken. Arbeit verbindet beide Momente.Die materialistische Version der Dialektik ist darin zwar an Hegel

geschult, daß sie hinter dem Verhältnis von Naturgesetz und Teleologie

das allgemeinere von Notwendigkeit und Freiheit aufspürt. Sie geht aber

insofern über Hegels Fassung des Problems hinaus, als sie nachweist, daß

die Triebe, Begierden und Zwecke, wie überhaupt die Arten des mensch-

lichen Interesses an der Natur, jeweils gesellschaftlich vermittelt sind.

Zum Verständnis dieser gesellschaftlich vermittelten Einheit von Natur-

gesetz und Teleologie ist es zunächst erforderlich, näher noch als in den

 vorhergehenden K apiteln a u f solche K ategorie n w ie N a tu r, M aterie ,

Gesetz, Bewegung und Zweck einzugehen.

Zwar bezeichnet Marx in seiner Feuerbachkritik die gesellschaftliche

Produktion als »die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt«6. Er hält

aber zugleich daran fest, daß die gesellschaftliche Vermittlung der Natur

deren »Priorität«7 nicht sowohl aufhebt als bestätigt. Die Materie

existiert unabhängig von den Menschen. Diese schaffen jede »produktiveFähigkeit der Materie nur unter der Voraussetzung der Materie«8. Es

entspricht daher diesem Marxschen Gedanken, wenn Lenin in seiner

Schrift »Die Agrarfrage und die >MarxKritiker<« sich gegen die vulgär-

ökonomische Vorstellung wendet, es sei möglich, Naturkräfte durch

menschliche Arbeit zu ersetzen : »Naturkräfte durch menschliche Arbeit

zu ersetzen, ist, allgemein gesprochen, ebenso unmöglich, wie es unmög-

lich ist, Meter durch Zentner zu ersetzen. Sowohl in der Industrie als auchin der Landwirtschaft vermag sich der Mensch der Macht der Natur-

kräfte, sofern er deren Wirken einmal erkannt, nur zu bedienen und die

 A u sn ü tzun g derselben durch M asc hin en, W erkzeu ge usw . zu erleich-

tern,«9

Die dem Naturmaterial eigenen Gesetze, mit denen alle menschlich

5 Zum H egelschen Praxisb egriff vgl. auch Wilhelm R. Beyer, De r B eg riff der Praxis beiH egel. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jahrgan g VI, H eft j , Berlin 1958.

6  De utsche Ideologie, S. 42.7 A. a . O.

8 H eilige Familie, S. i j i .

9 Lenin, D ie Ag rar fra ge und die >MarxKritiker<. In: Sämtliche Werk e, IV , 1. Halbban d, W ien B erli n 1928, S. 221.

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gesellschaftliche Zielsetzung zu rechnen hat, werden vom dialektischen

Materialismus weder ignoriert noch fetischisiert10.

In der gegenwärtigen Marxliteratur bestehen bezüglich der Frage nach

der Eigenbestimmtheit der Natur innerhalb ihrer Vermittlung erhebliche

Unklarheiten. JeanYvez Calvez, der e inige Äußerungen von Marx in

den Pariser Manuskripten verabsolutiert, wo gegenüber dem seitherigen,

die menschliche Praxis nicht beachtenden Materialismus das Moment dergesellschaftlichen Vermittlung scharf pointiert wird11, läßt, ähnlich wie

Lukacs in »Geschichte und Klassenbewußtsein«, die Natur formal und

inhaltlich in den gesellschaftlichen Formen ihrer Aneignung aufgehen.

Ohne daß es ihm ganz bewußt würde, gelangt er so zu einem merkwür-

digen soziologisch drapierten »Erzeugungsidealismus«, der sich gerade

auch in der Frage der Naturgesetze äußert. Calvez schreibt: »La nature

sans l’homme n’a pas de sens, elle n’a pas de mouvement, elle est chaos,matière indifférenciée et indifférente, donc finalement néant.«12

Mit einer solchen Formulierung verträgt es sich schlecht, wenn Calvez im

gleichen Atemzug davon spricht, daß die menschliche Tätigkeit nur im

Rahmen der dem Naturstoff eigentümlichen Gesetze stattfindet und

dazu bestimmte Stellen aus dem »Kapital« anführt13. Ähnlich wider-

spruchsvoll ist die Interpretation des Marxschen Naturbegriffs bei Geor-

ges M .M. C ott ier, der einerseits mit Rech t die » autono m ie propre« der

Natur, ihren die menschlichen Möglichkeiten limitierenden Charakter

hervorhebt14, die Natur demnach als bestimmte und in Einzeldingen

erscheinende gelten läßt, andererseits und gänzlich unvermittelt mit der

erwähnten Aussage die Natur in aristotelischscholastischer Sprache als

»materia prima«15 bezeichnet, das heißt als gestaltloses Substrat, ohne

»immanente Form«16, wie sie ihr von Marx zugesprochen wird. Marx

spricht zwar auch von den in der Natur »schlummernden Potenzen«17.

Er hat dabei aber keineswegs ein ontologisches Substrat bloßer Möglich-keiten im Auge, sondern bestimmte leibliche Energien des Menschen

sowie Stoffe, die seinen Zwecken unterworfen werden.

Um auf die bei Calvez geleugnete Selbstbewegung der Materie zurückzu

10 Vg l. dazu Bloch, D as Prinz ip H offnun g, Bd. II, a. a. O ., S. 240.

11 Vg l. etwa Nation alökon om ie und Philosophie, a. a. O ., S. 264.

i* J«“Y. Calvez, La pensée de Karl Marx, Paris 1956, S. 380; vgl. auch S. 378.

13 A . a. O ., S. 396.14 Georges M .M . C ottier , L’Athéism e du jeune M arx. Ses origines Hégéliennes, Paris 1959,

S. 319.

15 A . a. O ., S. 321.

16 Rohentwurf, S. 265.

17 Das Kapital, Bd. I , S. 185. Zum Verhältnis von Materie und Ontologie vgl. auch die

entsprechenden Ausführungen im I. Kapitel, Abschn itt A .

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Teleologie versteht Marx den Umstand, daß es im Pflanzen und Tier-

reich so etwas wie eine »natürliche Technologie«28 gibt. Bei Darwin

 bilden sich M arx zufolge die Pfla nzen und T ierorgan e als »P roduktions-

instrumente«29 im Prozeß der Anpassung und des Austauschs

mit den äußeren Bedingungen heraus. Uber die »ersten derartig instinkt-

mäßigen Formen«30 zweckmäßigen Verhaltens gegenüber der Natur

kommen auch die archaischen Menschen noch nicht hinaus. Insgesamtsieht Marx in der vormenschlichen Naturgeschichte die Voraussetzung

angelegt für den von gesellschaftlich organisierten Menschen bewußt

geführten Kampf mit der Natur.

 W enn H egel auch die A nsicht als »läppisch« verspotte t, die in allen

m öglichen N aturerscheinungen das Wirken eines zw ecktätigen Schöp fer-

gottes vermutet31, so kennt seine idealistische Philosophie nichtsdestowe-

niger die Idee eines »Weltendzweckes«32. Im ersten Kapitel wurde

 bereits beto nt, daß gerade die L eugnung eines solchen E ndzw eckes und

 vorgegebenen Sinnes der W elt die M arxsche Theorie m it der T rad ition

des philosophischen Materialismus und Skeptizismus seit der Antike,

aller antimetaphysischen, antirationalistischen Philosophie im weiteren

Sinne, verbindet. Die »Welt« ist für Marx kein metaphysisch gefaßtes

Universum, sondern wesentlich die »Welt des Menschen«33. Der Zweck

sensu stricto ist daher stets eine Kategorie der menschlichen Praxis,

 w om it M arx sich m ate ria listisch beschränkt a u f das, was H egels » N atu r-philosophie« den »endlichteleologischen Standpunkt« nennt. Bei Hegel

heißt es: »Praktisch   verhält sich der Mensch zu der Natur, als zu einem

Unmittelbaren und Äußerlichen, selbst als ein unmittelbar äußerliches

und damit sinnliches Individuum, das sich aber auch so mit Recht als

 Zw eck   gegen die Naturgegenstände benimmt.«34

 W ie der »zweckmäßige Wille*3S   des Menschen gegenüber der Natur sich

durchsetzt, entwickelt Marx ausführlich im »Kapital«: »Wir unterstellendie Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen   ausschließlich ange-

hört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln,

und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen

menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten

28 D as Ka pi tal, Bd. I, S. 389, Fu ßno te 89.

29 A. a. O.30 A . a. O ., S. 185.

3 1 Vg l. H egel, System der Philosophie, II, a. a. O ., S. 36.32 Vg l. Hege l, D ie V ernu nft in der Geschichte, a. a. O., S. 29.33 H eilige Fam ilie, S. 11.

34 H ege l, System de r Philosop hie, II, a. a. O ., § 245, S. 35.35 D as K ap ital , Bd. I, S. 186.

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Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in

seinem K o p f geba ut hat, b evo r er sie in W achs baut. A m Ende des A rbe its-

prozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon

in der Vorstellung des Arbeiters,  also schon ideell    vorhanden war. Nicht

daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt;   er verwirk-

licht   im Natürlichen zugleich seinen Zweck,  den er weiß,  der die Art und

 Weise seines Tuns als G esetz bestim m t und dem er seinen W illen unter-ordnen m uß .«36

In der »Kritik der politischen Ökonomie« geht Marx, die Dialektik von

Konsumtion und Produktion darlegend, in ähnlicher Weise auf den

 vorwegnehm enden C h a rak te r der m enschlichen Zw ecksetzu ng ein: »Die

Konsumtion schafft den Trieb der Produktion, sie schafft auch den

Gegenstand, der als Zweck bestimmend in der Produktion tätig ist. Wenn

es klar ist, daß die Produktion den Gegenstand der Konsumtion äußerlichdarbietet, so ist daher ebenso klar, daß die Konsumtion den Gegenstand

der Produktion ideal setzt, als innerliches Bild, als Trieb und als

Zweck.«37

Die bei der Arbeit verfolgten ZweckInhalte sind bei Hegel und Marx

 begrenzt. Bei beid en ob jektiv durch das zu r V erfü gu ng steh ende M aterial

und seine Gesetze, subjektiv durch die Trieb und Bedürfnisstruktur des

Menschen. In Beziehung auf letztere geht Marx, wie gesagt, über Hegel

insofern konkretisierend hinaus, als er die historischsozialen Wurzeln

menschlicher Zw ecke näh er bestimm t.

Daß der Mensch das Resultat seiner Tätigkeit gedanklich vorwegnimmt,

 bed eutet, w ie H egel sagt, kein »H erum treib en in leeren G edanken und

Zwecken«38, sondern schließt ein allgemeines Wissen von der Beschaf-

fenheit der Naturgegenstände bereits ein39. Das vorwegnehmende Wis-

sen setzt ebensosehr ein schon vollzogenes praktisches Handeln voraus,

aus dem es hervorgeht, wie es umgekehrt die Voraussetzung eines jedenHandelns bildet.

Die Materialgebundenheit des menschlichen Tuns ist keine absolute.

Zwar ist auf der einen Seite richtig, daß der zwecksetzende Wille nur im

Einklang mit den materialeigenen Gesetzen, denen er ja von sich aus

nichts hinzufügen kann, sich realisiert; andererseits aber ist das Natur-

material von einer gewissen Plastizität. So kann innerhalb der Grenzen

seiner physikalischen und chemischen Beschaffenheit der Naturstoff 

36 A. a. O.

37 Zur Kritik der politischen Ökon om ie, S. 246.

38 H egel, Phäno m eno logie des Geistes, Meiner, H am bu rg 1952, S. 287.

39 Vgl. dazu auch Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin und Stuttgart 1954,S. 97.

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H o lz die Basis der verschiedensten G ebrauch swerte abgeben, gan z w ie es

umgekehrt in bestimmtem Umfang möglich ist, einen Gebrauchswert,

ohne seine Nützlichkeit zu beeinträchtigen, aus den verschiedensten

Naturstoffen herzustellen.

Innerhalb der Grenzen seiner Eigenbestimmtheit bleibt ein Stoff den

 A rten se iner m enschlichen Form ie rung gegenüber gle ich gü lt ig , w as eben

 bedeutet, daß die Z iels etzu ng nic ht nur dem Stoff, so ndern auch der Stoffder Zielsetzung untergeordnet ist. Treffend und den oben angezogenen

Stellen aus Marx erstaunlich verwandt sind die Bemerkungen Paul Valé

rys in der »Kleinen Rede an die Graphischen Künstler« über die Bezie-

hung von vorwegnehmendem Bewußtsein und gegebenem Stoff: »Der

Mensch handelt; er übt seine Kräfte an einem fremden Stoffe, er sondert

seine Verrichtungen von deren stofflichem Unterbau ab, er hat davon ein

klar umrissenes Bewußtsein; darum kann er sie sich ausdenken undaufeinander abstimmen, ehe er sie ausführt; er kann ihnen die mannig-

fachsten Leistungen aufgeben und sie recht verschiedenen Stoffen anpas-

sen — und gerade dieses Vermögen, seine Vorhaben zusammensetzen oder

seine Entwürfe in gesonderte Verrichtungen zerlegen zu können, ist es,

 was er seine Intell ig enz nen nt. E r ist dem Stoffe seines Unternehm ens

nicht eingeschmolzen, sondern er geht zwischen diesem Stoffe und

seinem Denkbild, zwischen seinem Geiste und seinem Modell hin und her

und tauscht in jedem Au genb lick, was er will  gegen das, was er kann, undwas er kan n,  gegen das, was er erreicht .«40

Indem der Mensch aus der mythischen Naturverfallenheit heraustritt,

streift seine Arbeit ihre »erste instinktartige Form«41 ab. An die Stelle des

naiven Gebrauchs der Natur, vermittelt einzig durch die Leibesorgane,

tritt die bewußte und zweckgerichtete Produktion. Mit fortschreitender

 A u fk läru n g zerreißt die ursprüngliche Einheit des M ensc hen m it der

Natur, um sich als vermittelte wieder herzustellen. Diese höhere, durchs W erkzeu g verm ittelte Einheit von M ensch und N a tu r nennt M a rx Indu-

strie. Mit Hegel und der Aufklärung stimmt er in der Einschätzung der

anthropologischen Rolle des Werkzeugs überein: »Der Gebrauch und die

Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierar-

ten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozeß  

und  Franklin  definiert daher den Menschen als >a toolmaking animal<, ein

 W erkzeu g fabriz ie rendes T ier.« 42

 A usgehend von der H an d , diesem »Werkzeug der Werkzeuge»*3,  wie

40 Paul Valéry, Ub er Kunst, Fran kfurt 1959, S. 69.41 D as Ka pital, Bd. I, S. 186.42 A . a. O ., S. 187 f.

43 H egel, System der Philosop hie, III, Glö ckn er, S. 248.

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des Tätigen gegen das Passive, ist selbst passiv nach der Seite des Arbei-

tenden, und tätig gegen das Bearbeitete.«52

Dem folg t M ar x im »K apital« in der Th eorie des W erkzeu gs als der

daseienden, der materialisierten Vermittlung von Arbeiter und Arbeits-

gegenstand. D a der Mensch »dem N atu rsto ff selbst als eine Na turm acht

gegenübertritt«53, ist das Werkzeug dasjenige, vermöge dessen Tätigkeit

der N atu rst o ff sich m it sich selbst zusamm enschließt.

Unmittelbar hat es der Arbeiter nicht mit der noch unangeeigneten

Natur, seinem Arbeitsgegenstand, zu tun, sondern mit dem Arbeitsmittel,

das für Marx mit dem Werkzeug identisch ist und von ihm folgender-

maßen definiert wird^ »Das  A rbeitsm ittel   ist ein Ding oder ein Komplex

 von D in gen, die der A rbeiter zw is chen sich und den Arbeitsgegenstand

schiebt, und die ihm als  Leiter   seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand

dienen. Er benutzt die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigen-schaften der Dinge, um sie als Machtmittel auf andre Dinge, seinem  

 Z w eck gem äß,  wirken zu lassen.«54

Hier schließt sich Marx unmittelbar der Lehre von der »List der

 Vernunft« an, wie sie in H egels »Logik « und »E nzyklo pädie« entfaltet

 w ird. D ie von M arx zitie rte Ste lle la utet: »D ie V ern u nft ist eben so listig 

als mächtig.  Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Thätigkeit,

 welche, in dem sie die O bjekte ihrer eigenen N a tu r gem äß a u f einander

einwirken und sich an einander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in

diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren   Zweck zur Ausfüh-

rung bringt.«5S

Halten wir an der oben angeführten Marxschen Definition des Werk-

zeugs als des Vermittlers von zweckbestimmter Arbeit und Arbeitsgegen-

stand fest, so lassen sich, je nach der Rolle, die es im Arbeitsprozeß spielt,

drei Formen des Werkzeugs unterscheiden. Es kann sich identisch erhal-

ten, es kann stofflich eingehen in das Ar beitsp rod uk t und es kan n schließ-

52 He gel, Jenenser Realphilosophie, Leip zig 193 2,$. 22 1.53 D as K ap ita l, Bd. I, S. 185.

54 A . a. O ., S. 187. V gl. a. a. O . auch über die gesc hichtliche R olle des Tie rs als eines

 A rbeitsm it te ls . M arx verw endet den B eg riff des »M ittels« noch in ein em um fassen de ren

Sinne. Potentielles Mittel für menschliche Zwecke ist zunächst die gesamte materielle

Realität. Als solche ist sie Produktionsmittel. Die Produktionsmittel wiederum zerfallen

in die hier erörterten, von Menschen bedienten Arbeitsmittel oder Produktionsinstru-mente und in Arb eitsgegenstände. V gl. auch a. a. O ., S. 189.

5 5 H ege l, System der Philosophie, I, a. a. O ., § 209, Zusa tz, S. 420. W ähr end M arx m ateria-

listisch die »List der Vernunft« auf die menschliche Arbeitssituation beschränkt, sieht

Hegel ihre Hauptwirksamkeit im Verhältnis der göttlichen Vorsehung zum Weltganzen

und seiner Entwicklung, weshalb sie auch in seiner Geschichtskonstruktion eine große

Rolle spielt.

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allem an die chemische Fabrikation, bei der dem Rohmaterial Hilfsstoffe

zugesetzt werden, »um darin eine stoffliche Veränderung zu bewirken,

 w ie C h lo r zu r ungeble ic hten L ein w and , K ohle zum Eisen, Farbe zur

 W olle« 60. W ie W erkzeuge überhaupt, so verm itteln auch solche Stoffe

menschliche Zwecke mit dem Arbeitsmaterial, ohne daß jedoch eines

»der angewandten Rohmaterialien als die Substanz des Produkts wieder

erscheint «61. Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand gehen hier ineinanderüber. H ilfsstoffe im engeren Sinne sind fü r M arx solche, die nicht unm it-

telbar auf das Material angewandt werden und ohne mit dem Produkt

etwas zu tun zu haben, »vom  A rbeitsm ittel konsum ie rt   (werden),

 w ie K ohle von der D am pfm aschin e, O el vom R ade, H eu vom

Z u gp ferd . . .«62.

Mit Recht bemerkt Lenin63, daß Hegel, indem er die Rolle des Werk-

zeugs nicht nur für den Arbeits, sondern auch für den Erkenntnisprozeß

hervorhebt, zu einem Vorläufer des historischen Materialismus wird. Wie

Hegel insgesamt die metaphysische Starre, die über allen vordialekti-

schen Fassungen des Problems von Freiheit und Notwendigkeit liegt,

überwindet, so verflüssigt er auch den verdinglichten Gegensatz von

Teleologie und N aturk ausa lität. W enn für M arx die List des Menschen

darin besteht, »die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigen-

schaften« der von ihm als Arbeitsmittel benutzten Dinge »als Macht-

mittel auf andre Dinge, seinem Zweck gemäß,  wirken zu lassen«64, soliegen diesem Gedanken Hegels Erörterungen über das Verhältnis der

Kategorien MechanismusChemismusTeleologie in der »Wissenschaft

der Logik« zu Grunde. Sie sind für das Verständnis der materialistischen

D ialektik von großer W ichtigkeit.

Mechanismus und Chemismus sind Kategorien der Objektivität, die

Hegel deshalb unter der Naturnotwendigkeit65 zusammenfaßt, weil

 beid e gegenüber dem Z w eck , als dem »fürsichseyenden Begriff*66,  das V ersenktsein des Begriffs in die Ä u ß erli ch keit kennzeic hnen. Besteht die

These des Mechanismus darin, daß die Naturkörper bei allen Unter-

schieden das eine Gemeinsame haben, daß sie einander gleichgültig und

abstraktäußerlich gegenüberstehen, so hebt der Chemismus, den Hegel

etwas weiter faßt als den Gegenstandsbereich der Chemie, hervor, daß

60   D as K ap ital, Bd. I, S. 190.61 A . a. O .

62  A. a . O.

6 3 Lenin, Aus dem philosophischen N ac hla ß, a. a. O ., S. 109.64 D as K ap ital, Bd. I, S. 187.

6 5 H egel, Wissenschaft der L og ik, a. a. O., vgl. S. 385.

66   H egel, System der Philosophie, I, a. a. O ., § 204, S. 413.

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sie ebensosehr nur sind in ihrer schlechthinnigen Bezogenheit aufeinan-

der, im Wechsel der Formen, wobei freilich zugleich ihre unmittelbare

Selbständigkeit gewahrt bleibt. Hegel beschreibt den chemischen Prozeß

folgendermaßen: »Der Proceß ist das Herüber und Hinübergehen von

einer Form zur ändern, die sich zugleich noch äußerlich bleiben. — Im

neutralen Produkte sind die bestimmenden Eigenschaften, die die

Extreme gegen einander hatten, aufgehoben.«67 Angesichts des U m stands, d aß der chemisch e Prozeß, bei dem die G egen -

sätze vermittelt werden und doch innerhalb der Vermittlung als solche

erhalten bleiben, an sich   schon das ist, was der menschliche Arbeits-

prozeß  fü r sic h   ist, nimmt es nicht wunder, daß Marx im »Rohentwurf«

ebenfalls vo m »neutralen Resu ltat«68 spricht, wen n er ausdrück en w ill,

daß im G ebrauch swert N atursto ff und menschliche Arb eit zw ar verbun -

den sind, sich aber zugleich äußerlich bleiben. Das Neutrale ist ein

Trennbares69.

Erst mit dem organischen Leben70, mit dem Erscheinen des Menschen als

eines selbstbewußten, tätigen Subjekts kann sich Natur mit sich selbst

zusammenschließen, deshalb nämlich, weil sie in der Arbeit sich von sich

abstößt, in »Naturstoff« und zwecksetzender »Naturmacht« Mensch sich

selbst gegenüber tritt, wie Marx sagt71. Das Fürsichsein des Menschen

 besteht in se inem Verm ögen, die N a tu r in ih rem M echanismus und

Chemismus für sich arbeiten zu lassen, durch sie hindurch seine Zweckezu realisieren. In der Teleologie der Arbeit erblickt Hegel die höhere

Einheit und »Wahrheit« von Mechanismus und Chemismus72. In ihr

67 A . a. O ., § Z02, S. 412 .

68 Rohentwurf, S. 208.

69 A. a. O., vgl. besonders S. 265.

70 Vg l. die von Lenin im Anschluß an Hegel gegebene Bestimm ung: »Leben = das indivi-duelle Sub jekt scheidet sich ab vo n dem Ob jektiven.« Aus dem philosophischen N ach laß,

a. a. O., S. 125.

71 D as K ap ital, Bd . I, S. 185. D a He gel, wie Ad orn o sagt (vgl. Aspe kte, a. a. O ., S. 29),

nicht den Geist zu einem Moment der Arbeit, sondern die Arbeit zu einem Moment des

Geistes erklärt, so kann er auch nicht in Marxscher Weise in der Zweckbeziehung eineSelbstverm ittlung der N at u r sehen, sondern muß sie als Schluß »des selbständigen freien

Begriffs« betrach ten, »der sich durch die O bje ktiv ität m it sich selbst zusammenschließt«,

(Lo gik, II, a. a. O ., S. 390). D er realisierte Z w eck ist daher n icht nur »E inheit desSubjektiven und Ob jektiven«, in M arxscher Sprache: Verbindung von A rbeit und N atu r-

stoff, sondern, als Vorstufe der Idee, deren an sich seiende Identität.72 Zu m V erhältnis der Katego rien M echanismusChem ismusTeleologie vgl. G. Lukäcs,

D er junge H ege l, Be rlin 1954» S. 397 ff. Vgl. ferner Lenin, Au s dem philosophischen

N ach laß, a. a. O ., S. 107 ff., w o das Z we ckve rhältnis als ein bisher nicht genügend beac htete s M om en t in der Bezie hung H egel M arx deutl ich gem acht w ir d. Lenin über-

setzt wesentliche Abschnitte der Hegelschen »Logik« ins MateriaiistischDialcktische,

 w obei er die m ech anischen und ch em isch en G esetze als » G rundla gen der  zw eck m äßig en

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kehren, wenngleich auf höherer Stufe, die Momente des chemischen

Prozesses wieder. Arbeiter und Arbeitsgegenstand sind einander äußer-

lich und doch durchs Werkzeug aufeinander bezogen: »Die teleologische

Beziehung ist der Schluß, in welchem sich der subjektive Zweck mit der

ihm äußerlichen Objektivität durch eine Mitte zusammenschließt, wel-

che die Einheit beider, als die  zw eckm äßig e T hätig keit ,  und als die unter

den Zw eck unmittelbar  gesetzte Objektivität, das  M ittel,  ist.«73Die endlichteleologische Tätigkeit des Menschen sprengt den Naturzu-

samm enhang nicht. Es bedarf zu ihrer Erkläru ng keines der N atu r trans-

zendenten Prinzips (sosehr sie als geschichtliche  Tätigkeit Natur »ne-

giert«). Die der Natur gegenüber zunächst fremden Zwecke bedienen

sich ihrer nicht nur, sondern haben selbst natürliche Ursachen. Mit der

Gesellschaft vermittelt, s ind die Naturdinge zwar, wie MerleauPonty

sagt, »transnaturel«, nicht aber »surnaturel«74 geworden.Hegel hat wie nur Marx ein Bewußtsein von der schlechten Unendlich-

keit, die im Naturzwang zur Reproduktion des Lebens liegt. So, wenn er

über das Resultat der menschlichen Arbeit spricht: »Es ist... nur eine an

dem Vorgefundenen Material äußerlich  gesetzte Form zu Stande gekom-

men, die wegen des beschränkten ZweckInhalts gleichfalls eine zufällige

Bestimmung ist. Der erreichte Zweck ist daher nur ein Objekt, das auch

 w ie der M ittel oder M aterial für andere Z w ecke is t und so fo rt ins Unend-

liche .«75 

Das Arbeitsprodukt, der realisierte Zweck, bleibt »ein.. . in sich gebro-

chenes«76. Die in ihm gesetzte Versöhnung von Mensch und Natur ist

keine endgültige. Die meisten Naturgegenstände unterliegen einer gan-

zen Reihe von Bearbeitungen. Der nächst höheren Phase eines Arbeits-

prozesses erweist sich das geformte Material wiederum als ein Unquali-

fiziertes, was auch Marx bei seiner Analyse der Arbeit immer wieder

hervorhebt: »Durch ihren Eintritt als  P rod uktion sm ittel   in neue Arbeits-prozesse verlieren Produkte daher den Charakter des Produkts. Sie

funktionieren nur noch als gegenständliche Faktoren der lebendigen

 A rbeit.« 77

 W as für einen is oliert betrachte ten N a tu rs to ff im H in b lick a u f die Stufen

Tätigkeit des Menschen« hervorhebt. Die dem Zweck äußerliche mechanische und

chemische Kausalität ist zugleich das Mittel seiner Realisierung. Zielsetzende Tätigkeitund Naturgesetz durchdringen einander als zwei Seiten des einen objektiven Prozesses.

73 H ege l, System der Philosophie, I, a. a. O., § 206, S. 417 f.

74 Vg l. M aurice MerleauPon ty, Marxisme et philosophie, a. a. O ., S. 230.75 H ege l, System der Philosophie, I, a. a. O ., § 2 11 , S. 421.76 A. a. O.

77 Das Kapital, Bd. I , S. 191.

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seiner Umformung gilt , charakterisiert das Verhältnis von Mensch und

N atu r in der Geschichte d er Gesellschaft schlechthin.

In der hier erörterten Struktur der Arbeitssituation mit ihrem Ineinander

 von wechse lseit iger G le ich gü ltig k eit und B ezogenheit der M om ente, m it

dem Angewiesensein des Menschen auf die objektive Welt und ihre

Gesetze und der Nichtigkeit dieser Welt gegenüber seiner umwälzenden

Praxis, reflektiert sich die widerspruchsvolle Einheit der Erkenntnismo-mente bei Marx, von der im folgenden zu reden ist, wobei gezeigt werden

soll, wie erkenntnistheoretischer Realismus und (gesellschaftlich gewen-

deter) Subjektivismus — vermittelt durch historische Praxis — bei Marx

sich durchdringen.

 B) Zum B e g riff de r Erkenntnis theorie bei M arx 

 W er den N a tu rb e g riff eines im strengen Sin ne neuzeit lichen D enkers

erörtert, kommt nicht umhin, auf dessen erkenntnistheoretische Position  

e inzugehen. Es gehört zum ökonomischen Übergang von der mittelal-

terlichen zur bürgerlichen Gesellschaft, daß Natur erkenntnistheoretisch

sich immer mehr als ein »Gemachtes«, immer weniger als ein schlicht

»Gegebenes« darstellt. Je umfassender die organisierten Eingriffe in die

Naturvorgänge werden, als desto unzulänglicher erweist sich ein Begriff

 von Erkenntn is , der sich im passiv en N ach bild en objektiver Strukturen

erschöpft.

Kants Rede von der Natur als dem Dasein der Dinge unter Gesetzen

setzt die transzendentalphilosophische Reflexion auf die subjekteigenen

Formen voraus, unter deren Bedingung überhaupt erst so etwas wie eine

geordnete Welt der Erfahrung zustande kommt. In der nachkantischenSpeku lation, welche die Tra nszen den talphilosop hie in idealistische D ia -

lektik überführt, wird der Gedanke der subjektivbegrifflichen Vermit

teltheit eines jeglichen Unmittelbaren zum tragenden Motiv. Auch bei

Marx geht diese Problematik nicht verloren, wenn auch als Vermit-

telndes nicht ein unendlicher Geist, sondern der historische Lebenspro-

zeß endlicher M enschen fungiert.

In dem bis jetzt Dargestellten mußte die vorliegende Arbeit, die es mit

den Hauptmomenten des historischen Prozesses zwischen Natur und

Gesellschaft zu tun hat, schon deshalb, w eil für M arx Subjekt und O bjek t

der Erkenntnis nicht voneinander ablösbar sind, auf Schritt und Tritt

immer auch Probleme berühren, die unter den Begriff der Erkenntnis-

theorie fallen.

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Es soll nunmehr versucht werden, über das bis jetzt Gesagte hinausge-

hend, expliz i t    auf die bei Marx vorliegende erkenntnistheoretische Posi-

tion zu reflektieren. Das ist um so notwendiger, als man in der Literatur

noch immer erheblichen Mißverständnissen begegnet, sei es, daß Marx

einfach mit der heute im Osten in populären Traktaten propagierten

»Abbildtheorie« zusammengebracht wird, sei es, daß die mit der Marx

schen Kritik am Idealismus zweifellos einhergehende Kritik an der philo-

sophischen Haltung als solcher so verstanden wird, als müsse Marx jedes

Interesse oder Verständnis für erkenntnistheoretische Fragen abgespro-

chen werden, sei es schließlich, daß philosophisch wesentliche Äußerun-

gen von Marx, nur weil sie nicht in der Sprache der traditionellen

Universitätsphilosophie vorgebracht werden, unbeachtet bleiben.

Zunächst einmal ist zu klären, in welchem Sinne bei Marx überhaupt von

einer Erkenntnistheorie gesprochen werden kann. Vor allem deshalb, w eil die krit ische Theorie im m er w ieder nach ir gendein er erkenntnis -

theoretischen »G run dlegu ng« du rchsuch t w ord en ist78, die M ar x nicht nur

nicht geben will, söndern dem fortgeschrittenen Stand des philosophi-

schen Bewußtseins nach, wie er ihm in Hegels System entgegentritt, auch

nicht zu geben braucht. M it Recht m acht Ko nrad Bek ker in seiner Disser-

tation darauf aufmerksam, daß die im Hegelschen Sinne »abstrakte«

kritizistische Fragestel lung nach den Bedingungen der Möglichkeit von

Erkenntnis für Marx durch Hegels Kantkritik gegenstandslos geworden

ist79.

Für Marx ist wie für Hegel die höchste Gestalt der Erkenntnistheorie die

Philosophie der Weltgeschichte. Der Erkenntnisvorgang läßt sich nicht

als eine ein für al lemal fixierbare Beziehung von Subjekt und Objekt

 beschreiben . D ie Lehre vo n der Einheit v o n Theorie und P raxis, w ie sie

der klassischen deutschen Philosophie und, in abgewandelter Form, der

materialistischen Dialektik eigentümlich ist, bedeutet, daß den verschie-denen geschichtlichen Formen des menschlichen Kampfes mit der Natur

auch verschiedene theoretische Spiegelungen entsprechen, die zugleich

konstitutives M om ent und A usdru ck dieses Kam pfes sind.

 W ie die abstrakten M om ente eines jeden A rbeitsprozesses, »die  zw eck-

mäßige Tätigkeit   oder die  A rb e it selb st,   ihr Gegenstand   und ihr

78 D a sich eine solche »G rundlegung« bei M arx — aus hier zu erörtern den G ründ en — nifchtnachweisen läßt, versuchte der Austromarxismus, Marx als »naiven Realisten« mißver-

stehend, die Theorie subjektividealistisch bzw. neukantianisch zu »verbessern« oder zu

»ergänzen«.

79 Kon rad Bek ker, Marx* philosophische En twicklun g, sein Verh ältnis zu Hege l, Disserta-tion, Zürich—New York 1940, vgl. besonders S. 48.

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 Mittel«*0,  eine sich jeweils geschichtlich neu formierende Einheit in

der Verschiedenheit bilden, so treten auch Sinnlichkeit und Verstand,

 Anschauung und B e g riff in w echseln de K on stellationen zuein ander. D ie

Erkenntnismomente ändern sich in dem Maße, in dem die Menschen in

ein neues produktives Verhältnis zueinander und zur physischen Natur

treten. Wie im Produktionsprozeß die »Trennung der Arbeit von ihren

gegenständlichen Daseinsmomenten — Instrument und Material — aufge-

hoben«81 ist, so lassen sich auch theoretisch Methode und Sache nicht

trennen.

Das erkennende Bewußtsein ist eine Form des gesellschaftlichen, nichts,

 was sich abgelö st vo n Psych olo gie und menschlicher Geschic hte bestim -

men ließe82. Die theoretischen Funktionen, sinnliche wie rationale, bil-

den einen Aspekt des sich in geschichtlicher Arbeit entfaltenden mensch-

lichen Wesens. Dazu bemerkt Marx in den Pariser Manuskripten: »Mansieht, wie die Geschichte der  Industrie   und das gewordene gegenständ-

liche  Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch   der menschlichen  

Wesenskräfte,  die sinnlich vorliegende menschliche  Psychologie   i s t . . .

Eine  Psycholo gie ,  für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwär-

tigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur

 wirklichen in halt vollen und reellen Wissenschaft werden.«83

Dem entspricht ganz, was er, von Feuerbach sich abgrenzend, von der

Sinnlichkeit sagt: »Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen

 bisherigen W eltgeschichte.« 84

Daß auch die Fähigkeit rationaler Erkenntnis, von Marx »Verarbeitung

 von A nschauu ng und V orstellu n g in B egriffe«85 genannt, kein e starre

Gegebenheit des Bewußtseins, sondern ein geschichtlich Entsprungenes

und Veränderliches darstellt, wurde bereits im vorigen Abschnitt bei der

Erörterung der Rolle des Werkzeugs hervorgehoben. Engels unter-

streicht in der »Dialektik der Natur« die große Bedeutung der prakti-schen Naturbeherrschung für die Entwicklung des Denkvermögens:

»Naturwissenschaft wie Philosophie haben den Einfluß der Tätigkeit des

Menschen a u f sein D enk en bisher ga nz vernachlässigt, sie kennen nur die

Natur einerseits, Gedanken andrerseits. Aber grade die Veränderung der 

 N atu r durch den M enschen,  nicht die Natur als solche allein, ist die

80 Das Kapital, Bd. I, S. 186.81 Ro hen twu rf, S. 269.

82 Zum Sub jektbegriff des dialektischen Materialismus vgl. auch G. A . W etter, Der dialek-

tische Materialismus, Freiburg 1952, S. 254.

83 Na tion alöko no m ie und Philosop hie, a. a. O ., S. 192 f.84 A . a. O ., S. 190.

8 5 Kr itik der politischen Ö ko no m ie, S. 258.

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 w esentl iche und nächste G ru n dlage des m enschlichen D enkens, und im

 V erh ält nis, wie der M ensch die N a tu r verändern lernte , in dem

 V erhält n is wuchs seine In tell igenz.«86

In einer seiner letzten Arbeiten, den kritischen Randglossen von 1879/80

zu Adolph Wagners »Lehrbuch der politischen Ökonomie«, l iefert Marx

eine Art Genealogie des begrifflichen Denkens, die trotz ihres hohen

erkenntnistheoretischen Interesses bis jetzt noch nicht ausgewertet wor-

den ist. Die merkwürdige Stelle soll daher, trotz ihres Umfangs, hier

 wiedergegeben w erden: » . . . bei einem Professoralschulm eis ter sind die

 Verhältnis se der M enschen zu r N a tu r vo n vornherein n icht  praktisch e, 

also durch die T at begründete Verhältnisse, sondern theoretische . . . (Der)

Mensch steht im Verhältnis zu Dingen der Außenwelt   als Mittel zur Be-

friedigung seiner Bedürfnisse. Aber die Menschen beginnen keineswegs

damit, >in diesem theoretischen Verhältnis zu  D in gen der A u ßenw elt   zustehen<. Sie fangen, wie jedes Tier, damit an,  zu essen, zu tr in ken   etc.,

also nich t in einem V erh ältn is z u >stehen<, sondern sich aktiv zu verhalten, 

sich gewisser Dinge der Außenwelt zu bemächtigen durch die Tat, und so

ihr Bedürfnis zu befriedigen. (Sie beginnen also mit der Produktion.)

D u rch die Wied erholun g dieses Prozesses prä gt sich die Eige nscha ft dieser

Dinge, ihre Bedürfnisse zu befriedigen«, ihrem Hirn ein, die Menschen

 w ie T iere lernen auch >theoretisch< die äußern D in ge, die zu r B efrie dig ung

ihrer Bedürfnisse dienen, vo r allen ändern unterscheiden. A u f gewissem

Grad der Fortentwicklung, nachdem unterdes auch ihre Bedürfnisse und

die Tätigkeiten, wodurch sie befriedigt werden, sich vermehrt und weiter-

entwickelt haben, werden sie auch bei der ganzen Klasse diese erfahrungs-

mäßig von der übrigen Außenwelt unterschiednen Dinge sprachlich

taufen. Dies tritt notwendig ein, da sie im Produktionsprozeß — i. e. An-

eignungsprozeß dieser D in ge — fortdauernd in einem werktätigen Um gang

unter sich und m it diesen D inge n stehn und bald auch im K am p f mitändern um diese Dinge zu ringen haben. Aber diese sprachliche Be-

zeichnung drückt durchaus nur aus als Vorstellung, was wiederholte

Bestätigung zur Erfahrung gemacht hat, nämlich daß den in einem

gewissen gesellschaftlichen Zusammenhang bereits lebenden Menschen

— dies der Sprache wegen notwendige Voraussetzung — gewisse äußere

D ing e zu r Be friedigun g ihrer Bedürfnisse dienen.«87

Zu nä ch st stellt M ar x hier, wie es seit den Feuerbachthesen seiner ph ilo

86 D ialekt ik der N atu r, S. 245.

87 Randglossen zu Adolph Wagners Lehrbuch der politischen Ökonomie. In: MarxEngels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 362 f.

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sophischen Entwicklung entspricht, gegenüber Adolph Wagner heraus,

daß die Beziehung der Menschen zur Natur nicht als solche abstrakt zu

fixieren ist, daß sie nicht in erster Linie theoretischbetrachtender,

sondern praktischum gestaltender A rt ist. D ie hieran sich anschließenden

Gedanken finden sich im ganzen Marxschen Werk nicht noch einmal in

solch drastischer W eise form uliert. Sie zeigen auch, da ß M ar x keines-

 wegs, wie m itunte r gesagt w ird , ein gän zlich unpsycholo gischer D en ker

ist.

Die Produktion geht aus sinnlichen Bedürfnissen hervor. Mit ihr

entfalten sich alle über die Unmittelbarkeit des Vorhandenen hinausge-

henden menschlichen Fun ktionen. D ie N atu r erscheint zunäch st als eine

undifferenzierte, chaotische Masse äußerer Stoffe. Aus dem sich wieder-

holenden Umgang mit der Natur, wie er Mensch und Tier gemeinsam ist,

geht eine erste grobe Einteilung ihrer Gegenstände nach Maßgabe derdurch sie bereiteten Lust oder Unlust hervor. Es ist die elementare theo-

retische Leistung dieser Stufe, Unterschiede festzuhalten, Gegenstände,

mit denen sich lustbetonte Assoziationen verbinden, aus den übrigen

herauszuheben. Der ökonomisch fortgeschritteneren und daher organi-

sierten menschlichen Gruppe und den in ihr aufkommenden Gegensät-

zen entspricht als höhere theoretische Leistung die nominalistische Klas-

sifikation88 der N aturg egen ständ e, jetzt im H inb lick a u f w irkliche

Beherrschung. Das Besondere wird unter das AbstraktAllgemeine subsu-

miert. Wie für N ietzsche , so steht für M ar x ursprü nglich hinter der

geistigen Tätigkeit des Menschen der »Wille zur Macht« gegenüber den

Dingen und seinesgleichen. Der Geist ist ursprünglich leer. Die von ihm

gebildeten Begriffe sind das Produkt angehäufter praktischer Erfah-

rung89. Ihr Wert erschöpft sich im Instrumentalen. Bei allem Materia-

lismus dieser Ansich t ist indessen festzuhalten, d aß M arx in den Be griffen

keine naivrealistischen Abdrücke der Gegenstände selber, sondern Spie-gelungen von geschichtlich vermittelten Beziehungen der Menschen zu

ihnen erblickt.

88 Dieser schroffe N om inalismu s steht im Geg ens atz zur Einheit von Begriffsrealismus und

Nominalismus, wie sie bei der ökonomischen Analyse vorliegt. Vgl. zum Wesen der

Begriffe bei M arx auch den Br ief vom 20. 9. 1884 von Engels an K. Ka utsky. In: M arx

Engels, Ausgewählte Briefe, S. 451.

89 Lenin versucht gan z ähnlich im philosophischen N ach laß den axiomatischen Ch arak terder logischen Figuren aus gehäu fter Erfahrung abzuleiten: »D ie praktische Tä tigk eit desMenschen mußte Milliarden Male das Bewußtsein des Menschen zur Wiederholung der

 ve rs ch iedenen lo gis chen Fig uren fü hre n, damit    diese Figuren die Bedeutung von

 A xio m en   erhalten konnt en .« (S. 110) Diese Ableitung krankt wie die von Dürkheim

daran, daß die logischen Formen, die der Praxis entspringen sollen, zugleich schon

 vorausgesetz t werden müssen, d am it es überhaupt zu r P raxis kom m t.

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der bisherigen Literatur nicht genügend beachteten erkenntnistheoreti-

schen  Charakter der Dialektik in ihrer Hegelschen wie Marxschen

 Versio n: »Im >Kapital< w erden au f eine D iszip lin (n äm lich die politi sche

Ökonomie, A. S.) Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie des Material is-

mus (man braucht nicht drei Worte: das ist ein und dasselbe) angewendet,

der alles, was bei Hegel wertvoll ist, sich angeeignet und dieses Wertvolle

 w eiterentw ic kelt hat.« »D ie D ia lek tik ist eben  die Erkenntnistheorie(Hegels und) des Marxismus: gerade diese >Seite< der Sache (es ist nicht

eine >Seite<, sondern das Wesen  der Sache) ließ Plechanow unbeachtet,

 von anderen M arxisten g an z zu schweig en.« 92

Im folgenden Abschnitt, der sich mit dem Inhaltlichen des Erkenntnis-

problems bei M ar x besch äftigt, ist zu zeigen, in w elcher Weise die histori-

sche Praxis der Menschen in ihrer Totalität die logische Einheit nicht nur

der subjektivmenschlichen Erkenntnisvermögen, sondern auch dessen,

 was je weils E rfah ru ngsw elt heiß t, konstituie rt.

C) W eltkonstitution als historische Praxis

Nichts un terscheidet den authentischen so sehr vom vulgäre n M arxismus,

 wie sein V erh ält nis zu den aus der D enkbew egu ng von K an t bis H egel

sich ergebenden Problemen. Trotz aller kritischen Einwände gegen Phi-losophie überhaupt ist Marx seinem ganzen Ansatz nach dem deutschen

Idealismus zutiefst verpflichtet. So kritisieren die Feuerbachthesen am

gesamten herkömmlichen Materialismus, daß er die Wirklichkeit einsei-

tig als in der Anschauung gegebenes Objekt, »nicht aber als menschliche  

sinnliche Tätigkeit, Praxis,  nicht subjektiv«93 gefaßt habe. Nachdem ein-

mal die idealistische Philosophie, namentlich in ihrer Kantischen Gestalt,

gezeigt hat, daß die anschaulich gegebene Erfahrungswelt kein Letztesist, sondern immer schon das Resultat formierender und Einheit stif-

tender subjektiver Leistungen, ist Marx sich dessen bewußt, daß materia-

listische K ritik, w ill sie nicht in einen prim itiven O bjektivism us z urü ckfa l-

len, nicht darin bestehen kann, die idealistische Einsicht als solche

abstrakt in Abrede zu stellen, sondern in einer nicht mehr idealistischen

Neufassung des Problems, wie eine gegenständliche Erfahrungswelt und

ein einheitliches Bewußtsein von ihr möglich seien.

92 Lenin, Au s dem philosophischen N ach laß , a. a. O ., S. 288, S. 249, vg l. auch S. 126. Mitdem ungenügenden Verständnis des erkenntnistheoretischen Charakters der Dialektik

hängt auch zusammen, daß sie bei Autoren wie Plechanow fast stets als eine Art von

»Beispielsammlung« auftritt.93 Erste These über Feuerbach. In: M arxE nge ls, U ber Religion , S. 54.

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Die organisierte gesellschaftliche Arbeit, das »reale Subjekt«94, der im

Lebensprozeß Gestalt annehmende »general intellect«95, das Wirken des

die individuellen Tätigkeiten übergreifenden »Gesamtarbeiters«96

erweist sich dem Materialismus als die Wahrheit des idealistischen

Begriffs von Sub jektivität.

Mit der allzu abstrakten Fassung des Moments der subjektiven Tätigkeit

und damit, daß diese sich von Kant bis Hegel immer mehr zur spekula-tiven Konstruktion der Welt erweitert, geht für Marx notwendig der

Umstand einher, daß das andere, auch am seitherigen Materialismus

schon wahre Moment, daß nämlich Sein und Dingstruktur auf Denken

sich nicht reduzieren lassen, verlorengeht. In einer materialisierten

Gestalt kehrt in seiner Theorie das Problem der Weltkonstitution inso-

fern wieder, als sie versucht, vermittels des Praxisbegriffs sowohl das

idealistische Erzeugungsmoment als auch das Moment der Bewußtseins-

unabhängigkeit am äußeren Sein zu retten. Marx kritisiert daher den

alten Materialismus, indem er idealistisch, den Idealismus, indem er

materialistisch argumentiert. Das Eigentümliche dieser doppelten Front-

stellung arbeitet J.P. Sartre in seiner Schrift »Matérialisme et révolu-

tion«, allerdings unter dem Aspekt der Revolution, scharf heraus: »Idéa-

lisme et matérialisme font s’évanouir pareillement le réel: l ’un parce qu’il

supprime la chose, l ’autre parce qu’il supprime la subjectivité. Pour que

la réalité se dévoile, il faut qu’un homme lutte contre elle; en un mot, leréalisme révolutionnaire exige pareillement l ’existence du monde et de la

subjectivité; mieux, il exige une telle corrélation de l’une et de l’autre

qu ’on ne puisse con cev oir une su bjectivité en dehors du monde ni un

monde qui ne serait pas éclairé par l’effort d’une subjectivité.«97

Schon vor seiner kritischen Auseinandersetzung mit Feuerbach nimmt

M arx A nsto ß an dem starren D ualismu s der erkenntnistheoretischen

Positionen, der seit Descartes das neuzeitliche Denken beherrscht unddessen Überwindung von der deutschen Philosophie auf spekulativer

Basis versucht wurde. In den Pariser Manuskripten heißt es: »Man sieht,

 w ie Subje ktiv is m us und O bje ktivism u s, Spir itualism us und M ateria lis-

mus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren

Gegensatz, und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verl ieren; man

sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze   selbst nur   auf eine

praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich

94 Kr itik der politischen Ö ko no m ie, S. 2 $8.

95 Ro hen tw urf, S. 594.

96 D as K ap ital, Bd. I, S. 533 f.97 JeanPaul Sartre, M atérialisme et révolution. In: Situations, I, Paris 195 7, S. 213.

11 4

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l ichkeit zu ihrer Verän derun g überzugehen. »Das Bewußtsein . . . wider-

spiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.«102. In

Industrie überführt, wird Natur zu einem Nichtigen. Ihr »Ansichsein« als

eine dem tätigen Bewußtsein »entgegengesetzte Wirklichkeit ist zum lee-

ren Scheine herabgesunken«103, sagt Hegel in der »Phänomenologie«.

In der dargelegten  praktischen   Verschlingung von Objektivismus und

Subjektivismus, wie sie die Dialektik der Arbeit bei Hegel und Marxkennzeichnet, reflektieren sich die Grundpositionen neuzeitlicher

Erkenntnistheorie. Umgekehrt, und das ist der in dieser Form nur  Marx

eigentümliche, materialistische Gedanke, reflektieren diese Grundposi-

tionen praktische Stufen der Produktion und ihren historischen Über-

gang ineinander.

Soweit die Menschen auf ein unabhängig von ihnen existierendes Mate-

rial verwiesen sind, ist in der Tat, wie der Sensualismus behauptet, nichtsin ihrem Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war. Die andere Seite,

daß nämlich die passive Aneignung der Natur ebensosehr ihre Umgestal-

tung beinhaltet, bezeugt, daß Hegels Umkehrung des sensualistischen

Prinzips in den Satz, daß nichts in den Sinnen sei, was nicht vorher im

Intellekt war, mit dem Übergang in die bürgerliche Ära immer mehr

 W ahrheit für sich beanspruchen kann. D ie M enschen lassen sich ihre

Zwecke nicht passiv von der Natur vorschreiben, sondern subsumieren

 vo n vornherein diese unter jene. »Am Ende des Arbeitsprozesses kom m tein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung 

des Arbeiters,  also schon ideell  vorhand en w ar .«104

Die vormarxschen Materialisten, nach deren Lehre die Natur als solche,

abgelöst von ihrer praktischen Veränderung durch die Gesellschaft, als

Quelle der verschiedenen Formen der Rückspiegelung im Bewußtsein zu

gelten hat, verkennen, daß bereits die einfachsten Wahrnehmungsbilder

 A b strak tio n voraussetzen und begriffliche Elem ente enthalt en 105. Wiealle Abstraktion auf Wahrnehmung, so beruht al le Wahrnehmung als

solche von wirklich oder vorwegnehmendgedanklich bearbeiteten  D i n -

102 Len in, Au s dem philosophischen N ach laß , a. a. O ., S. 134.

103 H egel, Phän om enologie des Geistes, a. a. O ., S. 287.

104 D as Ka pit al, Bd. I, S. 186.

105 Vg l . dazu auch M. H orkheimer u. Th . W. Adorn o, D ialektik der Aufklärun g, a . a. O. ,

S. 107 f., wo auf das wahrnehmungsphysiologische Moment verwiesen wird. In seiner

Sch rift W iderspiegelun g und Be griff, Berlin 1958, die eine prinzip ielle Kläru ng des in dermarxistischen Literatur immer wieder zur Kennzeichnung der Erkenntnisrelation

 benutz te n Begrif fs der »W id er sp ie ge lung« versucht, ze ig t J. H . H orn , d aß die Q uelle der

punktuellen Empfindungen schlechterdings »Natur« sein muß. Die Differenz zwischen

gesellschaftlich angeeigneter und noch unangeeigneter Natur ist auf der Stufe des

Empfindens irre leva nt »Aber bereits in den W ahrnehm ungen ist ein gedanklichbegrifflich es Elem ent m it enth a lten . . S. 94, vg l. a uch S. 96 ff.

1 16

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gen auf begriffl ichen Operationen. An den Wahrnehmungsinhalten läßt

sich nicht trennen, was auf bloße Natur und was auf menschlichen

Eingriff zurückgeht. Im Anschluß an die Marxsche These, daß die

Psychologie nur dann eine inhaltsvolle Wissenschaft werden könne, wenn

sie von der Geschichte der Industrie nicht abgetrennt werde, legt der

Psychologe S. L. Ru binstein dar, wie die gesamte W ahrne hm un gsw elt

und die Wahrnehmungsweisen von den Formen der menschlichen Betäti-gung an den Naturgegenständen abhängen: »Wenn wir speziell die

menschlichen Wahrnehmungen und ihre historische Entwicklung

 betrachten, so ze igt sich h i e r . . . die A b h än g ig k eit der Form der R ezep -

tion von der des Handelns als eine Abhängigkeit der spezifisch menschli-

chen Wahrnehmung und ihrer Entwicklung von der der gesellschaftli-

chen Praxis: Die gesellschaftliche Praxis verwandelt die Natur und

erzeugt das gegenständliche Sein der vermenschlichten Natur. Damitruft sie neue Formen der spezifisch menschlichen Wahrnehmung teil-

 weise hervor, te ilw eise en tw ickelt sie diese. D ie spezif is ch m enschlich en

Formen der Wahrnehmung sind nicht nur Voraussetzung der spezifisch

menschlichen Tätigkeit, sondern auch ihr Produkt.«106

 Wie die M enschen in ih rer Praxis nicht bei der sich darbie te nden U n m it-

telbarkeit des Naturseins beharren, sondern zu seiner vermittelteren

industriellen Aneignung übergehen, so bleiben sie auch nicht beim sinn-

lichkonkreten Wissen stehen, wie die Wahrnehmungen es liefern, son-dern gehen zum begrifflichen Wissen über, das tiefere Wirklichkeits-

schichten erschließt und sich somit als »konkreter« erweist als das sinn-

liche Wissen, das seiner Form nach farbig und lebendig, inhaltlich

dagegen arm an Bestimmu ngen und daher ab strakt ist. Au ch im M ateria-

lismus gilt Hegels Einsicht von der Konkretheit des Begriffs, durch

 welch e die Fülle der im G egenstand waltenden Bezie hungen und G esetz-

mäßigkeiten enthüllt wird. Allerdings mit der wesentlichen Korrektur,daß der Begriff ans erkennende endliche Bewußtsein gebunden bleibt,

 weshalb er auch n icht als »D em iu rg des W irklich en «107 aufzutreten

 verm ag. D ie im Z usam m enhang m it der Sch rift »Zur K ritik der p o li ti-

schen Ökonomie« entstandenen methodologischen Erwägungen halten

gegenüber Hegel ausdrücklich fest, daß die »Bewegung der Katego-

rien«108 streng unterschieden werden muß von der durch sie reprodu-

zierten Wirklichkeit. Die ökonomische Analyse hebt an mit dem »Kon-

106 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, Moskau 1946, Berlin 1948,

Übersetzung aus dem Russischen, S. 131.107 Das Kapital, Bd. I, S. 18.

108 Kritik d er politischen Ö ko no m ie, S. 2 $8.

117

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kreten« im landläufigen Sinne, mit einer Fülle dessen, was die Positivi

sten als »Tatsachen« bezeichnen. Näher betrachtet, zeigt es sich jedoch,

daß diese Tatsachen in ihrer Isolierung pure Abstraktionen sind. Erst

indem das wirklich begreifende Denken die vielen abstrakten und einsei-

tigen Bestimmungen des gegebenen Prozesses verarbeitet, entsteht ein

Konkretes: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung

 vie ler Best im m ungen ist, also Einheit des M annigfaltigen . Im D enken

erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht

als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher

auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist.«109

Insofern ist die erste Unmittelbarkeit, jenes im positivistischen Sinn

»Konkrete«, von dem auszugehen ist, identisch mit dem Konkreten

höherer Ordnung, als welches es sich nach seiner theoretischen Durch-

dringung erweist. Daraus folgt indessen für Marx nicht, daß »die begrif fne W elt als solche erst das W irklich e is t«110. D er G a n g des

konkreten Begriffs erzeugt seinen Gegenstand nicht: »Hegel geriet. . .

auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassen-

den, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu

fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzustei-

gen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als

ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entste-

hu ngsp rozeß des K onk reten selbst.«111

Natürlich wäre Marx der letzte gewesen, der nicht ebensosehr zugegeben

hätte, daß der Erkenntnisprozeß nicht nur eine Reproduktion der mate-

riellen Verhältnisse darstellt, sondern auch deren Charakter in hohem

Grade zu bestimmen vermag. Das gilt nicht nur für die Theorie der

Gesellschaft, sondern vor allem auch für die Naturwissenschaften, die

sich zu einer »unmittelbaren Produktivkraft«112 entwickeln.

Es ist kein Zufall, daß die Anfänge der wirklichen Gesetzeserkenntnisder Natur in der Renaissance mit dem Entstehen der bürgerlichen Welt

einhergehen. Der Produktionsprozeß wird in immer höherem Maße zur

planmäßigen Anwendung naturwissenschaftl icher Einsichten; er geht

schließlich selbst in »Experimentalwissenschaft«113 über, wie Marx im

»Rohentwurf« sagt. Mit der Entwicklung dieses »experimentalwissen-

schaftlichen« Charakters der Produktion treten individuelle Leistungen

immer mehr in ihrer Bedeutung zurück: »Das Detailgeschick des indivi-

109 A . a. O ., S. 257.

1 10 A . a. O ., S. 2 J7 f.

i n A . a. O .

112 Ro hen twu rf, S. 594.

113 A. a. O., S. 599.

I l 8

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duellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig

Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der

gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert

sind.«114

Die Geschichte erzwingt die Versöhnung des »allgemeinen gesellschaftli-

chen Wissens«115 mit der materiellen Produktion. Sie macht es immer

unabweisbarer, daß der Lebensprozeß der Menschen unter die wirksame»Kontrolle des general intellect«116 gebracht wird.

Marx stimmt mit der bürgerlichen Aufklärung darin überein, daß das

nicht auf die Bewältigung praktischer Aufgaben gerichtete Denken zur

Schrulle wird. »In der Praxis m uß der Mensch die W ahrh eit, das heißt die

 W irklich keit und M acht, die D iesseitigkeit seines D enkens beweisen.« 117

Zur Praxis zählt bei Marx nicht nur der Lebensprozeß der Gesellschaft

als ein Ganzes und die revolutionäre Aktion, die aus seinen Antago-

nismen hervorgehen soll, sondern auch die Industrie im engeren Sinne

und das naturwissenschaftliche Experiment. Industrie und Experiment

 bilden als K ontrollinstan zen ein wesentlich es M om ent des E rkenntnis-

prozesses. »Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich

schließlich n icht im .K o p f der Gelehrten, sondern in der Industrie.«118

Nicht innerhalb des begrifflichen Denkens, sondern nur insofern es expe-

rimentell erprobt wird, läßt sich über Wahrheit oder Unwahrheit eines

 bestim mten Theorem s befinden. D eshalb fordert L enin im A n sch lu ß anMarx: »Der Gesichtspunkt des Lebens und der Praxis muß der erste und

grundlegende G esichtspun kt der Erkenntnistheorie sein . . . Freilich darf

dabei nicht vergessen werden, daß das Kriterium der Praxis dem Wesen

nach niemals irgendeine menschliche Vorstellung völlig   bestätigen oder

 w id erle gen kann. A u ch dieses K rite rium is t >unbestimmt< genug, um die

 V erw an dlu n g der m enschlichen Kenntnisse in ein >Absolutum< zu verhin -

dern, zugleich aber auch bestimmt genug, um gegen alle Spielarten desIdealismus und Agnostizismus einen unerbittl ichen Kampf zu füh-

ren.«119

Näher noch geht Lenin bei seinem Hegelstudium auf den erkenntnis

114 Da s Kap ital, Bd. I, S. 445.

115 Ro hen twu rf, S. 594.116   A .a .O . Zum Verhältnis von N aturwissenschaft, Geschichte der Techno logie und

Geschichte der materiellen Produk tion vgl. auch Gerhard K osel, Prod uk tivkra ft Wissen-

schaft, bei dem nicht nur die gesellschaftliche Bedingtheit der Naturwissenschaft,sondern auch umgekehrt ihre Entwicklung zur eigenständigen Produktivkraft innerhalb

des Unterbaues v erfolg t wird.117 Zw eite These über Feuerbach. In: MarxEn gels, U ber Religion, S. 54.

118 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. In: Zeitschrift für Sozialfor-

schung, Jahrgang VI, Heft 2, Paris 1937, S. 252.1 19 Lenin, M aterialismu s und Em piriokritizism us, a. a. O ., S. 143.

119

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theoretischenr Aspekt des Marxschen Praxisbegriffs ein, dessen Keime er

schon in Hegel angelegt sieht: »Das theoretische Erkennen soll das

Objekt in seiner Notwendigkeit, in seinen allseitigen Beziehungen, in

seiner widerspruchsvollen Bewegung, an und für sich geben..Aber der

menschliche Begriff erfaßt, ergreift diese objektive Wahrheit des Erken

nens und bemächtigt sich ihrer >endgültig< erst dann, wenn der Begriff

zum >für sich Sein< im Sinne der Praxis wird.«120

Die inzwischen in alle Lehrbücher des dialektischen Materialismus einge-

 w anderte Redeweise, daß M arx zu fo lge die his to rische Praxis die G ru n d -

lage der Erkenntnis und das Kriterium der Wahrheit sei, behält ihren

genuinen Sinn nur dann, wenn sie einmal nicht pragmatistisch121 mißver-

standen wird, zum anderen, wenn nicht vergessen wird, daß die erkennt-

nistheoretische Rolle der Praxis sich keineswegs darin erschöpft, gewis-

sermaßen als ein der Theorie äußerliches Anhängsel, rückwirkend dieÜbereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Denkinhalt und

Gegenstand festzustel len, sondern daß die Praxis überhaupt nur Wahr-

heitskriterium sein kann, weil sie — als ein geschichtliches Ganzes — die

Gegenstände der normalen menschlichen Erfahrung konstituiert,  wesent-

lich an ihrer inneren Z usam m ensetzung beteiligt ist.

Die sinnliche Welt ist immer auch ein Produkt der Industrie. Vom

einfachsten Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs bis zur komplizierte-

sten Maschine ist sie, wie es im »Rohentwurf« heißt, »natürliches Mate-

rial, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder

seiner Betätigung in der Natur«122. Aus der Arbeitsbeziehung von

Subjekt und Objekt geht eine sich den einzelnen Menschen gegenüber

 verselb stä ndig ende, feste und gegenständliche W elt hervor. »W as a u f sei-

ten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als

ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts.«123

Die von »Gedankenobjekten wirklich unterschiedenen Objekte«124, vondenen mit Feuerbach aller physikalische Materialismus spricht, werden

zu solchen überhaupt erst im strengen Sinne dadurch, daß Menschen,

120 Lenin, Aus dem philosophischen N ach laß , a. a. O ., S. 132 f.

121 D ar au f weist besonders Ernst Bloch bei seiner Interp retation der FeuerbachThesen hin.

 V g l. D as Prinzip H offn u n g, Bd. I, a. a. O ., A bsch n it t 19. A us der prakti sch en N ü tzlich -

keit der Ideologie für den Fortbestand von Herrschaft geht für Marx gerade nicht ihre

 W ahrheit herv or. Im O sten h at nach Lenin s To de, fr eil ic h auch unte r dem D ru ck m ate -

rieller Verhältnisse, der sich mit Marxscher Terminologie nur dünn rationalisierendeHinw eis darauf, d aß alles Den ken dem »sozialistischen Aufbau« zu dienen habe, weitge-

hend zur praktizistischen Verengung der Theorie und politischen Verdächtigung eines jeden fr eien G edankens gefü hrt.

122 Ro hen twu rf, S. 594.

123 D as Ka pita l, Bd. I, S. 189.

124 Erste Th ese über Feu erbach, a. a. O. , S. 54.

120

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produktiv durch sie hindurchgehend, ihnen gerade ihre »naturwüchsige«

Eigenständigkeit nehmen.

Soweit Gegenständlichkeit in den sich historisch erweiternden Bereich

menschlichen Eingriffs fällt, ist sie ein Zusammengesetztes. Soweit sie

nicht in diesen Bereich fällt, ist sie zumindest gedanklich präformiert.

»Selbst dort, wo es sich um die Erfahrung natürlicher Gegenstände als

solcher handelt, ist deren Natürlichkeit durch den Kontrast zur gesell-schaftlichen W elt bestimm t und insow eit von ihr a bh än gig.«125 Da s

M odell von G egenständlichkeit ist für M arx das einzelne Arbeitsprod ukt,

der Gebrauchswert. Wie er, konstituiert sie sich aus zwei Elementen,

einem »materiellen Substrat«, das »ohne Zutun des Menschen von Natur

 vorhanden ist«126, und form ie render A rbeit. Anders freil ic h, als die

neukantianisierenden Austromarxisten es sich vorstellten, die von außen

die Marxsche Theorie der Geschichte glaubten erkenntnistheoretischergänzen zu müssen, besteht so zwischen Marx und Kant eine bisher noch

nicht genügend beachtete Beziehung. Ganz wie bei Kant lassen sich auch

 bei M arx Form und M aterie der erschein enden W elt nur in abstr acto,

nicht aber real trennen. Wie bei Kant, und das ist letztlich der Grund,

 wesh alb es sinnvoll ist, bei ein er E rörterung der M arxschen D ia lek tik au f

die Kantische Konstitutionsfrage zu verweisen127, bleiben auch bei Marx

Form und Materie einander äußerlich, so verschieden von Kant Marx im

übrigen auch ihre Wechselbeziehung bestimmt. Was bei Kant »trans-

zendentale Affinität« heißt, die subjektive Geformtheit des sinnlichen

Materials und dessen zunächst chaotischen Charakter unterstellt, ist bei

Marx im »Kapital« die gesellschaftliche Geformtheit einer selber bereits

geformten Natur: »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfah-

ren, wie die N a tu r selbst, d. h. n ur die  Form en der Stoffe ändern .« 128  

Mit diesem Gedanken knüpft Marx unmittelbar an Hegel an, der in

seiner Rechtsphilosophie, ebenfalls im Hinblick auf menschliche Arbeit,schreibt: »Immer aber ist die Materie nicht ohne wesentliche Form, und

125 M ax Ho rkheim er, Trad itionelle und kritische Theo rie, a. a. O ., S. 257.

126 D as Kap ital, Bd. I, S. 47.

127 Im Sinne einer Ko nstitutions theorie, die sich allerdings sow eit an Ka nt anlehnt, daß sie

dem bearbeiteten Naturstoff jede Eigenstruktur abspricht, stellt der Marxsche Materia-

lismus sich dar bei JeanYves Calvez, La pensée de Karl Marx, a. a. O. Calvez zufolge bes te ht der dialektische  C ha rak ter dieses Materialismus darin, »que la totalité de l ’expé-

rience est constituée d’un r ap p o rt . . . entre l’homm e et la nature. La relation entre deux

termes est le mouv emen t entier du réel«, S. 378. Z ur m arxistischen D eutu ng des idealisti-schen Problems der Weltkonstitution vgl. auch die Husserlkritik von Tran Duc Thao,

Phénom énologie et matérialisme dialectique, Editions M inhTan , Paris 1 95 1, S. 228. Zu r V erm itt lu ng von erkenntn is th eoretischem Realism us und Subje ktivis m us in der M a rx -

schen Dialektik vgl. auch Joachim Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, Paris 1937,S. 75.

128 D as Ka pita l, Bd. I, S. 47.

12 1

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nur durch diese ist sie etwas. Je mehr ich diese Form aneigne, desto mehr

komme ich auch in den wirklichen  Besitz der Sache.«129

In dem Prozeß zwischen Kant und Hegel nimmt Marx einen nur schwer

zu fixierenden verm ittelnden O rt ein. Seine materialistische Kr itik an

Hegels Identität von Subjekt und Objekt führt ihn zu Kant zurück, ohne

daß doch bei ihm das mit dem Denken unidentische Sein wiederum als

unerkennbares »Ding an sich« aufträte. Wollte Kant mit dem Begriff der»transzendentalen Apperzeption« gleichsam ein für allemal dartun, wie

es zur einheitl ichen Erfahrungswelt kommt, so hält Marx, Kants These

 vo n der N ich tid en titä t v o n Subje kt und O b jek t beib ehaltend, an der

nachkantischen, die Geschichte nicht ausklammernden Einsicht fest, daß

Subjekt und Objekt in wechselnde Konstellationen zueinander treten,

ganz wie die in verschiedenen Arbeitsprodukten verwirklichte Einheit

des Subjektiven und Objektiven zugleich beinhaltet, daß die »Proportion

zwischen A rb eit und N atu rst o ff sehr verschieden« 130 ist.

Insgesamt läßt sich sagen, daß in dem historischökonomischen Prozeß

der Subjektivierung des Objektiven und der Objektivierung des Subjek-

tiven unter vorindustriel len Verhältnissen dem objektiven Naturmoment

ein Übergewicht zukommt, daß dagegen unter den Bedingungen der

Industriegesellschaft das Moment des subjektiven Eingriffs gegenüber

dem naturgegebenen Material in wachsendem Maße sich durchsetzt.

Der Übergang zur industriel len Produktion bedeutet jedoch nicht nureine neue Stellung des Subjekts zu seinem Material, sondern auch, daß

sich dieses in den Bereich ökonomischen Interesses tretende Material

nach Um fang und A rt ändert: »Die äußeren Naturbedingun gen zerfal len

ökonomisch in zwei große Klassen, natürlichen Reichtum an  L ebensm it-

teln,  also Bodenfruchtbarkeit, fischreiche Gewässer usw., und natürlichen

Reichtum an  A rbeitsm itteln ,  wie lebendige Wassergefälle, schiffbare

Flüsse, H o lz, M etalle, K oh le usw. In den Ku lturan fäng en gibt die erstere,auf höherer Entwicklungsstufe die zweite Art des natürlichen Reichtums

den Ausschlag.«131

Unter den Voraussetzungen einer agrarischen Wirtschaftsweise verhal-

ten sich die Menschen zu der sich ihnen unmittelbar als Reichtum an

Lebensmitteln darbietenden Natur passivempfangend: »Die Erde wird

hier noch als von Menschen unabhängiges Naturdasein anerkannt, noch

nicht als Kapital, d. h. ein Moment der Arbeit selbst. Vielmehr erscheint

die A rb eit als ihr M om ent.«132

129 H ege l, Gru ndlinien der Philosoph ie des Rechts, H offm eister, Berlin 1956 , § J2, S. 63.

130 Zu r K ritik der politischen Öko no m ie, S. 30.

131 D as K ap ital, Bd. I, S. 537 f.

132 N ation alöko no m ie und Philosophie, S. 174.

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 w as ein N atu rd in g ist, w enn w ir die G esam theit der in dustrie llen und

naturwissenschaftlichexperimentellen Veranstaltungen kennen, die es

herzustellen gestatten. — Dieser Gedanke spielt eine erhebliche Rolle in

der von Engels w iederholt unternommenen K ritik des Kantischen »Dings

an sich«. Zu dem Ausspruch, daß es unerkennbar sei, sagt er in der »Dia-

lektik der Na tur« : »Er f ü g t . . . unsrer wissenschaftl ichen Kenntnis kein

 W ort h in zu , den n wenn w ir uns n icht m it den D in gen beschäft ig en

können, so existieren sie für uns nicht.«137

Für die materialistische Theorie besteht wie für Hegel zwischen dem An-

sich und dem Füruns der Dinge, zwischen dem gesellschaftlich angeeig-

neten und dem noch unangeeigneten Naturbereich eine relative und

historische, keine prinzipielle Grenze. Mit den Erscheinungen der Natur

erfassen die Menschen immer auch ihr Wesen. Gegen Humes und Kants

 Agnostiz ism us v e n d et die Engelssche Feuerbachschrift ein : »D ie schla-gendste Widerlegung dieser wie aller ändern philosophischen Schrullen

ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die

Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können,

indem wir ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsren

Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfaß-

 baren >Ding an sich< zu Ende. D ie im pfla n zli ch en und tierischen K örper

erzeugten chemischen Stoffe blieben solche >Dinge an sich<, bis die orga-

nische Chemie sie einen nach dem ändern darzustellen anfing; damit

 w urde das >Ding an sich< ein D in g fü r uns, w ie z .B . der F arb stoff des

Krap ps, das Alizarin , das w ir nicht mehr au f dem Felde in den K rap pw ur-

zeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfa-

cher hersteilen.«138

137 Dialek tik der N atur, S. 257.

138 Lu dw ig Feuerbach und der A us gan g der klassischen deutschen Philosophie, S. 19 f. ZumProblem des »Dings an sich« und der Praxis vgl. auch die Einleitung der englischen

 A usg abe der Enge lsschen Sch rif t D ie E ntw ic klu ng des Sozialism us von der U to p ie zu r

 W is sensch aft D as in der L itera tu r berü hm t gew ordene »A liza rin beis pie l« aus der

Feuerbachschrift hat immer wieder herhalten müssen, wenn man Engels philosophische

Un zuständ igkeit nachweisen wo llte. Schon L ukäcs schreibt in G eschichte und K lassenbe-

 w ußts ein unte r V erkennung des w irkli chen Sachverhalt s a u f S. 145: » V or al lem g il t es

hier eine bei dem H egelkenner Engels fast unbegreifl iche terminologische U ngen auigkeit

richtigzustellen. Für Hegel sind >an sich< und »für uns< durchaus nicht Gegensätzet   sondern im G egen teil: n otwe ndig e K orre late. D aß etwas b loß »an sich< gegeben sei,

 bed eute t fü r H egel, d aß es b lo ß »für uns< ge geb en ist .« W ie ab er au s dem Zusa m m enhan g

hervorgeht, wendet sich En gels mit seiner Kritik vornehm lich gegen einen Agn ostizismus

 vom T yp u s K ants . K ants , n ic ht H egels U nte rscheid ung des »Ans ich« und des »Füruns«

steht zur Diskussion. Engels macht sich in richtiger, wenngleich populärer Weise Hegels

Kantkritik zunutze. Die Erscheinungen sind dem Wesen nicht nur entgegengesetzt,

sondern zugleich konkrete Bestimmtheiten dieses Wesens. Vgl. zur Engelsschen Kritikdes » ping s an sich« auch die Dissertation von K . Be kker, M arx ’ philosophische Entw ick-

lung, sein Verhältnis zu Hegel, a. a. O., S. 4 6  f.

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Zum Problem der erkenntnistheoretischen Rolle der Praxis gehört auch

die Frage nach dem Verhältnis der historischen Kategorien, unter denen

Natur jeweils sich darstellt, zu ihrer objektiven Struktur. Zu unter-

scheiden sind bei M arx zun ächst einmal die im engeren Sinne ök o -

nomischen Kategorien, wie »Kapital«, »Ware«, »Wert«, von den lo-

gischerkenntnistheoretischen, wie »QualitätQuantitätMaß«, »Wesen

ScheinErscheinung«, deren sich die ökonomische Analyse bedient und

die Hegels »Wissenschaft der Logik« entstammen. Von den Kategorien

der bürgerlichen Ökonomie sagt Marx: »Es sind gesellschaftlich gültige,

also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser 

historisch bestimmten   gesellschaftlichen Produktionsweise, der Waren-

produktion.«139 W ährend die ökonom ischen K ategorien m it dem U n tergan g der von

ihnen ausgedrückten historischen Verhältnisse ihre Gültigkeit verlie-

ren140, verdanken sich die logischen Kategorien zwar auch empirisch-

menschlichen Voraussetzungen, haben aber eine allgemeinere und

umfassendere Gültigkeit. Sie sind gattungsgeschichtliche Sedimente,

 jenes »Id ee lle«, vo n dem es in ein er nicht sehr glü cklichen Form ulierung

im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapitals« heißt, es sei »nichts

andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materiel-

le«141. Die Kategorien sind für Marx aus der lebendigen Praxis heraus-

 wachsende gedankliche E tap pen und K notenpu nkte der th eoretisch en

Naturaneignung142. Sie drücken immer zugleich Strukturen der

materiellen W irklich keit und Stufen ihrer geistigpraktischen U m gestal-

tung aus.

 D ) Bem erkungen zu den K ategorie n der mate ria listisch en D ia lek tik

139 D as K ap ital , Bd. I, S. 81 f.

I4° Vgl. dazu auch die Marxsche K ritik an Proud hon im Elend der Philosophie, wo die histo-rische Relativität der ökonomischen Kategorien mit Nachdruck hervorgehoben wird.

141 Da s K ap ital , Bd. I, S. 18.142 Zu dem von Lenin in seinem N ach laß geforderten Ausbau der Dialektik als Erkenntnis-

theorie gehören die Bestrebungen neueren Datums im Ostbereich, sich über den logisch-

historischen Ch arak ter d er dialektischen Kategorien im M aterialismus zu verständigen.

Interessant ist dabei, daß die Marxschen Texte in weitaus stärkerem Maße als bisher in

die Diskussion einbezogen werden. Die Untersuchungen gehen von dem richtigenGedanken aus, daß die Kategorien bei Marx nicht einfach die Hegelschen sind, versehen

mit einem materialistischen »Vorzeichen«, sondern daß es darauf ankommt, bis inseinzelne zu verfolgen, wie die logischen Kategorien Moment und Ausdruck der mate-riellen Wirklichkeitsstruktur in einem sind. Vgl. dazu auch die für die nachstalinistische

Phase typische, von M. M. Rosental und G. M. Schtraks herausgegebene Schrift, Kateg o-

rien der materialistischen D iale kt ik, M oskau 1956, Berlin 19 5 9, in der die Ka tegor ien als

»Grundbegriffe« definiert werden, die »die allgemeinsten und wesentlichsten Zusam-

menhänge und Beziehungen der Gegenstände widerspiegeln«, S. 15.

1 *5

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nition der Tiere als bloßer Maschinen sieht mit den Augen der Manufak-

turperiode im Unterschied zum Mittelalter, dem das Tier als Gehilfe   des

Menschen galt, wie später wieder dem Herrn v. Haller in seiner Restau-

ration der Staatswissenscha ften«.«146

Er merkt im gleichen Zusammenhang zwar kritisch an, daß »Descartes

ebenso wie Bacon eine veränderte Gestalt der Produktion und praktische

Beherrschung der Natur durch den Menschen als Resultat der veränderten D enkm ethod e betrachtete«147, daß den Philo sophen, m it

anderen Worten, ihre gesellschaftliche Basis unbewußt blieb, es ist aber

nicht davon die Rede, daß die neuzeitliche Denkmethode nur Ideologie,

nicht auch zug leich Sp iegelung der wirklichen N atu r gewesen sei148.

In der »Dialektik der Natur« befaßt Engels sich mit der wichtigsten

Kategorie der Naturerklärung, der Kategorie der Kausalität. Weder ist

die Vorstel lung, da ß zw ei Ereignisse nach einer Regel mit No tw en digk eitaufeinander folgen, eine bloße, der menschlichen Sphäre entlehnte Pro-

 je ktio n noch lä ß t sich das K ausalg esetz naivrealistis ch au s der N a tu r

einfach ablesen. Der Umstand, daß die Menschen in ihrer Produktion in

der Lage sind, Kausalzusammenhänge herzustellen, auch solche, die es

sonst in der Natur nicht gibt, relativiert für Engels den Begriff der Kausa-

lität als einer objektiven Kategorie nicht so sehr, als daß er diese Objekti-

 v itä t vollends bestätig t: »W ir finden aber nic ht nur, d aß au f eine gew isse

Bewegung eine andre folgt, sondern wir finden auch, daß wir eine

 bestim mte Bew egung hervorbrin gen können, in dem w ir die Bedin gungen

hersteilen, unter denen sie in der Natur vorgeht, ja daß wir Bewegungen

hervorbringen können, die in der Natur gar nicht Vorkommen (Indu-

strie), wenigstens nicht in dieser Weise, und daß wir diesen Bewegungen

eine vorher bestimmte Richtung und Ausdehnung geben können.  H ier-

durch,  durch die Tätigkeit des Menschen,  begründet sich die Vorstellung

 von  Kausalität,  die Vorstellung, daß eine Bewegung die Ursache  einerändern ist. Die regelmäßige Aufeinanderfolge gewisser Naturphäno-

146 Das K apita l, Bd. I, S. 408, Fuß note 111 .147 A. a. O.

148 D aß die Wahrheit für M arx imm er der Proz eß der Mom ente, nie ein   abstrakter Stand-

pu nkt ist, geht sehr schön h ervo r aus einer Stelle im Ro hen twu rf, S. 579, die sich auf den

Fetischcharakter der W are bezieht: »Der grobe Materialismus der Ö kon om en, die gesell-

schaftlichen Produktionsverhältnisse der Menschen und die Bestimmungen, die dieSachen erhalten, als unter diese Verhältnisse subsumiert, als natürliche E igenschaften  der

Dinge zu betrachten, ist ein ebenso grober Idealismus, ja Fetischismus, der den Dingen

gesellschaftliche Beziehungen als ihnen immanente Bestimmungen zuschreibt und sie so

mystifiziert.« Wie gesellschaftliche Charaktere der Dinge nicht in natürliche mystifiziert

 werden dürfen, so sind um gekehrt die unte r gesellsch aft lich bedin gte n K ategorie n sich

darstellenden natürlichen Sachverhalte nicht einfach in gesellschaftliche auflösbar.

1^7

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 IV . K a pite l 

Zur Utopie des Verhältnisses von Mensch und Natur

 A u f den ersten B lick m ag es abw egig erscheinen, den B eg riff der U top ie

überhaupt im Zusammenhang mit der Marxschen Lehre erörtern zu

 wollen. Sein em Selb stverständnis nach ist M arx kein U top ist. E r gla ubt,

die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft vollendet zu haben, über alles phantastis che Ausspin nen vollk om m ener

Menschheitsverhältnisse hinaus zu sein. Zeit seines Lebens kritisiert er

die Utopisten, während seiner Jugendzeit die Linkshegelianer und früh-

sozialistische Autoren wie Proudhon, Owen, Heß und Grün, später das

System Com tes.

Bei dieser K rit ik erweist sich M ar x als S chüler Heg els, der sich besonders

in der Vorrede der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« gegen jedes

 A usm ale n eines kün ftigen Zustandes, gegen jedes leere Sollen wendet,

das un verm ittelt dem Sein entgegeng esetzt wird.

Bemerkenswert ist nun, daß Marx, gerade indem er mit Hegel in der

 A ble hn ung alles abstrakte n U topis ie rens überein stim m t, zum w ah r-

scheinlich größten Utopisten der Geschichte der Philosophie wird.

Gerade als Schüler Hegels wird er über die von diesem gesetzte Grenze,

die sich gegenüber jeder historischen Zukunft erhaben dünkt, hinausge-

trieben. A m Beg reifen und der A na lyse dessen, was ist, von H ege l gegenleere Ideale angeführt, läßt Marx es wahrlich nicht fehlen. Das Ernst-

nehmen des Gegebenen schließt jedoch nicht aus, bestimmte Aussagen zu

machen über die objektivgeschichtliche Tendenz eben dieses Gegebe-

nen; theoretische Aussagen, die in ihren Inhalten streng orientiert sind an

der analysierten und dialektisch bewegten Wirklichkeit und selbst ein

Moment dieser Wirklichkeit ausmachen.

In diesem Sinne versteht auch Ernst Bloch das uneingestanden utopische

Bewu ßtsein bei M arx . Es antizipiert eine kü nftige menschliche W irk lich-

keit nach Maßgabe der im Bestehenden angelegten realen Möglichkeit.

In seinem Werk »Das Prinzip Hoffnung«, das sich als eine Phänomeno-

logie und Enzyklopädie der Gestalten des utopischen Bewußtseins ver-

steht, versucht Ernst Bloch den Begriff der Utopie, der dem Marxschen

i z 9

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Denken an sich fremd ist, für die Theorie zu retten, indem er darauf

 verw eis t, d aß bei M arx stre nge Situatio nsanaly se und antiz ip ie rendes

Bewußtsein zu Momenten eines geschichtlichen Prozesses werden, wäh-

rend die von Marx mit Recht kritisierten Utopisten deshalb abstrakt blei-

 ben, w eil sie beim A usm ale n des K ü nftigen verharren, ohne im W irk li-

chen theoretisch die Kräfte aufzuspüren, die über seine jetzige Gestalt

hinaustreiben1.Zunächst einmal ist es von Interesse, daß das Utopieproblem zuerst bei

Engels auftaucht. In der Schrift »Umrisse zu einer Kritik der National-

ökonomie« aus dem Jahre 1844, die, wie auch ihr T itel verrät, M arx auf

die ökonomische Problematik aufmerksam macht, spricht Engels vom

Sozialismus als von der »Versöhnung der Menschheit mit der Natur und

mit sich selbst«2.

Daß Marx, namentlich in den Pariser Manuskripten, nicht nur von

Feuerbachs Hegelkritik, sondern auch von den Ansichten des damaligen

Feuerbachianers Engels sich leiten läßt, steht außer Zweifel. In den

Pariser Manuskripten äußert er sich zum Kommunismus folgenderma-

ßen: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums,

als menschlicher Selbstentfremdung, und darum als wirkliche Aneignung

des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als voll-

ständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen

Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesell-

schaftlichen,  das heißt menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist

als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanis-

mus = Naturalismus, er ist die wahrhafte   Auflösung des Widerstreites

zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die

 w ahre A u flösu n g des Streits zw is chen Existenz und W esen, zwischen

 Vergegenständlichung und Selb stbestä tig ung, zw is chen Freih eit und

Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelösteRätsel d er G eschichte und w eiß sich als diese Lö sun g.«3

Sosehr auf der einen Seite festzuhalten ist, daß das Marxsche Werk nicht

in zwei beziehungslose Teile zerfällt, sosehr lehrt gerade das Utopiepro-

 blem a u f der anderen Seite, um w ievie l der m ittlere und späte M arx der

abstrakten und romantisierenden Anthropologie der Pariser Manu-

skripte voraus ist. Es ist kein Zufall, daß sie fragmentarisch blieben und

daher zu Lebzeiten von Marx nicht veröffentl icht wurden. Bei al ler

1 Oh ne daß die vorliegende A rbeit in allen Punkten dem, was nach B loch den Inhalt der

M arxschen U top ie ausm acht, zu folgen verm öchte, lehnt sie sich form al an das Blochsche

Marxverständnis in dieser Frage an.

2 Engels, Um risse zu einer K ritik der N ation alöko no m ie, S. 17.3 N ationalöko nom ie und Philosophie, S. 181.

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geschichtsphilosophischen Konkretisierung des Hegelschen und Feuer

 bach schen E ntfrem dungsbegriffs kom m t M arx hie r von den Feuerbach

schen Idolen »Mensch« und »Natur« mangels genauerer Kenntnis der

ökonomischen Geschichte noch nicht ganz los. Besonders schimmert der

 vorm ärzhaftsensualis tis che N atu rk u ltu s Feuerbachs durch, der auch der

Heineschen Lyrik jener Zeit nicht fremd ist, wenn Marx den Menschen

als das »wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erdestehende, alle Naturkräfte aus und einatmende«4 Wesen feiert. Wie das

Klima solcher problematischen naturfrohen Ungebrochenheit, so ver-

schwindet auch die Rede von »dem Menschen«, auf die man Marx heute

festzulegen versucht5, bald wieder aus seinen Schriften. So lassen sich die

kritischen Bemerkungen zu den »wahren Sozialisten« in der »Deutschen

Ideologie« und im »Kommunistischen Manifest« ebensogut als ein Stück

Selbstkritik verstehen, wenn Marx etwa im »Manifest« über Formulie-

rungen wie »Entäußerung« und »Verwirklichung des menschlichen

 Wesens«6 sich lu stig m acht, die er in den Pariser M anu skrip ten vorher

selbst verwendet hat. Marx verzichtet auf den Gebrauch solcher Termini

 wie »Entäußerung«, »Entfr em dung«, »R ückkehr des M en schen in sich«7,

sobald er merkt, daß sie im Munde kleinbürgerlicher Autoren zum ideo-

logischen Gerede werden, nicht aber zum Hebel empirischen Studiums

der W elt und ihrer Veränderu ng.

Die ätzende Schärfe, mit der Marx und Engels in der »Deutschen Ideolo-gie« gegen die stark von Feuerbach beeinflußten Lehren der »wahren

Sozialisten« zu Felde ziehen, zeigt deutlich, wie sehr sie zu diesem Zeit-

punkt nicht nur über Feuerbachs Anthropologismus und Entfremdungs-

 begrif f, sondern auch über die Feuerbachsc he N aturechw ärm erei hin aus-

gelangt sind. Was den letzteren Punkt angeht, so sei hier nur auf die

Kritik der in den »Rheinischen Jahrbüchern« erschienenen »Sozialisti-

schen Bausteine« verwiesen, bei der die Autoren die folgenden seichten

4 A . a. O ., S. 248.

5 V gl. etwa den schon in anderem Z usamm enhang erwähnten A ufsa tz von I. Fetscher, Von

der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, wo die Marxsche

Philosophie im Grunde mit den Pariser Manuskripten gleichgesetzt wird. Vgl. ferner

Erwin Metzke, Mensch und Geschichte im ursprünglichen Ansatz des Marxschen

Den ken s. Beid e in: M arxism usstu dien , 2. Fo lge, a. a. O ., S. 26 60 bzw . S. 1—25. Im

Sinne einer kritischen A nth rop ologie wird M arx auch verstanden bei E. Thier u.

H. Weinstock. Selbst Bloch versteht Marx weitgehend anthropologisch. Die Reihe ließesich fortsetzen.

6  M anifest der kom mu nistischen Partei, S. 40.7 Was, ganz abgesehen davon , daß d er B eg riff der »Entfremdung« sich auch im Ka pital

und in den Theorien über den Mehrw ert noch häufig genug findet, in keiner Weise bedeu-tet, daß Marx die durch ihn bezeichneten gesellschaftlichen Sachverhalte nicht weiter

theoretisch ver folgt hätte.

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Um für diesen Satz einen Beweis zu finden, nimmt er die Natur zu Hilfe

und unterstellt, daß in ihr dieser Zwiespalt nicht existiere, und hieraus

schließt er, daß, da der Mensch ebenfalls ein Naturkörper sei und die

allgemeinen Eigenschaften des Körpers besitze, für ihn dieser Zwiespalt

ebenfalls nicht existieren dürfe. Mit viel größerem Rechte konnte Hobbes

sein bellum omnium contra omnes aus der Natur beweisen und Hegel,

auf dessen Konstruktion unser wahrer Sozialist fußt, in der Natur denZwiespalt, die liederliche Periode der absoluten Idee erblicken und das

Tier sogar die konkrete Angst Gottes nennen.«14

Noch drastischer offenbart sich die endgültige Marxsche Abkehr von

allem romantisierenden Feuerbachschen Kultus, sei es »des Menschen«,

sei es »der Natur« oder »des Weibes«, in der 1850 in der »Neuen Rheini-

schen Zeitung« veröffentlichten Rezension des Daumerschen Buches

»Die Religion des neuen Weltalters«. In scharfsinniger Weise durch-schaut hier die Marxsche Analyse am freilich klassischen Fall Daumers

den ideologischen Charakter eines Naturpathos, wie es bis in die unmit-

telbare Gegenwart hinein das Gegenteil von dem verteidigt, wovon es

spricht.

 W egen der W ich tigkeit der id eolo gie krit ischen M otiv e ist es unverm eid -

lich, einige Stellen des Daumerschen Machwerks wiederzugeben. Bei

Daumer heißt es: »Natur   und Weib   s ind das wahrhaft Göttl iche im

Unterschiede von  M ensch   und  M a n n . . .   Hingebung des Menschlichen andas Natürliche, des Männlichen an das Weibliche ist die echte, die allein

 wahre D em ut und Selb stentäußerung, die höch ste, ja ein zige T ugen d und

Frömmigkeit, die es gibt.«15

Dem entgegnet Marx: »Wir sehen hier, wie die seichte Unwissenheit des

spekulierenden Religionsstifters sich in eine sehr prononzierte Feigheit

 verw andelt . H err D au m er flü chtet sich v o r der geschic htl ic hen T ragöd ie ,

die ihm drohend zu nahe rückt, in die angeblich Natur, d. h. in die blödeBauernidylle und predigt den Kultus des Weibes, um seine eigene weibi-

sche Resignation zu bemänteln. Der Naturkultus des Herrn Daumer ist

übrigens eigner Art. Es ist ihm gelungen, selbst gegenüber dem Chri-

stentum reaktionär aufzutreten. Er versucht, die alte vorchristliche

Naturreligion in modernisierter Form herzustellen. Dabei bringt er es

freilich nur zu einer christlichgermanischpatriarchalischen Naturfase-

lei, die sich z. B. folgendermaßen ausspricht:

14 A. a. O.

i 5 Zitiert in: Marx/Engels, U ber R eligion, R ezension von D aum er, Die R eligion des neuen W elt alters, S. 74 f.

Ï 33

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>Süße, heilige Natur,

L aß mich gehn a uf deiner Spur,

Leite mich an deiner Hand,

 W ie ein K in d am Gängelban d!<

»Dergleichen ist aus der Mode gekommen; aber nicht zum Vorteil der

Bildung, des Fortschritts und der menschlichen Glückseligkeit.« Der

Naturkultus beschränkt sich, wie wir sehen, auf die sonntäglichenSpaziergänge des Kleinstädters, der seine kindliche Verwunderung dar-

über zu erkennen gibt, daß der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt,

daß die Tränen die Bestimmung haben, die Oberfläche des Auges feucht

zu erhalten. Von der modernen Naturwissenschaft, die in Verbindung

mit der modernen Industrie die ganze Natur revolutioniert und neben

anderen Kindereien auch dem kindischen Verhalten der Menschen zur

N atu r ein Ende macht, ist natürlich keine R e d e .. . Es wäre übrigens zu wünschen, d aß die träge B auernw irtsch aft B ayerns, der Boden, w orau f

die Pfaffen und die Daumers gleichmäßig wachsen, endlich einmal durch

modernen Ackerbau und moderne Maschinen umgewühlt würde.«16

Marx zeigt hier, daß die ideologische Verzerrung des menschlichen

 Verhältnisses zur N a tu r zw ei kom plem entäre Seiten hat. E in m al, und das

ist für Marx im Jahre 1850 unter den zurückgebliebenen Zuständen

Deutschlands freilich wichtiger, steht die Verhimmelung der naturwüch-

sigen Unmittelbarkeit im Dienst einer reaktionären Technikfeindschaft,die vorkapitalistische Produktionsformen bewahren möchte; zum ande-

ren aber, und diese Seite der Naturideologie hat sich in der Folge als

 w irksam er erwiesen, w ird dort, w o bereits kapitalistis che Prod u ktion sich

durchgesetzt hat, Natur angesichts ihrer immer rücksichtsloseren Aus-

plünderung als Refugium gepriesen. Von dem Stand eines theoretischen

Bewußtseins aus, das auch die jüngsten Etappen der unheilvollen

Dialektik industriel ler Entwicklung auf den Begriff gebracht hat, bem erkten d azu H orkh eim er und A d o rn o in der »D ia le ktik der A u fk lä -

rung«: »Natur wird dadurch, daß der gesellschaftliche Herrschaftsme-

chanismus sie als heilsamen Gegensatz zur Gesellschaft erfaßt, in die

unheilbare gerade hineingezogen und verschachert. Die bildliche Beteue-

rung, daß die Bäume grün sind, der Himmel blau und die Wolken ziehen,

macht sie schon zu Kryptogrammen für Fabrikschornsteine und Gasolin-

stationen.«17

16   A . a. O ., S. 75.

17 H orkh eime r/Ad orno , D ialektik der A ufkläru ng, a. a. O ., S. 1 57. Zu r kompensatorischen

Ideologie eines unmittelbaren außerökon omischen Zuga ngs zur N atu r in der nachliberalistischen Ä ra vg l. besonders die Bemerkungen von Leo Löw enthal in dem A ufsa tz: Knut

Hamsun. Zur Vorgeschichte der autoritären Ideologie. In: Zeitschrift für Sozialfor-schung, Jahrgang VI, Heft 2, Paris 1937, S. 295299.

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Die Marxsche Polemik ist, wie gesagt, in erster Linie gegen die patriar-

chalische Verherrlichung vorkapitalistischer Produktion gerichtet; sie

sieht zunächst im Fortschreiten der kapitalistischen Technisierung ein

Fortschreiten der Aufklärung. Der andere Aspekt, die Erhöhung der

unterjochten Natur, ist Marx, schon aus historischen Gründen, in seinem

ganzen Umfang nicht gegenwärtig. Daß er ihn aber im Kern erfaßt,

 bezeugt seine schneid ende K ritik am D aum erschen Kultus des W eib es:»Es versteht sich von selbst, daß Herr Daumer nicht ein Wort von der

gegenwärtigen gesellschaftlichen Stellung der Frauen sagt, daß es sich im

Gegenteil bloß um das Weib als solches handelt. Er sucht die Frauen über

ihre bürgerliche Misere dadurch zu trösten, daß er ihnen einen ebenso

leeren wie geheimnisvoll tuenden Phrasenkultus widmet. So beruhigt er

sie damit, daß ihre Talente mit der Ehe aufhören, da sie dann mit den

Kindern zu tun haben, daß sie die Fähigkeit besitzen, selbst bis ins sech-zigste Jahr Kinder zu stillen usw. Herr Daumer nennt dies »Hingebung

des Männlichen an das Weiblichem«18

Dem realen Humanismus geht es nicht um letzte metaphysische Begriffe,

seien sie nun idealistischer oder materialistischer Art. Die von ihm ange-

strebte gesellschaftliche Emanzipation steht im Dienste der wirklichen,

individuellen Menschen. Daß es Marx um sie zu tun ist, davon legt ein

 bisher u n veröffen tlichter B rie f an seine Frau vom 2 1 .6 . 18 56 in sehr

eindringlicher Weise Zeugnis ab. H ier schreibt M arx: » .. . A ber die Liebenicht zum Feuerbachschen Menschen, nicht zum Moleschottschen Stoff-

 wechsel, nic ht zum Prole tariat, so ndern die Lie be zum Lie bchen und

namentlich zu Dir, macht den Mann wieder zum Mann .. ,«19

D er mittlere und reife M arx m acht sich an die historische Ana lyse der

kapitalistischen Produktionsverhältnisse, unbelastet vom »wahren Men-

schen« Feuerbachs, frei von der Naturidolatrie der naturwissenschaftli-

chen Materialisten seines Jahrhunderts, frei aber auch von aller metaphy-sischen Verklärung des Proletariats als des Heilsbringers20. An die Stelle

der abstrakten Rede von der menschlichen Selbstentfremdung, im heuti-

gen Kulturgespräch längst zur Phrase verkommen, tritt im »Kapital«

materiale Forschung.

Gemessen an den heute von einer bestimmten Interpretationsrichtung21

18 Rezension vo n Daum er, S.  j6 .

19 Veröffentlicht vom Istituto Giangiacomo Feltrinelli in Mailand im Jahrbuch Annali1959, Bd. 1. Zitie rt in: W ISO , 4. Jah rgan g, H eft 24, Kö ln 1959, S. 1109.

20 V gl. dazu au ch Er nst Bloch , Spure n, a. a. O ., S. 38.

21 So reduziert sich etw a für K arl Lö w ith der historische Ma terialismu s in seiner Sch rift W eltgesch ic hte und H eilsg esch ehen, S tuttgart 19 5 3, S. 47 ff ., au f »H ei ls gesch ic hte in der

Sprache der Nationalökonomie«. Biblisches Heilsgeschehen, bürgerlicher Fortschritt,

Sozialismus und die ihnen entsprechenden theoretischen Haltungen sind nach Löwith in

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der Marxschen Theorie angedichteten chiliastischen und eschatologi

schen Legenden, ist der Inhalt dessen, was man die Marxsche Utopie des

 V erhältnis ses der M ensch en zu ihrer eig en en und zu r äußeren N atu r

nennen könnte, zugleich bescheidener und großartiger. Bescheidener,

 w eil m it der unaufhebbaren E n dlichkeit des M enschen und seinen

Möglichkeiten in der Welt ernst gemacht wird. Großartiger, weil an die

Stelle metaphysischer Deklarationen eine nüchterne Analyse der Bedin-

gungen der Möglichkeit konkreter Freiheit tritt. Konkrete Freiheit

 besteht für M arx im engen A nschluß an H egel im Begreifen und Beherr-

schen des gesellschaftlich Notwendigen. Der Arbeiterphilosoph Joseph

D ietzgen form uliert in einem B rief an M arx äußerst treffend den Sinn

der materialistischen Geschichtsauffassung: »Sie sprechen zum erstenmal

in klarer, unwiderstehlicher, wissenschaftlicher Form aus, was von jetzt

an die bewußte  Tendenz der geschichtlichen Entwicklung sein wird,nämlich, die bisher blinde Naturmacht des gesellschaftlichen Produk-

tionsprozesses dem menschlichen Bewußtsein unterzuordnen.«22

 W ir müssen hie r a u f die im I. K ap ite l vorgebrachten Bem erkungen

hinsichtlich des Marxschen Materialismus zurückkommen. Er ist kritisch,

nicht positivbekenntnishaft gemeint. Die ökonomischen Verhältnisse

 w erden nic ht g lo rifiziert, sondern so llen im G egen teil eine solche G estalt

erhalten, daß ihre Rolle im Leben der Menschen zurücktritt. Die

Menschen haben sich in der seitherigen Geschichte, wie Engels sagt,

 bestim men lassen von der »Frem dherrschaft« 23 ih rer eigenen gesell-

schaftlichen Kräfte, weshalb sie im strengen Sinne aus naturgeschichtli-

chen Bedingungen noch gar nicht herausgetreten sind24. Solange die

ökonomischen Verhältnisse sich selbst überlassen sind, wirken sie wie

unberechenbare Naturmächte. »Aber einmal in ihrer Natur begriffen,

können sie in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen

Herrschern in willige Diener verwandelt werden.«25 Indem die Men-schen die Gesetze ihres Lebenszusammenhangs nicht nur theoretisch zu

durchschauen, sondern ebensosehr praktisch zu beherrschen lernen, ver-

mögen sie den »naturgeschichtlichen« Materialismus aufzuheben, dessen

Opfer sie in ihrer seitherigen Geschichte geworden sind. Daß der Mate-

der Struktur identisch und werden von ihm in unvermittelten Gegensatz gebracht zu

einer zyklischen Auffassung des historischen Prozesses. In dieser Ansicht folgen ihm diemeisten V ertreter der anthropologisierenden R ichtung in der M arxforschung.

22  Beilage zum Br ief an liugeim an n vom 7. 12. 1867. In: Briefe an Kug elm ann, S. 48.23 A nt iD üh rin g, S. 395.

24 Vg l. dazu auch Th . W. A dorn o, Theorie der H albbildun g. In: De r Mon at, H eft 152,

September 1959, S. 31.

25 A ntiD üh ring, S. 346.

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rialismus von Marx seine Selbstaufhebung intendiert, darauf kann

gegenüber den zahlreichen, auch gewollten Mißverständnissen nicht oft

genug hingewiesen werden. In Beziehung auf diese Frage herrscht auch

zwischen Marx und Engels völl ige Einmütigkeit. Und doch besteht

zwischen den Autoren ein Unterschied, wenn man näher zusieht, auf

 welche Weise sie den Ü b erg an g von der bürgerlichen zu r sozialistis chen

Gesellschaft beschreiben.Zum Ve rgleich m it M arx soll zunä chst die berühmte Stelle bei Engels im

»AntiDühring« angeführt werden. Engels schreibt: »Mit der Besitzer-

greifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenpro-

duktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produ-

zenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird

ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzel-

dasein hö rt auf. D am it erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn,endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in

 w ir klich menschliche. D er U m kreis der die M enschen um geb enden

Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt

unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten

Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren

ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eigenen

gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende

Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit vo ller Sachkenntnis angew and t und dam it beherrsch t. D ie eigene V erge-

sellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und

Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat.

Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten,

treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die

Menschen ihre G eschichte m it vollem Bew ußtsein selbst machen, erst von

da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichenUrsachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen

gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem

Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.«26

 A n der vie lleich t für das U topie proble m bed eute ndste n Ste lle seines

ökonomischen Hauptwerks äußert sich Marx folgendermaßen: »Das

Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch

Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der

Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen

Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürf-

nisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so

26  A. a. O., S. 351.

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muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und

unter al len möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erwei-

tert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber

zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die

Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaf-

tete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit

der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle brin-gen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn

mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen

Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehn. Aber es

 ble ib t dies im m er ein Reic h der N o tw en d igke it. Jenseits desselben

 begin nt die m ensch liche K raften tw ick lu n g, die sich als Selb stzw eck gilt,

das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwen-

digk eit als seiner Basis aufblühn kann . D ie V erk ü rzu ng des Arb eitstags ist

die Gru ndb edingun g.«27

Beide Autoren sind der Ansicht, daß das Glück der Menschen nicht

einfach dem Maß ihrer technischen Naturbeherrschung proportional ist,

sondern daß es sehr auf die gesellschaftliche Organisation der Naturbe-

herrschung ankommt, wenn die Frage entschieden werden soll, ob der

technische Fortschritt den Menschen zum Heil anschlägt oder nicht.

 W ährend fü r Engels m it der V ergesellschaftu ng der Produktio nsm ittel

eigentl ich al les gut wird, der sprunghafte Übergang vom Reich derNotwendigkeit ins Reich der Freiheit gesetzt ist, sieht der sehr viel skep-

tischere, auch dialektischere Marx, daß das Reich der Freiheit das der

Notwendigkeit nicht einfach ablöst, sondern zugleich als untilgbares

Moment in sich behält. Darin, daß die vernünftigere Gestaltung des

Lebens die zu seiner Reproduktion erforderliche Arbeitszeit zwar

 besc hränken, nie aber die A rb e it g an z abschaffen kann, spie gelt sich die

Zwieschlächtigkeit des Marxschen Materialismus. Er ist aufhebbar in derNichtaufhebbarkeit . Marx versöhnt Freiheit und Notwendigkeit mitein-

ander auf der Basis der Notwendigkeit28.

 A u ch w enn in der klasse nlose n G esellschaft n icht lä nger ein T eil der

Menschheit den anderen, weitaus größeren, als Mittel zwischen sich und

die anzueignende Natur schieben kann, so bleibt Natur als zu bewälti-

gender Block auch für die solidarisch gewordenen Menschen ein

27 D as Ka pita l, Bd. III, S. 873 f.

28 Vg l. dazu A. D eborin, D ie Dia lektik bei Fichte. In: Ma rx/En gelsArchiv, herausgegeben

 von D . R jazan o w , II. Bd., F ra n k fu rt 192 7, S. 51 ff . V g l. zu r U n aufh ebbarkeit der A rbeit

ferner Henri Lefèbvre, Le matérialisme dialectique, a. a. O., S. 101, wo die Arbeit als

Kampf der Natur mit sich gedeutet wird, »plus profonde que toutes les luttes des indi-

 vid us et des espèces bio lo giq ues« .

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Problem. Wie schon wiederholt angeführt, insistiert Marx, fern von allen

teils ihm unterstellten, teils ihn mißbrauchenden demagogischen Ver-

sprechungen, an den verschiedensten Stellen des »Kapitals« darauf, daß

die Arbeit unabschaffbar is t : »Der Arbeitsprozeß. . . is t zweckmäßige

Tätigkeit zur Herstel lung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürli-

chen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwech-

sels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschli-chen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, viel-

mehr allen seinen Gesellschaftsformen gemeinsam.«29

De r Stoffwechsel zwischen M ensch und N atu r ist für M arx deshalb un ab-

hängig von aller geschichtlichen Form, weil er zurückreicht in vorgesell

schaftlichnaturgeschichtliche Verhältnisse un d »als Lebensäußerun g und

Lebensbewährung dem überhaupt noch nicht gesellschaftlichen Men-

schen gemeinsam ist mit dem irgendwie gesellschaftlich bestimmten«30.

Immer wird es, wie Marx in der »Deutschen Ideologie« sagt, den »mate-

rialistischen Zusammenhang der Menschen untereinander« geben, »der

durch die Bedürfnisse und die Weise der Produktion bedingt und so alt

ist wie die Menschen selbst.. .«31

 W ie zu r H egelschen, so gehört auch zu r M arxschen D ialektik , d aß das

mit den Subjekten Nichtidentische stufenweise überwunden wird. Immer

größere Naturbereiche gelangen unter die Kontrolle der Menschen. Nie

aber, und das unterscheidet Marx vom letztlich doch abschlußhaftideali-stischen Denken Hegels, geht der Naturstoff auf in den Weisen seiner

theoretischpraktischen Bearbeitung.

 V on der Positio n des reifen M arx aus lä ß t sich erst gan z die Philoso phie

der Pariser Manuskripte beurteilen. Sosehr etwa das Manuskript »Kritik

der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt« der Hegelschen

»Phänomenologie« vorhält, sie setze in letzter Instanz Gegenständlich

29 Das Kapital, Bd. I, S. 192. Vgl. auch Das Kapital, Bd. III, S. 884, wo Marx bei seiner A naly se der Verselb st ändig ung der vers ch iedenen T eil e des M ehrw ert s geg enein an der ,

 wie sie in der »tr in itar is ch en Form el« sich ausd rü ck t, zeig t, w ie unte r bürg erlichenProduktionsverhältnissen die für alle Produktionsstufen vorauszusetzenden Beziehun-

gen stofflichnaturhafte Momente mit der spezifischhistorischen Gestalt der Gesell-

schaft zusammenzufallen scheinen:  »Im KapitalProfit oder noch besser KapitalZins,Boden Grund rente, ArbeitArbeitslohn, in dieser ökonom ischen Trinität als dem Zusam -

menhan g der Bestandteile des Werts und des Reichtums ü berhau pt mit seinen Quellen ist

die M ystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesell-

schaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produk-tionsverhältnisse mit ihrer geschichtlichsozialen Bestimmtheit vollendet: die verzauber-

te, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la

Terre als soziale Charaktere, und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk trei-

 ben.«

30 D as Ka pi tal, Bd. III, S. 869.

3 1 De utsch e Ideo logie , S. 26.

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keit und Entfremdung gleich; ferner sei zwar auch das Nichtidentische

 b lo ß begrifflich zu erfassen, w odurch es aber noch la nge nic ht zu etw as

restlos Beg riffliche m werd e, — sosehr setzt sich bei M ar x a u f dieser Stufe

seiner Entwicklung doch das Moment der Identität von Mensch und

Natur durch. Es braucht hier nur an die bereits zitierte Formulierung

erinnert zu werden, der Kommunismus sei die »wahrhafte  A uflösu ng des

 W iderstreites zwis chen dem M enschen m it der N a tu r« 32 oder, w ie es ananderem Orte noch eindeutiger heißt, »die vollendete Wesenseinheit des

Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durch-

geführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanis-

mus der N atu r« 33.

Erst der reife Marx nimmt das Problem der Nichtidentität ganz ernst.

Sowenig für ihn Hegels Gleichung Subjekt = Objekt aufgeht, sowenig

geht seine eigene Gleichung Humanismus = Naturalismus auf. Nie sinddie Menschen in den Gegenständen ihrer Produktion restlos bei sich

selbst. Wenn Hegel in der »Phänomenologie« sagt, dem Selbstbewußt-

sein sei nur »derjenige Gegenstand gut   und an sich,  worin es sich selbst,

derjenige aber schlecht, worin es das Gegenteil seiner »finde«, »das

Gute« sei »die Gleichheit    der gegenständlichen Realität mit ihm, das

 Sch le chte   aber ihre Ungleichheit«34, dann ist zur Marxschen Utopie zu

sagen, daß sie durchaus behaftet ist mit »dem Schlechten«, der Ungleich-

heit von Mensch und anzueignendem Material35. Nicht nur bleibt derden Menschen äußerliche Materieblock auch in der klassenlosen Gesell-

schaft, wenngleich unter günstigeren Bedingungen als in den seitherigen

Gesellschaften, das zu Assimilierende und zu Unterjochende; auch die

M enschennatur muß weiterhin ihren Trib ut zahlen.

Schon dem Marx der Doktordissertation ist von Hegel her der Gedanke

geläufig, daß der Mensch nur durch Arbeit zum Bewußtsein seiner selbst

gelangt. Arbeit aber setzt Triebverzicht voraus. »Daß der Mensch als

32 Nationalökonomie und Philosophie, S. 181.33 A . a. O ., S. 184.

34 H ege l, Phän om enolog ie des Geistes, a. a. O ., S. 356.

3 5 V öllig ver fehlt ist deshalb die sich einseitig au f die Pariser M anu skripte stützen de These

 v o n G erd D icke, d a ß sich M a rx die klass enlose G esell sch aft »a ls W irk li ch k eit der abso -

luten Identität« vorgestellt habe. Nichts ist dem Marx des Kapitals fremder als eine

 V ersöhnung, w ie sie D ic ke besc hreibt: »Die ab solu te Iden tit ät se lbst w ird nic ht meh r

dialektisch gesehen: die N ichtiden tität von Einzelmensch, G esellschaft und Na tur

 verschw in det total in de re n Id entitä t.« In : G erd D ic ke, D er Id enti täts gedan ke bei Feu er - bach un d M a rx, W is senschaft liche A bhan dlu ngen der A rbeit sgem ein schaft fü r For-

schung des Landes No rdrheinW estfalen, Bd. 15, Köln und O plad en i960, S. 196 f.

Genau diese Gestalt der Identität wird von Marx scharf kritisiert, der Intention nach

sogar schon in den Pariser Manuskripten. Davon, daß Marx Hegel einer mangelhaften

Durchbildung des Moments der Identität zeiht, wie Dicke meint, kann keine Rede

sein. Das Gegenteil ist der Fall.

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Mensch sich aber sein einziges wirkliches Objekt werde, dazu muß er sein

relatives Dasein, die Macht der Begierde und der bloßen Natur in sich

gebrochen haben.«36 Dieser, Marx mit Freuds Lehre vom Realitätsprin-

zip verbindende Gedanke bezeugt, daß Marx entgegen der Ansicht, die

ihn einfach dem philosophischen Optimismus zurechnet, eher einen Platz

in der Tradition der großen europäischen Pessimisten behauptet. Der

Unaufhebbarkeit der stofflichen Momente der Arbeitsdialektik auch

nach dem Verschwinden der Klassenantagonismen entspricht psycholo-

gisch das Fortbestehen eines bestimmten Maßes an notwendiger Versa-

gung. Der fast bis zum Überdruß von Marx vorgebrachte Gedanke, stets

müsse die Menschheit einen Stoffwechsel mit der Natur führen, ganz

gleich unter welchen geschichtlichen Bedingungen sie lebe, hat sein

genaues Pendant in Freuds Realitätsprinzip37.

Materialistische Dialektik und Psychoanalyse spiegeln sich ineinander. W ie sch on anges ichts der Frage, ob M arx O n tologe sei, weil er von der

Gleichgültigkeit des Stoffwechsels gegenüber seinen geschichtlichen For-

men spricht38, darauf zu verweisen war, daß die vermeintliche

Geschichtslosigkeit der Struktur der Arbeit selber etwas geschichtlich 

Vermitteltes   ist, so entgegnet auch Herbert Marcuse der an sich berech-

tigten Kritik an Freud, daß er die jeweilige geschichtliche Begrenztheit

des Realitätsprinzips außer acht gelassen habe, mit dem Hinweis: »This

criticism is va lid, but its va lid ity does not vitiate the truth in Freud ’s gene-

ralization, namely, that a repressive organization of the instincts under-

lies a ll   historical forms of the reality principle in civilization.«39

Es gehört wesentlich zu der als organisierter Herrschaft fortschreitenden

Zivilisation, daß die zu bloßem Material menschlicher Zwecke herabge-

 w ürdigte N a tu r dadurch sich an den M enschen rächt, daß diese ihre

Herrschaft nur mit stets sich mehrender Unterdrückung ihrer eigenen

Natur erkaufen können. Die Entzweiung von Natur und Mensch in der A rb eit spie gelt in der U nversöhnbarkeit von Lust und R ealit ätsp rinzip

sich wider. W obei jedoch die Einsicht, »daß jede Ku ltur a uf Arb eitszw an g

36  Marx, Differenz der demokratischen und epikureischen Naturphilosophie. In: Mega,

Bd. I, S. 31.37 V gl. dazu eine Stelle bei H erbe rt Marcuse in Eros and Civiliza tion , Boston 1955 , S. 35,

 w o die in ner e Bezie hung von M arx und Freud offensi ch tl ich w ir d: »Beh in d the reality

principle lies the fundamental fact of Ananke or scarcity (Lebensnot), which means thatthe struggle for existence takes place in a world too poor for the satisfaction of human

needs without constant restraint, renunciation, delay. In other words, whatever satisfac-

tion is possible necessitates work,  more or less painful arrangements and undertakings

for the procurement of the means for satisfying needs.«38 Vg l. dazu die E rörterun gen im Ab schn itt B des II. Kapitels.

39 Ma rcuse, Eros and Civ iliza tion , a. a. O ., S. 34.

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und Triebverzicht beruht«40, Freud trotz aller psychologisch begründe-

ten Skepsis gegenüber dem Sozialismus in letzter Instanz sowenig wie

Marx dazu verhält, der Resignation das Feld zu überlassen. Die geheime

Utopie der Psychoanalyse, wie sie etwa in der Schrift »Die Zukunft einer

Illusion« sich andeutet, ist im Grunde die Marxsche, von »innen gese-

hen« : »Es wir d entscheidend, ob un d in w iew eit es geling t, die La st der

den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit dennotwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen.«41

Gerade am Utopieproblem läßt sich nochmals mit al ler Deutlichkeit

zeigen, da ß N atu r für M arx kein positives m etaphysisches Prin zip ist.

Schon die »Deutsche Ideologie« spricht davon, daß der Geist den

»Fluch an sich« habe, »mit der Materie >behaftet< zu sein«42. Sofern die

Menschen als physiologische Wesen unmittelbar mit der Natur verfloch-

ten, Glieder ihres Kreislaufs sind, widerfährt ihnen, was aller Kreatur

 w id erfährt; sie sterben m it allen T ie ren und es kom m t nichts nachher, wie

es bei Brecht.heißt. Sofern sie als Subjekte von ihr sich abheben, müssen

sie, um ihr Leben zu reproduzieren, mit ihr arbeitend, sie negierend, sich

auseinandersetzen, was unter allen gesellschaftlichen Formen Triebver-

zicht und Versagung bedeutet. Ob also das menschliche Verhältnis zur

Natur unter dem Aspekt der Einheit oder unter dem der Verschiedenheit

 betr achtet w ird, vo n ein er M etaph ysizieru n g der N a tu r kan n, zum al

 beim reifen M arx , n icht die Rede sein.Das Resultat der Naturbeherrschung hat sich in der seitherigen

Geschichte selbst wieder als Naturzwang in den von Menschen unbe-

herrschten gesellschaftlichen Prozessen dargestellt. In der richtigen

Organisation der Menschheit ist es möglich, den gesellschaftlich beding-

ten Naturzwang weitgehend aufzuheben, indem sich die Menschen, wie

Engels sagt, zu »Herren ihrer eignen Vergesellschaftung«43 machen. Der

nichtsdestoweniger übrigbleibende Materialismus ist dann nicht mehr»der bürgerliche der Gleichgültigkeit und Konkurrenz; die Vorausset-

zungen dieses groben atomistischen Materialismus, welcher« — ungeach-

tet aller ideologischen Beteuerungen — »die eigentliche Religion der

Pra xis w ar u nd ist, werden dann dah ingefallen sein«44.

Der übrigbleibende Material ismus wird nicht nur die Abschaffung des

Hungers in der Welt zum Inhalt haben, sondern auch eine aufrichtigere

40   S. Freud, Die Zukunft einer Il lusion, Gesammelte Werke, XIV, London 1948, S. 331.41 A . a. O ., S. 328.42 De utsche Ideologie, S. 27.

43 An tiDühring, S. 3 5 1.44 M ax Hor kheim er, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: Zeitschrift für Sozialforschung,

Jahrgan g V, H eft 2, Paris 1936, S. 219.

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Haltung des Menschen zu dem, was in der seitherigen Geschichte Kultur

und Geist heißt, nach sich ziehen.

Die Haltung des reifen Marx hat nichts von dem Überschwang und der

ungebrochenen Positivität, wie sie uns in den Pariser Manuskripten

gerade im Hinblick auf die zukünftige Gesellschaft entgegentritt. Sie ist

eher als skeptisch zu bezeichnen. Die Menschen können sich letztlich

nicht von N aturn otw end igkeiten emanzipieren. Sosehr auch in einer ver-nünftigeren Gesellschaft das Reich der Notwendigkeit als beherrschtes in

seiner Rolle gegenüber der Kultursphäre zurücktreten mag, Marx be

harrt darauf, daß die von ihm angestrebte Einrichtung der menschlichen

 Verhältnis se kein eswegs über den U nterschie d eines Leb ensb ereichs, der

durch »äußere Zweckmäßigkeit«45 bestimmt wird, von einem anderen, in

dem sich »die menschliche Kraftentwicklung... als Selbstzweck gilt«46,

hinaus sein wird. Ein Jenseits der Sphäre der materiellen Produktion ble ib t erhalten, w ie ku rz im übrig en die zu r R eprod uktio n des Lebens

erforderliche Arbeitszeit immer sein mag. In der Geschichte der Klassen-

gesellschaft ist der Unterschied der beiden Lebensbereiche der von

ökonomischer Basis und ideologischem Überbau. Auch die nicht mehr

klassenmäßige Organisation der Gesellschaft hat die materielle Produk-

tion zu ihrer Basis. M arx behält diesen Be gr iff ausdrü cklich bei. D ie

außerökonomische Sphäre, Geist und Kultur, obwohl noch abgehoben

 von der unm ittelb aren A rbeitsw elt , soll je doch ih ren U berbaucharakter verlieren47.

Der Geist hat es in einer mündig gewordenen Gesellschaft nicht länger

nötig, mit dem Nimbus »medizinmännischer Gewichtigkeit«48 sich zu

umgeben. Mit der Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den

Menschen und der an ihre Stelle tretenden solidarischen Leitung von

Produktionsprozessen und Verwaltung von Sachen entfällt die gesell-

schaftliche Notwendigkeit, die den Schein hervorbringt, als sei der Geistein ontologisch Letztes und Absolutes. Die aufgeklärten Menschen brau-

chen weder sich noch anderen etwas vorzumachen. Indem sie ihre

Geschichte der Naturbeherrschung zugleich als Naturverfallenheit49

durchschauen, erkennen sie ebensosehr die Rolle, die der Geist in ihr

gespielt hat, ja, daß Gteist als identisches Sichdurchhalten gegenüber der

45 D as Kap ital, Bd. III, S. 873.4 6  A. a . O.

47 Nichts bezeugt besser die völlige Verständnislosigkeit der sich marxistisch nennenden

 A utoren im O sten gegenüber der Marxs 'chen Proble m atik , als wenn sie naiv von »sozia li-

stischer Ideologie« oder »sozialistischem Überbau« reden.

48 H orkh eim er, Egoismus und Freiheitsbewegun g, a. a. O ., S. 219.

49   Vg l . dazu auch H orkheimer/Ad orno, D ialektik der Au fklärung, a . a . O . , S. 46.

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M an nigfa ltigke it ohne N aturbeherrschun g nicht denk bar ist, deren sie'

auch weiterhin nicht entraten können. Gerade als seiner selbst nicht inne-

gewordener bleibt der Geist an blinde Natur gefesselt. »Durch die

Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur

zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade

der Natur versklavt.«50 Löst der zur Natur versteinerte Lebensprozeß in

 bew ußte und p lan m äß ig befo lg te T aten der vergesellschafteten M en-schen sich auf, dann sollen die Weisen des falschen Bewußtseins

 verschw in den. M arx unterscheid et zw ei G ru n d form en des fa lschen

Bewußtseins, Mythologie und Ideologie. Die Mythologie ist negativ

ökonomisch bedingt. Der unentwickelten Produktionsstufe der archai-

schen Gesellschaft entspricht eine unbegriffene äußere Natur: »Alle

Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in

der Einbildung und durch die Einbildung: verschwindet also mit der

 w irklichen H errschaft über dieselb en.« 51

Drückt in der Mythologie der Zwang unbeherrschter physischer Natur

sich aus, so spiegelt sich in den ideologischen Bewußtseinsformen die

Entfremdung der menschlichen Verhältnisse, ihre Verdinglichung zu

einer u ndu rchsichtigen,, schicksa lhaft ü ber den Menschen w altenden

Macht: »Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen

Kopfes, so wird er in der kapital istischen Produktion vom Machwerk

seiner eignen Hand beherrscht.«52Marx verspricht sich von der sozialistischen Einrichtung der Gesellschaft

das Verschwinden aller Ideologien, namentlich der Religion: »Der reli-

giöse Widerschein   der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwin-

den, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Men-

schen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und

zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses,

d. h. des materiellen P rod uktion sproz esses, streift nu r ihren m ystischen

Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen

unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht.«53

Indem das gesellschaftliche Sein der Menschen in sich rational wird,

 verlieren die gedanklichen Spie gelu ngen dieses Seins ihren verzerrenden

Charakter. Wo sie ganz verschwinden, löst die gesellschaftliche Praxis

das von ihnen im Grunde Gemeinte ein. Die in der Religion verdinglicht

steckenden W ünsche w erden erfüllt. M ar x urteilt hier vorschn ell. Erst die

realisierte Utopie kann als  Praxis   zeigen, ob an den von ihm als ideolo-

50 A. a. O.

51 Zu r K ritik der politischen Ök ono m ie, S. 268.52 D as Ka pita l, Bd. I, S. 653.

53 A . a. O ., S. 85.

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gisch denunzierten geistigen Gebilden mehr ist als Schein, der mit der

falschen Gesellschaft verschwindet, oder ob Religion mit dem Sein des

Menschen schlechthin gesetzt ist, wie die Apologetik es will. Solange die

 w irklich m enschliche O rd n u n g noch nicht hergestellt ist, bew ahrt das

Christentum, namentlich in Gestalt negativer Theologie, indem es darauf

 verweis t, d aß das le tzte W ort über das Schic ksal der M enschen noch nic ht

gesprochen ist, in welch mystifizierender Form auch immer, dasGedächtnis daran, daß das menschliche Wesen in seinen bisherigen histo-

rischen Erscheinungsweisen sich nicht erschöpft54.

 Angesichts der gegenw ärtig en M iß verstä ndnis se dessen, was die M arx

sche Utopie beinhaltet, schien es geboten, zunächst einmal auf die auch

 von M arx stärker beto nte unaufh ebbare Seite des M ate ria lism us h in zu -

 weisen, au f dasjenig e, w as die sozia list is che G esellschaft negativ mit

ihren historischen Vorgängerinnen verbindet. Was sie positiv von ihnen

trennt, hat Marx nur selten und sehr vorsichtig andeutend erwähnt55.

Einmal, um nicht in abstraktes Spintisieren zu verfallen, wie er es am

gesamten Frühsozialismus kritisiert, zum anderen, um nicht das Bild der

neuen Gesellschaft dadurch zu verfälschen, daß der alten entnommene

Kategorien unbesehen auf sie übertragen werden.

So selten Marx in seinem umfangreichen Werk zur künftigen Gesell-

schaft sich inhaltlich geäußert hat, ein Motiv hält sich identisch auf allen

Stufen seiner Entwicklung durch: die Emanzipation aller Seiten   derMenschennatur. Der ökonomisch beschlagenere Marx der mittleren und

Spätzeit weiß, daß die wesentlichste Bedingung der Möglichkeit einer

solchen Emanzipation die Verkürzung des Arbeitstags ist. Aber schon im

Jahre 1847 sagt er in »Lohnarbeit und Kapital«: »Die Zeit ist der Raum

der menschlichen Entwicklung. Ein Mensch, der keine freie Zeit zur

 V erfügu ng hat, dessen gan ze L ebenszeit abgesehen von den blo ß p h ysi-

schen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten usw., durch seine

 A rbeit für den K apitalis ten in A nspruch genom m en w ir d, ist w enig er als

ein Lasttier.«56

54 Zu den inhaltlichen   Problemen des Marxschen Atheismus vgl. besonders Ernst Bloch,

Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, a. a. O., S. 389—404.

55 Thilo Ramm weist in seinem Aufsatz Die künftige Gesellschaftsordnung nach der

Theorie von Marx und Engels auf das Fehlen jeder systematischen Untersuchung des

Bildes der künftigen Gesellschaft, wie aus den Schriften der Autoren wenigstens inUmrissen sich ergibt, hin. D er grün dliche A ufsa tz, der sich vo r allem der po litischjuristi

schen Seite des Problems widmet, die im Rahmen dieser Arbeit außer Betracht bleibt,

kom mt ebenfalls zu dem R esultat, daß die in letzter Ze it zu sehr unter theologischescha

tologischem Gesichtspunkt betriebene Marxinterpretation am Kern der unmittelbar

historischen   Problematik vorbeigeht. In: Marxismusstudien, a. a. O., S. 77—119.

56  Lohn arbeit und Ka pital. In: ök on om ische Aufsätze, S. 87.

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Das Problem der menschlichen Freiheit reduziert sich für Marx auf das

der  freien Z eit.  Zwar verschwindet in der vernünftigeren Gesellschaft,

 w ie sch on erörtert w orden ist, der U nterschie d von ökonom ischer und

außerökonomischer Lebenssphäre nicht gänzlich. Dadurch aber, daß der

Selbsterhaltung der Menschen auf Grund des erreichten Standes der

Produktivkräfte nur noch ein vergleichsweise geringer Teil ihrer gesam-

ten Zeit gewidmet zu werden braucht, verliert dieser Unterschied etwas von seiner für die Klassengeschichte charakteris tis chen A bsolu th eit und

Starrheit57. Kultur ist nicht länger der Gegensatz schlechthin zur mate-

riellen Arbeit, wenn die bisher für den größten Teil der Menschheit

gültige Einteilung der Lebenszeit in den Hauptinhalt »entfremdete

 Arbeit« und den N ebeninh alt »N ic htarbeit« d a h in fä llt 58, w enn die M en-

schen in allen Lebensbereichen im Hegelschen Sinne »für sich« tätig sind.

In allen Lebensbereichen, denn die Marxsche Rede von dem durch dieNatur gesetzten Fortbestand des Reichs der Notwendigkeit bedeutet

nicht, daß nur der sich als Selbstzweck geltenden »menschlichen Kraft-

entwicklung«59 jenseits der praktischen Arbeit ein wahrhaft mensch-

licher Charakter zugesprochen würde. In der nicht länger entfremdeten

 A rb eit60 gelingt es den M enschen, aus der E n täuß eru ng ih rer Wesens-

kräfte wirklich in sich zurückzukehren, in der von ihnen umgestalteten

äußeren Welt heimisch zu werden.

Daß das verbleibende Reich der Notwendigkeit als humanisiertes so gut

eine Sphäre menschlicher Selbstverwirklichung werden kann wie das auf

ihm beruhende Reich der Freiheit, wird von Marx klar im »Rohentwurf«

ausgesprochen, wo er sich gegen die Ansicht von Adam Smith wendet,

daß Arbeit schlechthin ein Fluch, Ruhe dagegen identisch mit Freiheit

sei: »Daß das Individuum >in seinem normalen Zustand von Gesundheit,

Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit« auch das Bedürfnis

einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe,scheint A . Sm ith gan z fernzuliegen. A llerd ings erscheint das M aß der

57 Vgl. dazu den A ufsatz Trieblehre und Freiheit von H . M arcuse. In: Freud in der Gegen- w art, F rank fu rt 1957, S. 420.

58 A . a. CX, S. 409.

59 D as Ka pit al, Bd. III, S. 874.

60 Im An schlu ß an Freud und G ez a R öheim glaubrt H . M arcuse so gar so weit gehen zu

könn en, da ß er sagt, in einer ver nün ftig organisierten G esellschaft kön ne die Arbe it ihren

»ursprünglich libidinösen« Charakter zurückgewinnen. Vgl. Trieblehre und Freiheit,

S. 418. Für M arx ist demgegenüber die Arb eit ursprünglich Au sdruck von Lebensnot, keinfreies, lustvolles Spiel menschlicher Kräfte. Au ch die hu manisierte, nichtentfremdete und

freie Arb eit ist für ihn kein bloßes Amü semen t. Im R oh en tw urf spottet er au f S. 50 5 über

die romantische, »naiv grisettenmäßige« Ansicht Fouriers, freie Arbeit müsse zum Spaß

 werden: »W ir klich freie A rbeit en, z. B. K om ponie ren is t grade zugle ic h verd am m te ste r

Ernst, intensivste Anstrengung.« Vgl. auch a. a. O., S. 599, wo er noch einmal kritisch

auf Fouriers These eingeht, Arbeit könne in einer freien Gesellschaft zum Spiel werden.

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 A rbeit se lbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Z w eck und

die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwin-

den. Daß aber diese Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung

der Freiheit — und daß ferner die äußeren Zwecke den Schein bloß

äußerer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das

Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden — also als Selbstverwirkli-

chung, Vergegenständlichung des Subjektes, daher reale Freiheit, deren A ktion eb en die A rb eit, ahnt A . Sm ith ebenso wenig . A llerd ings hat er

Recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven, Fronde,

Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit  

erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als >Freiheit und

Glück<.«61

Daß das Wesen der Arbeit reicher ist als ihre entfremdeten Gestalten

 verm uten lassen, hätte die  Praxis   einer vernünftigeren Gesellschaft zu

zeigen. Marx zählt die realen Bedingungen auf, unter denen nach seiner

 Ansic ht A rb e it zu r »travail attractif« , zu r »Selb stv erw ir klichung des

Individuums«62, kurz zu freier Arbeit werden kann: »Die Arbeit der

materiellen P ro d u k tion . kann diesen Ch ara kte r n ur erhalten, dadurch

daß i) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaft-

lichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des

Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in

dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form,sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint.«63

 W enn M arx hie r n ic ht die A rb e it als solche verw irft, sondern ihre bishe-

rigen historischen Formen, so hat er die schon von Hegel stammende

Einsicht im Sinn, daß Arbeit nicht nur Leiden, sondern immer auch

Menschwerdung bedeutet64. Keineswegs macht er sich damit zum Apo-

stel jener Vulgärmetaphysik von Arbeit und Leistung, wie sie zu Herr-

schaftszwecken immer wieder verkündet wird und schon in der altenSozialdemokratie heimisch war, die Arbeit als Heiland feierte, ohne daß

lange danach gefragt wurde, wie sie jeweils auf die Arbeiter sich

auswirkt65.

Die M arxsche A nsich t zu r Ar be it im »Verein freier M enschen«66 läß t sich

61 Ro hen twu rf, S. 505.62  A. a. O.

63 A. a. O.

64 Arb eit ist zugleich Ursache und W irkung des Üb ergangs der Menschen von der Na turzur Sozialgeschichte. Vgl. dazu den in der Dialektik der Natur, S. 179194, abge-druckten Aufsatz von Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen.

6$ Vgl. zum vulgärmarxistischen Ärbeitsbegriff der Vorkriegssozialdemokratie auch die

schönen Bemerkungen von Walter Benjamin in der XI. geschichtsphilosophischen These.

In: Sch riften , a. a. O ., S. 500 f.

66 Das Kapital, Bd. I, S. 84.

M   7

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etwa so formulieren: weder sollen die Menschen in der Arbeit, wie bisher,

geschunden werden, noch kann sie überhaupt wegfallen und an ihre

Stelle das treten, was heute Freizeitbeschäftigung heißt, bei der die

Menschen sinnlos ihre Zeit verbringen und doch zugleich an die

Rhythmen der Arbeitswelt und an deren Ideologie gefesselt bleiben. Wie

freie Zeit insgesamt für Marx keine bloß quantitative Ausdehnung dessen

ist, was heute unter ihr verstanden wird, so ist auch Kultur für ihn keindinghaft vorgegebener Bestand, der in vermehrter und verbesserter Auf-

lage nun dem »ganzen Volk« zugute kommen soll67. Erst wenn die

»unmittelbare Arbeitszeit« aufhört, im »abstrakten Gegensatz zu der

freien Zeit«68 zu stehen, kann es zu einer universalen Entfaltung der

menschlichen Qualitäten kommen, die sich ihrerseits wieder fördernd auf

das Wachstum der Produktivkräfte auswirkt: »Die Ersparnis von

 A rb eitszeit gle ic h Verm ehru ng der freien Z eit, d .h . Z eit für die volleEntwicklung des Individuums, die selbst wieder als größte Produktiv-

kraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.«69

Dabei ist die Entfaltung der Produktivkräfte für Marx nie Selbstzweck.

In letzter Instanz soll die Ersparnis der Arbeitszeit eine Umstrukturie-

rung des Menschen bewirken: »Die freie Zeit — die sowohl Mußezeit als

Z eit fü r höh ere T ät igk eit ist — ha t ihren B esitzer nat ürlich in ein andres

Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den

unmittelbaren Produktionsprozeß.«70

Mit Recht sagt Thilo Ramm, daß diese Theorie vom Entstehen eines

neuen Menschen den innersten Kern der Marxschen Lehre ausmacht71.

Mit seiner sozialistischen Umgestaltung soll nach Marx der Produktions-

prozeß die »Form der Notdürftigkeit und Gegensätzl ichkeit«72 verl ie-

ren. Diese Umgestaltung ist ebenfalls kein Selbstzweck und läuft bei

entsprechend hohem Stand d e r ' Pro du ktivkräfte auch nicht au f ein

kollektivistisches Zwangssystem, sondern auf die wirkliche Emanzipa-tion der Individuen hinaus: »Die freie Entwicklung der Individualitäten,

und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um

Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendi-

gen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstleri

67 Vg l. dazu besonders Max H orkheim er, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: Zeitschrift

für Sozialforschung, a. a. O., S. 219.68 Ro hen tw urf, S. 599.69 A . a. O .

70 A. a. O.

71 Vg l. Th ilo Ramm , den A ufsa tz Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von

Marx und Engels, a. a. O., S. 102.

72 Ro hen twu rf, S. 593.

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sehe, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie

freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.«73

Mit außerordentlicher Schärfe wendet sich Marx gegen die gängige

Behauptung der Nationalökonomen, die Abschaffung der freien Konkur-

renz, die das Kapital übrigens selbst im Laufe seiner Entwicklung mit

Notwendigkeit vollzieht oder vorbereitet, sei die Abschaffung der Frei-

heit überhaupt: » D a h e r.. . die Abgeschm acktheit, die freie Ko nkurren zals die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten; und

Negation der freien Konkurrenz = Negation individueller Freiheit und

auf individueller Freiheit gegründeter gesellschaftlicher Produktion. Es

ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage — der

Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit

ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit

und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftlicheBedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermäch-

tigen Sachen — von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen

Sachen — anneh m en.«74

Marx dreht den Spieß um. Das freie Individuum, das angeblich vor dem

Sozialismus geschützt werden soll, hat es in der seitherigen Geschichte

noch gar nicht im Sinne dessen, was die Ideologen verkünden, gegeben

und ist erst das Resultat des richtig verstandenen Sozialismus: »Die

gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbstän-

digte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Natur-

macht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat

dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das Freie (Großschr. b. M., A. S.)

gesellschaftliche In divid uu m ist.«75

Das freie gesellschaftliche Individuum kann nur entstehen, wenn die

 Arbeitsteilu ng aufgehoben w ir d , die für M arx im G runde m it der K las-

senteilung identisch ist. In der »Deutschen Ideologie« glaubt er noch inromantisierender Weise an die Möglichkeit einer völligen Aufhebung der

Teilung der Arbeit: »Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden

anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit,

der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger,

Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er

nicht die Mittel zum Leben verlieren will — während in der kommunisti-

schen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätig-

keit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die

73 A. a. O.

74 A. a. O., S. 545.

75 A. a. O . , S. m .

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Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch

möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nach-

mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kriti-

sieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder kriti-

scher K ritike r zu werden.«76

Bei allen späteren, auch konkreteren Erwägungen der Frage geht Marx

 vo n der in der B eschaffenheit des in dustr ie llen D asein s selber angelegtenTendenz zur mehr oder weniger umfassenden Aufhebung der Arbeitstei-

lung aus77. Die Fortentwicklung der Maschinerie hat für Marx nicht nur

einen unmittelbar ökonomischen Nutzeffekt, sondern zugleich eine

Humanisierung der Arbeitsprozesse zur Folge. So schreibt er im »Elend

der Philosophie«: »Was die Teilung der Arbeit in der mechanischen

Fabrik kennzeichnet, ist, daß sie jeden Spezialcharakter verloren hat.

 A b er von dem A u gen blick an, w o jede beso ndere E n tw ick lu ng aufh ört,macht sich das Bedürfnis nach Universalität, das Bestreben nach einer

allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar. Die automatische

Fabrik beseitigt die Spezialisten und den Fachidiotismus.«78

Eingehend befaßt Marx sich im »Kapital« mit der technologisch

 bedin gte n A u fh eb u ng der Arbeitsteilu ng. D ab ei w ird deutlich, d aß es fü r

ihn bestimmte, der Technik immanente Sachverhalte gibt, die gegenüber

ihrer gesellschaftlichen Organisation relativ gleichgültig sind. Maschi-

nelle Produktion ist für Marx unbeschadet ihrer bürgerlichen oder sozia-l istischen Anwendung al lemal ein Fortschritt über Handwerk und

Manufaktur hinaus: »So lange Handwerk und Manufaktur die a l lge-

meine Grundlage der gesellschaftlichen Produktion bilden, ist die Sub-

sumtion des Produzenten unter einen ausschließlichen Produktionszweig,

die Zerreißung der ursprünglichen Mannigfaltigkeit seiner Beschäfti-

gung, ein notwendiges Entwicklungsmoment.. . Es ist charakteristisch,

da ß bis ins 1 8. Jahrhu ndert hinein die besondren G ew erke mysteries hießen, in deren Dunkel nur der empirisch und professionell Eingeweihte

eindringen konnte. Die große Industrie zerriß den Schleier, der den

Menschen ihren eignen gesellschaftlichen Produktionsprozeß versteckte

und die verschiednen naturwüchsig besonderten Produktionszweige

gegeneinander und sogar dem in jedem Zweig Eingeweihten zu Rätseln

machte. Ihr Prinzip, jeden Produktionsprozeß, an und für sich und

76 D eutsc he Ideologie , S. 29 f.77 So künden ihm die unter kapitalistischen Verhältnissen gemachten Erfindu ngen die kün f-

tige Allseitigkeit der Menschen an: »>Ne sutor ultra crepidam!<, dies nec plus ultra hand-

 w erksm äßig er W eis heit , wurde zur fu rchtb aren N a rrh eit von dem M om ent, w o der

Uh rmach er W att die Dam pfmaschine, der Barbier A rkw righ t den Kettenstuhl, der Juwe-

lierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hatte.« Das Kapital, Bd. I, S. 514.

78 Das Eiend der Philosoph ie, S. 159.

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zunächst ohne alle Rücksicht auf die menschliche Hand, in seine konsti-

tuierenden Elemente aufzulösen, schuf die ganz moderne Wissenschaft

der Technologie.«79

Ihr lösen sich die verschiedenen isolierten Gestalten der Produktionspro-

zesse auf in systematische Anwendungen der Naturwissenschaft. Daß die

rastlose Transformation von Natur in Industrie auch unter den Bedin-

gungen des Sozialismus weitergeht, spricht Marx mit Nachdruck im

»Rohentwurf« aus. Die Einheit von Erkenntnis und Veränderung der

Natur, wie sie in der Industrie in großem Stil sich verwirklicht, soll in

Zukunft noch bestimmender für die Produktionsprozesse werden. Marx

schwebt deren totale Verwissenschaftlichung   vor, welche die Rolle des

 Arbeiters m ehr und m ehr in die des technischen » Wächters un d R eg ula -

tors«80 verwandelt. Das jedoch impliziert, daß das tätige Subjekt in

qualitativ neuer Weise  der Objektwelt gegenübertritt: »Es ist nicht mehrder Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwi-

schen das Objekt und sich einschiebt, sondern den Naturprozeß, den er

in einen industriellen verwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und

die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den

Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwand-

lung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrich-

tet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen

allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherr-

schung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper — in einem

 W ort die E n tw ick lu ng des gesellschaft lichen Indiv id uum s, die als der

große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.«81

 Andersw o schildert M arx den w issenschaft lichen C h arak ter des P ro d u k-

tionsprozesses folgendermaßen: »Es ist dieser zugleich Disziplin, mit

Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Ausübung, Experi-

mentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständli-chende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordnen Menschen, in dessen

K o p f das akk um ulierte W issen der Gese llschaft existiert.«82

Marx ist sich darüber im klaren, daß die von ihm geforderte, allseitige

 wissenschaft liche D u rch drin gun g der A rbeit svorgänge, die H öherent-

 w icklu ng der M aschin erie und die aus ih r sich ergeben de V erkü rzung

der A rbe itszeit nur m öglich sind, wenn die Gesellschaft ihr Erziehu ngssy-

stem von Grund auf ändert, auch auf diesem Gebiet ihre Verhältnisse mit

dem Stand der erreichten geistigen und materiellen Produktivkräfte in

79 Das Kapital, Bd. I, S. 511 f.

80 R oh ent wu rf, S. 59 z.

81 A. a. O  m  S. 592 f.

82 A . a. O , S. 599. f.

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Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produ-

zieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller

und geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum, hängt die Allseitig-

keit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeiterspa-

rung ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie

auf.«89

 W ie das A usm aß der Freih eit jenseits der notw endig en m aterie llen

Praxis, so bestimmt die Zeit umgekehrt auch den Grad der erreichbaren

Humanisierung innerhalb dieser Praxis. Uber die ökonomische Rolle der

Zeit als Arbeitszeit in einer vom Warenfetischismus freien Gesellschaft

äußert das »Kapital« sich so: »Die Arbeitszeit würde.. . eine doppelte

Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die rich-

tige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen

Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des indi- vid uellen A nteils der Produzenten an der G em einarbeit und daher auch

an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesell-

schaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren

 A rbeitsprodukten ble ib en hier durchsic htig ein fach in der Prod uktio n

sow ohl als in der Distr ibu tion .«90

 W enn M arx hie r sa gt, das Q u an tum der A rb e it des Ein zeln en diene als

Maß für die ihm zufließenden Genußmittel, so hat er die erste und

niedere Phase der kommunistischen Gesellschaft im Sinn, von der es in

der »Kritik des Gothaer Programms« heißt, sie sei »in jeder Beziehung,

ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet... mit den Muttermalen der

alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt«91. Die Gesellschaft ist

über den bürgerlichen Satz, daß, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle,

noch nicht hinaus. Die vollzogene Vergesellschaftung der Produktions-

mittel schließt zunächst in keiner Weise aus, daß weiterhin erhebliche

Einkommensunterschiede bestehen. Marx erkennt die ungleiche physi-sche und geistige Begabung der Individuen und die aus ihr sich ergebende

 ve rschiedene L eistungsfähigkeit als V oraussetzung ungle ic hen Rechts an.

»Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und

dadurch bedingte K ultur entw icklun g der Gesellschaft.«92

 Anders je doch in der zw eiten und höheren Phase: »In einer hohem Phase

der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterord-

nung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegen-

89 Rohentwurf, S. 89.

90 D as Ka pital, Bd. I, S. 84. Zu r Frage nach dem Fortw irken des W ertgesetzes unter soziali-

stischen Pro duktion sverhältnissen vgl. auch Bd. III, S. 907. V gl. auch K ritik des Goth aerProgramms, S. 23.

91 Kritik des G oth aer Program ms, S. 23.92 A. a. O., S. 24.

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satz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die

 A rb e it nic ht nur M it tel zum Leben, so ndern selbst das erste Lebensbe-

dürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Indivi-

duen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen

des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der

enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die

Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfn issen!« 93

Mit dem Gedanken, daß in einer richtigen Gesellschaft in letzter Instanz

die Bedürfnisse des Einzelnen und nicht seine physisch oder geistig

 bedin gte A rb eitsfäh igkeit und le is tu ng das M aß fü r seine Genüsse

abgeben sollten, nimmt Marx unmittelbar ein Motiv der »Deutschen

Ideologie« wieder auf. In dem von ihm redigierten und vermutlich von

Moses Heß verfaßten Artikel gegen Kuhlmann heißt es: »Nun aber

 besteht eines der w esentl ichsten P rinzip ien des Kom m unism us, w odurch

er sich von jedem reaktionären Sozialismus unterscheidet, in der auf die

Natur des Menschen begründeten empirischen Ansicht, daß die Unter-

schiede des  K o p fes   und der. intellektuellen F ähigkeiten übe rhau pt keine

Unterschiede des  M agens  und der physischen  Bedürfn is se   bedingen; daß

mithin der falsche, auf unsre bestehenden Verhältnisse begründete Satz:

>Jedem nach seinen Fähigkeiten^ sofern er sich auf den Genuß im

engeren Sinne bezieht, umgewandelt werden muß in den Satz:  federn  nach Bedürfnis;  daß, mit anderen Worten, die Verschiedenheit   in der

Tätigkeit, in den Arbeiten, keine Ungleichheit,  kein Vorrecht   des

Besitzes und Genusses be grün det.«94

 W ie in der »K ritik des G o th aer Program m s« w ird auch hie r der Satz,

daß Arbeit das Maß des Genusses bilde, als bürgerlich beschränkt durch

den anderen aufgehoben, daß einzig die Bedürfnisse dem Genuß eine

Grenze setzen.Der Marxsche Eudämonismus geht nicht von dem abstraktal lgemeinen

Prinzip der Arbeitszeit aus, dessen formale Gleichheit für alle gerade die

inhaltliche Ungleichheit einschließt, sondern von den unmittelbaren

physischen und geistigen Bedürfnissen der Menschen in ihrer Verschie-

denheit. Die M ißständ e der alten G esellschaft lassen sich, wie M ar x sagt,

überhaupt nur beseitigen, indem an die Stelle des gleichen gerade unglei-

ches Recht tritt95, was allerdings voraussetzt, daß insgesamt genügend

Güter vorhanden sind und folglich anderen Menschen daraus kein

93 A . a. O ., S. 24 f.

94 D eutsc he Ideolog ie, S. 584 f.

95 Vg l. K ritik des G oth aer Program m s, S. 24.

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Schaden erwächst. Gesellschaftliche Gleichheit heißt nicht, daß alle über

einen Kamm geschoren werden, sondern gerade, daß Reichtum und

 Verschie denheit der in divid uellen W ünsche zu ihrem R echt kom m en. Im

übrigen weist Marx immer wieder auf die gesellschaftliche Veränderlich-

keit der menschlichen Bedürfnisse und Triebziele hin. So hat er an

Proudhon auszusetzen, daß dieser nicht begreift, »daß die ganze

Geschichte nur eine fortgesetzte Umwandlung der menschlichen Natur

ist«96.

Die Frage, welche Begierden in einer vom Warenfetisch und damit vom

Konsumzwang freien Gesellschaft verschwinden und welche sich entwik

keln werden, läßt sich abstrakt nicht entscheiden. Das erklärt wohl unter

anderem auch den Umstand, daß Marx an keiner Stelle seines Werkes,

 w o er vom totalen Menschen   der Zukunft spricht, sich näher zum sexu-

ellen Verhalten dieses Menschen äußert. Daß die große Industrie »mitder entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und

Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produk-

tionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue

ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des

 Verhältnisses der G eschlechter«97 darstellt, ist M arx freilich bew ußt.

Hatte er früher der Feuerbachschen Philosophie mit Recht vorgehalten,

sie reduziere die menschliche Gemeinschaft auf den Gattungszusammen-

hang und, soweit sie . diesen B eg riff einm al p raktisch fasse, a u f den

Geschlechtsakt, es komme aber zunächst auf die Beziehung der

Menschen in der Produktion an, so betrachtet Marx jetzt im »Kapital«,

 w o »die höhere Form der Fam ilie und des Verhältnisses der G eschle ch-

ter« über das ökonomische hinaus wirklich einmal konkret ins Blickfeld

gelangt, diese mögliche höhere Form ausschließlich unter dem Aspekt

einer Humanisierung der ökonomischen Beziehungen: »Es ist natürlich

ebenso albern, die christlichgermanische Form der Familie für absolut zuhalten als die altrömische Form, oder die altgriechische, oder die orienta-

lische, die übrigens untereinander eine geschichtliche Entwicklungsreihe

 bilden. Ebenso leuchtet ein, d aß die Zusam m ensetzung des kom bin ierte n

 Arbeits personals aus Indiv id uen beid erle i Geschle chts und der verschie-

densten Altersstufen, obgleich in ihrer naturwüchsig brutalen, kapitalisti-

schen Form, wo der Arbeiter für den Produktionsprozeß, nicht der

Produktionsprozeß für den Arbeiter da ist, Pestquelle des Verderbs und

96  Das Elend der Philosoph ie, S. \6i .  Vg l. auch dazu den Sa tz aus dem Ro hen twur f, S. 134:

»Habsucht ist auch ohne Geld möglich; Bereicherungssucht ist selbst das Produkt einer

 bestimm ten gesellsch aft lichen Entw ic klu n g, nic ht natürlich   im Gegensatz zum

Geschichtlichen.«

97 Das Kapital, Bd. I, S. 515.

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der Sklaverei, unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle

hum aner Entw icklun g Umschlägen m uß.«98

Thilo Ramm spricht wohl mit Recht von einer sehr strengen Eheauffas-

sung bei Marx. Beizupflichten ist auch seiner Ansicht, daß in »Engels’

Freiheitsvorstellung ... der Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit ein viel stär-

keres Gewicht« zukommt »als bei Marx, der sie durch das Gebot sittli-

cher Selbstverwirklichung in Schranken hält«99. Engels erinnert in seinen

Schriften bis in die Darstellung hinein an die französische Aufklärung,

 w ährend die M arxsche H altu n g m ehr zum deutschen Idea lism us, ja zur

Kantischen Ethik gehört, so zurückhaltend Marx auch in der Äußerung

mo ralischer U rteile ist.

Zwischen Marx und Engels bestehen hinsichtlich der Frage nach dem

moralischen Verhalten der Menschen in der neuen Gesellschaft gewisse

Differenzen, so wenig sich das von Engels im »AntiDühring« entwor-fene Programm eines Lebens, das den Menschen »die vollständig freie

 A usbildun g und Betätigung ih rer körperlichen und geis tigen A nla gen

garantiert«100, sich vom Marxschen Programm des totalen Menschen

unterscheidet, wie es im »Kapital« entwickelt wird.

In seiner Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des

Staats« aus dem Jahre 1884 behandelt Engels das Problem der sexuellen

Beziehungen in der künftigen Gesellschaft auf eine Weise, die schwerlich

den Beifall Marxens gefunden hätte. Mit der Aufhebung des Privateigen-

tums an den Produktionsmitteln büßt auch die Familie ihre seitherige

ökonomische Funktion ein. Die Versklavung der Frau hört auf. Was nach

Engels übrigbleibt, ist eine Monogamie, deren einzige Basis die wirkliche

Zu neig un g d er Partn er ist. N u r solange sie besteht, soll die Ehe bestehen:

»Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die

Liebe fortbesteht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechts-

liebe ist aber nach den Individuen sehr verschieden, namentlich bei denMännern, und ein positives Aufhören der Zuneigung, oder ihre Verdrän-

gung durch eine neue leidenschaftliche Liebe, macht die Scheidung für

 beide Teile wie für die G esellschaft zu r W oh lta t. N u r w ird m an den

Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozes-

ses zu waten.«101

Uber solche Erwägungen geht freilich auch Engels nicht hinaus. Der

98 A . a. O ., S. 515 f. Es ist kein Zu fall, da ß M arx in diesem Zusam m enhan g (S. 516,Fußno te 3 12) den von den modernen Sozialtechn ikern läng st realisierten Gedan ken eines

Inspektionsberichts zitiert: »Fabrikarbeit könn te genau so rein und vor trefflich sein wieH ausarbeit, ja vielleicht noch mehr.«

99 Thilo Ramm, a. a. O., S. 109 f.

100 AntiDühring, S. 350.

10 1 D er Ursp run g der Familie, des Privateigentum s und des Staats, S. 38.

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gesellschaftlichen  Praxis   bleibt auch hier Vorbehalten, wie sich unter

 Verhältnissen, die vom ökonom ischen Z w a n g befr eit sind, die B eziehu n -

gen zwischen den Menschen gestalten werden.

Marx leitet seine Forderung einer Emanzipation aller menschlichen

 W esenskräfte aus der A n aly se des D op p elc h arakters der bürgerlichen

Gesellschaft ab, der für ihn darin besteht, daß diese Gesellschaft nicht nur

die Verstümmelung der Menschen, sondern auch die Mittel ihrer endgül-

tigen Befreiung hervorbringt: »Die universal entwickelten Individuen,

deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen

Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterwor-

fen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad

und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese  Ind ivi-

dualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der

Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die Entfremdung desIndividuums von sich und von anderen, aber auch die Allgemeinheit und

 A llseitig keit se in er Bezie hungen und Fäh igkeit en erst prod uziert.«102

Das »Kapital« hält ausdrücklich fest, wie sehr die Abschaffung der

 bisherigen Produktionsw eise zugle ic h ih re »Aufh ebung« bedeu tet. Sie ist

nicht ihre einfache Negation, sondern Negation der Negation, indem sie

das in divid uelle Eige ntu m und die m it ihm unter kap italistischen

 Verhältnissen m öglich gewordenen menschlichen Q u alitä ten au f höherer

Stufe reproduziert, »auf Grundlage der Errungenschaft der kapital isti-

schen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der

durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel«103. Der Gedan-

ke, daß das vernünftigere Verhältnis der Menschen zueinander und zur

Natur die gesamte seitherige Entwicklung in sich aufgehoben behält,

zeigt zugleich deutlich, daß Marx nicht daran glaubt, daß die Menschen

zu einer naiven Unmittelbarkeit des Naturerlebens zurückkehren könn-

ten, von der nicht einmal feststeht, ob sie jemals so existiert hat, wie dieschon von Hegel verspottete Romantik annimmt104. Kritisch äußert sich

dazu auch Lenin: »Daß dem Urmenschen das Notwendige als freie Gabe

der N atu r zu floß, ist ein einfältiges M är ch en . . . Es hat nie ein goldenes

Zeitalter gegeben, und der Urmensch ächzte förmlich unter dem Drucke

der Existenzschwierigkeiten, der Schwierigkeiten des Kampfes mit der

Natur.«los

102 Ro hen twu rf, S. 79 f.103 D as Kap ital, Bd. I, S. 803.

104  V gl. dazu System der Philosophie, III, Zu satz zu § 405, S. 162 f. a. a. O . D er Nach we is,

daß die mythischen Bewußtseinsformen an sich   schon dasjenige sind, wodurch sie

geschichtlich abgelöst werden, nämlich Aufklärung, bildet ein wesentliches Motiv derDialektik der Aufklärung.

105 Len in, D ie Ag ra rfr ag e und die >MarxKritiker<, a. a. O ., S. 221.

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Natur ist eher das dem Naturzwang der bisherigen Geschichte Abzuge-

 w in nende als ein Positivum , zu dem die M enschen ein fach zurü ckzu -

kehren vermöchten.

Freilich bleibt auch dann, wenn man allen Aberglauben hinsichtlich der

M öglichkeit eines unmittelbaren Zu gangs zur N atu r von sich abtut, auch

dann, wenn feststeht, daß Natur weiterhin als Mittel und Material des

Menschen in seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung dienen wird, dieunabweisbare Frage offen, ob nicht künftig doch der Bann etwas gelöst

 w erden könne, unter dem das N atu rsein und unser V erhält nis zu ih m in

einer Welt stehen, in der alles Warencharakter annimmt, nichts in seiner

Eigenbestimmtheit gilt, sondern nur, insofern es Tauschmittel für anderes

 w ird. G erade w eil sie im G run de den M ensc hen fast nur noch als Ausbeu-

tungsobjekt begegnet, nimmt das Preisen der Natur, dann, wenn sie

einmal nicht unter dem Aspekt unmittelbar ökonomischer Nutznießung betr achtet w ir d, etw a vom Reiseb us aus, einen so ausgesp rochen verlo -

genen und ideologischen Charakter an. Hörte Natur auf, bloß als

Rohmaterial zu dienen, so bedürfte es auch ihrer Anhimmelung nicht

länger.

Das verkümmerte Verhältnis der Menschen zur Natur in der Warenge-

sellschaft hat wie kaum ein anderer Schriftsteller in der Gegenwart

Bertolt Brecht wahrgenommen. Wie Kants transzendentales Subjekt die

 W elt der Erschein ungen, so kon stit u ie rt der gesellschaftliche Lebenspro-zeß in der Ära des späten Kapitalismus alles Naturbewußtsein wie die

Natur selber106. Die künstlichen Veranstaltungen der Menschen gegen-

über der Natur in der Arbeit werden ihnen zum natürlichen Verhalten

schlechthin, das natürliche nimmt Züge des Verkrampften, selbst Patho-

logischen an. Das meint Brechts Herr Keuner in den »Kalendergeschich-

ten«, wenn er sagt: »Es ist nötig für uns, von der Natur einen sparsamen

Gebrauch zu machen. Ohne Arbeit in der Natur weilend, gerät manleicht in einen krankhaften Zustand, etwas wie Fieber befällt

einen.«107

Eine Gesellschaft, die sich zwar immer noch durch ihren Stoffwechsel mit

der Natur ernährte, zugleich aber so strukturiert wäre, daß sie auf

Rau bbau an der N atu r verzichten könnte, l ieße die W ahrh eit des realisti-

schen Moments in der Marxschen Erkenntnistheorie noch stärker hervor-

treten. Daß die Natur auch   etwas an sich Seiendes, unabhängig vom

106 Vg l. dazu M ax H orkheim er und Th. W . Ad orn o, besonders den Exkurs II der Dialektik

der Aufklärung, wo gezeigt wird, daß der Funktionszusammenhang der totalen spätka-

pitalistischen Produktion sich ironisch als die »Wahrheit« des Kantischen Idealismus

erwiesen hat.

107 Berto lt Brecht, Kalendergeschichten, H am burg 1957, S. 125.

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manipulierenden Eingriff der Menschen Existierendes ist; die Wahrheit

des Materialismus, der die Dinge nicht als je schon apriorisch bearbeitet

ansieht, sondern gleichsam ausreden läßt, käme zu ihrem Recht. Ohne

daß Brecht dieser philosophischen Implikationen ganz sich bewußt wäre,

läßt er auch in diesem Falle seinen Herrn Keuner das Rechte sagen:

»Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: >Ich würde gern

mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen. Besonders da siedurch ihr der Tages und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen

einen so besonderen Grad von Realität erreichen. Auch verwirrt es uns

in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen,

Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären.

Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Men-

schen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben Bäume

 wenigstens fü r m ich, der ic h kein Schrein er bin , etw as beruhig end Selb -

ständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für

die Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann<.«108

Die hier angeschnittene Frage, inwieweit eine humanere Gesellschaft

auch zur außermenschlichen Natur in ein neues Verhältnis eintreten

könne, ist in der Marxinterpretation außerordentlich stark diskutiert

 w orden. D er reife M arx m acht auch in diesem P u n kt von den Thesen

seiner Frühschriften gewisse Abstriche. Von einer »Resurrektion« der

gesamten Natur ist bei ihm später nicht mehr die Rede. Zugute kommensoll die neue Gesellschaft allein den Menschen, und zwar eindeutig auf

Kosten der äußeren Natur. Sie soll mit gigantischen technologischen

Mitteln bei geringstem Arbeits und Zeitaufwand beherrscht werden und

als materielles Substrat aller nur erdenklichen Gebrauchsgüter allen

Menschen dienen.

 W o die A u toren sich ein m al darüber bekla gen, d aß seither die N atu r

heillos ausgeplündert worden sei, geschieht dies nicht aus Sorge um die

Natur selber, sondern aus ökonomischen Zweckmäßigkeitserwägungen.

So sagt etwa Engels in der »Dialektik der Natur«: »Alle bisherigen

Produktionsweisen sind nur auf Erzielung des nächsten, unmittelbarsten

Nutzeffekts der Arbeit ausgegangen. Die weiteren erst in späterer Zeit

eintretenden, durch al lmähliche Wiederholungen und Anhäufung wirk-

sam werden Folgen blieben gänzlich vernachlässigt.«109

In Zukunft soll nicht die Ausbeutung der Natur aufhören, sondern die

menschlichen Eingriffe in sie sollen so rationalisiert werden, daß auchihre entfernteren A usw irkun gen kon trollierbar bleiben. D am it soll die

108 A. a. O.

109 D ialek tik der N atu r, S. 192.

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Natur Schritt für Schritt um die Möglichkeit gebracht werden, sich an

den Menschen doch noch für deren Siege über sie zu rächen110.

Karl Kautsky befaßt sich in seiner »Materialistischen Geschichtsauffas-

sung« eigens mit den Grenzen, die dem Fortschritt hinsichtlich eines Zu

sichselbstGelangens der außermenschlichen Natur im Sozialismus

gesetzt sind. Er spricht von der Zurückdrängung und Vernichtung vieler

Tier und Pflanzenarten, die auch durch den Sozialismus nur einge-schränkt, nicht aber völlig aufgehoben werden könne: »Wie weit die

Schonung seltener Tiere und Pflanzen im Sozialismus auch gehen mag,

der Fortschritt der Bodenkultur wird doch manche ihrer Arten auch

 w eiterhin zum Ausste rben bringen.« 111

 W ahrscheinlich beurteilt K au tsk y im ganzen die M ö glich keit ein er kü nf-

tigen selbständigen Entfaltung der außermenschlichen Natur noch zu

optimistisch. Eher ließe sich fragen, ob die künftige Gesellschaft nicht zueiner Mam m utmaschinerie wird, ob nicht das W ort der »D ialektik der

 A u fk läru n g« vo n der »m enschlichen G esellsch aft als einem M ass enracket

in der Natur«112 eher sich bewahrheiten wird als der Traum des jungen

Marx von einer Humanisierung der Natur, die zugleich die Naturalisie-

rung des Menschen einschließen sollte. Es verbleibt bestenfalls die vage

Hoffnung, daß die mit sich versöhnten Menschen im Sinne der Schopen

hauerschen Philosophie in höherem Maße als bisher Solidarität zu üben

lernen mit der bedrängten Kreatur, daß der Tierschutz in der richtigen

Gese llschaft nicht länger als eine A rt priv ater Schrulle g ilt113.

 A m in te nsiv ste n b efaßt sich in der M arxliteratu r die Blo chsche H o ff-

nungsphilosophie mit dem vom jungen Marx und dem Frühsozialismus

insgesamt aufgeworfenen Thema einer »Resurrektion« gerade auch der

außermenschlichen Natur unter den Bedingungen einer vernünftigen

Gesellschaft. Die Blochsche Fragestellung hat zwei miteinander verbun-

dene Seiten. Einmal geht es ihr um das erkenntnistheoretischsoziologi-sche Problem eines neuen ObjektBezuges der Menschen in ihrer

Produktion, zum anderen um das metaphysische Problem eines »Natur-

subjekts« und die damit verknüpfte Frage nach der Unvollendetheit und

utopischen Unabgeschlossenheit der objektiven Natur. Was den neuen

ObjektBezug angeht, so schildert Bloch in seinem Aufsatz »Uber Frei-

heit und objektive Gesetzlichkeit, politisch gefaßt« das Verhältnis der

 vergesellschafteten M enschheit zu r N a tu r zunächst so : »Ihr gegenüber

i io A . a. O., vgl. S. 190.

11 1 Ka rl Kau tsky , D ie m aterialistische Gesch ichtsauffassu ng, II. Bd. a. a. O ., S. 836.

1 1 2 H orkheimer/Ad orno, Dialektik der Au fklärung, a. a. O . , S . 271.

1 13 Zum Verhältnis von M ensch und Tier in einer von H errscha ft freien Gesellschaft vgl.

M. H orkheim er, M aterialismus und M oral. In: Zeitschrift für Sozialforschung, JahrgangII, H ef t 2, Paris 1933 , S. 184.

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gibt es sozialistisch weder einen beziehungslosen Raubbau (mit dem

ProfitSubjekt über al les) noch naive Naturkindschaft oder Vergötzung

der gegebenen Natursphäre schlechthin.«114

 A n der bürgerlichen T ech nik bem ängelt B lo ch, d aß die in ihr herg este llte

 V erm ittlu ng vo n N a tu r und M enschen «als überw iegend m ath em atis ch-

quantitative ein relativ Äußerliches«115 an sich habe. Sie sei, wie er im

»Prinzip Hoffnung« näher ausführt, von einem »artifiziellabstrakten W esen«116. D a m it m ein t Blo ch insbesondere die listige V erschränkung

der menschlichen Zwecke mit den der Natur eigenen Gesetzen im

 A rbeitsp rozeß, w ie sie vo n H egel dargestellt und von M arx gan z ebenso

in seiner ökonomischen Analyse verstanden worden ist117. Deutlich zeigt

eine Stelle im »Rohentwurf«, daß Marx sich im Hinblick auf das

 V erhält nis vo n T ele olo gie der A rb eit und N atu rgesetz m it H egel ein ig

 w eiß: »D ie N a tu r w ird . . . rein G egensta nd fü r den M en schen, re in Sacheder Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und

die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst

nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand

des Konsums, sei es, als Mittel der Produktion zu unterwerfen.«118

Ob an diesem Sachverhalt sich unter nachkapitalistischen Verhältnissen

 W esentliches ändern kan n, steht sehr dahin . W ie so llten die Men schen

eine Überlistung und Ubertölpelung der Natur als welche Hegel und

Marx den zweckmäßigen Arbeitsprozeß beschreiben, künftig vermeidenkönnen? Daß das Reich der Notwendigkeit fortbesteht, solange es über-

haupt menschliche Geschichte gibt, bedeutet eben auch, daß die

Menschen genötigt sind, sich wesentlich aneignend, eingreifend, kämp-

1 14 Ernst Bloch, U ber Freiheit und objektive Ges etzlichkeit, politisch gefaßt. In: Deutsche

Zeitschrift für Philosophie, II. Jahrgang, Heft 4, Berlin 1954,$. 818.115 A . a. O ., S. 829. Vg l. zur B lochschen Kritik an der seitherigen Technik auch die Schrift

Subjekt — Objekt, die im wesentlichen kapitalistisches Interesse für das Fortbesteheneines bloß quantitativen NaturBezugs der Menschen verantwortlich macht: »Ebenso ist

diese andere M ög lichk eit (eines qu alitative n N atur bildes , einer »breiteren Physik<, S. 194,

die sich >dem mathematischen Kalkül, wenigstens dem bisher ausgebildeten, verschließtsS. 195, A. S.) mit dem kapitalistischen Interesse an einer Art Betriebskalkulation der

Natur unverträglich: wie an der Ware nur der Preis wichtig ist, so an der Natur nur die

quantitative Berechenbarkeit, nicht der qualitative Inhalt«, S. 195.116 Ernst Bloch, D as Prin zip H offnu ng , Bd. II, a. a. O ., S. 228, vg l. auch S. 2 4 1  f. In dieser

K ritik am technisch vermittelten Verhältnis zur N atu r, die sich mit der Frage nach ihrem

noch verborgenen Wesen verbindet, stimmt Bloch interessanterweise mit dem sonst so

 von ih m krit is ie rten H eid egger übe re in , in dessen H um anis m usbri ef es nac h ein er K riti kder Meinung, »in der Atomenergie sei das Wesen der Natur beschlossen«, heißt: »Es

kön nte d och sein, daß die Na tu r in der Seite, die sie der technischen Bem ächtigung durch

den Menschen zu kehrt, ihr Wesen gerade verbirgt.« In: Platons Lehre von der Wa hrheit,

a. a. O ., S. 68.

117    V gl. hierzu auch den Ab schn itt A des III. Kap itels.

118 Ro hen twu rf, S. 313.

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fend zur Natur zu verhalten. Nicht umsonst stel lt Marx, worauf die

 vorliegende S ch rift in den verschiedensten Zusam m enhängen hin weist,

den Produktionsprozeß fast immer in seinen einfachen und abstrakten

Momenten, nicht in seiner jeweiligen geschichtlichen Bestimmtheit dar:

»So wenig man dem Weizen anschmeckt, wer ihn gebaut hat, so wenig

sieht man diesem Prozeß an, unter welchen Bedingungen er vorgeht, ob

unter der brutalen Peitsche des Sklavenaufsehers oder unter dem ängstli-chen Auge des Kapitalisten, ob Cincinnatus ihn verrichtet in der Bestel-

lung seiner paar jugera oder der Wilde, der mit einem Stein eine Bestie

erlegt.«119

 W eis t so für M a rx die A rbeitssituation in sgesam t bei allem geschic htli-

chen Wandel immer die nämlichen Momente auf, so gilt das vor allem

auch für die moderne, technisch vermittelte Beziehung der Menschen zur

Natur. Sosehr sie das Ansich der Dinge in ein Füruns zu verwandeln

 bestrebt ist, so sehr ble ib en le tztlich die v o n den M enschen dem N a tu r-

stoff aufgeprägten Formen — im Gegensatz zu den ihm ursprünglich

eigenen — ein Äußerliches und Gleichgültiges120. Auch bei wachsender

 V erm ittlu n g w ird N a tu r n ic ht zu einem vö llig vo n uns »G em achte n«, wie

Marx im Anschluß an Vico sagt121. Darin drückt sich das wesentlichste

Unterscheidungsmerkmal von idealistischer und material istischer Dia-

lektik aus: es kommt bei Marx auch in einer wahrhaft menschlich gewor-

denen Welt nicht zur völ l igen Versöhnung von Subjekt und Objekt. Dasm acht die identitätsphilosophische H offn u ng B lochs zuschanden. D ie mit

dem Bürgertum entstandene große Technik bleibt in ihren Hauptmo-

menten relativ gleichgültig auch gegenüber einer nicht mehr bürgerli-

chen Form ihrer sozialen Organisation. Es ist also keineswegs nur kapita-

listisches Interesse, wodurch die von Bloch gesehene Möglichkeit einer

»breiteren Physik«122 vereitelt wird. Nicht nur werden die Menschen

 w eit erhin überlistend zu r N a tu r sich verh alt en, w ie B loch krit is ie rt,

sondern m it ihren ins Gigantische wachsenden Pr od uk tivkräften w ird ein

nichtmathematischer und qualitativer ObjektBezug, wie er Bloch vor-

schwebt, sich kaum realisieren lassen.

 W as am G edan ken eines solc herart naiv en, nic ht quantifizieren d kalku la

torischen NaturBezuges zu retten wäre, ist die Hoffnung, daß die

Menschen, wenn sie einmal durch ihre Gesellschaftsform nicht länger

dazu verhalten sind, einander primär unter dem Aspekt ökonomischer

Nutznießung zu betrachten, auch den äußeren Dingen etwas von ihrer

119 Das Kapital, Bd. I , S. 192.

1 20 Vg l. dazu besonders den Absch nitt A des II. Kapitels und den Rohen twurf, S. 26 5.121 Vg l. Das Kap ital, Bd. I, S. 389, Fu ßno te 89.

122 Bloch , Subjekt—O bje kt, a. a. O ., S. 194.

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Eigenständigkeit, von ihrer »Realität« zu lassen vermögen, von der

Brecht spricht. In einer solchen Gesellschaft wäre der Blick auf die

Naturdinge entkrampft, er hätte etwas von der Ruhe und Gelassenheit,

die das Wort »Natur« in Spinozas System umgibt.

Die andere Seite der Blochschen Fragestellung hängt insofern mit der

 bereits erörterten zusa m m en, als B loch meint, das m it mensc hlicher

 A rb e it sich verbin dende N atu rm ateria l müsse, wen n die abstrakte bür-

gerliche Technik abgelöst worden sei von dem, was er »konkrete Allianz-

technik«123 nennt, sich als »Natursubjekt« erweisen: »Wie der Marxis-

mus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der

Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken,

sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der

Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten

Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit denM enschen, sich m it sich verm ittelnd.« 124

Näher bestimmt Bloch den ausgesprochen metaphysischen Charakter

seines »Natursub jekts« so: » .. . d er B eg riff eines dyn am ischen Subjekts in

der Natur ist in letzter Instanz ein Synonym für den noch nicht manife-

stierten DaßAntrieb (das immanenteste materielle Agens) im Realen

überhaupt.. . In dieser Schicht also, in der materiell immanentesten, die  

es überhaupt gibt,  l iegt die Wahrheit des als Subjekt der Natur Bezeich

neten.«125

Einerlei, wieviel an diesen Erwägungen Blochs auf Renaissancephilo-

sophie, Jakob Böhme oder Schellings romantische Naturspekulation

zurückgehen mag, sie sind insgesamt unverträglich mit einer materialisti-

schen Position, sei sie nun beschränkt naturwissenschaftlich begründet

oder sei sie dialektisch, wie die Marxsche.

Ohne Zweifel führt der »neue Materialismus«126, von dem Marx in den

»Thesen« spricht, insofern über die gesamte seitherige Geschichte desM aterialismu s hinaus, als er die n aturhafte W irklichke it nicht länger bloß

»unter der Form des O b j e k t s*127, das heißt als tote mechanischphysika-

lische Körperwelt zu betrachten lehrt, sondern ebensosehr unter der

Form des Subjekts, unter dem G esichtspun kt verändern der Praxis. Sosehr

hier die Wirklichkeit aufhört, ein bloß kontemplativ »Gegebenes« zu

sein, sosehr bleibt sie doch, gerade auch als menschlich vermittelte, eine

an sich bestehende objektive Welt.  Die unaufhebbare Grenze zwischen

123 Bloch , D as Prin zip Ho ffnu ng , Bd. II, a. a. O ., S. 259.

124 A. a. O., S. 246.

125 A . a. O ., S. 245 f.126 Zehn te These über Feuerbach. In: M arxEn gels, Uber Religion, S. 56.127 Erste Thes e über Feuerbach. In: M arxEn gels, U ber Religion, S. 54.

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Subjekt und O bjek t der A rbe it ist für M arx zugleich die zwischen Subjekt

und Objekt der Erkenntnis128.

Genau das identitätsphilosophische Verschwinden dieser Grenze ist es,

das uns beiBloch wiederum begegnet, wenn er — zumindest hypothetisch

— da zu neigt, die gesamte W irklich ke it wie He ge l als ein sich m it sich

 verm itte lndes abso lutes Subje kt zu betrachten. D a ß dieses Subjekt ein

»Natursubjekt« sein soll, verschlägt dabei wenig und hat gegenüber demprinzipiell Idealistischen der Auffassung nur terminologische Bedeutung.

 V ollends bezeugt die Rede vo m »noch nic ht m anifest ie rten D a ß A n tr ieb

im Realen«, auch wenn er als »materiellimmanentester« bezeichnet

 w ird, d aß Blo ch dem id ealistischen G la u ben hu ld igt, der W elt lä ge ein

sich ausgebärendes letztes Seinsprinzip »zu Grunde«. Ein solches Prinzip

aber ist der Marxschen Denkweise insgesamt fremd. Die bessere mensch-

liche Ordnung ist für sie keine »Sinnverwirklichung des Weltprozesses«,

ein Gedanke, der bei Bloch, wie schon an anderer Stelle zu zeigen war129,

immer wieder durchbricht. Das einzige naturentsprungene und in der

Natur teleologisch wirkende  Su bjekt   ist für Marx der Mensch, der sich

arbeitend an einem gerade nicht Subjektiven, der dinglichen Natur drau-

ßen, zu bewähren hat.

 W ährend, wie M arx zu zeig en versucht, die m enschliche G eschic hte eine

 A u fein an d erfo lg e vo n q u alitativ verschiedenen, je w eils system gebunde-

nen Gesetzmäßigkeiten darstellt, gibt es im Gesetzeszusammenhang derphysischen Natur im Grunde keine Veränderung, was bei Engels, den

Bloch in dieser Frage versteckt kritisiert, ganz richtig in der »Dialektik

der Natur« so formuliert wird: »Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die

M aterie sich be w eg t, . . . und worin nichts ewig ist als die ewig sich verän -

dernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze, nach denen sie

sich be weg t und verä nd ert.«130

Gegenüber dieser auch Marx eigenen Ansicht, daß die Natur in ihren

Gesetzen ein gewissermaßen  fertig Vorliegendes   sei, zumal die durch ihre

eigenen Kräfte bewirkten Veränderungen, verglichen mit den gesell-

schaftlich bedingten und denen der Gesellschaft selber, geringfügig sind

und sich über lange Zeiträume erstrecken, kokettiert Bloch bei allen

Einwänden, die er gelegentlich gegen sich selbst erhebt, mit dem

Gedanken einer objektiven Unabgeschlossenheit der Naturgesetze, ja,

einer kosmogonischen Entsprechung zum Marxschen Übergang von der

128 V gl. dazu die Dissertation vo n Alfred M eusel, Un tersuchung en über das Erken ntnisob- je k t bei M arx, Je na 1925, S. 2.

129 V gl. etwa die Erörterunge n über den B eg riff des 'Weltendzweckes bei Ma rx im Abschnitt A des I. Kapitels.

1 30 D ialektik der N atu r, S. 27 f .

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 Vorgeschic hte der M enschheit zu ih rer w irklich en Geschic hte : »Die  

endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig mani-

 festie rte G eschichte im H o rizo n t der Z u k u n ft,  und nur auf diesen Hori-

zont laufen auch die künftig wohlerwartbaren Vermittlungskategorien

konkreter Technik z u . . . N atu r ist kein Vorbei , sondern der noch gar 

nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat vorhandene  

 Bauzeug fü r das noch gar n ich t adäquat vorhandene m enschliche   H a u s.«'131 

 W o rau f B lo ch m it dieser utopischen L aten z und Unabgeschlo ss enheit der

nichtmenschlichen N at u r hinaus w ill, ist nicht gan z auszum achen. Insbe-

sondere ist nicht einzusehen, inwiefern die von Marx angestrebte höhere

Form des Stoffwechsels von Mensch und Natur die »Bildkräfte einer

gefrorenen Natur erneut freisetzt«132. Von einem »erneuten« Freisetzen

 von N atu rkräften durch die höhere G esellschaft kann nic ht gut die Rede

sein. Zu den qualitates occultas, hinter denen sich unerkannte quantita-

tive Relationen verbargen, führt kein Weg zurück. Eine Versöhnung des

durch moderne materielle Produktion und Naturwissenschaft bedingten

Begriffs der Natur mit einem vorwissenschaftlichqualitativen, im

Grunde magischanimistischen Naturbild133, wie Bloch es uneingestan-

denermaßen vorschwebt, wenn er die Abstraktheit dessen, was der

neuzeitlichen Gesellschaft Natur heißt, kritisiert, ist nicht möglich. Von

 A nbegin n schließt die H errschaft über N a tu r dere n E n tqu alifizieru ngund O bjektivierung ein.

 W enngle ic h die Blo chsche N atu rsp ekulation , die sich ja ebensosehr als

Interpretation des dialektischen Materialismus versteht, mit ihrer meta-

physischen und kosmologischen Ausweitung des Marxschen Problems der

Natur nicht nur über Marx hinausgeht, sondern auch gänzlich von ihm

 w egfü hrt134, so p oin tiert sie doch zugle ich ein M om ent am M arxschen

Naturbegriff, das seither jedenfalls so gut wie unbeachtet geblieben ist.

Marx versteht in der Tat die in die gesellschaftlichen Beziehungen der

Menschen hineinwirkende Natur nicht ausschließlich quantifizierend-

naturwissenschaftlich, sosehr seine Sprache von naturwissenschaftlichen

13 1 Bloch, Das Prinz ip H offn un g, Bd. II, a. a. O ., S. 264.132 A. a. O.

13 3 N icht umsonst führt Bloch imm er wieder Autoren wie Paracelsus, Jakob Böhme, Ba aderund Schelling an, wenn er auf das Problem eines reicheren Naturbegriffs zu sprechen

kommt.

134 So spricht Bloch von einer » komm unistischen Kosm ologie«. Sie sei »das Problemgebiet  

einer dialektischen Vermittlung des Menschen und seiner Arbeit mit dem möglichen  

 Subje kt der N atu r*.  Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, a. a. O., S. 272 . Die D if feren z zum

reifen Marx ist offensichtlich.

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Termini, durchsetzt ist135. Daß sie unter den Kategorien menschlicher

Pra xis erscheint, bleibt ihrem B egr iff nicht äußerlich. In der Ar be it für

M arx namentlich in der richtig organisierten kehrt die N atu r den

Menschen eine differenziertere, gleichsam »natürlichere« Seite zu als im

Laboratorium. Hier wird sie durch die Frage bestimmt, die an sie gestellt

ist. Sie ist Produkt der je herrschenden, durch die wissenschaftliche

Entwicklung bestimmten Problematik. In Gestalt des Arbeitsmaterialstritt ihnen Natur auch   als ein qualitativ Bestimmtes entgegen, als der

anzueignende Leib ihrer selbst. Das Reich der Naturkräfte hat für Marx

etwas vo n dem renaissancehaften »poetischsinnlichen G lan z« 136, den er

in der »H eiligen Familie« am M ateriebegriff des auch schon technikbe zo-

genen Baconischen Materialismus wahrnimmt. Es ist nicht nur ein riesi-

ges, unter allen gesellschaftlichen Daseinsbedingungen der Menschen in

allen seinen Erscheinungsweisen vorgegebenes  M ateria l,   sondernzugleich ein  Potential,   dessen extensive und intensive Aktualisierung

nach Maßgabe des jeweils erreichten Standes der Produktivkräfte

erfolgt. Es gibt in der Natur eine gewisse Disposition für menschliche

Formung, die den natürlichen Schöpfungsprozeß weiterzutreiben, zu

überbieten bestrebt ist. Die menschliche Tätigkeit entbindet, nach einem

 W o rt von Benjam in , die N atu r »von den Schöpfungen, die als m ögliche

in ihrem Schöße schlummern«137, verhilft dem, was sie an sich ist, zum

 A usdruck.

Bei Erwägungen dieser Art ist alles eine Frage der Nuancierung. Falsch,

 w eil übertr ie ben teleolo gisch, w ir d der G ed an ke ein er in neren A ngele gt

heit des Stoffs auf menschliche Formung hin, wodurch Natur zu einem

»Mitproduzierenden« wird, dann, wenn man mit Bloch meint, Technik

gründe schlechthin in einer »objektiven Produktionstendenz der

 W elt « 138. Sosehr die Beschaffenheit der N atu rsto ffe mensch lich er

 A neignung zusta tte n kom m en m ag — alle m enschlichen Z w ecke bedienen

135 Das zeigt insbesondere auch der die Blochsche Ansich t stützende, aber m erkw ürdiger-

 weise von ih m nic ht ausg ewert ete R ohentw urf, in dem M a rx versucht, m it H ilf e vo n

Begriffspaaren wie »FormMaterie«, »WirklichkeitMöglichkeit«, die der Metaphysik

des von ihm hochgeschätzten Aristoteles entstammen, die Beziehung von Subjekt und

Objekt in der Arbeit zu erfassen. Unmittelbar lehnt Marx sich freilich an die entspre-

chenden Kategorien der Hegelschen Logik an, die als materialistisch verstandene, mehr

noch als bei Hegel selbst, ihre Herkunft aus der Philosophie des Aristoteles durchschim-

mern lassen. Vg l. zu dieser Seite der The orie auch die Bem erkung en zu r geheimen N atu r-spekulation in Marx im Abschnitt B des II. Kapitels. Zum Verhältnis von Marx und

 A ri sto te le s vgl. auch die in str uktive A n tr it tsvorle su ng vo n M arcel R edin g, Thom as A quin und K arl M arx, G ra z 19 53.

136 Heilige Familie, S. 258.

137 W alter Benjamin, Schriften, Bd. I, a. a. O ., S. 501.

138 Bloch, Das P rinzip H offn un g, Bd. II, a. a. O ., S. 262.

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sich ihrer Gesetze —, sosehr halten M arx und d er in dieser Frage m erk-

 w ürdig m ateria listische H egel an der These fest, d aß die M itp rod u k tio n

der Natur in der Arbeit immer auch einschließt, daß das, was die

Menschen mit der Natur im Sinn haben, ihr zutiefst fremd und äußerlich

 bleibt. A u ch im Sozia lism us.

 W enn M a rx von den »schlu m mernden Potenzen«139 der N a tu r spric ht,

dann handelt es sich um solche der Menschen oder um die objektive

Möglichkeit der Dinge, in bestimmte menschliche Gebrauchswerte über-

führt zu werden. Blochs apokalyptische Phantasie dagegen läßt es offen,

ob die unter den Bedingungen der neuen Gesellschaft sich freisetzenden

»Bildekräfte der Natur«, sich mit menschlichem Tun vermittelnd, in

Gebrauchswerte eingehen werden, oder ob die Natur, durch die rechte

Ordnung der menschlichen Dinge dazu veranlaßt, sich »endgültig zu

manifestieren«, etwa unabhängig von menschlichem Eingriff neue For-men aus sich hervorbringen soll. Außerordentlich fragwürdig ist dabei,

ob nach den Menschen naturgeschichtlich höhere Lebewesen überhaupt

möglich sind140.

Der eigenartige G edan ke, d aß mit der richtigen Gestaltung der menschli-

chen Verhältnisse eine grundlegende Veränderung des gesamten Kosmos

einhergehe, findet sich bereits bei den frühsozialistischen Autoren des

 V orm ärz. R ührend nehm en sich die V orstellu ngen Fourie rs aus, an die

Benjamin erinnert, daß die vernünftig eingerichtete Arbeit zur Folge

haben sollte, »daß vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das

Eis sich von den Polen zurückziehe, daß das Meerwasser nicht mehr

salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst der Menschen

träten«141. Benjamin hat recht, wenn er sagt, daß angesichts dessen,

 was die M enschen, anstatt die ric htig e Praxis zu verw ir k lichen, sich und

der äußeren Natur tagtäglich antun, noch die exzentrischsten Phantasien

und verstiegensten Utopien ihren guten Sinn behalten. Heute, wo dietechnischen Möglichkeiten der Menschen um ein Vielfaches die Träume

der alten Utopisten überbieten, will es eher scheinen, daß diese Möglich-

keiten, negativ realisiert, in Destruktivkräfte Umschlägen und so, statt

des wie immer menschlich begrenzten Heils, das totale Unheil herbeifüh-

ren: gleichsam die grimmige Parodie auf die von Marx gemeinte Verän-

derung, bei der Subjekt und Objekt nicht versöhnt, sondern vernichtet

 werden .

139 Das Kapital, Bd. I, S. 185.

140 Vg l. dazu H orkh eime r/Ad orno , Dialektik der Au fklärun g, a. a. O ., S. 235.

141 Ben jam in, Sch riften, Bd. I, a. a. O ., S. 501.

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 Vorbem erkung zum Anhang

Der folgende Aufsatz wurde 1965 als Beitrag zur deutschen Publikation

einer denk wü rdigen Ko ntroverse geschrieben, die am 7. Dezem ber 1961 an

der Pariser  M utuali té   stattfand zwischen Jean-Paul Sartre und Jean

Hyppolite auf der einen Seite und Roger Garaudy, Jean-Pierre Vigierund Jean Orcel auf der anderen. Das Thema der Diskussion war die für

 A u fb au und D arstellu ng des dia le ktischen M ate ria lism us erhebliche F ra

ge, ob die Dialektik nur als Bewegungsform der menschlich-geschichtli

chen Pra xis an zusehen sei oder ob sie der N at u r »an sich« zukom m e. D er

 A u to r pfli ch tet grun dsätzlich den krit ischen Ein w änden Sartres und

Hyppolites gegen die parteikommunistische Auffassung einer rein objek

tiven D ialek tik der N atu r bei und entw ickelt seine Position in zwei R ich

tungen: Er zeigt einmal, daß — erkenntnistheoretisch gesehen — das

Haupthindernis einer »ontologischen« Dialektik darin besteht, daß die

se, um wirklich materialistisch zu sein, einzelwissenschaftlich demon

strierbar sein muß, wenn sie nicht eine bloß »weltanschauliche« These

 bleiben soll; er ze igt zum anderen, über Sartre und H y p p o lite hin aus,

daß selbst der menschlichen Geschichte eine einheitlich-dialektische Struk

tur nicht en bloc zugesprochen werden darf.

 A . S.

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Zum Verhältnis von Geschichte und Natur im

dialektischen Materialismus*

D ie d ia lekt is c he M et ho d e, u n d ger ad e d ie vo m K o p f a u f d ie F ü ße ge

stel lte, kann nicht darin bestehen, die einzelnen Phänomene als Il lustra

t ionen oder Exempel eines bereits Feststehenden und von der Bewegung

des Begri f fs se lber Dispensierten abzuh ande ln; so entartete d ie D ialekt ik

zur Staatsrelig ion.

T h e o d o r W . A d o r n o ,  P h il o so p h ie der n euen M u sik

 W er m it dem gegenw ärtigen Stand der philosophis chen D iskussio n um

Marx und den Marxismus weniger vertraut ist, mag durch die vorange

hende Debatte über die Frage, ob die Dialektik nur ein Gesetz der

Geschichte oder auch aus der Natur abzuleiten sei, zum ersten Mal

darauf aufmerksam gemacht worden sein, daß hier ein wirkliches, keines

 wegs ausgedachte s Proble m vo rlieg t — ein Proble m , das durch den au f

 weltanschauliche Geschlossenheit bedachten Sow je tm arxism us in seiner

Tragweite ebenso verdeckt wird wie durch dessen hierzulande weitge

hend thomistisch orientierte Kritik, die — den ontologischen Anspruch des

Diamat ernstnehmend — nicht selten befriedigt zu verstehen gibt, wie

 w enig dieser m it der Posit io n von M arx gem ein h a t1. D ie heu tige

Diamat-Ontologie läßt sich ohne jeden Rekurs auf das Marxsche Werk

diskutieren und hat mit einer Analyse der kapitalistischen Produktions-

* Z u e r s t e rs c h ie n e n in : E x i s t en t ia l is m u s u n d M a r x i s m u s . E i n e K o n t r o v e r s e z w is c he n

S a r t re , G a r a u d y , H y p p o l i te , V i g i e r u n d O r c e l . e d it io n s u h r k a m p , F r a n k f u r t 1 9 65 .

i S o s t e ll te W e t t e r i n se in e r g ru n d l e g e n d e n A r b e i t b e r e it s 1 9 5 2 e r s t a u n l ic h e P a r a ll e le n

z w i s c h e n d e m d i a l e k ti s c h e n M a t e r ia l is m u s i n s e in e r s o w j e ti s ch e n V e r s i o n u n d d e r t h o m i -

s t is c h e n S c h o l a s t i k f e s t : » W i r g l a u b e n n i c h t z u ü b e r tr e i b e n , w e n n w i r b e h a u p t e n , d a ß d e r

d i a l e k t is c h e M a t e r i a li s m u s i n s e i n e r h e u t ig e n o f f i z ie l l e n s o w j e t i s c h e n F a s s u n g v i e l m e h r

 Ä h n lic h k e it h a t m it d er s ch o la stis ch en »fo rm a men tis « als m it d e r h e g e lia n isc h -d ia le k ti

s c h e n , t r o t z g e w i s s e r h e g e l i a n i s c h e r A u s d r ü c k e u n d B e g r i f f e , d i e m a n z w a r b e i b e h ä l t ,

•aber du rch »mater ial i st i sche Umkehru ng« ihres ideal i st i schen S innes berau bt u nd mit

e i n e m e i n f a c h d e m g e s u n d e n M e n s c h e n v e r s t a n d g e m ä ß e n S i n n e r f ü l l t . G e r a d e d i e

E n g e ls s ch e Ü b e r t r a g u n g d e r D i a l e k t i k a u f d ie N a t u r s o w i e d ie b e s o n d e re B e d e u t u n g , die

d e n S t a l i n s c h e n K a t e g o r i e n » M ö g l ic h k e i t u n d W i rk l ic h k e i t« z u g e m e s s e n w i r d , b r in g e n es

m i t s i c h , d a ß w i r e s i m h e u t i g e n s o w j e t i s c h e n d i a l e k t i s c h e n M a t e r i a l i s m u s m i t e i n e r

D e n k f o r m z u t u n h a b e n , d i e d e r s c h o l a s t i s c h - a r i s t o t e l i s c h e n A k t - P o t e n z - L e h r e i n n e r l i c h

 v ie l v e rw a n d te r is t a ls ec h te r h eg e lia n is c h e r D ia le k t ik .« G u s ta v A . W e tte r ,  D e r d ia le k t i-

sche Material ismu s, 2 .  A u f l . F r e i b u r g 1 9 5 6 , S . 5 7 6 .

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 weise im G runde nichts m ehr zu tun. M it der dynam is chen Stru ktur der

 W elt überhaupt beschäftigt, verlieren die sowjetischen Ph ilosophen die

des Menschen, au f die es M ar x einmal an kam , imm er mehr aus dem

Blick. Das Konkretum der gesellschaftlichen Verhältnisse verflüchtigt

sich ihnen zur »höchsten Bewegungsform der Materie«. Angesichts dieser

Rückübersetzung ursprünglich kritischer in dogmatisch-weltanschauliche

Begriffe scheint nichts so geboten wie eine Reflexion auf den Geltungsbe

reich von Dialektik, wie die Pariser Kontroverse sie angestellt hat, ohne

freilich in ihrem Verlauf den entscheidenden Gesichtspunkt, von dem sie

 bestim mt w ar, genügend zu artik ulieren. Es ging ihr n icht um die » G ü l

tigkeit« der Dialektik schlechthin jenseits des (nicht nur innerphilosophi

schen) Gegensatzes von Idealismus und Materialismus, sondern um die

Frage: ist — wenn die Termini ihren strengen Sinn behalten sollen — eine

Dialektik der an sich seienden Natur als materialistische  möglich?Müssen nicht, wie immer wieder notiert worden ist2, Materialismus und

Dialektik miteinander unverträglich werden, wenn unter Natur verstan

den wird, was die exakten Wissenschaften über sie ausmachen? Im

folgenden soll zu zeigen versucht werden, daß die erste Frage zu vernei

nen, die zweite zu bejahen ist. Der Beitrag stimmt der von Sartre und

Hyppolite gegen Garaudy und Vigier entwickelten Position grundsätz

lich zu, w obei er sich im A nsc hlu ß an Sartres Critique de la raison dialec 

tique3  davon leiten läßt, daß der Existentialismus dem authentischen

Marxschen Denken als eines seiner Momente, das sich verselbständigt

hat, theoretisch nichts zu bieten vermag, daß er bestenfalls gegenüber der

heutigen Sowjetorthodoxie die Rolle eines Korrektivs spielen kann,

indem er die von ihr in einer objektivistisch verkürzten Konzeption von

Dialektik unterdrückte Subjektivität wieder zur Geltung bringt4. Im

übrigen fußt auch Sartres Argumentationsweise nicht ausschließlich auf

seiner existentialistischen Lehre, sondern ebensosehr auf den im Rahmendes Marxismus selbst seit langem erreichten Positionen, die sich lediglich

aus politischen Gründen nicht durchsetzen konnten. Das Verdienst,

gegenüber dem so folgenreichen Engelsschen Versuch, die Dialektik auch

auf die vor- und außermenschliche Natur auszudehnen, als erster darauf

hingewiesen zu haben, wie wichtig es gerade im Materialismus ist, die

2 C f . e t w a M . M e r l e a u - P o n t y ,  S en s e t n o n sen s,  Paris 1948, S. 228.

3 Paris i960.

4 Z u S a r t r e s g e g e n w ä r t i g e r I n t e r p r e t a t i o n d e s V e r h ä l t n i s s e s v o n M a r x i s m u s u n d E x i s t e n

t i a l i s m u s c f . d a s u n t e r d e m T i t e l  M a r x is m u s u n d E x iste n tia li sm u s   deu tsch erschienene

 V o r w o r t d e r C r i t i q u e ,  H a m b u r g 1 9 6 4 , S. 1 4 2 f . — D i e R o l l e e in e s s o l ch e n K o r r e k t i v s h a t

S a r t r e s P h i l o s o p h i e d e n n a u c h i n d e n l e t z t e n J a h r e n i n P o l e n , b e s o n d e r s a b e r i n d e r

T s c h e c h o s l o w a k e i g e s p i e l t

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Methode auf die historisch-soziale Wirklichkeit zu beschränken, kommt

fraglos Lukäcs zu, der es bereits 1923 in Geschichte un d Klassenbewußt  

seins  wagte, gegen Engels zu polemisieren. Worin auch die Schwächen

dieser Schrift bestehen mögen und was immer Lukäcs selbst inzwischen

an ihr ausgesetzt haben mag — sie stellt mit allem Nachdruck den wesent

lich historischen Charakter der Marxschen Theorie heraus, der jede

Tendenz untergräbt, die außermenschliche Realität ontologisch zu fixieren: »Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie, d.h. was auf einer

 bestim m te n Stufe der gesellschaft lichen E n tw ick lu n g als N a tu r gil t, wie

die Beziehung dieser Natur zum Menschen beschaffen ist und in welcher

Form seine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, also was die Natur

der Form und dem Inhalt, dem U m fang und der Gegen ständlichkeit nach

zu bedeuten hat, ist stets gesellschaftlich bedingt.«6 Freilich läßt sich dem

hinzufügen, daß umgekehrt die Gesellschaft immer auch eine Naturkategorie ist, sofern nämlich ihre jeweilige Gestalt sowie das von ihr angeeig

nete Natursegment innerhalb der noch weitgehend undurchdrungenen

Gesamtrealität Natur verbleiben. Aber auch deren Begriff fäl lt nicht aus

der menschlichen Geschichte heraus; auch von ihr läßt sich nur relativ zu

dem je erreichten Stand der Naturbeherrschung sprechen. Einzig ein

Denken, das diese grundlegende Erwägung des Verhältnisses von Natur

und Geschichte in sich aufgenommen hat und bei jeder besonderen

 A n alyse vorau ssetzt, hat sich des dogm atis ch-w eltanschaulichen

 A nspruchs w irk lich entschla gen und genügt den gegenw ärtigen E rforder

nissen eines kritischen Marxverständnisses. Dialektik ist kein ewiges

 W eltgesetz; sie geht m it den M enschen unter.

 D if ferenzie rungen im B eg riff einer his torischen D ia lek tik

Für den Marxschen Material ismus ist Dialektik nur als historische  

 M ethode7 möglich. So heißt es bereits in der  D eutschen Ideologie :  »Wir

kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.

Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte

der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide

Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren,

 bedin gen sich G eschic hte der N a tu r und G eschic hte der M enschen gegen-

5 B er l in-H alense e 192 3, c f . S . 17 , Fu ßn ote 1 .

6 Ibid . , S . 240.

7 E i n S a c h v e r h a l t , d e r a ls A n t i t h e s e z u H e g e l s » o n t o l o g is c h e r « P o s i t io n e i n g e h e n d e r ö r t e r t

 w ir d v o n H e r b e rt M a rc u s e in V e r n u n f t u n d R e v o l u t i o n , N e u w i e d u n d B e r l i n 1 9 6 2 ,

S. 274—282.

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seitig.«8 D em zu folge äuß ert sich M arx im G egen satz zum späten Engels

zur Natur »an sich« immer nur mit großer Vorsicht. Alle Aussagen über

Natur sind bezogen auf die jeweils erreichte Stufe ihrer gesellschaftlichen

 Aneig nung. D abei brin gen die wechse ln den K onstellationen, in w elche

die Menschen zueinander und zur Natur treten, es mit sich, daß der

menschlichen Geschichte schlechthin eine gleichförmig-dialektische

Struktur nicht zugesprochen werden kann. Die Dialektik von Produktiv

kräften und Produktionsverhältnissen ist keineswegs das  Bewegungsge

setz der Geschichte, obwohl nicht wenige Formulierungen von Marx

diese Interpretation zu stützen scheinen. »Alle Kollisionen der Geschich

te«, schreibt er in der  D eutschen Ideolo gie ,  »haben. . . nach unsrer

 A uffassun g ih ren U rspru n g in dem W id erspruch zwis chen den P ro d u k

tivkräften und der Verkehrsform . . . Diese verschiedenen Bedingungen,

die zuerst als Bedingungen der Selbstbetätigung, später als Fesselnderselben erschienen, bilden in der ganzen geschichtlichen Entwicklung

eine zusammenhängende Reihe von Verkehrsformen, deren Zusammen

hang darin besteht, daß an die Stelle der früheren, zur Fessel gewordenen

 V erkehrsform eine neue, den entw ic kelteren P rodu ktivkräften und dam it

der fortgeschrittenen Art der Selbstbetätigung der Individuen entspre

chende gesetzt wird, die ä son tour wieder zur Fessel und dann durch eine

andre ersetzt wird.«9 Aus der »zusammenhängenden Reihe von Ver

kehrsformen« wird dann im berühmten Vorwort der Schrift  Z u r K ritik  

der polit ischen Ö kon om ie   die notwendige Abfolge progressiver Epochen

der ökonomischen Gesellschaftsformation von der asiatischen über die

antike zur feudalen und von dieser zur bürgerlichen Produktionsweise.

Unschwer läßt sich zeigen, daß Marx hier allzu umstandslos dem

Entwicklungsschema der Hegelschen Geschichtsphilosophie folgt und

daß der Gang der wirklichen Geschichte weit komplizierter ist. Dem

aber trägt Marx, ohne deshalb sein allgemeines Konzept einfach umzustoßen, in seinen materialen Analysen selber Rechnung, deren theo

retischer Gehalt weit über das hinausgeht, was er in programmatischen

 V o r- und N a ch w o rten ausspric ht und von der se itherigen M arxinterp re

tation einschließlich der Sartreschen überbewertet worden ist, die den

historischen Materialismus noch immer abgelöst von den Inhalten der

politischen Ökonomie glaubt verstehen zu können.

Konfrontiert mit einem ungeheuren sozialgeschichtlichen Material, sieht

Marx sich in hohem Maße genötigt, sein geschichtsphilosophisches Kon

struktionsprinzip beiseite zu lassen und im  R o h en tw u rf   zum  K a p ita l 

8 M E W , B a n d 3 , B e r l i n 1 9 5 8 , S . 18 .

9 Ibid . , S . 73 und 72.

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sowie in seinem Hauptwerk selbst in den Begriff einer historischen

Dialektik wichtige Differenzierungen einzuführen. Wenn die Kritik der

politischen Ökonomie den Arbeitsprozeß zunächst nur in seinen einfa

chen und abstrakten Elementen »zweckmäßige Tätigkeit«, »Arbeitsge

genstand« und »Arbeitsmittel« darstellt10, und zwar als »ewige Naturbe

dingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form

dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam«11, so handelt es sich nicht nur um eine methodisch nützliche

 A b strak tio n , die den A rbe itsp ro zeß als solchen seinen konkret-histori

schen Gestalten gegenüberstellt, sondern zugleich um die Unterschei

dung der vorbürgerlichen Stufen von der bürgerlichen Produktionsweise.

Gemessen nämlich an der konkreten Bestimmtheit, die der Arbeitspro

zeß als spezifisch kapitalistischer annimmt, haftet den ihm vorhergehen

den Formen etwas eigentümlich Ungeschichtliches und Naturhaftes an;ihre Unterschiede verschwimmen, und ihre Übergänge ineinander zeigen

sich nicht mehr eindeutig bestimmt durch den Widerspruch von wach

senden Produktivkräften und stagnierenden Produktionsverhältnissen.

Die Dialektik hat einen sozusagen »elementarischen« Charakter. Nicht

umsonst bedient sich M ar x imm er w ieder des Au sdru cks »Stoffwechsel«,

 wenn er den nur zw is chen M ensch und N a tu r sich abspie lenden A rbeits

prozeß im Auge hat, wie er al le Entwicklungsformen gleichermaßen

charakterisiert. Zwar entwickelt jede bestimmte Form dieses Prozessesseine materiellen Grundlagen weiter. Aber das damit einhergehende

»Zurückweichen der Naturschranke«12 bleibt ein bloß quantitatives und

die menschliche Tä tigk eit als bloß n atürliche Fu nktion in N atu r verfloch

ten; erst mit dem Übergang zum Kapitalismus gewinnt die Naturbeherr

schung eine neue Qualität: erst jetzt wird der Arbeitsprozeß, von dem

M arx zunäc hst erk lärt hatte, er sei seinen allgem einen Bestimm ungen

nach für alle gesellschaftlichen Stufen derselbe, zu einem im strengenSinne gesellschaftlichen   Produktionsprozeß, für dessen Analyse jene all

gemeinen Bestimm ungen, w ie M arx selbst sag t13, nicht genügen und die

sich damit gerade in ihrer Abstraktheit als für die besonderen Stufen

 vorbürgerlicher Prod uktion kennzeic hnend erweisen. So erschein t auch

die kapital istische Kooperation im Arbeitsprozeß gegenüber der von ihr

geschichtlich abgelösten Ba uernw irtschaft und dem unabh ängigen H and

 w erksbetrie b nicht    »als eine besondre historische Form der Kooperation,

sondern die Kooperation selbst als eine dem kapitalistischen Produk-

10  D a s K a p ita l,   Band I , Ber l in 1955, S . 186 f .

11 Ibid . , S . 192.

12 Ibid . , cf . S . 540.

13 Ibid. , S . 189 ; cf . auc h S. 533.

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tionsprozeß eigentümliche und ihn spezifisch unterscheidende Form«14.

 W as die vorkapitalistisch e K oop eration angeht, so lä ß t sich von ih r nur

aus der Perspektive der kapitalistischen reden; »sie beruht einerseits auf

dem Gemeineigentum an den Produktionsbedingungen, andrerseits dar

auf, daß das einzelne Individuum sich von der Nabelschnur des Stammes

oder des Gemeinwesens noch ebensowenig losgerissen hat, wie das Bienen

individuum vom Bienenstock«15. Entsprechend beruht auch, was Marxdie naturwüchsige Teilung der Arbeit innerhalb eines Stammes oder

einer Familie nennt, auf Geschlechts- und Altersunterschieden, das heißt

auf »rein physiologischer Grundlage«16. Eine wirklich gesellschaftliche

Basis erhält die Arbeitsteilung in dem Maße, wie sich die Individuen,

 besondere O rg an e eines abstrakten, w eil »unm ittelb ar zusam m engehöri

gen Ganzen«17, voneinander ablösen, das heißt recht eigentlich zu Indi

 vid uen w erden. D en A n la ß zu diese r Zersetzu ng des N atu rzusam m en hangs zwischen den Menschen, für den die Thesen der organizistischen

Soziologie weit eher gelten als für den Kapitalismus, bildet das

 A ufkom m en des Produktenaustauschs m it frem den Gem ein wesen, der

 verm ittelt ist durch die Tatsache, daß versc hiedene Gem ein wesen in ih rer

»Naturumgebung« verschiedene Produktions- und Lebensmittel vorfin

den: »Es ist diese naturwüchsige Verschiedenheit, die bei dem Kontakt

der Gemeinwesen den Austausch der wechselseitigen Produkte und daher

die allmähliche Verwandlung dieser Produkte in Waren hervorruft«18, w odurch sich der Zu sam m enhang zw is chen den Individuen, jetzt als

historisch-gesellschaftlicher, wiederherstellt. Solange jedoch, wie in den

archaischen kleinen Gemeinwesen, zum Beispiel Indiens, der größte Teil

der Produkte für den Eigenbedarf der Gemeinde erzeugt wird und es

kaum zur Warenproduktion kommt, wirkt die einmal gesetzl ich fixierte

 A rbeitsteilu ng über große Zeiträum e hinw eg m it der »U nverbrüchlich

keit eines Naturgesetzes«, und das Gemeinwesen führt eine gleichsamungeschichtliche Existenz: »Der einfache produktive Organismus dieser

selbstgenügenden Gemeinwesen, die sich beständig in derselben Form

reproduzieren und, wenn zufällig zerstört, an demselben Ort, mit

denselben Namen, wieder aufbauen, liefert den Schlüssel zum Geheimnis

der Unveränderlichkeit   asiatischer Gesellschaften,   so auffal lend kontra

stiert durch die beständige Auflösung und Umbildung asiatischer  Sta aten  

und rastlosen Dynastenwechsel . Die Struktur der ökonomischen Grund

14 Ib id ., S. 3 50.

15 Ibid.

16 Ibid ., S. 368.

17 Ibid. , S . 369.

18 Ibid.

1 8 1

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elemente der Gesellschaft bleibt von den Stürmen der politischen

 W olk enregion unberührt.« 19

Besonders deutlich wird dieser naturhaft-ungeschichtliche Charakter der

 vorbürgerlichen G eschic hte in dem theoretisch w ichtig en A b sch n it t des

 Rohentw urfs 20 zum  K apit al,  der sich mit den Formen beschäftigt, die

der kapital istischen Produktion vorhergehen. Der Abschnitt zeigt, daß

Dialektik (wie der Intention nach bereits bei Hegel) in Geschichtsschrei bung übergehen m uß, soll sie n icht zum leeren Schem a enta rte n.

 A usgegangen w ird hier von den his to rischen B edin gungen des K a p ita l

 verhältnisses. Dieses setzt ein m al freie A rb e it und deren A u stausch gegen

Geld voraus, um es zu reproduzieren und zu verwerten, zum anderen die

schon oben kurz beschriebene Loslösung des Individuums von der natür

lichen Un m ittelbark eit des Gem einwesens, die M arx begründ et sieht au f

der ebenso »natürlichen Einheit der Arbeit mit ihren sachlichen Voraussetzungen«21, ob diese Einheit nun verwirklicht ist unter der Form

kleinen freien oder aber gemeinschaftlichen Grundeigentums: »In beiden

Formen verhält sich der Arbeiter zu den objektiven Bedingungen seiner

 A rb e it als zu seinem E ig e n tu m . . . D as Individuum verh ä lt sich zu sich

selbst. . . als Herr der Bedingungen seiner Wirklichkeit. Es verhält sich

ebenso zu den andren. . . a ls Miteigentümern. . . oder a ls se lbständigen

Eigentüm ern neben ih m . . ,«22 D ie Individu en sind noch keine »A rbei

ter«, da sie als Mitglieder eines Gemeinwesens tätig sind, das sich bloß zuerhalten trachtet und nicht auf Wertschöpfung aus ist. Da Marx sich

davon leiten läßt, daß das Hirtenwesen die »erste Form der Existenz

 weise« ist, so erschein t die Stam m gem ein schaft w eniger als R esult at denn

als Voraussetzung der (freilich zunächst temporären) Aneignung des

Bodens. Werden die Menschen seßhaft, so hängt das Maß, in dem diese

ursprüngliche Gemeinschaft modifiziert wird, von den verschiedensten

äußeren Naturfaktoren sowie der natürlich-anthropologischen Beschaffenheit des Stammes selber ab. O b sie als H irten, Jäger oder Ackerbau ern

tätig sind, stets ist das »Herdenwesen,... die Gemeinschaftlichkeit in

Blut, Sprache, Sitten«23, die wichtigste Voraussetzung dafür, daß sie sich

die »objektiven Bedingungen ihres Lebens« aneignen. Entscheidend

dabei ist, wie gesagt, daß sich die Menschen zu diesen Bedingungen unre

flektiert als zu ihrem eigenen verlängerten Leib verhalten: »Die Erde ist

19 Ibid. , S . 376.

2 0 E r s c h i e n e n u n t e r d e m T i t e l G r u n d r is s e d er K r i t ik d e r p o li ti s c h e n Ö k o n o m i e ,  Berlin

■953. S. 375-413-2 1 Ibid. , S . 375.

22 Ibid.

23 Ibid ., S. 376.

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das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel, wie

das Arbeitsmaterial liefert, wie den Sitz, die  Basis  des Gemeinwesens. Sie

 verhalten sich naiv zu derselben als dem  Eig entum   des Gemeinwesens  

und des in der lebendigen Arbeit sich produzierenden und reproduzie

renden Gemeinwesens. Jeder Einzelne verhält sich nur als G lie d . . .

dieses Gemeinwesens als  E ig entüm er  oder  Besitzer.*24  Dieses Grundver

hältnis bleibt selbst da unangetastet, wo — wie im orientalischen Despo

tismus — die kleinen, mehr oder minder autarken Gemeinwesen einer

»zusammenfassenden Einheit« unterstehen, die als der höhere oder gar

einzige Eigentümer auftritt, so daß die Gemeinden zu erblichen Besit

zern herabgesetzt werden. Zwar wird damit, juristisch gesehen, das Indi

 vid uum eig entum slo s, das heiß t, das Eig entum stellt sich ih m als verm it

telt da r »durch das Ablassen der G esam teinheit — die im D espo ten rea li

siert ist als dem Vater der vielen Gemeinwesen — an den Einzelnen durchdie Vermittlung der besonderen Gemeinwesen«25. Aber unbeschadet des

sen bleibt das Stamm- oder Gemeindeeigentum die Basis des sich aus sich

erhaltenden Gemeinwesens, das freilich einen Teil seiner Mehrproduk

tion in den Dienst der zuletzt als Person existierenden »höheren Gemein

schaft« stellen muß, was sich darin ausdrückt, daß Tribut geleistet wird,

oder, wie M arx in einer an Dürkh eims Th eorie gemahnenden W eise sagt,

»in gemeinsamen A rbeiten zu r Verhe rrlichung der Einheit, teils des w irk

lichen Despoten, teils des gedachten Stammwesens, des Gottes«.

 W o von kle in em , freien G rundeigentum , dam it von einem bewegteren,

historischen Leben der ursprünglichen Stämme ausgegangen werden

muß, ist ebenfalls das Gemeinwesen erste Voraussetzung. In diesem Falle

aber nicht »als Substanz, von der die Individuen bloß Akzidenzen sind,

oder von der sie rein naturwüchsig Bestandteile bilden«26. Es ist hier viel

mehr so, daß nicht länger das Land, sondern die Stadt als Sitz und

Zentrum der Grundeigentümer auftritt. Während bei ursprünglichemGemeineigentum das Dorf ein bloßes Zubehör zum Land ist, gehört hier

der Acker zum Territorium der Stadt. Da die Erde an sich bei aller Mühe

der Menschen, sie zu bearbeiten, kein Hindernis darstellt, können die

Schwierigkeiten, denen sich das Gemeinwesen gegenübersieht, nur von

anderen Gemeinwesen herrühren, die den Grund und Boden bereits

 bese tzt haben oder ih n der G em ein de streitig m achen. D er K rieg ist

daher »die große ... gemeinschaftliche Arbeit, die erheischt ist, sei es um

die objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu okkupieren, sei es

24 Ibid.

25 Ibid ., S. 37 7.

26 Ib id. , S . 378.

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um die Okkupation derselben zu beschützen und zu verewigen. Die aus

Familien bestehende G emeinde daher zu nächst kriegerisch organ isiert -

als Kriegs- und Heerwesen, und dies eine der Bedingungen ihres Daseins

als E igentü m erin« 27.

Je mehr das individuelle Eigentum aufhört, nur durch gemeinsame Arbeit

 verw ertbar zu sein, je m ehr der Stam m durch geschic htliche Bew egung

seine naturwüchsigen Qualitäten eingebüßt hat, je mehr »sein gemeinsamer Charakter mehr als negative Einheit erscheint und erscheinen muß«,

desto mehr ist die Voraussetzung gegeben, daß Einzelne Privateigentü

mer von Grund und Boden werden, wobei die als Staat organisierte

Gemeinde dieses Privateigentum nach außen schützt und im Inneren

garantiert. Bezieht sich unter schlechthin naturwüchsigen Stammesver

hältnissen der Einzelne in seiner Lebensproduktion auf jene in eben der

 W eise, in der er sich a u f die E rd m aterie bezieh t als a u f sein Anderes — beid e M ale handelt es sich um N atu rbed in g u n gen der P rod u ktion —, so

gewinnt jetzt seine Relation sowohl zur Natur wie zum sozialen

 V erband , dessen »N atur« schon in höherem M aße etw as G ew ordenes ist,

eine größere dialektische Lebendigkeit: indem er sich auf sein Privatei

gentum an Grund und Boden bezieht, bezieht er sich zugleich auf sein

»Sein als Gemeindemitglied«28, und indem er sich erhält, erhält er die

Gemeinde und umgekehrt. Da diese »hier schon historisches Produkt, 

nicht nur dem fact nach, sondern als solches gewußt, daher entstanden«•,

ist die Voraussetzung des Eigentums, die Beziehung nämlich des arbei

tenden Subjekts zu den naturgegebenen Voraussetzungen seiner Arbeit,

nunmehr vermittelt »durch das Sein des Staats«, wie umgekehrt dieses

 verm itte lt is t durch die bestim m te Form des Eig entum s an den obje ktiv en

 A rbeitsbedingungen.

 W o rau f es M arx hier ankom m t, is t die fü r die Frage nach der dia le kti

schen Struktur vorbürgerlicher Stufen wesentliche Einsicht, daß1. in allen Formen, bei denen Grundeigentum und Landwirtschaft die

ökonomische Basis abgeben, das Individuum sich zur Erde als der »unor

ganischen Natur seiner Subjektivität«29  verhält — eine Bedingung, die

nicht selbst als Produkt von Arbeit erscheint, sondern vorgegeben ist und

— daß

2. dieses praktische Verhalten des Individuums, welches im Gegensatz

zum späteren Proletarier nie bloß in der Abstraktion als arbeitendes

auftritt, sondern eine »objektive Existenzweise«30 hat, sofern es über

2 7 I b i d .

28 Ibid . , S . 379 .

29 Ib id., S. 384.

30 Ibid . , S . 385.

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Erde verfügt, von vornherein vermittelt ist durch sein Dasein als Mitglied

eines der Geschichte bereits mehr oder weniger unterworfenen Ganzen,

das jedoch letztlich aus seiner Verstricktheit in Natur nicht herauszu

treten vermag und insofern »ungeschichtlich« ist.

Nicht die Einheit der produzierenden Menschen mit den Bedingungen

ihres Stoffwechsels mit der Natur bedarf daher für Marx der Erklärung;

sie ist, sosehr sie sich in der vorbürgerlichen Entwicklung modifizierthaben mag, kein Resultat der Geschichte: ihre verschiedenen Phasen

 bleiben ih rem naturhaften Wesen äußerlich. W as die K ritik der p o li ti

schen Ökonomie interessiert und erklären will, ist die für die bürgerliche

Gesellschaft typische »Trennung  zwischen diesen unorganischen Bedin

gungen des menschlichen Daseins und diesem Dasein, eine Trennung,

 w ie sie vo lls tän d ig erst gesetzt ist im Verhält nis von Loh narbeit und

K ap ital« 31. Sklaverei und Leibeigenschaft kennen aufgrun d der Tatsache,da ß dem tätigen Subjekt a u f diesen Stufen, wie M arx sagt, eine »objek

tive Existenzweise« zukommt, die Trennung der Arbeit von ihren unor

ganischen Bedingungen nicht. Beide Momente verschmelzen vielmehr zu

einer unterschiedslos-einheitlichen  Natu rbasis   des Sklavenhalters oder

Feudalherrn, der den Sklaven oder Leibeigenen als »organisches Zubehör

des Grund und Bodens«32 zusammen mit diesem erobert und zum unor

ganischen Produktionsfaktor herabsetzt: »Der Sklave steht in gar keinem

 V erhältnis zu den objektiven Bedin gungen sein er A rbeit; so ndern die A rb eit   selbst, sowohl in der Form des Sklaven, wie der des Leibeigenen,

 w ird als unorganische Bedingung   der Produktion in die Reihe der

anderen Naturwesen gestellt, neben das Vieh oder als Anhängsel der

Erde.. .33« Demgegenüber wird der Arbeiter in der kapitalistischen Pro

duktion buchstäblich denaturiert, zum »objektivlosen, rein subjektiven

 A rbeitsverm ögen«34, das in den ih m entfrem deten dinglichen V o r

aussetzungen der Arbeit »als für sich seiendem Wert«35 seine Negationerblickt. Er ist für das Kapital nicht einmal mehr Produktionsbedingung

- nur Träger von A rbeit , die über den Tausch angeeignet w ird. Und

doch bed eutet das vermittels des Tau schs sich wied er herstellende G an ze,

das gerade auf der völligen Isoliertheit der Individuen voneinander be

ruht - der »sachliche Zu samm enhang«36 ihrer Zusam m enhan glosigkeit - ,

3 1 Ibid . , S . 388.

32 Ibid . , S . 39 1.

33 Ibid . , S . 389.

34 Ibid . , S . 39 6.

35 Ibid . , S . 397.

36 Ib id., S. 79.

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gegenüber den lokal begrenzten, auf N atu r und persönl ichen A bh än gig

keitsverhältnissen beruhenden T ota litäten einen F ortschritt.

Es kommt deshalb Marx weder in den Sinn, den naturhaften Lebens

prozeß vorindustrieller Stufen irrationalistisch zu verklären wie die neu

romantischen Ideologien, noch denkt er daran, das »elementarische«

 W echselspie l der M om ente, die »Selb stv erm ittlung der N a tu r« , als w el

che die Arbeit auf diesen Stufen notwendig sich darstellt, zu einem welt

anschaulich gefaßten Naturmonismus zu hypostasieren. Das in seiner

Beschreibung des völlig naturgebundenen Arbeitsprozesses fraglos ent

haltene naturspekulative Moment37, das bisweilen an Hegels und selbst

an •Schellings N atu rph ilosop hie erinnert, b leibt fas t du rchw eg in der

Schwebe. Soweit der Begriff »Naturdialektik« überhaupt sinnvoll ver

 w an d t werden kan n, g ilt er für die m it der G eschic hte des G rund eig en

tums verbundenen vorkapitalistischen Prozesse, die strukturell jenennicht unähnlich sind, die schon der pflanzliche oder tierische Organis

mus, menschliche Subjektivität als höhere Wahrheit der Natur ankündi

gend, im Widerstreit mit seiner Umwelt zu durchlaufen hat. Vorkapitali

stisch bleibt die in arbeitendes Subjekt und zu bearbeitendes Objekt

entzweite Natur in dieser Entzweiung »bei sich«. Nicht nur tritt der

Mensch als eine Weise des organischen Daseins der Natur auf, sondern

auch diese von vornherein als »-unorganisches Dasein seiner selbst«38.

Diese abstrakte Identität von Mensch und Natur, wie sie im »bloßen

Naturdasein«39 der Arbeit existiert, ist allem Gesellschaftlichen derart

enthob en, da ß sie als »L ebensä ußeru ng "und. Lebe nsbew ährun g« auch

 vo m überhaupt noch nicht gesellschaftl ic hen M enschen gele is te t werden

muß. Auch ein »abnorm isolierter Mensch«40 wäre auf sie angewiesen.

Z w ar hätte er kein Eigentum am G run d und Boden. A ber er könnte — wie

die Tiere — »an ihm als der Sub stanz z eh re n .. .«41.

 W o rau f M arx hie r hin aus w ill , is t dies: je de über die tierischen K eim formen hinausgehende Auseinandersetzung von Mensch und Natur

geschieht im Rahmen einer bestimmten Gesellschaftsform, aber nicht

 jede dieser Form en is t »Gesellsc haft« im Sin ne der bürgerlichen, der

Gesellschaft par excellence. Marx vermeidet daher diesen Begriff im

Hinblick auf vorbürgerliche Verhältnisse (die er, wie wir gesehen haben,

lieber als »naturwüchsiges Gemeinwesen«, »Stamm«, »Tribus« usf.

3 7 Z u d e n s p e k u l a t iv e n A s p e k t e n d e s se n , w a s M a r x u n t e r d e m S t o f fw e c h s e l v o n M e n s c h un d

N a t u r v e rs t e h t , c f.  D e r B e g r if f d er N a t u r in d er L e h r e v o n M a r x ,  S. 74 ff.

38 G r u n d r i s s e ,  1. C. , S. 763.

39  D a s K a p ita l,   Band III , Ber l in 1953, S . 869.

40 Ibid . , S . 940.

4 1 G r u n d r i s s e ,  1. c., S. 388.

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 bezeic hnet), oder er bedient sich seiner im uneigentlichen Verstände.

Sosehr der Unterschied von Naturgegebenem und historisch Geworde

nem auch für die einzelnen Phasen der vorbürgerlichen Geschichte gelten

mag — Marx weist wiederholt darauf hin, daß al le naturwüchsigen

Formen immer auch »Resultate historischen Prozesses«42 sind — sosehr

 verflü ch tigt sich der U nterschie d von asia tischer D espotie , antik er S k la

 ven w irtschaft und m it tela lterlichem Feudalw esen als durch das G ru n d ei

gentum bestimmter Verhältnisse gegenüber der bürgerlichen Gesell

schaft, deren Auftreten eine weltgeschichtliche Zäsur setzt. Daher kann

Marx in der  K r itik der Politis chen Ö kon om ie   lapidar aussprechen: »In

allen Formen, worin das Grundeigentum herrscht, ist die Naturbezie

hung noch vorherrschend. In denen, wo das Kapital herrscht, das gesell

schaftlich, historisch geschaffne Element.«43 Vorbürgerlich fällt das Ver

hältnis von Natürlichem und Geschichtl ichem in den großen Naturzusammenhang, bürgerlich fällt es, auch was die noch unangeeignete Natur

angeht, selbst in die Geschichte. Dementsprechend verfährt auch Marx

 bei der U n tersuchung des G rundeig entum s so, d aß er eine Reih e von

geographisch auseinanderliegenden Typen, etwa den orientalischen, süd

amerikanischen, slawischen, germanischen und antiken miteinander ver

gleicht, wobei die Frage nach der  zeitlichen   Sukzession völlig in den

Hintergrund rückt. Die verschiedenen Formen vorkapitalistischer

Gemeinwesen stehen — wie die der Natur bei Hegel — als gleichgültige,unverbundene Existenzen nebeneinander. Erst dem theoretischen Blick

erweist sich die Modifikation einer Form, ohne daß sie aus dieser hervor

gegangen wäre, als deren Höherentwicklung. Der Geschichtsverlauf ist

also für Marx weit weniger linear als gemeinhin angenommen wird; er

folgt keiner einheitlich-sinngebenden Idee, sondern setzt sich aus stets

neu einsetzenden Einzelprozessen zusammen.

Der bürgerlichen Gesellschaftsformation kommt im dialektischen Materialismus insofern methodisch eine entscheidende Rolle zu, als sich von

ihr aus sowohl die Vergangenheit als auch die Möglichkeiten der Zukunft

erschließen lassen. M ar x ist alles andere als ein simpler Evo lution ist.

Zwar gründet das jeweils geschichtlich Höhere an sich im Niedereren;

die qualitative Andersheit des Niederen gegenüber dem aus ihm hervor

42 Ibid ., S. 39 6. —  D i e d e r k a p i t a li s ti s ch e n P r o d u k t io n v o r a u s g e h e n d e n F o r m e n d e r V e r g e s e ll s c h a f t u n g p r o d u z i e r e n u n d r e p r o d u z i e r e n s ic h z w a r in d e r Z e i t u n d h a b e n   insofern

G e s c h i c h t e ( g a n z w i e a u c h d i e v o r m e n s c h l i c h e N a t u r ei n e i h re m W e s e n ä u ß e r l i c h b le i

 b end e G e sc h ic h te h a t) , a b er sin d    n i c h t G e s c h i c h t e , w e i l i h r e s u b j e k t iv e n u n d   o b j e k t i v e n

E x i s t e n z b e d i n g u n g e n n i c h t a u s d e m n a t u r a l e n G a n z e n h e r a u s t r e t e n u n d z u m e n s c h l i c h

geschicht l i chen  P r o d u k te n   w e r d e n .

43  Z u r K r it ik d e r p o litisc h e n Ö k o n o m ie ,   Ber l in 1951, S . 264 f .

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Das Kapital reproduziert sich erweitert auf der von ihm selbst hervorge

 brachte n Basis : ein m al his to risch entw ic kelt , verh ä lt es sich zu seinen

 V oraussetzungen als vergangenen »histo rischen V orstu fen seines W er

dens«54 — Stufen, »die in seinem Dasein aufgehoben sind«55. Was

ursprünglich als die Grundlagen seines Werdens erschien, erscheint jetzt

»als gesetzt von ihm - nich t als Bed ingu ng en seines Entstehens, sondern

als Resultat seiner eignen Wirklichkeit«56. Indem derart im kapitalistischen System die ihm geschichtlich vorausgehenden Systeme verschwun

den sind und jenes sich auf seiner eigenen Basis entwickelt, fällt es den

 bürgerlichen Ö ko n om en der klassischen Z eit um so le ic hter, das K ap ital

als ewige Naturform der menschlichen Produktion zu betrachten. Soweit

seine geschichtliche Bedingtheit ihnen präsent ist, tendieren sie dazu, die

Bedingungen seines Entstehens als die seiner augenblicklichen Verwirkli

chung auszugeben, das heißt, sie unterstellen Bedingungen, unter denen

der Kapitalist noch nicht als solcher agieren kann, als die für den gewor

denen bürgerlichen Zustand maßgebenden. Darin drückt sich die Schwie

rigkeit aus, die in ihm herrschende Praxis mit deren theoretischem Selbst

 verständnis zu versöhnen. W as je doch M arx in diesem Zusam m enhang

 besonders in tere ssiert , ist der bereits erw ähnte und m eth odisch w ic htig e

Sachverhalt, daß sich, ausgehend vom etablierten bürgerlichen System,

dessen Auftreten einen qualitativen Sprung bedeutet, in einer oszillieren

den Denkbewegung die vergangene wie die künftige Geschichte erhellenlassen. Sartre spricht denn auch nicht zu Unrecht von einer »progressiv

regressiven« Methode57 bei Marx, die freilich schon in Hegel enthalten

ist. Dieselbe Ana lyse, die den gegebenen Zu stan d als rela tiv au f eine

hinter ihm liegende Vergangenheit bestimmt, zeigt, daß er zugleich

relativ auf eine »werdende Bewegung«58 ist, die ihn transzendiert:

»Erscheinen einerseits die vorbürgerlichen Phasen als nur historische,  i. e.

aufgehobne Voraussetzungen, so die jetzigen Bedingungen der Produk

tion als sich selbst aufhebende   und daher als historische Voraussetzungen  

für einen neuen Gesellschaftszustand setzende.«

 A u s alledem geht hervor, daß es fü r die M arxsche Theorie, die es sich

 ja n icht zu r prim ären A u fgab e m acht, die gesam te G eschic hte der

Menschheit zu konstruieren, sondern dem ökonomischen Bewegungsge

setz der modernen Gesellschaft auf die Spur kommen will, streng

genommen nur zwei wahrhaft historische Dialektiken gibt: die des je

54 Ib id., S. 364.

55 Ib id., S. 363 .

56 Ibid ., S. 364.

57  M a r x ism u s u n d E x iste n tia li sm u s ,   I. c., cf. S. 70— 13 1.

58 G r u n d r i s s e ,  1. c., S. 365.

I^O

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nach den nationalen Gegebenheiten mehr oder weniger revolutionären

Übergangs von der antik-feudalen zur bürgerlichen Ära und die des

katastrophisch-befreienden Übergangs von dieser zur sozialistischen.

Selbstredend liegt auf dem letzteren der schwerere Akzent.

In den an sich   bereits bürgerlich bestimmten Jahrhunderten der

»ursprünglichen Akkumulation« bildet sich im Schöße der feudalen

Gesellschaft, später des absolutistisch umfunktionierten Feudalsystemsmit der Verwandlung von Geld und Ware in Kapital das für die bürger

liche Gesellschaft als geschichtliche Lebensform charakteristische Kapi

talverhältnis heraus, das auf der abstrakten Scheidung des Arbeiters (als

Klasse) von den Produktionsmitteln, den dinglichen Voraussetzungen der

 A rbeit , beru ht. E in e Scheid ung, die , ein m al ein getreten, den Boden

abgibt für »das Werden und noch mehr das Dasein des Kapitals als

solchen«59, indem sie, w ie M ar x z u ze igen such t, au f »stets wach send er

Stufenleiter«60 sich reproduziert. Geschichtsphilosophisch gesprochen:

die höchst abstrakte, »elementarische« Dialektik der vorindustriellen

Entwicklung konkretisiert sich zu der für den Marxismus letztlich

entscheidenden von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen61.

Historische Dialektik, wie sie näher den Kapitalismus strukturiert, ent

springt, mit anderen Worten, selbst einer langwierigen Geschichte —

einem »Werden«, von dem erst dann wirklich zu sagen ist, es sei ins

»Dasein« übergegangen, wenn die objektiven Antagonismen, die seinenInhalt ausmachen, so angewachsen sind, daß sich die reale Möglichkeit

ihrer Aufhebung abzeichnet, wenn es die im Sinne der Hegelschen Logik

höchste, nämlich diejenige »Reife und Stufe« erreicht hat, »in welcher

sein Untergang beginnt«62. Erst in diesem Augenblick wird auch eine

59 Ibid., 1. c., S. 945.

6 0 D a s K a p i t a l ,  B a n d 1,   1. c., S. 753.6 1 F r e i li c h h ie ß e es d ie s e D i a l e k t i k i n p u r e M e c h a n i k z u ü b e r fü h r e n , w o l l t e m a n m i t R o b e r t

H e i ß ( D ie g r o ß e n D ia le k t ik e r des 19 . J a h r h u n d e r ts , Köln-Ber l in , 1963, S . 402)

 b e h a u p te n , d a ß es fü r M a r x »ein en k o n s ta n t p o s it iv e n F a k to r g ib t, d ie P ro d u k tio n s

k r ä f t e , u n d e i n e n k o n s t a n t n e g a t i v e n , d i e P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e « . K e i n M o m e n t d e s

G a n z e n h ä l t s ic h a b s t r a k t - i d e n t i s c h d u r c h . M a r x d e u t e t a n ( c f.  Z u r K r it ik d e r p o li tisc h e n  

Ö k o n o m i e , 1. c ., S . 2 6 7 ) , d a ß d i e D i a l e k t ik d e r B e g r i f fe P r o d u k t i v k r a f t u n d P r o d u k

t i o n s v e r h ä l t n i s b e s t i m m b a r e n G r e n z e n u n t e r l i e g t , o h n e d a ß d a d u r c h i h r » r e a l e r U n t e r

s c h i e d « b e s e i t i g t w i r d . G e r a d e i n d e m d a s s i c h e n t w i c k e l n d e K a p i t a l v e r h ä l t n i s a l s

P r o d u k t io n s v e r h ä l t n is d ie M a r k t - u n d T a u s c h b e z i e h u n g e n a u ß e r o r d e n t li c h e r w e i te r t

u n d d i e V e r w i s s e n s c h a f t l i c h u n g d e r P r o d u k t i o n s a b l ä u f e d a d u r c h b e f ö r d e r t , d a ß e s e i n e

q u a l i t a t i v n e u e K o o p e r a t i o n h e r v o r b r i n g t , w i r k t e s n i c h t n u r a l s » E n t w i c k l u n g s f o r m « ,

i n n e r h a l b d e r e n d i e P r o d u k t i v k r ä f t e s i c h e n t f a l t e n k ö n n e n — e s i s t z u g l e i c h P r o d u k t i v

k r a f t , u n d z w a r e in e w e s e n t li ch e . U m g e k e h r t k o m m t ih m , e in m a l e ta b l ie r t, i n d e r T a t

 je n e v o n M a r x h e rv o rg e h o b e n e , d em W a c h s tu m d e r P r o d u k tiv k r ä f te h in d e rlic h e R o lle

zu.

6 2 G . W . F . H e g e l , W i s s e n s c h a f t d e r L o g i k ,   I I , L a s s o n , L e i p z i g 1 9 5 1 , S . 2 5 2 .

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 K ritik der politis chen Ö ko n om ie   als Kritik der Entfremdung, des Waren

fetischismus und der Ideologie möglich: das (selber schon kapitalistische)

 W erden des K apitalv erhält nisses is t in einem Syste m verschw unden, das

 jetzt in seiner re inen Im m an enz betr achtet w erden kan n 63. H ie ran

knüpft Marx an einer freilich etwas dunklen Stelle des  Rohentw urfs   den

Ged anken , da ß »die dialektische D arstellun g nu r richtig ist, wenn sie ihre

G renzen kennt«64. N im m t man den B eg riff der » Darstellung« in derganzen Strenge, der ihm bei Marx zukommt, das heißt nicht nur lite

rarisch, so ist wohl gemeint, daß der Begriff einer historisch-materiali-

stisch gefaßten Dialektik nur für die vollentfaltete bürgerliche Gesell

schaft gilt und für die vorbürgerliche, soweit sie Tauschverhältnisse

 vorw egnim m t.

 N atur, Erkenntnis und his torische Praxis

Die große Schwierigkeit, das Engelssche Denken, auf das bis zum zeitge

nössischen Sowjetmarxismus alle Versuche zurückgehen, die für sich

genommene Natur als an sich dialektisch strukturiert zu erweisen, sach

gerecht zu beurteilen, beruht darauf, daß bei Engels ein konkret gesell

schaftlich vermittelter und ein metaphysisch-materialistischer Naturbe

griff teils unverbunden nebeneinander stehen, teils trübe ineinanderübergehen. Es sei deshalb von vornherein betont, daß es sich bei aller

Kritik an Engels nicht einfach darum handeln kann, seine Konzeption

 von der M arxschen abzusetzen. D as ist sc hon in sofern nur in

 beschränktem M aße m öglich , als jede K ritik an Engels im m er auch

zurückgreifen muß auf Argumente, die sich der gemeinsam erarbeiteten

Position der Autoren verdanken.

Freilich gehen deren Wege schon früher auseinander, als gemeinhinangenom men wird. Beide bekunden w ährend der frühen vierzig er Jahre

ein lebhaftes Interesse am französischen Materialismus des achtzehnten

Jahrhunderts. Während jedoch Marx in der  H eil ig en Fam ilie   am Mate

rialismus etwa des Helvetius zu rühmen weiß, daß dieser ihn »sogleich in

6 3 D a ß e s , a b g e s e h e n v o n e i n i g e n u n z u r e i c h e n d e n A n s ä t z e n , i n d e r G e g e n w a r t a n e i n e r

 w ir k lic h ö k o n o m is c h e n K r i t ik des K a p it a lis m u s feh lt , is t n ic h t z u le t z t d a r a u f z u r ü c k z u

f ü h r en , d a ß d es se n b ei M a r x u n t e rs u c h te S y s t e m i m m a n e n z d u r c h d a s V o r h a n d e n s e i n d e rk o m m u n i s t is c h e n W e l t in i h r e r R e i n h e i t b e e i n t r ä c h t i g t w i r d . E s g e h t h e u t e n i c h t m e hr

a n , d a s ö s t l i c h e S y s t e m a l s e i n e n b l o ß m o d i f i z i e r e n d e n , m e c h a n i s c h w i r k e n d e n A u ß e n

f a k t o r a n z u s e h e n . W i e H e r b e r t M a r c u s e i n s e i n e r S t u d i e ü b e r d e n S o w j e t m a r x i s m u s

d a r g e t a n h a t , g e h t i n d i e » D e f i n i t i o n « d e r w e s t l i c h e n G e s e l l s c h a f t d i e d e r ö s t l i c h e n e i n

u n d u m g e k e h r t.

6 4 Gru ndrisse , 1. c., S. 945.

1 9 2

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 bezug a u f das gesellschaftl ic he Leben« faß t6S, liegt das Schw ergew icht

 bei Engels vo n A n fa n g an m ehr au f der m eta physischen Seite. In einem

1844 erschienenen Artikel bezeichnet er den Materialismus als »die

Sp itze der W issensch aft des 18. Jah rhu nde rts«, als »das erste System der

Naturphilosophie«, als das Ergebnis einer »Vollendung der Naturwissen

schaften«66. Engels hat denn auch in seinen naturdialektischen Schrif

ten, in der über Feuerbach, im  A n tiD ü h rin g   und in der  D ia lek tik der  

 N atur   an der von Holbachs  Syste m der N atur   detailliert entwickelten

Idee eines lückenlosen Zusammenhangs der Naturphänomene festgehal

ten, allerdings in der Absicht, diesen Zusammenhang nicht mehr

 beschränkt-m echanisch zu bestim men. W ich tig fü r das Verständnis der

Engelsschen Konzeption ist ferner die romantische Naturphilosophie,

 vo r allem die des jungen Schell ing, w ährend die H egelsche aus noch zu

erörternden Gründen an Bedeutung neben der Seinslogik zurücktritt. W ic h tig w urden für Engels schließlich die (teilweise in der rom antischen

Naturspekulation angelegten) evolutionistischen Theorien, insbesondere

der Lamarck-Darwinsche Begriff einer »Geschichte der Natur«, der sich

 bei B uffon und andere n französis chen G ele hrten des achtzehnten Jahr

hunderts bereits ankündigt.

 A ls sich M arx und Engels Ende der fü n fziger Jahre zum zw eiten M al der

Hegelschen Philosophie zuwenden, geschieht dies bei Marx in einer von

Engels’ Hegelrezeption sehr verschiedenen Weise. Marx, dessen Thema

die politische Ökonomie ist, versucht diese »durch Kritik .. . erst auf den

Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können.67« Dabei ist

er sich, wie wir sahen, der objektiv-historischen Grenzen einer solchen

Darstellung wohl bewußt. Engels dagegen interpretiert anhand dialekti

scher Kategorien fertig vorliegende Resultate der modernen Naturwis

senschaft, in deren Sachproblematik selbst er sich nicht hineinbegibt. Er

kann nicht — wie M arx der politischen Ö ko no m ie — den N aturw issenschaften eine neue Gestalt geben, sondern muß sich damit begnügen, die von

diesen gelieferten Materialien zu systematisieren, was er programmatisch

so formuliert: »Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure

Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit,

ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach sei

nem inneren Z usam m enhang zu ordnen, schlechthin u nabweisbar gew or

den ist.«68

6 5 M a r x / E n g e l s ,  D ie h e il ig e F a m il ie ,  Ber l in 1953, S . 261 .

6 6 I n : M a r x / E n g e l s , W e r k e ,  B an d I, B erlin 19 5 7, S . 551 .

6 7 M a r x a n E n g e l s, B r i e f v o m 1. 2 . 1 8 5 8 , i n : M a r x / E n g e l s , W e r k e ,  Band 29, Ber l in 1963,

S. 275.

68  D ia le k t ik d er N a tu r ,   B e r l i n 1 9 5 2 , S . 3 1 .

r 93

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Die geistesgeschichtliche Lage, von der aus Engels seinem Programm

nachzukommen sucht, ist gekennzeichnet durch die endgültige Emanzi

pation der Naturwissenschaft von der Philosophie, die sich in den flach-

mechanischen, sei’s positivistischen, sei’s vulgär-materialistischen Schrif

ten ausdrückt, wie sie im Verlauf des sogenannten »Materialismusstreits«

um die Mitte der fünfziger Jahre mächtig ins Kraut schießen. Sosehr nun

Engels grundsätzlich den materialistischen Standpunkt bejaht, sosehr istes ihm doch darum zu tun, sich kritisch von Vulgarisatoren wie Büchner,

 V o g t und M ole sch ott abzusetzen, und zw a r dadurch, daß er die

Dialektik in die material istische Auffassung der Natur einführt. Hier

erhebt sich indes die von der Pariser Kontroverse mit Recht als entschei

dend angesehene Frage, ob der auf abstrakte Materie reduzierten Natur

dialektische Bestimmungen wie »Totalität«, »Widerspruch«, »Produkti

 v itä t« , »im manente N egation « überh aupt zugesprochen w erden können,ob nicht mit jeder dialektischen Theorie subjektive Reflexion (und sei es

auch nur als Moment) unabdingbar gesetzt ist.

 W enn in H egels V orrede zu r  P h änom enolo gie des Geistes   von der

Knospe die Rede ist, die in dem Hervorbrechen der Blüte verschwindet

und wiederum der Frucht als ihrer höheren Wahrheit weicht69, so könnte

man versucht sein, den hier geschilderten Prozeß als unmittelbare

Dialektik der Pflanze zu verstehen. In Wahrheit geht es dabei nicht um

deren ungedachtes Leben, sondern um das ihres  Begriffs .  Wie so oft,

 veranschau licht H egel seine D ia lek tik an natürlich-organis chen Prozes

sen, denen er andererseits als einem Minderen eine für die Bewegung des

Begriffs konstitutive Rolle nicht zubilligt. Die Pflanze, wie sie unmit

telbar ist, bringt es nicht zum Fürsichsein; sie »berührt nur die Grenze

der Individualität«70. Als dialektisch strukturiert erscheint sie einzig

einem »vernünftigen« Denken, das sie als ein durch den abstrakten

 V erstand in K nospe, B lü te und Frucht bereits Zergliedertes vo rfin d et unddiese bloß verständigen Begriffe zu »Momenten der organischen Ein

heit«71 macht, das heißt in den Begriff übersetzt. Die Natur vernünftig

 begreifen aber heißt sie als  (in die Materialität versenkte) Vernunft   zu

 begreifen; denn »indem das In nere der N a tu r nichts A nderes, als das

 A llgem eine ist, so sin d w ir, wen n w ir G ed an ken haben, in diesem Inneren

der Natur bei uns selbst«72. Hegels Naturphilosophie zehrt von dem

 V ertrauen, d aß »in der N a tu r der B e g riff zum B egriffe spric ht und die

6 9 G . W . F . H e g e l ,  P h ä n o m e n o lo g ie des G e is te s ,  H o f f m e i s te r , H a m b u r g 19 52 » S . 1 0.

70 Ibid. , S . 187.

71 Ibid . , S . 10.

7 2 G . W . F . H e g e l ,  S ä m tli c h e W e rk e ,  B a n d 9 , G l ö c k n e r ( S y s t e m d e r P h i l o s o p h i e 2 ) , S t u t t

gart 1958, S . 48.

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ausnehmen. Konnte Hegel die offenkundigen Mängel seines Unterneh

mens noch der Natur selber aufbürden, deren »Ohnmacht« darin besteht,

»Äußerlichkeit«78, der »unaufgelöste Widerspruch«79 zu sein, der sich

der Strenge des Begriffs e ntzie ht, ob gleich dieser ihr »innerer Bildn er«80

ist, so hat Engels diese Rückzugsmöglichkeit nicht mehr. Im Gegensatz

zu Hegel, der bei seinem Bestreben, die empirische in die spekulative

Physik aufzuheben, immer auch an deren Verschiedenheit festhält, istEngels, der al ler Naturphilosophie den Laufpaß geben und in der Natur,

 wie sie unabhän gig vo m th eoretischen D enken ist, D ia lek tik din gfest

machen wil l , genötigt, das vorphilosophische Verfahren der Naturwis

senschaften selber als dialektisch auszugeben. Die in ihnen entdeckten

 V orgän ge und G esetze neh m en fü r Engels den R an g »bew eisen der

Exempel« seiner zur dogmatischen Weltanschauung tendierenden Theo

rie an. So ist ihm »die Einheit al ler Bewegun g in der N a tu r . . . eine natur w issenschaftliche T atsache«81. Sieht m an näher zu, wie Engels diese

Bewegung der Natur im einzelnen bestimmt, von der er behauptet, sie sei

»nicht bloß Ortsveränderung«, sondern »auf den übermechanischen

Gebieten auch Qualitätsänderung«82, so zeigt sich, daß er eben jener

Mechanik weitgehende Zugeständnisse machen muß, um deren dialekti

sche Relativierung es ihm zu tun ist. Unter der Hand bildet sich ihm

Dialektik in eine bestenfalls geschmeidiger interpretierte Entwicklungs

mechanik zurück; denn sie erschöpft sich im »ursächlichen Zusammen

hang des, durch alle Zickzackbewegungen und momentanen Rückschritte

hindurch, sich durchsetzenden Fortschreitens vom Niederen zum Höhe

ren .. .«83. N u n geht nam entlich die  D ia le k tik der N atur   über den

 blo ßen K ausalz usam m enhan g hin aus und zur K o n zep tio n ein er »univer

sellen Wechselwirkung«84 über, in der Engels eine Erkenntnis sieht, die

nicht überschritten werden kann, »weil eben dahinter nichts zu Erken

nendes liegt«85. D am it aber k on zediert er selbst, daß seine N atu rbe trach tung letzten Endes vordialektisch ist. Zwar ist Wechselwirkung gemessen

an der mechanischen Kausalität die höhere, weil reichere Kategorie, aber

auch sie noch steht, wie Hegel bemerkt, »so zu sagen an der Schwelle des

7 8 H e g e l ,  S ä m tlic h e W e r k e ,  Band 9, I . e . , § 247, S . 49.

79 Ibid. , § 248, Z u s atz , S . 54 .

80 W i ss e n s ch a f t d er L o g i k ,  II, 1. c., S. 231.

81  D ia le k t ik d er N a t u r ,  1. c ., S . 3 1 . D a r i n f o l g t i h m d i e S o w j e t o r t h o d o x i e b i s a u f d enh e u t ig e n T a g .

82  A n ti D ü h r in g , 1. c., S. 467.

83  L u d w ig F eu er b a ch u n d d er A u s g a n g d e r k la ssisch en d e u tsc h e n P h ilo s o p h ie ,   W i e n - B e r l i n

1927, S . 51 .

84  D ia le k t ik d er N a t u r ,   1. c., S. 246 f.

85 Ib id., S. 246.

196

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B e g r if fs ... B leibt man dabei stehen einen gegebenen Inh alt bloß unter

dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten, so ist dies in der

Tat ein durchaus begriffloses Verhalten; man hat es dann bloß mit einer

trockenen Tatsache zu tun und die Forderung der V er m ittlu n g .. .

 b le ib t . . . unbefriedig t« 86. In dem Engels von der »R ü ckw irku ng der M en

schen auf die Natur«87 bewußt absieht, das heißt vom Auftreten derje

nigen Wechselwirkung im Naturzusammenhang, die gesellschaftliche A rb eit heiß t und aus deren histo risch w andelb aren Bedürfnissen sich

auch der Umstand erklärt, daß die Erkenntnis, um sich der einzelnen

Naturphänomene zu versichern, deren umfassenden Zusammenhang

zerreißen und stets wieder zum isolierten Kausalverhältnis zurückkehren

muß. Nur so lassen sich die notwendigen Abläufe der Natur mit mensch

lichen Zwecken vermitteln. Gerade eine materialistische Theorie wird

daran festhalten, d aß erst m it der gesellschaftlichen Prod uk tionstätigkeit,

die den gedanklichen wie realen Übergang von der Kausalität zur Wech

selwirkung und umgekehrt ebenso setzt wie den von dieser zur Teleolo

gie, konkrete Dialektik ins Spiel kommt.

Sowenig ein die Grenzen mechanischer Interpretationsweise einsehendes

Denken per se dialektisch ist, sowenig lassen sich, wie Engels will, »histo

rische Na tura uffas sun g« 88 und D ialek tik iden tifizieren. Schon deshalb

nicht, weil die evolutionistischen Theorien des achtzehnten und neun

zehnten Jahrhunderts alles andere als dialektisch, sondern ein Versuch w aren, den in der Ph ysik lä ngst bew ährten quantitativ -m echanis chen

Gesichtspunkt auch für die organische Welt und ihre Entwicklung in der

Zeit geltend zu machen. Der naturhistorische Materialismus, wie er bei

Lamarck vorliegt, sieht die Evolution der biologischen Arten bedingt

durch die mechanische Einwirkung und Änderung von Umweltfaktoren.

Die Reihe der Lebewesen kennt nur rein quantitative Abstufungen,

minutiöse Übergänge, keine jähen Sprünge. Der Eindruck qualitativerDifferenzen entsteht dadurch, daß der Wissenschaft bestimmte Zwi

schenglieder fehlen. Dem folgt im Grunde auch noch Darwins Lehre.

Mehr noch aber als die empirische Forschung selbst zeigt die romantische

Spekulation die Unmöglichkeit einer Naturdialektik, wie sie Engels vor

schwebt. Schellings  Erster E n tw u rf eines Systems der N aturph ilosophie  

 von 1799 le hrt ausdrücklich eine N aturgeschic hte , die sie als »dynam i

sche Stu fenfo lge«89 aus der N a tu r als »absoluter T ätig ke it« 90 zu ded u

86  S ä m tli ch e W erk e ,  B a n d 8 , G l ö c k n e r ( S y s te m d e r P h i l o s o p h i e 1 ), S t u t t g a r t 1 9 6 4 , S. 3 4 6 f .

8 7  L u d w ig F eu er b a ch ,  1. c.} S. 5 5.

88 Ib id ., S. 35.

89 F. W . J. Sc he ll ing, W e r k e ,  1 . Abt lg . III , S tgt u . Au gsb. 1858, S . 6.

90 Ibid ., S. 1 3.

l 9 7  

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zieren sucht. Unter »dynamisch« wird dabei eine Philosophie verstanden,

 w elche die N a tu r aus dem tote n M echanism us zu erlösen und in freie

Entwicklung zu versetzen vermag. Absolut produktiv, ist die Natur

zugleich unendlich gehemmt dadurch, daß ursprünglich entgegenge

setzte Tendenzen in ihr wirksam sind. Keines ihrer Produkte ist dasje

nige, worin jene Tendenzen zusammenfielen. Daher ist jedes von ihnen

imm er auch Trieb über sich hinaus, unendliche P ro du ktiv ität — »das absolute Produkt, das immer wird und nie ist«91. Natur ist so weder Produkti

 v itä t noch P rod ukt, sondern das bestä ndig e U bergehen jener in dieses.

Da Schelling, darin den oben genannten Naturforschern verwandt, sich

trotz seines Idealismus an die zu seiner Zeit vorliegenden einzelwissen

schaftlichen Befunde hält, wird auch bei ihm die Spannung von Produkti

 v itä t und Prod u kt, von Flü ssigkeit und Starrheit , m ehr refle xionsphilo

sophisch von außen beschrieben als imm anen t-dialektisch au sgetragen. Sokann von einem sprunghaften Übergang von einer Qualität zur anderen

nicht die Rede sein: »Man muß sich nicht durch den Schein von Mangel

an Kontinuität irre machen lassen. Diese Unterbrechungen der Natur

stufe existieren nur in Ansehung der Produkte für die Reflexion, nicht in

 Ansehung der P ro d u k tiv itä t für die A nschauu ng. D ie P ro d u k tiv itä t der

Natur ist absolute Kontinuität. Deswegen werden wir auch jene Stufen

folge der Organisation nicht mechanisch, sondern dynamisch, d. h. nicht

als eine Stufenfolge der Prod uk te, sondern als eine . . . der Pro du ktivitätaufstellen. Es ist nur ein Produkt, das in allen Produkten lebt. Der Sprung

 vom P oly p en zum M enschen schein t freilich ungeheuer, und der Ü ber

gang von jenem zu diesem wäre unerklärlich, wenn nicht zwischen

 beide Zw ischenglieder träten.« 92

Ein kurzer Vergleich dieses Aspekts der Schellingschen Naturkonzeption

mit dem entsprechenden der Hegelschen ist insofern lohnend, als er den

schlechten Widerspruch verdeutlicht, dem diese bei Engels wiedererstehende Naturphilosophie sich aussetzt: entweder sie hält sich an das zeit

liche Hervorgehen der Naturformen auseinander, dann büßt sie ihren

dialektischen C h ar ak ter ein, oder sie ist dialektisch und m uß w ie He gel die

Existenz einer Naturgeschichte bestreiten. Bei Hegel heißt es: »Die

Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der

anderen notwendig hervorgeht. . . ; aber nicht so, daß die eine aus der

ändern natürlich   erzeugt würde, sondern in der innern, den Grund der

Natur ausmachenden Idee.. . Es ist eine ungeschickte Vorstel lung älte

rer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, . . . den Übergang e iner

9 1 Ib id. , S . 1 6.

92 Ibid . , S . 53 f . , Fu ßn ote .

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und nicht primär entwicklungsgeschichtl iche Zusammenhänge im Auge

hat, wird teilweise dadurch verdeckt, daß er in den Anmerkungen mit

zahlreichen, sonst bei ihm verpönten »Beispielen« für den Umschlag von

Qualität in Quantität und vice versa operiert, wobei er besonders die

Chemie seiner Zeit berücksichtigt. Ihnen vor allem schließt Engels sich

an, dessen Interesse von vornherein ein evolutionistisches und kein logi

sches ist. Wird aber die »Knotenlinie von Maßen auf einer Skale desMehr oder Weniger«97 unmittelbar naturgeschichtlich verstanden, der

Übergang quantitativer in qualitative Veränderungen als »allgemeines

Entwicklungsgesetz«, so muß das, was Habermas mit Recht anmerkt, auf

eine »mechanische Pseudodialektik der quantitativen Steigerung« hin

auslaufen, die »eher etwas mit der quantitativen Differenz aus Schellings

N atur ph ilosoph ie zu tun hat«98 als mit wirk licher D ialek tik, die sich über

die bei Schelling im Zentrum stehenden Dualismen und Polaritätenerhebt. Indem Engels die materielle Einheit der Welt nicht  praktisch, 

sondern metaphysisch faßt, gerät seine Spätlehre in eine gewisse

 A n alo gie zu dem , w as H ege l — freilich se lbst in die se r H in sicht belastet

— Schelling als »naturphilosophischen Formalismus« ankreidet."

Für Engels’ Rezeption der Seinslogik gilt, was über sein Verhältnis zu

Hegel insgesamt zu sagen war: sie sperrt sich gegen den idealistischen

Sinn, der Hegels Kategorien an Ort und Stel le zukommt. Wenn Hegel

 von »objektiver Logik« spric ht, so neigt Engels sofort d azu , diese O b jek tivität naturwissenschaftlich zu deuten, während sie für Hegel als die des

Seins nur Bestand hat, sofern dieses, in das Wesen als in seinen Grund

zurückgegangen, sich schließlich als »Begriff«, das heißt absolute Subjek

tivität erweist. Anstatt die Hegelschen Kategorien konkret-material i

stisch, also gesellschaftlich neuzubestimmen, appliziert er sie äußerlich

auf einzelwissenschaftliche Tatbestände, die sich gerade der Abstraktion

 von dem verdanken, w as sie in D ia lek tik ein bezöge: von der historischenPraxis. Sie sollen von der Welt überhaupt gelten, wobei Engels naiv

unterstellt, was die Forschung über die Welt ausmacht, betreffe ihr reines

 A n-sich.

In der Tat führt, wie Hyppolite die wesentliche Schwierigkeit umreißt,

die Historisierung der Natur bei Engels, vollends aber im Sowjetmarxis

mus, zu einer Naturalisierung der menschlichen Geschichte. Freilich

nicht nach Art des Sozialdarwinismus, dessen gesellschaftliche Funktion

9 7 H e g e l , W i s s e n s c h a f t d e r L o g i k ,   1,   1. c., S. 380.

98 J ü r g e n H a b e r m a s , T h e o r i e u n d P r a x is ,  N e u w i e d a m R h e i n u n d B e r l i n 1 9 6 3 , S . 2 7 2 , c f .

au ch S . 270—272.

9 9 C f .  P h ä n o m e n o lo g ie d es G e is te s , 1. c ., S. 4 1 f . , beson ders au ch W e r k e ,  B a nd 9 ,1. c., § 3 5 9,

S. 629 f.

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und Herkunft von Marx und Engels gleichermaßen durchschaut wurde.

Naturalisierung der Geschichte heißt hier, daß Engels sie zum speziellen

 A nw endungsbereich allgem ein er Bewegungs- und Entw ic klu ngsgesetze

der Natur herabsetzt, womit er der für die stalinistische Ideologie

charakteristischen und unter Marxschen Gesichtspunkten sinnlosen insti

tutionellen Aufgliederung der Theorie in dialektischen und historischen

Materialismus den Weg ebnet. Daß die menschliche Geschichte vonbewußtseinsbegabten   Wesen gemacht wird, bedeutet nichts als einen die

Sache etwas komplizierenden Faktor, was Engels lakonisch so ausdrückt:

»Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte

nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der

Geschichte der Natur verschieden.«100 Wenn Marx von den »Naturge

setzen« der Gesellschaft spricht, davon, daß die Kritik der politischen

Ökonomie die Entwicklung der Gesellschaftsformation als einen »naturgeschichtlichen Prozeß« auffaßt, in dem die Personen zur »Personifika

tion ökonomischer Kategorien« geworden sind101, so hat das den kriti

schen Sinn, daß die Menschen unter ein System sachlicher Bedingungen

subsumiert sind, das sich unkontrolliert, als »zweite« Natur, ihnen

gegenüber durchsetzt. Nicht, daß dieser kritische Impuls bei Engels

 verlo ren gin ge. Beso nders deutlich ist er im  A ntiD ü hring .  Aber der

Umstand, daß Engels ausgehend von »wertindifferenten« Entwicklungs

gesetzen der Natur zu denen der Gesellschaft übergeht (obwohl er mitMarx in den vierziger Jahren den gerade umgekehrten Weg beschritten

hatte), bringt es doch mit sich, daß manche seiner Formulierungen sich

affirmativ deuten ließen. Herrscht bei Engels auf der einen Seite noch ein

klares Bewußtsein davon, daß die Objektivität der geschichtlichen

Gesetze ein Schein ist, daß sie immer nur die des »eignen gesellschaftli

chen Tuns«102 der Menschen sein können, so wird diese kritische Einsicht

auf der anderen Seite dadurch abgeschwächt, daß er meint, im Sozialismus würden diese Gesetze »mit voller Sachkenntnis angewandt und

dam it beherrscht«, wäh rend es M arx da rau f ankam, d aß sie, in vernün f

tige Aktionen der befreiten Individuen sich auflösend, verschwinden. 

Naturalistisch identifiziert Engels die von den Menschen hervorgebrach

ten Gesetze mit denen der physischen Natur, die sie allerdings nur

anwenden und beherrschen können.

Bei Stalin wie im Stalinismus insgesamt entsteht daraus der Aberglaube

an die unverbrüchliche Objektivität der historischen Gesetze, die unab-

100  D ia le k t ik d e r N a t u r >1. c., S. 252.

101  D a s K a p ita l , B a n d 1 , 1. c., S. 8.

102  A n ti D ü h r in g , 1. c., S. 351.

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hängig vom Willen der Menschen wirken und sich von denen der Natur

in nichts unterscheiden103. Daß die offizielle Ideologie jahrelang diesen

 begrif flo sen O bje ktivis m u s m it krassestem Subje ktiv is m us zu vereinba

ren wußte, wie er sich im sogenannten Personenkult um Stalin

ausdrückte, ist kein Zufall: beide Seiten sind komplementär. Was bei

Marx zur Kritik steht, wird im Stalinismus in den Rang einer wissen

schaftlichen Norm erhoben. Die Subjekte sollen höchstens in der Lagesein, diese Gesetze zu erforschen und in ihrem Handeln zu berücksichti

gen. Daß es sie ohne das Tun der Menschen überhaupt nicht gäbe,

 bekom m t eine D o k trin , die im In teresse vo n H errschaft nur d arau f aus

ist, die faktisch vollzogene Verdinglichung der Verhältnisse »abzubil

den«, schon g ar nicht m ehr in den Blick.

Einen weiteren Schritt vorwärts in der Ontologisierung einer ursprüng

lich kritischen und radikal historischen Theorie bedeutet die Tatsache,

daß die bei Engels immerhin noch im Medium naturwissenschaftlicher

Begriffsbildung belassenen dialektischen Entwicklungsgesetze und Kate

gorien, die gleichermaßen für Natur, Gesellschaft und Denken gelten

sollen, in der Folge, vor allem bei Stalin und Mao Tse Tung, auch von der

naturwissenschaftlichen Problematik abgelöst und zu unmittelbaren

Seinsaussagen erklärt wurden. So gilt vor jeder spezifischen Untersu

chung eines Gegenstandes mit axiomatischer Gewißheit, daß ihm, wie

allen Dingen in der Welt, Widersprüche innewohnen. Eine Tendenz, diesich in der nachstalinistischen Ära noch verstärkte. Bei Autoren wie V. B.

Tugarinow wird der Begriff »Ontologie« positiv rezipiert und ein an

N . H artman ns Philosophie erinnerndes System v on Kategorien ange

strebt. Z u r allgemeinen W eltanschau un g h yp ostasiert104, schrum pft D ia

lektik zu einem je nach den tagespolitischen Zeitläuften sich ändernden

Katalog von Prinzipien zusammen, die als leere Hülsen und Schemata

den Inha lten übergestülpt werden.

 W enden w ir uns nunm ehr der W eise zu, in der M arx das Problem der

Dialektik angeht. Zunächst einmal fäl lt auf, daß es ihm im Gegensatz zu

Engels nie beigekommen ist, sie zu kodifizieren und ihre Bewegungs

formen Natur und Geschichte als getrennt gedachten Gegenstandsberei

chen zuzu ordnen. Er hat von An beginn ein w irklich kritisches Verhältnis

zur Dialektik. Obwohl er in ihr zeit seines Lebens »unbedingt das letzte

 W o rt aller Philosophie « erblickt, hebt er stets die N o tw en d igk e it hervor,

103 C f . J . W . S tal in , ö k o n o m i s c h e P r o b l e m e d e s So z ia lis m u s i n d e r U d S S R ,  Ber l in 1953,

S. 4 f.

1 0 4 E i n V o r g a n g , d e r n ä h e r g e k e n n z e i c h n e t w i r d b ei H e r b e r t M a r c u s e ,  D ie G e se ll sch a fts-

l e h r e d e s so w j e ti s ch e n M a r x i s m u s ,  N eu w ied am R hein u nd Be r l in 1964 , S. 136— 1 j 5.

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»sie von dem mystischen Schein, den sie bei Hegel hat, zu befreien«105.

Dabei ist ihm klar, daß diese Aufgabe nicht so zu bewerkstelligen ist, daß

man Dialektik in ein Sammelsurium weltanschaulischer Versicherungen

überführt, sondern nur so, daß im einzelnen gezeigt wird, wie sie den

historischen Prozessen der Menschenwelt innewohnt. Daher seine Ableh

nung des »abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den

geschichtlichen Prozeß ausschließt«106, aus dessen Perspektive die jeweiligen Fragestellungen und Resultate der Forschung erst ganz zu begreifen

sind. Natur erscheint immer nur im Horizont der Geschichte, die,

emphatisch gesprochen, nur den Menschen zukommen kann. Geschichte

aber ist zunächst und unmittelbar Praxis. Der Begriff der Praxis, wie die

Feuerbachthesen von 1845 ihn erreichen, ist der gerade theoretisch   wich

tigste M arxsche B egriff . A u f ihn ist immer wieder zurückzukom m en, w ill

man sich Klarheit darüber verschaffen, was bei Marx Materialismus heißtund mit welchem Recht dieser dialektisch genannt zu werden verdient.

Im Gegensatz zu allen sowjetmarxistischen Darlegungen ist der authenti

sche Marxismus kein naturalisierter Hegelianismus, der sich darin

erschöpft, ein ontologisches Substrat, den Geist, durch ein anderes, die

Materie, einfach zu ersetzen. Ebensowenig ist er, wie es Plechanow sich

geistesgeschichtlich zurechtzulegen suchte, eine »Synthese von Hegel

scher Dialektik und Feuerbachschem Naturalismus«. Daß er mit einer

mystischen Kosmologie, wie sie bei Bloch als Identitätsphilosophie entwik-kelt wird, nichts gemein hat, versteht sich am Rande. Das Wesen des

Marxschen Materialismus wird so lange verfehlt, als man ihn bloß als

innerphilosophische, gar weltanschauliche Alternative zu einem wie

immer gearteten Idealismus interpretiert. Er ist aber ebensosehr die —

freilich selbst noch philosophisch motivierte — Kritik und Aufhebung der

Philosophie als Philosophie. Gesamtgesellschaftlich-historisch orientiert,

 verm ag er sich in sofern über die Philosophie zu erh eben, als er die in nerphilosophischen Fragen, ohne deshalb ihren Sachgehalt zu leugnen, als

ein Abgeleitetes und Vermitteltes durchschaut. So büßt auch, was Engels

in seiner Feuerbachschrift als die »höchste Frage der gesamten Philo

sophie«107 bezeichnet, die nämlich »nach dem Verhältnis des Denkens

zum Sein, des Geistes zur Natur«, sehr an Gewicht ein, hat man sich

einmal verdeutlicht, daß Begriffe wie »Denken« und »Sein«, »Geist« und

»Natur« ebenso wie die naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen der

1 05 M a r x a n L a s s a l le , B r i e f v o m 3 1 . 5 . 1 8 5 8 , i n: M a r x / E n g e l s , W e r k e ,  B an d 2 9 ,1. c., S. 561.

106  D a s K a p ita l,  B a nd 1 , 1. c., S. 389.

107  L u d w ig F eu er b a ch ,  1. c., S. 28.

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Praxis entsprungene Produkte sind, mit deren Hilfe die Menschen

geschichtlich begrenzte, keine ewigen Probleme zu lösen suchen108.

Zwar geht das materielle Sein jeder Gestalt der historischen Praxis als

extensive und intensive Unendlichkeit voraus. Aber soweit es für die

Menschen bedeutsam wird, ist es gar nicht jenes abstrakt-materielle Sein,

das in seinem genetischen Primat von der Theorie als materialistischer

unterstellt werden muß, sondern ein Zweites, ein durch geschichtliche A rbe it Angeeignete s. A m gesellschaft lich verm ittelten C h arak ter dessen,

 was jeweils N a tu r heißt, h ä lt M arx w ährend seiner ganzen E n tw icklu ng

fest, wobei es ihm weniger um die wechselnden Inhalte des Naturbilds zu

tun ist als um die geschichtlichen Bedingungen seines Wandels. Noch in

einer seiner letzten Arbeiten, den Randglossen zu Adolph Wagners  L ehr-

buch der politischen Ökonomie   stellt er spöttisch fest, daß nur bei einem

»Professoralschulmeister« die »Verhältnisse der Menschen zur Natur von

 vornherein n icht praktis che, also durch die T a t begründete Verhältnisse

sind, sondern theoretische.. .«109. Die Menschen stehen jedoch zunächst

den äußeren Mitteln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht als

»Dingen der Außenwelt« schlechthin, das heißt in erkenntnistheoreti

scher Einstellung gegenüber. »Sie fangen, wie jedes Tier, damit an, zu

essen, zu trinken etc., also nicht in einem Verhältnis zu >stehen<, sondern

sich aktiv zu verhalten, sich gewisser  Dinge der Außenwelt zu bemäch

tigen durch die Tat, und so ihr Bedürfnis zu befriedigen. Sie beginnenalso mit der Produktion.. .«110 Diese Formulierungen von Marx sind

 jedoch nic ht im Sin ne ein er praktizistis chen T heoriefe in d sch aft zu ver

stehen. Die historische Praxis ist, wie schon bei Hegel, bei dem sie freilich

in letzter Instanz als eine Weise des Wissens bestimmt wird, in sich »theo

retischer« als die Theorie. Sie hat die Vermittlung von Subjekt und

O b jek t imm er schon geleistet — noch ehe sie zum Th em a der R eflexion

 w ird. A n dieser Ste lle zeigt sich ein w eiteres M al, daß Engels das Problemder Dialektik zu spät ansetzt. Wenn »materialistische Naturanschauung«

 w eiter nichts sein so ll »als ein fache A uffassu n g der N a tu r so, w ie sie sich

gibt, ohne fremde Zutat«111, so bedeutet das einen naiv-realistischen

R üc kfall hinter die von ihm selbst und M arx in der Polemik der  D e u t-

schen Ideologie   gegen Feuerbach bereits erreichte Position. So »wie die

Natur sich gibt«, ist sie zunächst keineswegs jenes aller Anthropomor-

1 08 E n g e l s s e lb s t le g t ü b r i g e n s e in e d e r a r t ig e B e t r a c h t u n g s w e i s e n a h e , w e n n e r , j e n e F r a g e

a u f w e r f e n d , z u g l e i c h h i n z u f ü g t , s ie h a b e » n i c h t m i n d e r a ls a l le R e l ig i o n , i h r e W u r z e l in

d e n b o r n i e r t e n u n d u n w i s s e n d e n V o r s t e l l u n g e n d e s W i l d h e i t s z u s t a n d s « .

1 0 9 M a r x / E n g e l s , W e r k e , Band 19 , Ber l in 1962, S . 362 f .

110 Ibid.1 1 1  L u d w ig F e u er b a ch ,   1. c., S. 80.

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seiten des Arbeiters, »in der Form der Unruhe«, das heißt zweckgerich

teter Tätigkeit, erschien. Stets also geht das Bewußtsein als tätiger Geist

in die von ihm reproduzierte Wirklichkeit ein. Vor ihr, die wie eine stei

nerne Wand um die Menschen herumsteht, nicht zu kapitulieren, ist die

 A u fgab e der Erkenntn is . Indem sie die in den ausgem achten Fakte n

erloschenen menschlich-geschichtlichen Prozesse wieder verlebendigt,

erweist sie die Wirklichkeit als von Menschen hervorgebracht und folg

lich veränderbar: Praxis als wichtigster Erkenntnisbegriff schlägt um in

den politischer Aktion.

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 beachtete T exte in die D is kussio n ein zuführen. D ah er seine philolo gis che

 A krib ie . K enner au f dem G ebiet der M arx-F orschu ng - so L ukäcs in

einem Brief an den Verfasser — haben denn auch den Fortschritt der

Dissertation in dem stärkeren Akzent erblickt, den sie auf die späten

Sch riften legte.

Heute sieht der Autor das gebrochene, seit Lukäcs, Korsch, Merleau-

Ponty und Sartre immer wieder erörterte Verhältnis von Marxismus undPhilosophie anders. War es ihm damals darum zu tun, im Abschnitt A des

I. Kapitels den sachlichen, von manchen Interpreten geleugneten Zusam

menhang des Marxschen mit dem philosophischen Materialismus über

haupt herauszupräparieren, so ist er heute der (im Buch bloß implizit

ausgesprochenen) Ansicht, daß der Marxsche Materialismus nur in zwei

ter Linie aus dem »innerphilosophischen« Gegensatz zum Idealismus zu

 verstehen ist; daß er zunächst eine (freilich selbst noch philosophisch

 belaste te , näm lich »bestim mte«) N e g a tio n vo n Ph ilosophie (ein schließ

lich der materialistischen) bildet. Insofern würde die zumal im I. Kapitel

enthaltene Charakteristik der Rolle Feuerbachs für die Marxsche Ent

 w icklu n g heute p ositiver ausfa llen. D e r V erfasser hat in der Stu die  Für 

eine neue Lektüre Feuerbachs   im I. Band seiner Feuerbach-Ausgabe

(.Anthropologischer Materialismus,  Frankfurt am Main/Wien 1967)

nachzuweisen versucht, daß gerade der Begriff »vermittelnder Praxis«,

den M ar x und E ngels polemisch gegen die U nm ittelbarkeiten Feuerbachskehrten, diesem selbst außerordentlich viel verdankt. Die anthropozen-

trisch-genetische Methode Feuerbachs, sein an der erkenntnistheoreti

schen Problematik der Alltagswelt orientierter Sensualismus und Realis

mus nehmen nicht nur die materialistisch-dialektische Lehre von der

Praxis als dem allgemeinen, jeweils historisch begrenzten Horizont vor

 w eg, w orin alle menschliche w ie außerm enschliche W irklichkeit

erscheint — sie sind zugleich geeignet, diese Lehre um wichtige Momente

zu bereichern (die von Marx und Engels wegen ihrer zu geringen zeitli

chen Distanz zu Feuerbach übersehen, von Plechanow und Lenin jedoch

dem An satz nach erfaßt w urden).

Der kritisch, nicht weltanschaulich-dogmatisch verstandene Materialis

mus betont die Unmöglichkeit, etwas über die gegenständliche Welt

auszumachen unter Abstraktion von den Formen ihrer praktisch-geisti

gen »Aneignung« durch die Gesellschaft, ohne deshalb die Objektivität

unseres Wissens historistisch, skeptizistisch od er ag no stizistisch zu bestreiten.

Nach wie vor vermögen Einwände von orthodoxer Seite den Verfasser

nicht zu überzeugen, die sich gegen seine Kritik der (vom späten Engels

fragmentarisch entworfenen) »Naturdialektik« im Abschnitt B des I.

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 Absage an E rkenntn is theorie : die Identit ät von Subje kt und O b jekt nicht

akzeptieren kann. D adu rch stel lt sich - objektiv — für M arx Kants Frage

nach den »Konstituentien« der Gegenstände von Erkenntnis wieder her

— nicht im Sinn einfachen Rekurses auf Transzendentalphilosophie, son

dern auf der Basis des von Hegels Kant-Kritik unwiderrufl ich Erreich

ten.

Das die »normale« Erfahrungswelt des Alltags, auf der letztlich auch die

 W issenschaften fu ßen, »Konstituie rende«, In tersubjektivit ät Sti fte nde ist

 bei M arx kein In b egriff aprio ris cher O rd nu n gsfu n ktionen eines ü berindivi

duellen »Bewußtseins überhaupt«, sondern »gegenständliche Tätigkeit«

— kollektive Praxis. Diese.bildet jeweils ein Ganzes von Produktionsver

hältnissen, das sowohl von einzelnen naturwissenschaftlichen, technolo

gischen und politischen Praktiken innerhalb des bereits Konstituierten

unterschieden werden m uß w ie von dem, was M arx »umw älzendePraxis« nennt und a uf einen qu alitativ neuen En tw ur f von W elt

abzielt.

Differenzierungen im Praxis-Begriff , die im vorliegenden Buch nicht im

mer so beachtet werden, wie es wünschenswert w äre. D as ha t einen jug osla

 wischen Reze nsente n hin sic htlich der U top ie-K o n zep tio n des IV . K apit els

zu dem technokratischen wie scientistischen Mißverständnis verleitet, als

glaube der Verfasser, M ar x sei es lediglich da rum zu tun gewesen, daß

sich die bestehenden Formen von Naturbeherrschung quantitativ stei

gern, während er, konträr, auf ein qualitativ Neues: die gesamtgesell

schaftliche Beherrschung der Naturbeherrschung hinauswollte. Wohl

 w äre es schlechte R om antik zu vergessen , d aß auch der von M arx ange

strebte Zustand noch der Funktionen instrumenteller Vernunft bedürfte.

 A b er in dem diese »finalisiert« , w ah rh aft m enschlichen Zw ecken unter

 w orfen w ird, verliert sie — das m achte die M arxsche H o ffn u n g aus — ihren

 beschränkten C h arak ter; H errschaft über N a tu r w ird befr eit von demFluch, zugleich eine über Menschen zu sein, blinde Naturgeschichte zu

perpetuieren.

Ein — allerdings wesentlicher — Punkt ist bei der Frage nach der Marx-

schen Utopie noch zu berühren. Angesichts der gegenwärtigen Situation,

in der die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft

immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, lesen sich auch die Marxschen

Frühschriften anders. Nicht daß es anginge, den Marxschen Übergang zur

politischen Ökonomie und ihrer Kritik zu widerrufen. Aber heute wird

deutlich, daß er teuer erkauft wurde. So wichtig es war, den Gedanken

der Vermitteltheit alles Unmittelbaren gegen seine idealistische Form zu

kehren und da m it festzuhalten, so sehr muß te in M arx ein Stück ideali

stischer Hybris fortwirken: daß das Seiende nichts an sich, sondern bloßes

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Material für Praxis sei. Auch dort, wo Marx das Negative daran aus

sprach. — Das Buch hebt zwar gelegentlich diesen Aspekt hervor, aber es

übersieht im ganzen, daß der reife Marx (auf den, wie gesagt, damals

energisch zu verweisen war) sich streckenweise ungewollt zum Komplicen

eben der Tendenz macht, gegen die sein Werk steht.

»Resurrektion der Natur«, »Humanisierung der Natur, Naturalisierung

des Menschen« — das sind heute keine Ausgeburten eschatologischer

Phantasie mehr. Von ihrem Gelingen hängt ab, ob die Menschheit in

einen vernünftigeren Zustand eintritt, ja ob sie überlebt. — Wer sich heute

mit dem Marxschen Naturbegriff beschäftigt, muß die emanzipatorische

Rolle der menschlichen Natur, die befreiende Kraft der »Sinnlichkeit« im

Den ken des jungen M ar x beachten. Au ch unter diesem A spe kt dürfte sich