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Themenheft III des NFP 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» Schwerpunkt Inwertsetzung?! Roundtable Leben, fördern und abwandern lassen Alpenwert

Alpenwert - SNF · für bestimmte, nicht direkt marktfähige Leistungen denkbar und auch volkswirtschaftlich effizient sein können. Die Kunst be-steht darin, die richtigen Anreize

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Themenheft III des NFP 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen»

SchwerpunktInwertsetzung?!

RoundtableLeben, fördern und abwandern lassen

Alpenwert

ImpressumHerausgeberNationales Forschungspro-gramm 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen»des Schweizerischen National-fonds

Konzept und RedaktionUrs Steiger, Kommunikations-beauftragter des NFP 48,Luzern

TexteProf. Dr. Bernard Lehmann,ZürichAndreas Stalder, BernFelix Walter, BernHelen Simmen, AltdorfStefan Christen, LuzernPirmin Schilliger, LuzernUrs Steiger, Luzern

ÜbersetzungUrsula Rohrer, Kastanienbaum

KorrektoratTextkorrektur Terminus,Andreas Vonmoos, Luzern

Grafikmartin.brunner.associésauf CD-Vorgabe von Grafik-atelier Max Urech, Unterseen

FotosPriska Ketterer, Luzern

FotomontagenSeite 11: Alexandre TangeriniSeite 13: Adrienne Grêt-Regamey, ETH Zürich, auf Basis von Bildern von Foto Furter, Davos

Juli 2006

Die Landschaft – insbesondere die Alpenlandschaft – trägt wesentlich zur hochbewerteten Marke «Schweiz» bei. Davon profitieren neben dem Schweizer Tou-rismus zahlreiche weitere Branchen der Schweizer Wirtschaft. Ob Schokolade- oderGetränkeindustrie, Banken oder Versicherungen, Werbewirtschaft oder Eventver-anstalter – alle berufen sich gerne auf die «Swissness» und nutzen vom Genferseeüber das Matterhorn und das Oberengadin bis zum Appenzellerland die monumen-tale oder liebliche Alpenlandschaft als Hintergrund für ihre (Werbe-)Botschaften.

Für Bevölkerung und Wirtschaft in der Alpenlandschaft selbst ist die Situation dabeinicht einfacher geworden. Die in der Schweiz verfolgte Strategie der flächende-ckenden Besiedlung hat – gestützt durch verschiedene Massnahmen wie Investi-tionshilfegesetz (IHG), Finanzausgleich, reduzierten Mehrwertsteuersatz für dasGastgewerbe sowie Agrarsubventionen – zwar Entwicklungen, wie sie in den Nach-barländern zu beobachten waren, im letzten halben Jahrhundert verlangsamt oderverhindert. Dennoch haben vor allem die peripheren Alpenregionen einen Brain-drain zu beklagen, und die jahrzehntelang dominierenden Wirtschaftsbranchendes Alpengebietes – die Landwirtschaft und der Tourismus – erleiden unter demDruck einer immer stärker werdenden globalen Konkurrenz schwere Zeiten.

Die Landschaft bleibt eine entscheidende natürliche Ressource des Alpengebietes,für welche sich in den urbanen Gebieten der Schweiz ebenso wie in Europa undÜbersee ein Nachfragemarkt findet. Innovation, wie sie mit der neuen Regionalpoli-tik angestrebt wird, ist bei der Inwertsetzung ebenso gefragt wie das Überwindenvon Strukturen, welche die Zusammenarbeit in den Regionen und zwischen den

Branchen behindern, und ein bewusstes Zugehen auf den urbanen Markt, der Land-schaft nachfragt und dabei Wert auf eine intakte oder wilde Landschaft legt.

Die Projekte des NFP 48, die sich mit der Raumnutzung und der Inwertsetzung vonLandschaft befasst haben, verdeutlichen den ökonomischen Wert der Landschaftund erhellen die diesbezüglichen Mechanismen. Sie zeigen zudem Wege auf, wieeine landschaftsschonende Entwicklung verfolgt werden könnte. Die Erkenntnisseaus den Projekten haben teilweise bereits Eingang in die nationale Diskussiongefunden. Dank der Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort werden vorgeschlageneStrategien von diesen aber auch in die laufende Arbeit integriert oder in Folgepro-jekten weiter vertieft.

Prof. Dr. Hans ElsasserMitglied der Leitungsgruppe

Alpenwert – Raumnutzungund Inwertsetzung

e d i to r i a l

Editorial1 Alpenwert – Raumnutzung

und Wertschöpfung

Schwerpunkt3 Inwertsetzung?!7 Interessensausgleich

beim Produkt «Landschaft» 8 Alpenwert und Alpenwerte

Forschungsprojekte9 Zum Lastenausgleich zwischen

Alpen und dem Rest der Schweiz11 Vom Wert der schönen Aussicht 13 Welches ist der Preis der Landschaft?

15 Das Unternehmen «Alpenregion»18 Tagesausflügler lassen sich

nur bedingt lenken 20 Grosse Pläne rund um einen wert-

vollen Berg22 Die Erreichbarkeit hilft den Desti-

nationen auf die Sprünge25 Service public am Berg:

Fakten statt Mythen28 Zukunftschancen mit Labelregionen31 Binntal: Potenzial für eine künftige

Labelregion

Roundtable33 Leben, fördern und abwandern lassen

Alpenwerte Themenheft III des NFP 48

Schwerpunkt 2

Inwertsetzung?!«Inwertsetzung» heisst dasneue Zauberwort. Wer kann wasin Wert setzen – und wie? Ver-such einer ersten Einordnung.

Forschungsprojekt 9

Das Unternehmen «Alpenregion»Ein Management-Modell und ein Monitoring-System sollen den Tourismusdestinationenhelfen, ihre Zukunft nachhaltig und mit gezieltenStrategien bewältigen und steuern zu können.

Roundtable 33

Leben, fördern und abwandern lassenVertreter von «Avenir Suisse», der Schwei-zerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berg-gebiete (SAB), und Wissenschaftler aus demNFP 48 trafen sich zum Gespräch.

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Inwertsetzung?!«Inwertsetzung» heisst das neue Zauberwort. Wer kann was in Wert setzen – und wie?Versuch einer ersten Einordnung.Text Felix Walter*, Ecoplan, Bern

schwerpunkt

Unbewachter Bahnübergang bei der Station «Boden» im Simmen-tal: Leicht gefroren ist er, der Boden unter den Füssen. Die Land-schaft taucht aus Schwaden von Morgennebel auf und zeigt ihrenWert im Licht der ersten Herbstsonnenstrahlen. Das Keucheneines ungeübten Joggers, ein langgezogenes Krächzen einesVogels – und das Plätschern der Simme. Der Puls jagt, und imKopf jagen sich erste Wortfetzen zum Aufsatzthema: «Inwertset-zung» – einen Fuss vor den anderen setzen, Spuren in den Frostsetzen, den Kreislauf in Gang setzen, Gedanken in den Sand set-zen, in Kraft setzen, Preis setzen, in Wert setzen … ohne Schweisskein Preis – und was bleibt nach der warmen Dusche …?

«Inwertsetzung von Landschaften und Lebensräumen» ruft nacheiner Begriffsklärung. Mein Duden und mein Wahrig kennen nur«Wertsendung». Google aber bringt es auf 37 500 Einträge zu«Inwertsetzung» und gar 1,67 Millionen für «mise en valeur». Die schöner klingende französische Variante ist also weiter ver-breitet, allerdings auch breiter.

Eine passende Definition ist schwierig zu finden.1 Vielleicht liessesich sagen: Die Inwertsetzung von Landschaften und Lebens-räumen umfasst die Identifikation und Nutzung verschiedenerihrer Elemente, die aus gesellschaftlicher, ökologischer oderwirtschaftlicher Sicht einen Wert darstellen. Am Beispiel desAlpenraums soll im Folgenden skizziert werden, um welcheWerte und vor allem welche Art von Nutzung es sich dabei han-deln könnte.

Die ökonomische SichtLandschaften und Lebensräume können ihre Ressourcen grund-sätzlich in Form von privaten oder öffentlichen Gütern «in Wertsetzen», also wirtschaftlich nutzen. Private Güter und Dienstleis-tungen sind beispielsweise Produkte der Berglandwirtschaft oderUnterkunft, Verpflegung und touristische Transportleistungen.Qualitätszeichen, so genannte «Labels», können eine Hilfe sein,um Konsumentinnen und Konsumenten den speziellen Wert von Produkten aus einer Region zu zeigen und zu garantieren. Die Rolle des Staates kann es sein, derartige Qualitätsbezeich-nungen zu schützen und damit einen funktionsfähigen Markt zu schaffen, in welchem Konsumentinnen und Konsumenten ent-scheiden können, ob ihnen ein Alpenprodukt einen Preisaufschlagwert ist.

Um öffentliche Güter handelt es sich – stark vereinfacht –, wennsie nicht ohne weiteres marktfähig sind. «Der Markt versagt», sagt die Ökonomie. Beispielsweise kann für saubere Luft undschönes Wetter kein Preis verlangt werden, weil die Konsumentin-nen und Konsumenten nicht vom Genuss dieser Güter ausge-schlossen werden können. In anderen Fällen – beispielsweise beieinem Naturpark – wäre es vielleicht teuer, aber möglich, Eintritts-preise zu verlangen. Volkswirtschaftlich wäre es aber sinnvoller,im Rahmen der Kapazitäten möglichst vielen Besuchenden denGenuss zu ermöglichen und sie nicht mit hohen Preisen davonabzuhalten. In beiden Fällen führt der Markt nicht zu volkswirt-schaftlich optimalen Lösungen. Was kann der Staat tun? Er kann

beispielsweise die «Produzenten» dieser öffentlichen Güter fürihre Leistung bezahlen, wie dies mit den Direktzahlungen für öko-logische Ausgleichsflächen der Fall ist. Der Preis ergibt sich dannnicht am Markt, sondern in der politischen Ausmarchung. Dabeihelfen auch Studien über den Nutzen solcher Güter bei der Festle-gung (vgl. auch Artikel S. 11 und S.13).

Die Gedankenfetzen des Morgen-Joggings tauchen wieder auf: Es gilt, Werte zu entdecken: Was wäre das Joggen ohne dieseBerglandschaft?! Und es gilt, ihnen den richtigen Preis zu geben.Inwertsetzung heisst deshalb auch Inkraftsetzung von Regeln,falls der Markt versagt.

… mehr als VermarktungDer ökonomische Ansatz zeigt deutlich: Es gibt eine privatwirtschaft-liche und eine volkswirtschaftliche Seite der Inwertsetzung. Die pri-vatwirtschaftliche Seite entspricht der «Vermarktung» im umfas-senden und positiven Sinn des Wortes: Natürliche Ressourcen wielandschaftliche Schönheit oder Schnee müssen geschickt mit Pro-dukten und Dienstleistungen kombiniert werden und einenAbsatzmarkt finden. Allerdings weht diesbezüglich ein rauer Wind:Die Konkurrenz ist gross und Nischen sind immer schwieriger zufinden. Doch gibt es interessante Beispiele, etwa das «Fluvarium-Kompetenzzentrum Wasser»2 oder die Bemühungen im internatio-nalen Netzwerk für den ländlichen Tourismus (www.destilink.net).

«Zu guter Letzt und jenseits politischer und ökonomi-

scher Debatten: Für mich hatte das morgendliche Land-

schaftserlebnis im Simmental auch einen emotionalen

Wert, und das macht ja die Debatten wohl so lebhaft.»

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Mit den künftigen Potenzialen der Landwirtschaft im Bergge-biet beschäftigten sich die Projekte von Priska Baur und vonStefan Pfefferli (SULAPS, Themenheft II, S. 20). Die Landwirt-schaft kann einen Beitrag zu einer für Touristen und Ansässigeattraktiven Landschaft leisten.

Die Verkehrserschliessung stellt eine wichtige Voraussetzungfür die Inwertsetzung im Tourismus dar: Das Projekt von KayAxhausen (vgl. S. 22) weist nach, dass sich die Erreichbarkeit inden letzten Jahrzehnten generell stark verbessert hat. Allerdingshat dies nur teilweise zu einem Bevölkerungswachstum oderzum wirtschaftlichen Aufschwung der Bergbahnen geführt.

Das Projekt FUNalpin von Martin Boesch (vgl. S. 28) beschäf-tigte sich mit der Frage, wie ein Label für eine Region entwickelt,zertifiziert und eingesetzt werden könnte. Zertifizierte Labels könn-ten die Entwicklungschancen einer Region stärken, sofern die Kon-sumentinnen und Konsumenten hinter dem Label einen wirklichenWert erkennen. Labels könnten aber auch eine Rolle spielen, wennes um die Abgeltung öffentlicher Güter durch den Staat geht.

Das Projekt von René L. Frey (vgl. Themenheft II, S,26) stelltunter anderem mögliche Finanzierungsformen zum Schutz alpi-ner Regionen dar – beispielsweise Umweltfonds (z.B. halb-staatliche Landtrusts) oder Entwicklungsrechte, die zwischenSchutzgebieten und Agglomerationen handelbar wären.

Die Ergebnisse des Projektes ALPAYS von Felix Walter(vgl. S.9) zeigen schliesslich, dass die Bevölkerung des Alpen-raums deutlich weniger Steuern bezahlt und pro Person mehrMittel aus dem Finanzausgleich und mehr Subventionenbezieht als die übrige Schweiz. Diese Unterstützung kann alsBereitschaft zum Lastenausgleich betrachtet werden.

Beiträge zur Inwertsetzung des NFP 48Verschiedene Projekte des NFP 48 haben zu den skizziertenFragen Ergebnisse geliefert. An dieser Stelle sollen einigeMosaiksteine beleuchtet werden:

Das Projekt von Nils Soguel (vgl. S. 11) zeigt, dass sich schöneLandschaften im Wert der Liegenschaften niederschlagen. Die Mietzinse steigen proportional zur Landschaftsqualität.Noch stärkeren Einfluss hat allerdings das Skipistenangebotdes jeweiligen Ortes. Andere Methoden der Landschafts-bewertung entwickelten die Projekte Bebi und Schwarzwälder(vgl. S. 15).

Das Projekt von Thomas Bieger und Heinz Rütter (vgl. S. 15)zeigt die möglichen regionalwirtschaftlichen und touristischenEntwicklungsstrategien auf. Besonders schwer haben es Regio-nen, die nicht in Agglomerationsnähe sind und nicht – odernicht mehr – über ein konkurrenzfähiges Tourismusangebotverfügen. Randregionen, so genannte «periphere Regionen» –haben es ebenfalls schwer.

Die Grundversorgung (Telekommunikation, Post, öffentlicherRegionalverkehr, Elektrizität) spielt dabei gemäss dem Projektvon Alain Thierstein (vgl. S. 25) in vielen Fällen nicht die ent-scheidende Rolle für die regionale Entwicklung.

Von Naturparks darf man sich – etwa gemäss dem Projekt vonErwin Rüegg (vgl. Themenheft II, S. 16) – nicht zu viel Einkom-men versprechen. Um zusätzliches Einkommen zu generieren,ist eine Kombination traditioneller Nutzungen mit neuenDienstleistungen, die vor allem Feriengäste anlocken, erforder-lich. Der Ressourcenaufwand für die Lancierung und denBetrieb eines Parks darf dabei nicht unterschätzt werden.

Die «volkswirtschaftliche Seite» offenbart, dass Abgeltungenfür bestimmte, nicht direkt marktfähige Leistungen denkbar undauch volkswirtschaftlich effizient sein können. Die Kunst be-steht darin, die richtigen Anreize zu setzen, damit wirklich dasgewünschte öffentliche Gut – zum Beispiel der Unterhalt einesGewässers oder die Pflege eines Wanderweges – produziertwird und nicht Fehlleistungen wie Milchschwemme und Butter-berge entstehen – und dazu noch ökologische Probleme. Kurzgesagt: Man muss das Schützen – oder den Willen zum Schüt-zen – nutzen (vgl. NFP 48-Projekt von Erwin Rüegg «Wie machtman Alpenlandschaften zum Entwicklungsfaktor?», Themen-heft II, S. 16).

Versuch einer Zusammenfassung in Thesen• Lokale Ressourcen – insbesondere Landschaften, aber auchwirtschaftliche Stärken – können entweder als private oder alsöffentliche Güter betrachtet und ökonomisch genutzt werden. Jenachdem sind Gegenleistungen (Abgeltungen) über den Marktoder aus dem Kreis der Nutzniessenden beziehungsweise von derAllgemeinheit (Staat) anzustreben.

• Private Güter – wie Lebensmittel aus der Berglandwirtschaftoder touristische Dienstleistungen – müssen auf dem Markt als«etwas Besonderes» positioniert werden, wobei die Qualität unddie Herkunft – allenfalls über Labels und Qualitätssicherungsver-fahren garantiert – einen wichtigen (Mehr-)Wert darstellen.

• Die landschaftliche Schönheit kann auch in Form nicht marktfä-higer Güter indirekt «vermarktet» werden – sei es durch die Nut-zung im Tourismus oder mittels Abgeltungen für die Bewahrungder Landschaft. Dafür besteht in der ganzen Schweiz eine Zah-lungsbereitschaft (Options- und Existenzwert). Im Falle einerAbgeltung ist die Gegenleistung – das heisst der entsprechende«immaterielle» Nutzen – mittels Leistungsvereinbarungen oderanderer Instrumente sicherzustellen.

• Der Alpenraum erwirtschaftet den grössten Teil seiner Mittelselbst. Der Tourismus spielt dabei eine grosse Rolle. Die Aus-gleichsbeiträge zugunsten des Alpenraums sind bedeutend.Ebenso bedeutend sind aber die Wohlstandsunterschiede, die trotz dieser Beiträge bestehen bleiben.

• In vielen Bereichen sind die Ausgleichsmechanismen heutenoch intransparent und ineffizient. Sie setzen falsche Anreize undhaben viele unerwünschte Nebenwirkungen. Gewisse Subventio-nen tragen zwar zum Schutz von Natur und Landschaft bei. Der negative Effekt auf Natur und Landschaft von Subventionen,die im Verkehr, in der Landwirtschaft und im Tourismus ausgerich-tet werden, dürfte jedoch viel grösser sein.

• Die Grundversorgung – der so genannte «Service public» – imBereich der Infrastrukturen ist für die wirtschaftliche Entwicklung in den Alpenregionen zwar wichtig. Andere Standortfaktoren sind aber von ebenso grosser oder noch grösserer Bedeutung. Zu beachten bleibt allerdings die «Summenwirkung» (kumulierterGesamteffekt) zahlreicher Massnahmen, welche die Standortgunstund die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Regionen beeinflussen.

• Die Erreichbarkeit von Alpenregionen spielt für den Tourismuseine bedeutende Rolle. Eine bessere Verkehrserschliessung kannaber ebenso negative Auswirkungen wie Abwanderung, Umweltbe-lastung und mehr Tagestourismus mit sich bringen wie zu positivenEffekten – beispielsweise zur Attraktivitätssteigerung – beitragen.

• Der Wert der Landschaft lässt sich über die Zahlungsbereitschaftmessen, zum Beispiel in Form höherer Mieten für Wohnungen inschöneren Landschaften oder in Form der Reisekosten, die in Kaufgenommen werden. Es gibt aber auch andere Bewertungssys-teme, die eine Annäherung an diesen Wert erlauben. Ein «Rechtfür Abgeltung» lässt sich daraus aber nicht direkt ableiten.

• Die moderne Regionalpolitik setzt auf Innovationen und die krea-tive Nutzung lokaler Ressourcen. Das wirtschaftliche Potenzialdieser Strategien bleibt allerdings begrenzt. Die Qualitätssiche-rung über Labels und das gezielte Monitoring der nachhaltigenregionalen Entwicklung sind Ansätze, die zur Nutzung des wirt-schaftlichen Potenzials ohne Gefährdung der Umwelt beitragenkönnen. Viele Alpenregionen werden trotzdem auf direkte Unter-stützung – beispielsweise den Finanzausgleich – angewiesen blei-ben. Das Ausmass der dezentralen Besiedlung und die hierfürgeäusserte Zahlungsbereitschaft in Form von Transfers aller Artbleiben damit eine politisch wichtige Frage.

1 Eines der wenigen Beispiele: Fachhochschule Erfurt; http://www.fh-erfurt.de/la/fopo/ipbrach/Fachlexikon%20Inwertsetzung.htm (28.10.2005) «Inwertsetzung von Freiraum: Es handelt sich dabei um einen Qualitätsbegriff, der sich aus Merkmalen wie Gesundheitswert,Sozialraum, Stadtnatur, Ästhetik, Geschichts- und Kulturwert erklärt. Die Qualität des Freirau-mes trägt unmittelbar zur Verbesserung der Lebensqualität bei. So führt z.B. ein verbessertesStadtklima (weniger Luftverschmutzung, geringere Lärmbelästigung) zu besserer Erholungund Gesundheit der Bewohner. (…) Aus den Merkmalen wie Gesundheitswert, Sozialraum,Stadtnatur, Ästhetik, Geschichts- und Kulturwert lassen sich Strategien entwickeln, welchez.B. die Verbesserung von Aufenthaltsqualität und des Stadtklimas zum Ziel haben können.»

2 Siehe seco/are (2005): info-bulletin regio+ / interreg 7/2005, www.regioplus.ch

* Felix Walter leitete das NFP 48-Projekt ALPAYS sowie die thematische Synthese IV. Felix Walter ist Partner der Forschungs- und Beratungsfirma Ecoplan in Bern und Altdorf und warunter anderem Programmleiter des NFP 41 «Verkehr und Umwelt».

Die thematische Synthese IV erscheint Ende September 2006 im vdf-Verlag, Zürich

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Interessenausgleich beim Produkt «Landschaft» Text Bernard Lehmann, Prof. für Agrarökonomie ETH Zürich, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 48Urs Steiger, Kommunikationsbeauftragter NFP 48

Vielfalt prägt den AlpenraumKaum etwas liegt weniger brach als das Interesse für die Alpen.Alle wollen etwas von ihnen – nur alle etwas anderes: Landwirt-schaft, Erholung, Wildnis, Kultur, Sport. Mit seiner aussergewöhn-lichen Vielfalt bietet das seit Jahrhunderten besiedelte Alpenge-biet dabei einzigartige Voraussetzungen, dass alle auf ihreRechnung kommen könnten. In der alpinen Landschaft finden sichebenso ruhige Erholungszonen wie hektische Ressorts mit einembreiten Sport- und Eventangebot. Die durch Land- und Forstwirt-schaft genutzte Landschaft bewahrt ebenso kulturelle wie ökolo-gische Werte. Natürliche Ressourcen wie Wälder, Wiesen und Wei-den – die prägenden Ökosysteme des Alpengebietes – bildendabei die wesentliche Grundlage für die direkte land- und forst-wirtschaftliche Nutzung und die indirekte Nutzung durch Tou-rismus, Naturschutz usw. Die Nutzungen selbst – ob direkt oderindirekt – wirken in positiver oder negativer Weise wieder auf dienatürlichen Ressourcen zurück. Beispielsweise hat erst die jahr-hundertelange Bewirtschaftungsvielfalt der Alpwiesen und -wei-den die hohe Biodiversität der Alpen hervorgebracht, welcheheute durch den Trend zu monotoner und intensiver Nutzung wie-der vermindert wird.

Ausgewogenheit anstrebenUm die günstigen Voraussetzungen für die langfristige Nutzungim Alpenraum nicht zu gefährden, sind Ausgewogenheit in derNutzung des Raumes und eine gute Mischung der in ihm produ-zierten Produkte (Güter und Dienstleistungen) erforderlich. Vorallem auch deshalb, weil die verschiedenen Nutzungen aufeinan-der angewiesen sind. Ein Sportressort etwa braucht eine Touris-musinfrastruktur mit Kunsteisbahn, Golfplatz und Skipistenebenso wie die unberührte, verschneite Winterlandschaft mit wei-ter Aussicht. Die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenenJahrzehnte hat dabei das Gleichgewicht verschoben.

Produzierte eine funktionsfähige Landwirtschaft lange «schöneLandschaft» praktisch als Nebenprodukt der Nahrungsmittelher-stellung, ist dies heute nicht mehr der Fall. Da die Landwirtschaftals Folge der Globalisierung nicht mehr kostendeckend produzie-ren kann, gibt es auch schöne Landschaften nicht mehr zum Null-tarif. Gleichzeitig haben Landschafts- und Naturschutz, die einenweitgehenden oder vollständigen Verzicht auf Inwertsetzung ver-langen, aus verschiedenen Gründen an Bedeutung gewonnen. Umdiese Form der Nutzung sicherzustellen, ist der Verzicht auf Nut-zung abzugelten.

Verhandlungssache «schöne Landschaft»Bis vor wenigen Jahren war «Landschaft» ein Nebenprodukt derNutzung der natürlichen Ressourcen. Das Spektrum reichte dabeivon Verschandelung bis zu Landschaften nationaler Bedeutungwie dem Lavaux am Genfersee. Um schöne Landschaften im Sinnedes Umwelt- und des Landschaftsschutzes zu bewahren, wurdenin den letzten Jahrzehnten Vorschriften und Anreizsysteme einge-führt. Damit wird ein Marktversagen korrigiert. Denn wer sichallein auf den Markt ausrichtet, leistet nicht mehr dasselbe imBereich Landschafts- und Umweltschutz. Wer sich auf Letzteresausrichtet, verliert Geld und Wettbewerbsfähigkeit. Derartigepotenziell entgangene Gewinne werden als Opportunitätskostenbezeichnet, die bisher in Bezug auf die Landschaft nicht oder nurin Ausnahmefällen gedeckt wurden. Ein Beispiel für die Abgeltungder Opportunitätskosten sind beispielsweise die Ausfallentschä-digungen für entgangene Wasserzinsen beim Verzicht auf dieWasserkraftnutzung in der Greina. Direktzahlungen in der Land-wirtschaft, welche die ökologische und landschaftspflegerischeLeistung der Bauern abgelten, würden den Verzicht auf intensiveNutzung zugunsten «schöner Landschaft» mit einem bestimmtenökologischen Standard abgelten. Die Höhe dieser Abgeltungenbleibt Gegenstand der (politischen) Verhandlungen zwischen demAlpenraum und der übrigen Schweiz. Im Rahmen dieses Dialogswird das Gleichgewicht gesucht zwischen dem Gestaltungsraumder Alpenbewohnerinnen und -bewohner und dem öffentlichenGut Landschaft. Mit Gewissheit kann der Alpenraum dabei die bis-her gepflegte und bewahrte Landschaft als wichtige Ressourceund stark nachgefragtes Gut einbringen.

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«Landschaften» einschliesslich ihrer Lebensräume, aber auchdie «Alpen» sind derzeit kein attraktives Thema. Landschaf-ten interessieren nur noch, wenn wir nachweisen können, dassmit ihnen rasch, viel und sehr direkt Geld verdient werden kann.Das ist «Wert-Schöpfung», bloss auf eine eindimensionale Sicht-weise reduziert. «Alpen» – ihre Bewohner, ihre Ressourcen – werden, wie andere periphere Regionen, zunehmend auf Kos-tenfaktoren reduziert. Der Beitrag der Landschaften und Lebens-räume an unser Wohlbefinden, an unseren Wohlstand, machtzwar vielleicht auch einen zweistelligen Prozentanteil aus, dochklimpert er nicht wie eine «Slot Machine» und setzt sich ausunbequem vielen und komplexen Aspekten zusammen. Er musserarbeitet, erlebt und zuallererst auch überhaupt wahrgenom-men werden.

Umso erfreulicher ist es, dass sich die Wissenschaft, dass sichInstitutionen wie der Nationalfonds mit seinen nationalen For-schungsprogrammen mit den Landschaften des Alpenraumesbeschäftigen. Die Forscherinnen und Forscher liefern einen wert-vollen Beitrag zur Sensibilisierung auf das Thema «alpine undandere Landschaften». Sie liefern uns – den in der Verwaltung undPolitikumsetzung Tätigen – mit ihren Beiträgen wertvolle Unter-stützung in Form differenzierter Entscheidungsgrundlagen undneuer disziplinübergreifender, methodischer Ansätze für die tägli-che Arbeit. Sie liefern Argumente gegen jene, die ihre allzu oftbloss partikulären Interessen mittels undifferenzierter Nutzungöffentlicher Güter «in Wert setzen» möchten und dabei die öffent-lichen Interessen und insbesondere diejenigen künftiger Genera-tionen gering schätzen.

Den Landschaftsforschenden möchte ich den Rücken stärken mitdem Hinweis auf das moderne Landschaftsverständnis, das dieLandschaft immer mehr versteht als

• Gesamtraum mit allen seinen Naturräumen, Kulturlandschaftenwie auch wachsenden urbanen Räumen, • Ausdruck des gewachsenen kulturellen Erbes und seiner konti-nuierlichen Weiterentwicklung sowie• Ausdruck unserer Wahrnehmung, die vor dem Hintergrund unse-rer gesellschaftlichen Werte erfolgt.

In diesem Sinne bitte ich die Forschungsgemeinschaft: Beschäf-tigen Sie sich einlässlich und eindringlich mit dem Thema«Werte» in allen seinen Facetten und helfen Sie mit, die vorherr-schende eindimensionale, auf «Wertschöpfung» reduzierte Sicht-weise zu überwinden. Dabei kommt der Kommunikation zentralerStellenwert zu: Helfen Sie deshalb mit, die Erkenntnisse leichtverständlich hinauszutragen, damit in der breiten BevölkerungInteresse geweckt, Betroffenheit erzeugt und Verantwortungübernommen werden kann. Damit belegen Sie als Forscherinnenund Forscher die Relevanz Ihrer Arbeit und erreichen Glaubwür-digkeit und Anerkennung!

* Andreas Stalder ist Chef der Sektion «Landschaft und Landnutzung» des Bundesamtes für Umwelt und in verschiedenen Begleitgruppen der thematischen Synthesen des NFP 48vertreten. Er präsentierte den vorliegenden Text als Moderator an der «Phil.Alp»-Tagung imJuni 2005 in Bern.

Text Andreas Stalder*, Bern

ESSAI

Alpenwert und Alpenwerte

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Wilhelmine: Hallo Walter, schön, dich wieder mal zu treffen. Du stu-dierst ja jetzt schon seit vielen Jahren im Unterland, denkst du über-haupt noch an die Alpen?

Walter: Aber sicher, liebe Wilhelmine, wir haben gerade herausge-funden, dass ihr Alpenbewohner uns Unterländern das Geld aus

dem Sack zieht und auf unsere Kosten die schöne Alpenluftgeniesst – oder frei nach Rütlischwur – äh, Rütlischwur nach (RenéL.) Frey: «Wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern, koste es,was es wolle, und ohne zu lästern.»

Jetzt pass aber auf, die Provokation mit dem Hut hatten wir doch

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Walter und Wilhelminezum Lastenausgleich zwischen den Alpen und dem Rest der Schweiz

Der folgende Dialog zwischen Walter und Wilhelmine ist dem Forschungsbericht«Die Alpen und der Rest der Schweiz: Wer zahlt – wer profitiert?» entnommen. ImProlog dieses Berichts haben die Autorin und der Autor* zentrale Erkenntnisseihrer Arbeit in eine prononcierte, nicht wissenschaftlich ausgewogene Formgebracht. Bewusst werden dabei auch Klischees angesprochen, um die Span-nungsfelder und die Brisanz der einzelnen Themen aufzuzeigen. Zu Worte kom-men dabei die Alpenbewohnerin Wilhelmine und der Stadtbewohner Walter. Nichtzuletzt bringt der Dialog die unterschiedliche Herkunft der Forscherin und desForschers zum Ausdruck.

Text Felix Walter, Bern, und Helen Simmen, Altdorf

forschungsprojekt

früher schon mal, und jetzt soll uns ein Doktorhut aus dem Unter-land in Rage bringen?

Nein, nein, [zieht einen Apfel aus dem Sack] diesen Apfel esse ichlieber; und wir mögen euch ja das Geld gönnen. Aber wenigstenssolltet ihr aufhören, immer zu jammern.

Genug der Worte, nun will ich endlich Fakten sehen.

Vor diesen Fakten kannst du wahrlich den Hut ziehen: Erstenszahlen wir den Älplern fast 6 Milliarden für ihre griesgrämige Gast-freundschaft im Tourismus.

Aber halt, als alte Lateinerin sage ich «do ut des» – ihr gebt, damiteuch gegeben wird. Euer Nutzen ist ja mindestens so hoch wiediese 6 Milliarden.

Stimmt, aber bei den Subventionen ist es anders, da kriegt ihr pro Kopfvon der neuen Eidgenossenschaft 3200 Franken, und wir nur 2700.

500 Franken mehr pro Jahr ist ja nicht so viel, kaum ein Tageslohneines Unterländer Professors – wir haben doch viel höhere Mehr-ausgaben, denk nur an den Transitverkehr, die Lawinen und so.

Es sagt ja auch niemand, dass ihr alle im Lawinenhang eure Cha-lets bauen müsst – und überhaupt, an Bundessteuern zahlen wirpro Kopf doppelt so viel wie ihr Älpler, nämlich 4200 pro Kopf,und ihr nur 2000 Franken.

Wir haben ja seit 1291 auch keine Kopfsteuern mehr, sondern einesoziale Marktwirtschaft. Da wollen wir doch hoffen, dass ihr Frei-enbacher und andere «Usser-Schwyzer» nach all den Abzügennoch etwas abliefert.

Trotzdem: Ihr kassiert pro Kopf einen Fünftel mehr Subventionenals wir, und umgekehrt zahlt ihr pro Kopf nur halb so viel Steuernwie wir für unsere neueidgenössischen Aufgaben. Und beimFinanzausgleich beträgt der Unterschied nochmals 700 Frankenpro Kopf zu euren Gunsten.

Aber dafür profitieren doch vor allem die Berner und Zürcher vonden Bundesaufträgen und den Bundesangestellten.

Das stimmt, aber der Unterschied bei den Bundesaufträgen istsehr klein: Wir bekommen pro Kopf für 490 Franken Bundesauf-träge, ihr nur für 410. Bei den Löhnen ist die Differenz schon grös-ser, da bekommen wir netto rund 300 Franken pro Kopf mehr.

Und dann die Wasserzinsen: Da verwehren uns ja die Vögte ausdem Unterland, dass wir endlich einen gerechten Preis für unserGefälle verlangen können.

Seid froh, dass ihr die Wasserzinsen überhaupt noch bekommt,denn es sind immerhin 250 Millionen pro Jahr, die wir Unterländervia Strompreis zu euch hinaufschicken. Und wenn wir schon beimStrom sind: Eure Stromnetze sind ja viel teurer, und deshalb müss-tet ihr eigentlich 29 Millionen mehr zahlen als heute – Verursa-cherprinzip, meine liebe Wilhelmine. Leider sind die Preise imOber- und im Unterland gleich hoch statt verursachergerecht; es ist also eine Quersubvention auf unsere Kosten.

Und jetzt sagst du sicher, bei den Strassen seien’s nochmals einpaar Millionen, dabei haben wir doch den Gotthardtunnel für euchUnterländer gebaut.

Tatsächlich, bei den Strassen seid ihr die Geprellten, denn euchbleiben trotz Subventionen hohe Restkosten, die eigentlich dieMitbenutzerinnen und Mitbenutzer aus dem Unterland zahlenmüssten; das macht immerhin 150 Millionen aus.

Oh, Zahl um Zahl – und die Moral von der Geschicht’?

… so einfach ist die nicht …

Du meinst: Zur Armbrust griff der Tell einst in der hohlen Gasse,der heut’ge Älpler geht mit hohler Hand zur Bundeskasse?!

… so einfach ist die nicht!

Zwar fliesst viel Geld ins Alpenland, aus Privat- und Bundeshand.Doch trägt der Älpler wirklich schwere Lasten, da wollt ihr ZürcherBankers noch entlasten?! Zu viel, zu wenig? … gibt die Schweiz fürAusgleich aus? Entschieden wirds im Bundeshaus! Hierzu Faktenliefern war das Ziel, und dafür krampften wir gar viel.

Schau vorwärts, Walter, und nicht hinter dich!

* Felix Walter, ecoplan, Bern und Altdorf, war Leiter des Forschungsprojekts «ALPAYS – AlpineLandschaften: Wer zahlt was? Kosten- und Nutzenströme zwischen Alpengebiet und ‹Rest-Schweiz› sowie Reformvorschläge». Walter ist zudem Verantwortlicher der thematischen Syn-thesen III, «Verhandlungsprozesse und andere Instrumente der Landschaftsgestaltung», und IV, «Wirtschaftliche Inwertsetzung von Landschaften und Lebensräumen», des NFP 48.

Helen Simmen ist Mitarbeiterin bei ecoplan und Hauptautorin des Forschungsberichtes «Die Alpenund der Rest der Schweiz: Wer zahlt – wer profitiert?» (vdf-Verlag Zürich, ISBN 3-7281-3013-3).

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Vom Wert der schönen Aussicht

Um in den Genuss der Alpenlandschaft zu kommen, reisen Erholungsuchendeweit. Doch ist ihnen die alpine Landschaft auch etwas wert? Wie schlägt sich dieSchönheit der Aussicht und des Ortsbildes beispielsweise auf die Mietzinsen nie-der? Die Ökonomen Nils Soguel* und Alexandre Tangerini** haben sich dieserFrage angenommen und die Mietpreise von 500 Wohnungen in sechs Walliser Ski-orten untersucht. Schlussfolgerung: Erholungsuchende und Einheimische stellennicht immer dieselben Ansprüche.

forschungsprojekt

Text Anna Hohler, Lausanne

Die Überschrift des Berichtes lässt aufhorchen: «Monetäre Eva-luation der Landschaftsqualität». Wie kann einem Panorama, wiees sich von einer bestimmten Terrasse aus präsentiert, ein Preisin Schweizer Franken zugeordnet werden? Oder der Aussicht ausunserem Schlafzimmer? Oder aus der Wohnung der Nachbarn?Dazu Nils Soguel: «Unsere Studie basiert auf den Grundsätzender so genannten ‹Ökonomie des Glücks›. Um Entscheide zu fäl-len, die sich optimal auf die Zufriedenheit der Haushalte auswir-ken, muss eine Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt werden. Es ist jaauch nicht so, dass etwas, das keinen Preis hat, deshalb keinenWert hätte. Vor dem Bau eines Skiliftes müssen auch diejenigenKosten berücksichtigt werden, die aus diesem Eingriff in die Land-schaft entstehen. Man sucht nach Methoden, mit denen der Wertvon Dingen oder Dienstleistungen bestimmt werden kann, die kei-nen Marktwert besitzen – in diesem Fall der Wert der Landschaft.»Eine dieser Methoden beruht auf dem hedonistischen Preismodell.«Dabei geht es darum», so Soguel, «die Beziehungen zwischen

dem Preis einer Sache und seinen verschiedenen Eigenschaftenherauszuschälen. Welche Merkmale lassen beispielsweise denPreis eines Personenwagens steigen? Wer eine Wohnung mietet,mietet auch deren Eigenschaften: eine gewisse Anzahl Wohn-räume, einen Ausbaustandard, einen bestimmten Balkon mit einerbestimmten Aussicht. Im Bereich der Umweltökonomie wurde dieMethode des hedonistischen Preismodells bisher auf Aspekte wieLärm oder Luftqualität angewandt. Der Fokus auf die Landschaftzwingt dazu, eine messbare Grösse zu finden, mit deren Hilfe dieQualität einer Landschaft ausgedrückt werden kann.»

Das Projektteam erhob und codierte Daten von über 500 Wohnun-gen in sechs verschiedenen Walliser Skiorten (Anzère, Champéry,Grimentz, Haute-Nendaz, Ovronnaz und Verbier). Erhoben wurdenetwa die Anzahl der an Touristen vermieteten Wohnungen (80%aller untersuchten Wohnungen), lokale Merkmale jedes Skiortes(Anzahl Restaurants, Länge der Skipisten usw.), strukturelle Merk-

Mietzins für eine 3-Zimmer-Wohnung in Abhängigkeit von derästhetischen Landschaftsqualität (Quelle: Soguel &Tangerini)

male und die Umgebung der Wohnungen (Alter des Gebäudes,Anzahl Wohnräume usw.). Insgesamt wurden fast neunzig Para-meter erfasst – dabei auch Aspekte wie das Vorhandensein einerKaffeemaschine, eines Schliesssystems für die Haupteingangstüroder die Anzahl der Schneekanonen in jedem Skigebiet. Ob esgelingt, denjenigen Anteil der Miete zu bestimmen, der für dieQualität der umgebenden Landschaft eingesetzt wird, hängt alsounter anderem davon ab, wie vollständig alle anderen Faktorenaufgelistet werden, die einen Einfluss auf die Miete haben.

Nur drei Faktoren blieben schliesslich übrig, die direkt mit derLandschaft in Beziehung stehen: die Qualität der verbauten Umge-bung, diejenige der natürlichen Umgebung und die so genannte«Leinwand» – ein Begriff, der sich auf die (gebogene) Projektions-fläche eines Kinos bezieht. Zur Ermittlung dieser Grösse wird fürjedes Fenster einer Wohnung die in 20 Meter Distanz sichtbareFläche der Landschaft bestimmt und pro Wohnung zusammenge-zählt. Diese Variable – von den Autoren auch «Zugang zur Land-schaft» genannt, lässt sich relativ einfach berechnen und gibt dieGesamtheit des Panoramas wieder, das von allen Fenstern undBalkonen einer Wohnung aus zu sehen ist.

Die Auswertung zeigte: Für eine Durchschnittsferienwohnungbeläuft sich die Monatsmiete in den untersuchten Destinationenauf 5665 Franken. Die Durchschnittswohnung umfasst 2,7 Zim-mer, befindet sich in einem Wohnblock mit 27 Wohnungen undwurde Ende der 1970er-Jahre gebaut. Sie weist einen Landschafts-zugang von 580 m2 auf, liegt in einer einigermassen ruhigenUmgebung und ist von mittlerer Helligkeit. Die mittlere Tiefe desBalkons oder der Balkone beträgt 2,5 Meter.

Welche Rolle spielt jetzt aber die Qualität der Siedlung und derunverbauten Landschaft? Aus Gründen der Machbarkeit gingenSoguel und Tangerini davon aus, dass diese zwei Faktoren inner-halb eines Skiortes konstant sind. So wählten sie für jeden Orteine Reihe repräsentativer Bilder der Siedlung – zum BeispielHauptstrasse oder -platz – sowie der offenen Landschaft (typi-sches Panorama). Diese Bilder legten sie einer Expertengruppevor, die sich aus Fachleuten des Tourismus, der Umweltwissen-schaft und der öffentlichen Institutionen zusammensetzte. Für die

Auswertung wurde das so genannte «Macbeth»-Verfahren («mea-suring attractiveness by a categorical-based evaluation techni-que») verwendet. Dabei müssen die Teilnehmerinnen und Teilneh-mer die Fotos entsprechend ihrer eigenen Bevorzugung einordnenund die Abweichungen definieren. Ein Algorithmus berechnet dar-aufhin für jeden Ferienort eine Note zwischen 0 und 1.

Auf Grund dieser Rangierung ergibt sich eine klare Reihenfolge:Grimentz hat das schönste Dorfbild – weit vor Champéry. Anderer-seits wurde das Panorama von Champéry vor jenem von Verbieram höchsten bewertet. Haute-Nendaz rangiert in beiden Kate-gorien an letzter Stelle.

Aus diesen Bewertungen leiten Soguel und Tangerini ab, dass eine«Landschaftssicht» von 3530 m2 den Mietwert einer Ferienwoh-nung im Vergleich zu einer Wohnung mit absolut versperrter Aus-sicht um 592 Franken erhöht. Während sich die Mietpreise vonFerienwohnungen und von Wohnungen Einheimischer bezüglichdes Panoramas gleich verhalten, bewirkt eine bessere Ortsbildqua-lität zwar höhere Mieten bei den Ferienwohnungen, wirkt jedochreduzierend auf die Mietzinsen der Einheimischen. Ähnliche Unter-schiede zeigen sich auch in Bezug auf Skipisten und Wanderwege:Die Touristen bezahlen gerne mehr, wenn sie mehr Skipisten zurVerfügung haben. Für die Bewohner trifft dies nicht zu.

Es ist also tatsächlich so, dass Touristen und Einheimische derLandschaftsqualität ihres Ferien- oder Wohnortes eine gewisseBedeutung zumessen. War das nicht vorhersehbar? «Gewiss»,meint Nils Soguel, «dennoch musste dieses Faktum bewiesen undberechnet werden. Die bedeutendsten Resultate sind vielleichtdiejenigen, welche den Unterschied zwischen Touristen undBewohnern aufzeigen und die für die künftigen Entwicklungsstra-tegien der Ferienorte von grosser Bedeutung sind.» Wie erklärtsich beispielsweise die etwas seltsame Feststellung, dass die Einwohnerinnen und Einwohner eine geringere Ortsbildqualitätvorzuziehen scheinen? «Wenn Sie das ganze Jahr in einem Ortwohnen, legen Sie vielleicht mehr Wert auf Funktionalität als aufAuthentizität. Das ist jedoch nur eine Hypothese.» Weist dies darauf hin, dass authentisch gleichbedeutend ist mit ästhetisch –und funktionell mit hässlich? «Ein solche Bewertung hängt ver-mutlich vom Ort ab», antwortet Nils Soguel. «Für Skiorte trifft diesanscheinend zu. In einer urbanen Umgebung ist die Situationgewiss anders.»

* Prof. Dr. Nils Soguel, Lehrstuhl für öffentliche Finanzen am Hochschulinstitut für öffentlicheVerwaltung, Idheap, Lausanne, Projektleiter des Projekts «Der Wert der Landschaft aus Sichtvon Bewohnern und Touristen: Schattenpreise und Ausgleichsstrategien».

** Alexandre Tangerini, Projektmitarbeiter

Kontakt: [email protected]

Die Studie von Nils Soguel und Alexandre Tangerini erscheint 2006 unter dem Titel «MonetäreEvaluation der Landschaftsqualität» im vdf-Verlag, Zürich.

Relative Landschaftsqualität

Ferienwohnungen

Wohnungen Einheimischer

0.30 0.1 0.2 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1

500

1500

2500

3500

4500

5500

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Haute-Nendaz Anzère Grimentz Ovronnaz Verbier Champéry

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forschungsprojekt

Welches ist der Preis der Landschaft?

Die Landschaft hat als öffentliches – also allen zugängliches – Gut keinen markt-fähigen Preis. Der Landschaft fehlt damit ein quantifizierbarer Wert, der sich mitanderen Leistungen einer Region vergleichen liesse. Dadurch hat die Landschaftbei Planungsentscheiden oder im Konfliktfall oft schlechte Karten. Mit Studienzur Zahlungsbereitschaft haben Kati Baumgart * und Adrienne Grêt-Regamey **in zwei NFP 48-Projekten Grundlagen erarbeitet, um diese Lücke zu füllen.

Um wie viel teurer darf für Sie eine Ferienwohnung sein, wenn damitdie bauliche Erweiterung von Davos unterbleibt oder keine neuenSkipisten in das Waldgebiet geschlagen werden? Wie viel höher darfdie Kurtaxe ausfallen, wenn in Mürren auf den Bau eines Hotelkom-plexes oder einer Ferienhaussiedlung verzichtet wird? Oder: Wieviel mehr Steuern wären Sie bereit zu zahlen, wenn damit die tradi-tionelle Kulturlandschaft in Ihrer Gemeinde erhalten bliebe und soder Verbuschung und Verwaldung Einhalt geboten werden könnte?

22 Franken mehr pro Skiwoche für Verzicht auf Bautätigkeit Mit Fragen zu möglichen Landschaftsveränderungen im RaumeDavos konfrontierte Adrienne Gret-Regamey Teilnehmerinnen undTeilnehmer einer Internet-Umfrage. Kati Baumgart befragte dieEinwohnerschaft sowie Touristinnen und Touristen in den Gemein-den Grindelwald, Mürren und Brienz zu drei möglichen land-schaftsverändernden Projekten mit Hilfe eines Fragebogens. Inbeiden Studien dienten Fotomontagen dazu, die Landschaftsver-änderungen fassbar zu machen.

In der Internet-Befragung zu den Landschaftsszenarien in Davossprach sich eine Mehrheit der 266 Teilnehmenden für die Beibe-haltung des heutigen Zustandes aus. Im Durchschnitt wären dieBefragten bereit, für die Miete einer Ferienwohnung maximal22 Franken pro Woche mehr auszugeben, wenn damit das Sied-lungsgebiet nicht ausgedehnt würde und das aktuelle Land-schaftsbild erhalten bliebe.

Indifferenz gegenüber VerwaldungGegenüber der Waldausdehnung waren die Befragten eher gleich-gültig. Zwar äusserten sie mehrheitlich eine Vorliebe für eine nichtallzu starke Verwaldung, waren aber nur zur Hälfte auch bereit,dafür in die Tasche zu greifen. Diese Indifferenz gegenüber derVerwaldung zeigt sich auch in der ausführlicheren Studie von KatiBaumgart. Eines ihrer fiktiven Projekte in Brienz im Berner Ober-land hatte zum Ziel, mit 75 000 beziehungsweise 130 000 Fran-ken die Verbuschung und Verwaldung der Kulturlandschaft auf124 beziehungsweise 214 Hektaren zu unterbinden. Die befragten

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Touristen und die Bevölkerung zeigten diesbezüglich generelleZurückhaltung. Sie signalisierten zwar Bereitschaft zur Unterstüt-zung des Projekts, vorausgesetzt, dass der Nutzen klar erkennbarsei. Vor allem die Touristen legten Wert auf eine Vergrösserung desLebensraums von Tieren und Pflanzen. Sie wären bereit, für diebevorzugte Projektvariante pro Aufenthalt 19 beziehungsweise 14 Franken mehr Kurtaxe zu zahlen. Die Wohnbevölkerung anderer-seits würde dafür eine Steuererhöhung von 90 beziehungsweise68 Franken in Kauf nehmen.

Wie in Davos zeigten auch bei einem weiteren fiktiven Projekt inMürren BE die Befragten keine Begeisterung für eine Erweiterungdes Siedlungsgebietes. Zu bewerten waren ein Hotel-/Apparte-mentkomplex mit Flachdach oder Satteldach, eine Ferienhaussied-lung und die Erhaltung der heutigen Landschaft. Deutlich bevor-zugt wurde von den Befragten jedoch die Landschaft, wie sie sichheute präsentiert, also ohne zusätzliche Bauten. Am ehestenkönnten sich die Befragten eine Variante vorstellen, die sich archi-tektonisch am bestehenden Ortsbild mit Satteldach orientiert.

Zahlungsbereitschaft grundsätzlich vorhandenDie beiden Studien kommen zu erstaunlich ähnlichen Resultatenbezüglich der Zahlungsbereitschaft von Touristen und Anwohnern.Wie ähnliche Studien zeigen, kann dies allerdings auch durch dieverwendeten Methoden bedingt sein. Die ermittelten Werte sindalso nicht als absolut zu betrachten. Und im konkreten Fall wür-den sich viele Befragte vermutlich doch für das eigene Portemon-naie anstatt für die Landschaft entscheiden. Dennoch lassen ihreErgebnisse auf eine grundsätzliche Wertschätzung der Landschaftschliessen und auf eine Bereitschaft, für die Landschaft auchfinanzielle Aufwendungen in Kauf zu nehmen. Die Höhe der Preisefindet allerdings auch Bestätigung durch die Studie von NilsSoguel in den Walliser Alpen (vgl. S. 11), die zeigt, dass die Miet-preise für Ferienwohnungen von der Schönheit der Aussichtabhängen – und die sind ja tatsächlich zu bezahlen.

Die Erkenntnisse von Gret-Regamey flossen in die Gesamtstu-die zur Ökosystemleistung des Raumes Davos ein. Die Arbeit vonKati Baumgart diente einem Teilaspekt des ArbeitsinstrumentesALPRO*, welches für eine umfassende Bewertung landschaftsver-ändernder Projekte im Alpenraum entwickelt wurde.

* Kati Baumgart war Projektmitarbeiterin im Projekt «Evaluation von Landschaftsentwick-lungsprojekten auf Grund verschiedener Kriterien als Arbeitshilfe für die Moderation partizipa-tiver Entscheidfindungsprozesse». Sie schrieb ihre Dissertation zur «Bewertung landschafts-relevanter Projekte im Schweizer Alpenraum – Die Methode der Discrete-Choice-Experimente».

Projektleitung: Dr. Bea Schwarzwälder, IC Infraconsult AG, Bern

Als Produkt des Projekts entstand das EDV-Arbeitsmittel ALPRO, eine Arbeitshilfe zur Bewer-tung von landschaftsverändernden Projekten.

Kontakt: [email protected]

** Adrienne Grêt-Regamey war Projektmitarbeiterin im Projekt ALPSCAPES, «Landschaftlicheund ökonomische Zukunftsszenarien für alpine Regionen: Simulation von zukünftigen Land-schaften und Entwicklung von regionalen Entscheidungshilfesystemen».

Projektleitung: Dr. Peter Bebi, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF), Davos

Kontakt: [email protected]

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Das Unternehmen«Alpenregion»

Glaubt man den Prognosen mancher Beobachter, dann stehen die alpinen Touris-musregionen vor einer düsteren Zukunft. Das Projekt «Nachhaltige Tourismusent-wicklung im Alpenraum» hat Vorstellungen darüber entwickelt, wie die Regionenihre Zukunft trotzdem nachhaltig und mit gezielten Strategien bewältigen undsteuern können. Ein betriebswirtschaftliches Managementmodell dient dabei als Orientierungshilfe. Als zweites Instrument steht mit dem Projekt ein neues,spezifisches Monitoringsystem für nachhaltige Tourismus- und Regionalentwick-lung zur Verfügung.

f o r s c h u n g s p r o j e k t

So schlimm steht es nicht um den Tourismus in den Alpen – dieslässt sich jedenfalls im Rückblick erkennen: «Insgesamt zeigt sich,dass sich das gesamte Berggebiet und insbesondere auch die vier

von uns analysierten Regionen in den vergangenen Jahrenerstaunlich positiv entwickelt haben», stellen die Forschenden*des Projektes «Nachhaltige Tourismusentwicklung im Alpenraum»fest. Allerdings: Das Berggebiet gibt es längst nicht mehr, dieszeigte sich auch im Vergleich der untersuchten Regionen Zermatt,Engelberg, Einsiedeln und Trachselwald. Ökologisch, ökonomischund soziokulturell haben sich die Berggebiete – nicht nur in derSchweiz – ganz unterschiedlich entwickelt. Für die Analyse wur-den die genannten Gebiete deshalb vor allem auf Grund ihrerunterschiedlichen Tourismusintensität und unterschiedlichenNähe zu den Agglomerationen ausgewählt.

Die Grossen sind konkurrenzfähigIn der Studie interessierte insbesondere die Frage, welche Fakto-ren die unterschiedlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte

Text Stefan Christen, Luzern

« Der Tourismus ist nicht

in jedem Fall der zentrale

Treiber für die wirtschaft-

liche Entwicklung.»

befördert haben. Eine der Antworten lautet: Obschon der Tou-rismus vielerorts Wesentliches zur Wirtschaftsleistung und zurWertschöpfung beiträgt, ist er nicht in jedem Fall der zentrale Trei-ber für die wirtschaftliche Entwicklung im Berggebiet. Letzteresgilt nur für jene Gebiete, die international konkurrenzfähig sindund auch internationale Märkte bedienen – wie etwa Zermatt.

In Regionen, wo die «kritische Masse» fehlt, bleiben die positivenEffekte aus. Kurzum: Die Grossen können mithalten, die Kleinengeraten in die Krise oder gar unter die Räder. Dies lässt sich amBeispiel der Projektregionen erhärten: Zermatt ist eine typischeGrossdestination, die mit der Fusion von Bergbahnen erfolgreicheinen Strukturwandel bewältigt hat. Und Engelberg profitiert nichtzuletzt von den Titlisbahnen als «Lead-Betrieb, der auf internatio-nale Märkte ausgerichtet ist».

Strukturwandel – und FunktionswandelDer Strukturwandel in der Landwirtschaft hat die Entwicklung derletzten Jahre besonders stark geprägt. Die grossen Umwälzungenin diesem Bereich zwangen die Bevölkerung in den Berggebieten,sich nach neuen Erwerbsmöglichkeiten umzusehen. In vielenGebieten ist dies gelungen, kommt die Studie zum Schluss. «Wirgehen aber davon aus, dass sich der Strukturwandel in den kom-menden Jahren nochmals verschärfen wird und dass es gerade imvoralpinen Raum zu einem spürbaren Abbau von Erwerbsmög-lichkeiten kommen wird.» Der Wegfall von Arbeitsplätzen, der Ver-

lust persönlicher Identität, der soziale Abstieg: All diese gesell-schaftlichen Folgen können in vielen Regionen nicht aufgefangenwerden, geschweige denn von anderen Branchen kompensiertwerden – auch nicht vom Tourismus. Und der Funktionswandel derBerggebiete wird sich in Zukunft fortsetzen. Dies bedeutet auch,dass sich die Probleme noch akzentuieren, viele Regionen wer-den wirtschaftlich und touristisch weiter schwächeln.

Suche nach der richtigen StrategieAls weiteren Faktor der bisherigen Entwicklung identifiziert dieStudie die geografische Lage: Tourismusregionen im Einzugsge-biet grosser Zentren entwickeln sich beispielsweise als Wohn-standorte mit einer guten Lebensqualität positiv – und wandelnsich gleichzeitig vermehrt zu Freizeitregionen. Der Übernach-tungstourismus spielt dabei kaum mehr eine Rolle, dafür bietetder Tagestourismus gute Perspektiven. Dies gilt etwa für dieRegion Einsiedeln, die sich zu einer Wohn- und Freizeitregion mitTagestourismus entwickelt hat, weil sie agglomerationsnah liegtund weil die Verkehrsinfrastruktur ausgebaut wurde. Trachsel-wald war und ist immer noch landwirtschaftlich dominiert, entwi-ckelt sich jedoch zu einer ländlichen Region mit Freizeitfunktion.

Die Steuerpolitik der Gemeinden und Kantone könne solche Ent-wicklungen übrigens zusätzlich fördern – gerade dort, wo sichRegionen vermehrt als Wohnstandorte profilieren wollen, umdamit das «Klumpenrisiko Tourismus» abzudämpfen. Grossdes-

« Diese gesellschaftlichen Folgen des landwirtschaftli-

chen Strukturwandels können in vielen Regionen nicht

aufgefangen werden – auch nicht vom Tourismus.»

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tinationen in alpinen Zentren hingegen können sich auf dem internationalen Markt des Aufenthaltstourismus positionieren.Bei Destinationen mittlerer Grösse könnte zudem eine Speziali-sierung helfen, durch fokussierte Angebote einen Mehrwert fürdie Kunden zu schaffen und damit auf deren geistige Landkartezu kommen. Andernfalls bietet sich eine «Lean»-Strategie an: diekonsequente Ausrichtung auf kosteneffiziente touristische Leis-tungen. In der «Peripherie der Peripherie» bietet der Tourismushingegen kaum mehr eine Alternative: Hier könnten allenfalls in-tegrierte regionalwirtschaftliche «Geschäftsmodelle» Wertschöp-fung bringen.

«Kein Kochrezept»Welche Strategie auch immer verfolgt wird – damit die Alpenre-gionen selbständig und handlungsfähig bleiben, bedarf es neuerSteuerungsmodelle, davon sind die Studienverfasser überzeugt.Zu diesem Zweck entwickelten sie ein Managementmodell für dieRegionen, das in den Grundzügen dem so genannten «NeuenSt. Galler Managementmodell» nachempfunden ist. Die Entwick-lung einer Region wird dabei ähnlich wie jene eines Unterneh-mens begriffen, das sich an modernen Managementgrundsät-zen und -prozessen orientiert. Das Modell versteht sich jedoch«nicht als Kochrezept für eine erfolgreiche Regionalentwicklung,

sondern stellt vielmehr einen Orientierungsrahmen dar, wie heutedie Prozesse einer erfolgreichen Regionalentwicklung verstandenwerden können und welche Gesichtspunkte berücksichtigt wer-den müssen».

Zentral bleibt der Begriff der Nachhaltigkeit: Auch eine nachhal-tige Tourismus- und Regionalentwicklung bewegt sich im Span-nungsfeld zwischen Natur, Wirtschaft und Gesellschaft – dazwi-schen gilt es abzuwägen. Als Entscheidungsgrundlage kann dabeidas im Projekt ausgearbeitete Monitoringsystem dienen. Es dientdem Managementmodell als Informationsbasis. Darin werdendetaillierte Informationen zur Beurteilung und Bewertung derregionalen Entwicklung bereitgestellt. Das Monitoring gründet auf einem System mit normativen, strategischen und operativenZielen, das die Regionen bei der Formulierung von Visionen undStrategien unterstützt. Mit rund 40 Basisindikatoren wirdschliesslich gemessen und überprüft, ob die Ziele erreicht wur-den. So soll sichtbar werden, welche Bereiche der Tourismus- undRegionalentwicklung nachhaltig sind und wo allenfalls nachge-bessert werden muss.

Nach den Vorstellungen der Studienverfasser wird dieses Monito-ring jährlich aktualisiert. Die Ergebnisse sollen mit dem Publikumin der jeweiligen Region diskutiert werden. Ohnehin betonen die

Autoren, dass ein solches Modell immer nur vor Ort mit Lebenerfüllt werden könne. Der regionale Kontext, die aktuelle Situa-tion, die bestehenden Institutionen und die bereits involviertenAkteure – dies alles müsse berücksichtigt werden. Derzeit laufenGespräche mit Bergregionen, mit dem Ziel, einzelne Teile des Pro-jektes konkret umzusetzen, etwa das Monitoring-Instrument. Im Zusammenhang mit der «Neuen Regionalpolitik» des Bundessind zudem verschiedene Regionen an der Arbeit, ihre Manage-mentstrukturen neu zu gestalten: Die Ergebnisse dieses Projek-tes könnten ihnen weiterhelfen.

* Das Managementmodell für alpine Regionen und das Monitoringsystem entstanden inZusammenarbeit des Instituts für Öffentliche Dienstleistungen und Tourismus (IDT-HSG), Universität St. Gallen, und des Sozial- und Wirtschaftsforschungsunternehmens Rütter + Part-ner, Rüschlikon.

Projektleitung: Prof. Dr. Thomas Bieger (Managementmodell) und Dr. Heinz Rütter (Monitoringsystem)

Kontakt: [email protected]; [email protected]

« Mit dem Monitoringsystem soll sichtbar werden,

welche Bereiche der Tourismus- und Regionalentwick-

lung nachhaltig sind und wo allenfalls nachgebessert

werden muss.»

Tagesausflügler lassen sich nur bedingt lenkenNicht als eigentlichen Machertyp, sondern vielmehr als Langstreckenläufer siehtsich Klaus Korner, Sekretär des Regionalentwicklungsverbands Einsiedeln (REV).Denn er ist überzeugt, dass es für den Erfolg in der Regional- und Tourismuspla-nung einen langen Atem braucht.

Urbanes Berggebiet Korner beobachtet den touristischen Strukturwandel nicht ohneSorgenfalten, denn die Tagesausflügler verursachen eine grös-sere Umweltbelastung. An den Wochenenden stauen sich auf denZufahrtsstrassen jeweils die Fahrzeuge. «Doch steuern lässt sichdiese Entwicklung kaum», gibt er zu bedenken, «zu attraktiv istdie Naherholungsregion Einsiedeln für die Ballungszentren amlinken Ufer des Zürichsees.» Seit dem Anschluss ans S-Bahn-Netzvor zwölf Jahren haben auch Arbeitspendler Einsiedeln entdeckt.Die Bevölkerung wächst seither rasant, und das IHG-Berggebiet 1

verstädtert – zumindest in seinem Zentrum. Konsequenterweiseheisst es jetzt im Leitbild der Region: «Wir sind ein Teil der Agglo-meration Zürich.» Korner spricht von einem erstaunlichen Gesin-nungswandel. Er erinnert sich an jene Lokalpatrioten, die sich vorJahren mit T-Shirt-Aufschriften wie «Ich bin kein Zürcher» von denStädtern demonstrativ abzugrenzen versuchten.

«Die Entwicklung hat damals – vor zwanzig Jahren – niemand wirk-lich geahnt», meint Korner. «Und selbst wenn …», fügt er bei,«wesentlich beeinflussen können hätte man den Lauf der Dingewohl kaum.» So viel Skepsis aus dem Munde eines Regional-planers mag überraschen, doch Korner spricht aus Erfahrung. Der Agroingenieur ETH, der Anfang der 1970er-Jahre über For-

«Der Tourismus ist in Einsiedeln* mit einem Beschäftigungsanteilvon zwölf Prozent zwar ein bedeutender Wirtschaftszweig, aberbei weitem nicht derart wichtig wie etwa in Davos oder Zermatt»,erklärt Klaus Korner. Die Baubranche und die Landwirtschaft spie-len im Gebiet zwischen Zürichsee und den beiden Mythen immernoch eine überdurchschnittliche Rolle, und am stärksten wächstwie überall der Dienstleistungssektor. Die Region mit ihren sie-ben Gemeinden, deren Einwohner zu zwei Dritteln im HauptortEinsiedeln leben, befindet sich in einem dynamischen Wandel.

Ausgelöst wurde er durch die Verkehrserschliessung. Der Bau desAutobahnnetzes hat den traditionellen Pilgertourismus völlig ver-ändert. Die Wallfahrenden reisen heute als Tagestouristen im Busan. Entsprechend sind die Logiernächte seit 1988 von 300 000 auf180 000 zurückgegangen. Der Hotellerie geht es schlecht. Die Bet-tenauslastung dümpelt bei 25 bis 30 Prozent. Einige Häuserhaben in den letzten Jahren dichtgemacht, andere halten sich mitder Gastronomie über Wasser. Die Restaurants sind denn auchdie eigentlichen Gewinner einer Entwicklung, die immer wenigerÜbernachtungsgäste, dafür umso mehr Tagesausflügler in dieRegion lockt. Inzwischen strömen jährlich über zwei Millionen vonihnen in die Gegend. Nebst Pilgernden bilden Wandernde undSporttreibende das wichtigste Segment.

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Text Pirmin Schilliger

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schungsprojekte in die Regionalplanung rutschte und lange alsselbständiger Berater tätig war, weiss um die Grenzen der Planbar-keit. Als Korner Präsident des Verkehrsvereins Einsiedeln war, schei-terte beispielsweise der Versuch, die regionalen Tourismusorgani-sationen zu fusionieren. «Touristiker sind eben Einzelkämpfer»,meint er nüchtern. Gelernt hat er daraus, dass Zusammenarbeit am besten über konkrete Projekte gelingt. Eine Internet-Plattformbeispielsweise, auf der sich die gesamte Region äusserst attraktivpräsentiert, ist zu einem grossen Erfolg geworden.

Zuckerbrote – aber keine PeitscheIn seinem Job als Regionalsekretär, den Korner seit zehn Jahrenim Mandat ausübt, hilft ihm auch eine hohe Frustrationstoleranz.«Es ist normal, dass zwei von drei Projekten scheitern. Man kanneben nicht bestimmen, sondern muss die Leute gewinnen.» Trotz-dem ist der Einfluss des Regionalsekretärs nicht zu unterschät-zen. Er kann im IHG-Berggebiet einerseits mit zinslosen DarlehenZuckerbrote verteilen – etwa für einen Golfplatz, für ein Hallen-bad oder für die neuen Sprungschanzen. Doch möchte Kornermanchmal – wenn es nicht vorwärts geht – auch zur Peitsche grei-fen. Er weiss aber sehr wohl, dass dies nichts fruchten würde.«Die Schwyzer sind zu eigensinnig. Sobald die Obrigkeit verord-net, regt sich der innere Widerstand.» Also verlässt sich der 64-Jährige, der auch über Projekterfahrungen aus Afrika undKanada verfügt, lieber auf sein Gespür für lokale Empfindlichkei-ten. Er kennt jene Reizwörter, die es unbedingt zu vermeiden gilt.«Der Regionalsekretär ist primär ein Moderator und weniger einMacher», definiert er seine Aufgabe.

«Inzwischen ist», so stellt er fest, «die Bereitschaft auch unter denTouristikern gewachsen, am selben Strick zu ziehen.» Dies sollgenutzt werden, um die immer akuteren Zielkonflikte zwischen

Tourismus und nachhaltiger Entwicklung zu lösen. Vor allem imWinter, wenn die Skipisten auf dem Hochybrig Sonne und Pul-verschnee melden, stösst der Tagestourismus an die Grenzen der Belastbarkeit. Zur einzuschlagenden Strategie bemerkt Kor-ner: «Wir werden zwar kaum zur Feriendestination werden, schönwäre es aber, wenn es gelingen würde, aus Tages- zumindestZwei- oder Dreitagestouristen zu machen.» Dazu sollen neueAngebotspakete geschnürt werden, die Pilger-, Kultur- und Sport-themen verknüpfen.

Bei der Frage einer nachhaltigenTourismusentwicklung könntendas im NFP 48 entwickelte Ma-

nagement-Modell und das Monitoring-System zumindest alsgedankliche Leitplanke eine Rolle spielen. «Wirklich interessantwäre es, wenn sämtliche touristischen Regionen nach diesemNachhaltigkeitsraster miteinander verglichen werden könnten»,schränkt Korner ein. Ein derartiges Rating würde Einsiedeln hel-fen, seine Entwicklung auch qualitativ besser einzuschätzen.Denn wirtschaftlich hat der touristische Strukturwandel min-destens so viele Gewinner wie Verlierer erzeugt. «Ich vermute,dass die Wertschöpfung insgesamt nicht schlechter gewordenist», schätzt Korner die Lage ein. «Die Herausforderung derZukunft wird es sein, den immer grösseren Strom von Tagestou-risten in landschaftsverträgliche Bahnen zu lenken.»

1 Region gemäss Investitionshilfegesetz (IHG)

*Einsiedeln war eines der Untersuchungsgebiete des Projekts «Nachhaltige Tourismusentwik-klung im Alpenraum».

Projektleitung: Prof. Dr. Thomas Bieger (Management-Modell) und Dr. Heinz Rütter (Monitoring-System)

Kontakt: [email protected]; [email protected]

«Touristiker sind Einzelkämpfer.»

Grosse Pläne rund um einenwertvollen BergAlbert X. Wyler, Geschäftsführer der Bergbahnen «Titlis Rotair», des wichtigstentouristischen Leistungsträgers in Engelberg, hat über Jahrzehnte die wirtschaft-liche Entwicklung der Gemeinde mitgeprägt. Und er hat Zukunftspläne, deren Nach-haltigkeit bei den Umweltverbänden nicht unbestritten ist. Text Pirmin Schilliger

«Wenn es uns nicht mehr gäbe, ginge die Welt nicht unter», sagtAlbert X. Wyler, seit sechs Jahren Geschäftsführer und davor wäh-rend zwei Jahrzehnten Marketingchef der Titlis Rotair. Der 57-Jäh-rige gilt zusammen mit seinem Vorgänger Eugenio Rüegger alstreibende Kraft der überaus erfolgreichen Bergbahnen. Diesewiederum sind für Engelberg, wo sieben von zehn Arbeitsplätzenvom Tourismus abhängen, überlebenswichtig.

Wyler relativiert aber seine Rolle und wird nicht müde zu betonen,dass Hotellerie und Gastronomie mindestens so entscheidendseien. Tatsache ist, dass die Titlis Rotair nicht wie andere Bergbah-nen mit öffentlichen Geldern aufgepäppelt werden muss. Sie istkerngesund und kann den Aktionären jeweils auch eine hübscheDividende ausschütten. «Erfolg verpflichtet, und deshalb kümmernwir uns auch um die schwächeren Glieder in der Tourismuskette»,sagt Wyler. Also kaufte Titlis Rotair vor sechs Jahren das Pleitegegangene Hotel Terrace, um es wieder in Schwung zu bringen. Ein Schritt, der bei gewissen Hoteliers auch Ängste auslöste, die Bergbahnen wollten gleich die gesamte Beherbergung unterihren Nagel reissen. Doch Wyler stellt klar, dass ihm kein amerika-nisches Modell vorschwebt, eine Firma also, die vom Skilift bis zumletzten Hotelbett alles in einer Hand hält. «Wir möchten einfachsinnvolle Impulse für eine gute touristische Entwicklung geben.»

Erfolgsformel mit SommergästenDie Bergbahnen beteiligten sich zum Beispiel massgeblich am Baueines 18-Loch-Golfplatzes. Und sie finanzieren die für den gesamtenOrt verantwortliche Marketingorganisation Engelberg-Titlis-Tou-rismus (ETT) wesentlich mit. Wyler ist deren Verwaltungsratspräsi-dent, womit in seinen Händen mehrere Fäden zusammenlaufen.«Zu viele», hört man zuweilen im Ort selber munkeln. Wyler weissum solche Kritik, die ihm unterschwellig Machtgelüste unter-schiebt. Dabei sieht er in seiner Aufgabe vor allem die unternehme-rische Herausforderung und die Verantwortung.

Der Erfolg ist auch Titlis Rotair nicht einfach so in den Schossgefallen. Die Anlagen sind an 350 Tagen im Jahr in Betrieb. 40 Pro-zent der Einnahmen werden im Sommer generiert, vornehmlichmit asiatischen Gästen. Als Marketingchef half Wyler viele Jahrean vorderster Front mit, die neuen Herkunftsmärkte in den asiati-schen Schwellenländern aufzubauen.

Angesichts des drohenden Klimawandels fragt sich jetzt, wienachhaltig die Erfolgsformel mit dem sommerlichen Gletscherer-lebnis wirklich ist. «Auch bei uns schmilzt der Gletscher, und dasmüssen wir akzeptieren», sagt Wyler. Besorgniserregend sei derSchwund zwar noch nicht, fügt er bei. Das wärmere Klima bedingt

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jedoch Massnahmen, etwa das Isolieren des Permafrostes bei denMasten. Vor zwanzig Jahren hätte sich Wyler nie vorstellen kön-nen, dass auch am schneesicheren Titlis der weissen Pracht einesTages künstlich nachgeholfen werden müsste. Heute lassen dieBergbahnen zehn Prozent der Pisten beschneien.

KapazitätsgrenzenTrotz des Erfolges gibt es bei «Titlis Rotair» kein Zurücklehnen,denn «die Luft im Tourismusgeschäft ist dünn». Die Branchekämpft mit den hohen Personalkosten, was im internationalenVergleich zu einem schlechten Preis-Leistungs-Verhältnis führt.

Langzeitgäste sind in den letzten Jahren in Engelberg seltenergeworden. Umso stärker konzentriert man sich im Winter auf Ski-fahrer aus den Agglomerationen des Mittellandes. Das wissendank der guten Erreichbarkeit vor allem Tagesausflügler zu schät-zen. Allerdings bleiben sie nicht selten im Verkehrsstau stecken.

Wenn die Strassen zum Flaschenhals werden, wären zwecks einerLösung alle Entscheidungsträger gefordert. Laut NFP-Studie weistEngelberg in diesem Punkt gewisse Defizite auf. «Ein eigentlichesProzessmanagement für die regionale Entwicklung findet nichtstatt», wird bemängelt. Wyler kann solche Kritik nicht ganz ver-stehen. Er verweist auf ein Feinkonzept, das man sich schon vorJahren verpasst hat: Die Zubringerkapazität ins Skigebiet ist auf2300 Personen pro Stunde beschränkt worden, und darauf sindauch die Parkplätze, die Strassen und die Schiene ausgerichtet.«Diese Grösse wollen wir auch in Zukunft nicht verändern»,betont Wyler.

Ski-GrossregionPläne haben die Bergbahnen jedoch im Skigebiet selber. Wennsich dort an Spitzentagen 7000 Sportler tummeln, wird es auf denschmalen Pisten eng. Deshalb möchte sich Titlis Rotair mit denbenachbarten Destinationen Melchsee-Frutt, Hasliberg und Mei-ringen verbinden. Allerdings müssten dafür sieben neue Trans-portanlagen gebaut werden.

Das Vorhaben stösst bei den Umweltorganisationen nicht auf Begeis-terung. Wyler ist aber überzeugt, dass in diesem Fall die Beeinträch-tigung von Flora und Fauna akzeptierbar sein sollte, selbst wenn

man um gewisse Pistenkorrekturen nicht herumkommen wird. DerChef der Bergbahnen erklärt: «Ein attraktives Skigebiet in der Näheder grossen Städte, damit die Wintersportler aus Zürich und Baselnicht ins Südtirol oder nach Österreich fahren, das macht doch auchökologisch Sinn.» Zur Frage der Nachhaltigkeit fügt er bei, wieschnell sich Bergbahnen auch wieder demontieren liessen, fallsman sie eines Tages nicht mehr braucht. «Die Masten sind in einemTag weg, die Fundamente in einer Woche, und nach drei Jahren siehtkein Mensch mehr, dass da einmal ein Skigebiet gewesen ist.»

Im Moment geht es aber im Titlis-Gebiet nicht um Demontage,sondern um Ausbau. Wyler, der zuweilen ungeduldige Machertyp,ist Realist und sucht mit allen interessierten Kreisen den Dialog.Sollten Umweltverträglichkeitsbericht und Raumplanungsbehör-den zu einem negativen Befund kommen, so müsste er sich –schweren Herzens zwar – von der Idee der geplanten Ski-Grossre-gion in der Zentralschweiz wieder verabschieden.

«Die Bergbahnen sind für Engelberg, wo 7 von 10 Arbeits-

plätzen vom Tourismus abhängen, überlebenswichtig.»

Die Erreichbarkeit hilft den Destinationen auf die Sprünge

Welch zentrale Rolle die Erreichbarkeit für die touristische Attraktivität und diewirtschaftliche Nutzung der Alpen spielt, haben Forscher im Rahmen des NFP 48-Projektes «Verkehrssystem, Touristenverhalten und Raumstruktur in alpinenLandschaften» in sechs Tourismusorten genauer untersucht.

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«Je besser die Erreichbarkeit, desto höher der Berg», sagt Pro-jektleiter Kay Axhausen* und zeigt auf eine Schweizer Karte mit höchst ungewöhnlicher Topografie: Dort, wo das Land eigent-lich am flachsten sein müsste, recken sich Zentren wie Basel,Bern, Zürich, Lausanne oder Genf als steile Gipfel in die Höhe.Andererseits präsentieren sich die Berner, Bündner und WalliserAlpen als Ebenen, und die alpinen Täler der Rhone, des Rheinsund des Tessins buckeln sich knapp zum sanften Mittelgebirge.«Die verkehrsmässige Erreichbarkeit verhält sich gerade umge-kehrt zur tatsächlichen Topografie», erklärt Axhausen. Er weistauf weitere Karten, auf denen die Schweiz zu bizarren Formen verzerrt ist, weil die natürlichen Distanzen in Reisezeiten umge-rechnet worden sind. Das Mittelland ist merklich geschrumpft, die Alpen haben sich gestreckt. Und beim historischen Vergleichwird deutlich: Die Schweiz ist in der Zeitspanne 1950 bis 2000 aufdie Hälfte ihrer Fläche geschmolzen. Axhausen übersetzt das

Kartenbild in Worte: «Die Reisezeiten haben sich in den letztenfünfzig Jahren halbiert.» Verantwortlich dafür sind der Bau derNationalstrassen, der rasant gestiegene individuelle Motorisie-rungsgrad und der Ausbau des öffentlichen Verkehrs (ÖV) mit sei-nen immer dichteren Taktfahrplänen.

Gewinner und VerliererVon der besseren Erreichbarkeit hat das Mittelland allerdings weitmehr profitiert als der alpine Raum. Dort zählen nur die wirt-schaftlich stärkeren Orte zu den Gewinnern, während sich dieRandregionen – zum Beispiel das Obergoms, das Blenio- und dasOnsernonetal, das Bergell oder das Münstertal – trotz hoher Inves-titionen nur ansatzweise verbessern konnten. Diese Entwicklungschlägt sich in der Raumstruktur nieder: Die Peripherie hat weiterArbeitsplätze und Bevölkerung verloren. In den inneralpinen Tal-gemeinden und in den touristischen Regionen wie dem Oberenga-

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din oder den Oberwalliser Südtälern sind die Wachstumsraten hin-gegen deutlich überdurchschnittlich. Die Wachstumspole im Alpen-raum konzentrieren sich also auf wenige Gebiete.

Grundsätzlich reagiert die Bevölkerung im alpinen Raum sehr fle-xibel auf Veränderungen der Erreichbarkeit, von der wiederum dieEntwicklungschancen der Tourismusorte stark abhängen. Desti-nationen, die ihre Erreichbarkeit verbessern und das Angebot vorOrt erhöhen, können prinzipiell mit mehr Besucherinnen undBesuchern rechnen.

Reisedauer ist entscheidendDiese Formel sticht allerdings nur bei Tages- und Wochenendaus-flüglern. «Für sie ist die Erreichbarkeit das wichtigste Kriterium»,betont Axhausen. Kurzzeitgäste nehmen pro Weg zwei bis dreiStunden Fahrzeit in Kauf, wobei sie auch die periodischen Stausbereits einplanen. Für Wochen- und Langzeitgäste hingegen istdie Attraktivität eines Ortes viel wichtiger. Sie sind mit innovati-ven Ideen und einer differenzierten Positionierung am ehesten zugewinnen. «Je länger die Aufenthaltszeit, eine desto unbedeuten-dere Rolle spielt die Erreichbarkeit», so Axhausen.

Trotzdem bleibt sie bei der Wahl des touristischen Ziels immer einwesentlicher Punkt. Die Attraktivität eines Besuchs bewerten

Gäste in Abhängigkeit von der Reisedauer, und sie vergleichenmit Alternativen auf der ganzen Welt. Destinationen im Alpenraummit grösserer Distanz zu den Bevölkerungszentren müssen ihrenverkehrsmässigen Nachteil mit einem umso attraktiveren touris-tischen Angebot wettmachen. Neben dem zeitlichen Aufwandgehören für die Gäste auch die Reisekosten zum «Raumwider-stand». «Wie viel ‹Raumwiderstand› diese monetären Ausgabenausmachen, konnten wir auf Grund fehlender Daten leider nichtermitteln», gibt Axhausen zu bedenken.

Mit klarer Strategie Nachteile überwindenAuf regionaler Ebene untersuchten die Forscher die Transport-infra- und die Raumstrukturen in Verbier, St. Moritz, Scuol, Wen-gen, Engelberg sowie auf der Bettmeralp. «Wir haben lebendigeOrte ausgewählt, die sich bezüglich Erreichbarkeit, Lage, Qualitätdes Angebots und Preisniveau stark voneinander unterscheiden»,so Axhausen. Diese Destinationen haben in den letzten Jahrzehn-ten ihre touristischen Transportanlagen fast im Gleichschritt miteiner verbesserten Erreichbarkeit stark ausgebaut.

Dieser Zusammenhang stimmt allerdings nicht immer: Die Bett-meralp schaffte es, die Transportkapazitäten zwischen 1960 und2000 von beinahe null auf 35 000 Personen pro Stunde ebenfallsstark auszubauen, obwohl in diesem Zeitraum die grossflächige

Erreichbarkeit des Skigebiets am Aletschgletscher nicht wesent-lich verbessert worden ist. Um die Anlagen auszulasten, hat sichdie Bettmeralp mit einer klaren Strategie als familienfreundlicher,autofreier Ort der Ruhe in schneesicherer Höhe erfolgreich aufLangzeitgäste ausgerichtet. Dadurch konnte diese Wintersport-station alle Nachteile wettmachen, die sich aus ihrer für Tages-ausflügler ungünstigen Lage ergeben.

Angebot bestimmt Verhalten vor OrtBezüglich der räumlichen Entwicklung lassen sich die sechs Fall-beispiele nur bedingt vergleichen. Vier älteren Tourismus-Orten –St. Moritz, Wengen, Scuol und Engelberg –, die sich schon vor dem Ausbau der modernen Verkehrsinfrastruktur etablieren konn-ten, stehen mit der Bettmeralp und Verbier zwei jüngere Destina-tionen gegenüber. Einheitlich verliefen ab 1960 in allen sechsOrten der wirtschaftliche Strukturwandel von der Landwirtschaftzum Dienstleistungssektor sowie der starke Ausbau der touristi-schen Transportanlagen. Dabei verfügen die drei Orte mit den höchs-ten Erreichbarkeitswerten – Engelberg, Verbier und St. Moritz –auch über die grösste Transportkapazität.

Wie verhalten sich die Touristen, wenn sie sich einmal für eineDestination entschieden haben, im gewählten Ort? Um diesgenauer abzuklären, führte das Team vom Kay Axhausen in densechs erwähnten Destinationen Befragungen durch. Diese zeigen:Die lokale Verkehrsinfrastruktur und die gesamte touristischeAusstattung bilden die wesentlichen Faktoren für das lokale Mobi-litätsverhalten. Je besser das kleinräumige Angebot ist, destomobiler verhalten sich die Gäste vor Ort. Im Wintertourismus

spielt dabei die Anzahl und Verteilung der Bergbahnen, Lifte undPisten die entscheidende Rolle. «Das ist der eigentliche Anreiz fürdie Leute, in ihren Ferien am Ort selber noch mehr zu unterneh-men», erklärt Axhausen.

Immer mehr bringt immer wenigerMit den Ergebnissen der Studie erhalten Tourismusverbände Ent-scheidungsgrundlagen und Empfehlungen für eine nachhaltigeRaum- und Verkehrsentwicklung. Axhausen legt Wert auf dieErkenntnis, dass die Wirkung zusätzlicher Infrastrukturen mit demhohen Erschliessungsgrad, der vielerorts in den Alpen bereitserreicht ist, wesentlich abflacht. Da sich in gewissen Destinatio-nen bereits Überkapazitäten, etwa bei den Liften, abzeichnen,wäre es vernünftig, sich künftig auf die besten Standorte zu kon-zentrieren. Dabei werden neben dem Schlüsselfaktor «Verkehrs-erschliessung» zunehmend andere Faktoren wichtiger: Wie stel-len sich die Winterdestinationen der Herausforderung desKlimawandels? Wie wollen und können sie den vielerorts über-bordenden Zweitwohnungsbau wieder einschränken? «Zwar sindin Zukunft durchaus Situationen denkbar, wo eine neue Erschlies-sungsstrasse für die touristische Entwicklung eines Ortes Ent-scheidendes bewirken kann», räumt Axhausen ein. Aber dasdürfte doch eher die Ausnahme sein. «Die meisten etabliertenDestinationen können sich kaum mehr über mangelnde oderschlechte Erreichbarkeit beklagen.»

* Prof. Dr. Kay Axhausen, IVT-ETH Hönggerberg, ist Leiter des NFP 48-Projektes «Verkehrs-system, Touristenverhalten und Raumstruktur in alpinen Landschaften».

« Die Schweiz ist in der Zeitspanne 1950 bis 2000 auf

die Hälfte ihrer Fläche geschmolzen.»

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Christof Abegg, ist die Liberalisierung öffent-licher Dienstleistungen für die Bergregionen nunein Segen oder ein Fluch?Weder noch. Eine eindeutige Antwort ist nichtmöglich. Die Situation ist von Unternehmen zuUnternehmen verschieden, sie ist je nach Regionanders, ausserdem kommt es auf die Art derDienstleistung an – Telekommunikation, Post,öffentlicher Verkehr, Strom. Der generelle Trendzeigt freilich schon: Die Liberalisierung machtdas Wirtschaften in den Bergkantonen nicht ein-facher. Die Öffnung der Märkte ist eine Heraus-forderung für die Unternehmen.

Aber unausweichlich.Die Liberalisierung wird von den Unternehmenals Einfluss von aussen wahrgenommen, sie istin gewissem Sinne unabänderlich. Dennoch

bleibt Handlungsspielraum, es gibt Einflussmög-lichkeiten, die Entwicklung positiv zu nutzen.

Welche?Das hängt von der Struktur und Art der Unter-nehmen ab. Vor allem grössere Firmen reagierenauf die Liberalisierung und profitieren davon,etwa von sinkenden Preisen oder von qualitati-ven Verbesserungen. Dank ihrer Grösse habendiese Unternehmen die Möglichkeit, Angebotezu vergleichen, diese individuell auszuhandelnund auf ihre Bedürfnisse anzupassen. Auf deranderen Seite fehlen kleineren und mittlerenUnternehmen häufig die Kapazitäten, die finan-ziellen und personellen Ressourcen, um sich dierelevanten Informationen zu beschaffen. Alsobraucht es Angebote, die KMU den Zugriff aufdieses Know-how erleichtern. Es kann beispiels-

Service public am Berg:Fakten statt Mythen

In der politischen Auseinandersetzung der letzten Jahre hat der Begriff «Servicepublic» an mythischer Kraft gewonnen, jedoch nicht an Schärfe. Stehen tatsächlichdie wirtschaftliche Zukunft der Randregionen und der Zusammenhalt des Landes aufdem Spiel, wenn die Märkte für Telekommunikation, Postdienstleistungen, öffent-lichen Verkehr und Strom liberalisiert werden? Eine Studie im Rahmen des NFP 48wollte die Debatte versachlichen – das Gespräch mit Mitverfasser Christof Abegg.

Mit Christof Abegg* sprach Stefan Christen, Luzern

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weise eine Aufgabe der Wirtschaftsverbändesein, solche überbetrieblichen Plattformen zuschaffen. Ich denke etwa an «Alpinetwork», ein europäisches INTERREG-Projekt, an demauch die Region Zentralschweiz beteiligt ist. Ziel des Projektes ist es, die Verbreitung derInformations- und Kommunikationstechnologienin den Zentralschweizer KMU zu fördern und dieNutzung der Technologien zu optimieren.

Sie kommen in der Studie zum Schluss, dass dieöffentlichen Dienstleistungen zwar auch fürUnternehmen in Berggebieten wichtige Stand-ortfaktoren sind. Aber sie sind offensichtlich nicht«matchentscheidend». Weshalb nicht? Was istim Alpenraum «matchentscheidend»?Natürlich ist der Service public wichtig als Grund-versorgung. Ohne eine angemessene Versorgungmit öffentlichen Dienstleistungen kann sich öko-nomisch nichts entfalten. Aber massgeblich fürden wirtschaftlichen Erfolg sind Faktoren, die inden Bergregionen genauso zählen wie anderswo.Das ist je nach Branche sehr spezifisch. Schwie-rig gestaltet sich in den Alpenregionen in vielenFällen die Suche nach hochqualifizierten Arbeits-

kräften. Diese Regionen leiden häufig untereinem starken Braindrain: Die jungen, gut aus-gebildeten Leute wandern ab. Aber auch derAspekt der Erreichbarkeit, der Distanzen, spielteine wesentliche Rolle.

In Bergkantonen waren Bundesbetriebe, ehema-lige Regiebetriebe, während vieler Jahre wich-tige Arbeitgeber. Ein Klumpenrisiko, das mit derLiberalisierung noch gewachsen ist?In der Studie haben wir uns auf die eigentlichenDienstleistungen konzentriert. Die Wirkungendes Liberalisierungsprozesses auf die ehemali-gen Regiebetriebe wurden nicht explizit ange-schaut. Aber gerade für den in der Studie unter-suchten Kanton Uri, wo etwa Arbeitsplätze beider Armee oder bei den SBB mehr und mehr ver-loren gehen, ist diese Frage natürlich besondersvirulent. Die langjährige Abhängigkeit vonBundesbetrieben wirkte sich zweifellos auf das Wirtschaftsklima aus, der Unternehmer-geist wurde dadurch nicht unbedingt gefördert.

Wollen auch die kleinen und mittleren Unterneh-men von den Vorteilen der Liberalisierung pro-fitieren, dann ist in Zukunft mehr unternehme-rische Initiative gefragt. Und eine bessereVernetzung der verschiedenen Akteure vor Ort,gerade über die Gemeindegrenzen hinweg.

Die Studie zeigt, dass der Liberalisierungspro-zess die Ungleichheiten, die räumliche Polarisie-rung noch verstärkt – gerade innerhalb desAlpenraumes. Die Zentren der Peripherie neh-men die Liberalisierung zumindest nicht alsNachteil wahr, die Ränder der Randregionen hin-gegen schon …… was letztlich einer logischen, ökonomischerklärbaren Entwicklung entspricht. Dieses Er-gebnis hat nicht überrascht. Wir wussten, in wel-che Richtung es geht – ohne freilich die vorherr-schende politische Debatte nachzubeten, diehäufig sehr emotional geführt wird. Der Begriff«Service public» wird dabei als Symbol für denZusammenhalt des Landes fast schon mythischaufgeladen. Uns ging es darum, diese Diskussionzu versachlichen, zu differenzieren: In welchenRegionen bestehen welche Ansprüche, bei wel-chen Dienstleistungen ist die Grundversorgungdurch die Liberalisierung allenfalls in Fragegestellt. Dabei zeigt sich eben, dass die Marktöff-nung teilweise als Nachteil empfunden wird, abernicht generell an die Existenz der Betriebe geht.

Grundlage für die Studie bildeten drei Fallstu-dien in den ausgewählten Kantonen Uri, Grau-bünden und Wallis. Dabei waren Sie auf die Mit-arbeit und Unterstützung vor Ort angewiesen.Wie gestaltete sich diese Zusammenarbeit?Sehr angenehm. Wir wurden unterstützt vonUnternehmen, von Wirtschaftsverbänden undvon den Behörden. Generell war das Interessean der Thematik sehr gross. Auch die Analysewurde positiv aufgenommen. Einiges schwieri-ger ist es nun, die Ergebnisse umzusetzen,schliesslich geht es um heikle politische Fra-gen – wieweit will man unterschiedliche Qua-litäten der Versorgung zulassen oder garbewusst fördern. Die Kantone gehen unter-schiedlich mit der Problematik um. Spürbar istetwa, dass in Graubünden solche Fragen schonseit längerer Zeit öffentlich diskutiert werden –die Debatte über eine differenzierte Versor-gung der Regionen wird zumindest nicht per seabgelehnt. Im Kanton Uri teilt man zwar unsereAnalyse, die Diskussion kommt aber erst lang-sam in Gang. Als Grundlage dafür braucht eskantonale Strategien in den Bereichen Raum-entwicklungs- und Wirtschaftspolitik – mit kla-ren, räumlich differenzierten Zielvorstellungenzum künftigen Angebot öffentlicher Dienstleis-tungen. Im Regierungsprogramm 2004/2008des Kantons Uri finden sich hierzu bereits klare

« Der Begriff ‹Service public› wird

dabei als Symbol für den Zusam-

menhalt des Landes fast schon

mythisch aufgeladen.»

mit exemplarischen Projekten die Entwicklungneuer Modelle für eine effiziente und trotzdemqualitativ hochstehende Versorgung mit Service-public-Dienstleistungen zu fördern.

* Christof Abegg war Mitarbeiter im Projekt «Liberalisierung öffent-licher Dienstleistungen – Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähig-keit der Unternehmen im Schweizer Berggebiet», an welchem nebstdem Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung (IRL) der ETHZürich die Communauté d’études pour l’aménagement du territoireder EPF Lausanne sowie das Zürcher Beratungs-, Planungs- und Inge-nieurunternehmen Ernst Basler + Partner beteiligt waren. Abegg istauch Mitverfasser des Buches «Liberalisierung öffentlicher Dienstleis-tungen» (Haupt-Verlag, Bern, 2004. ISBN 3-258-06816-X)

Projektleitung: Prof. Dr. Alain Thierstein, Technische Universität München

Kontakt: [email protected]; [email protected]

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Aussagen, die auf eine Förderung der unter-schiedlichen Stärken in den einzelnen Kantons-teilen abzielen.

Wie lässt sich das Bewusstsein für die Thematikweiter schärfen?Wichtig ist es nun, dass in den einzelnen Regio-nen konkrete Projekte angepackt werden. Im Vor-dergrund steht die Entwicklung innovativerLösungen, die den spezifischen Bedürfnissenvor Ort entsprechen. Dabei braucht es auch denMut, bekannte Wege zu verlassen und Neues zuwagen. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaftfür die Berggebiete (SAB) verfolgt beispiels-weise in einem alpenweiten Projekt das Ziel,

« Dabei zeigt sich eben, dass die Marktöffnung teil-

weise als Nachteil empfunden wird, aber nicht gene-

rell an die Existenz der Betriebe geht.» 26

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Im hinteren Muotatal (SZ) listet eine Informationstafel am Wegrandauf, wie viel Geld seit 1961 in diesem Talabschnitt in Lawinenver-bauungen, Waldstrassen und Waldbauprojekte investiert wordenist: 12,3 Millionen Franken. Angesichts der rund hundert Einwoh-ner, die diesen Teil des Tals noch besiedeln, macht dies den stolzenBetrag von 100 000 Franken pro Person aus. Nicht mitgerechnetsind dabei die hohen Beträge an landwirtschaftlichen Direktzah-lungen. Lohnen sich solche Ausgaben? Gibt es keine sinnvollerenAlternativen mit einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis?

Potenziale ausschöpfenIn der Regionalpolitik mehren sich die kritischen Stimmen, die einengezielteren Einsatz der Mittel fordern: also keine Verteilung nachdem Giesskannenprinzip, um flächendeckend im gesamten Alpen-raum Infrastrukturen zu finanzieren und die dezentrale Besied-lung zu erhalten, sondern eine selektive Unterstützung ausge-wählter Gebiete.

Um zu ermitteln, wohin die Gelder aus dem Finanzausgleich unddie Subventionen künftig fliessen sollen, wenn die Transferzah-

lungen knapper werden sollten, nahm das von Martin Boesch* ge-leitete Projekt FUNalpin drei unterschiedliche Landschaftstypenunter die Lupe (vgl. Kasten auf S. 29). Mit Blick auf eine effizientereRegionalpolitik rücken zwei Landschaftstypen – die sich entlee-renden Regionen und die landwirtschaftlich genutzten Regionen –in den Mittelpunkt. Beide dürften sich höchst unterschiedlich ent-wickeln. Während sich die wirtschaftliche und gesellschaftlicheSituation in den Entleerungsgebieten («depleting regions») wei-ter verschlechtern wird, besitzen Regionen wie das Binn- oderMünstertal dank ihrer Mischung aus Landwirtschaft, naturnahemTourismus und intakter Landschaft durchaus das Potenzial, mitder richtigen innovativen Strategie ihre Wertschöpfung und damitdie Zukunftschancen zu erhalten. Hier versprechen die eingesetz-ten öffentlichen Mittel auch am meisten Wirkung zu entfalten.

Bevorzugung dank LabelDiese Regionen, Gemeinden und Gebietskörperschaften sollen –so die Idee von FUNalpin – bevorzugt in den Genuss staatlicherTransferzahlungen gelangen, wenn sie sich zu einer nachhaltigenRegionalentwicklung verpflichten. Um sie von anderen Land-

Zukunftschancen mit Labelregionen

Wie soll die neue Schweizer Regionalpolitik gestaltet werden, damit eine nachhal-tige Entwicklung im Alpenraum gefördert werden kann? Das Projekt FUNalpinschlägt die Bildung von Labelregionen vor. Und es hat ein Konzept zu deren Ermitt-lung und Zertifizierung entwickelt.Text Pirmin Schilliger, Luzern

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schaftstypen abzuheben, müssten sie als «Labelregionen» qualifi-ziert und gekennzeichnet werden. Die Regionalpolitik bekäme mitdieser «Labelisierung» ein Instrument in die Hand, um den Rück-zug aus der Fläche gezielter zu steuern. Sie könnte die staatlichenGelder umso effektiver zur Sicherung und Weiterentwicklung derKulturlandschaften und Naturwerte im Alpenraum einsetzen.

Welchen Kriterien müssten solche Labelregionen aber genügen?Das Projekt FUNalpin hat dazu drei ausgewählte Testgebiete – das Binntal (VS), das Safiental (GR) und das Sernftal (GL) – alspotenzielle Labelregionen vertieft betrachtet. Zudem wurden Zer-matt (VS) als starke Tourismusdestination und das Val d’Onsernone(TI) als Entleerungsregion zum Vergleich herangezogen. Das For-schungsteam ermittelte unter anderem die regionale Wirtschafts-kraft, berechnete die Transferströme aus dem ausseralpinen Raumund bewertete die Ressource «Landschaft». Die Testgebiete selbstwurden allerdings nach pragmatischen Überlegungen ausgewählt.

Die Forscherinnen und Forscher hüteten sich, im Voraus abso-lute Kriterien festzulegen, die eine Labelregion erfüllen müsste. Um den Typus «Labelregion» genauer einzugrenzen, erstellten sieeine Liste von 15 Kennwerten (Indikatoren) aus den BereichenUmwelt, Gesellschaft und Wirtschaft, die eine nachhaltige Regio-nalentwicklung auszeichnen. Der Indikator «naturnahe Land-schaft», der eine intakte Umwelt anzeigt, wird beispielsweisedurch den Bestand von Flächen ermittelt, die in einem Schutzin-ventar aufgeführt sind. Einen wichtigen gesellschaftlichen Indika-

tor bildet die «ausgeglichene demografische Struktur», da derAnteil der 20- beziehungsweise der 60-Jährigen in einer RegionRückschlüsse auf den Abwanderungsprozess ermöglicht. Im Be-reich Wirtschaft spielen Indikatoren wie die regionale Bruttowert-schöpfung und die Produktivität einzelner Branchen eine ent-scheidende Rolle.

Nachhaltigkeitstest und ZertifizierungGemessen an sämtlichen Indikatoren erhalten alle drei Test-regionen gute Noten. Selbst das Safiental ist «labeltauglich»,auch wenn die Wertschöpfung hier geringer ist, weil das Tal durchdie wenig produktive Berglandwirtschaft geprägt wird. In denanderen beiden Tälern sind die Einkünfte aus Wasserzinsen, Tourismus und Industrie (Getränkeindustrie im Sernftal) nichtunbedeutend. Entsprechend dieser wirtschaftlichen Situation lie-gen die jährlichen Transferzahlungen im Safiental mit gut 13 000Franken pro Person deutlich höher als im Sernftal (5000 Franken)oder im Binntal (5800 Franken). Im Durchschnitt fliessen jährlich3200 Franken an Transfergeldern aus dem ausseralpinen in denalpinen Raum (vgl. Artikel S. 9).

Zur Ermittlung der Labelregionen entwickelte das Forschungs-team ein flexibles Modell und verzichtete auf feste Schwellen-werte. «Eine Labelregion muss ausgewogen eine gewisse Zahlvon kulturell-gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaft-lichen Indikatoren der Nachhaltigkeit aufweisen und die entspre-chenden Kriterien erfüllen», betont Dominik Siegrist* von derHochschule Rapperswil.

Für Laien klingt dies noch reichlich theoretisch und abstrakt. Siegrist räumt denn auch ein: «Unser Modell bildet vorerst eineGrundlage, ist aber noch kein praxistaugliches Werkzeug.» Ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen schwebt in einem nächs-ten Schritt ein Internet-Tool vor, mit dem jede Region ihre Nach-haltigkeits-Performance selbst ermitteln könnte.

Diese Online-Selbstevaluation würde interessierten Regioneneinen ersten Nachhaltigkeitstest ermöglichen. Der Weg von derpotenziellen zur anerkannten Labelregion mit Anspruch auföffentliche Gelder müsste anschliessend über einen mehrstufigenZertifizierungsprozess verlaufen. Das Forschungsteam schlägtdazu eine neutrale Zertifizierungsstelle vor, die politisch und personell unabhängig agiert. Sie soll die Labelkandidaten im Rahmen eines dreistufigen Verfahrens prüfen. Das Zertifikat«Labelregion» würde schliesslich der Bund für die Dauer von fünfJahren verleihen.

Instrument für die Regionalpolitik Ein Label einerseits für die finanzielle Förderung, anderseits als Marketinginstrument für eine Region und deren Produkte: So ganz neu klingen diese Vorschläge nicht. Dem FUNalpin-Teamsind solche Einwände natürlich bekannt. Sie wollen im bereitsexistierenden Labelsalat auch keine weitere Verwirrung stiften.Trotzdem drängt sich die Frage auf, wie sich Labelregionen vonanderen Gebietstypen abgrenzen sollen, etwa von den geplantenregionalen Naturpärken oder von den Biosphären-Reservaten?«Ideell liegen die regionalen Naturpärke ziemlich nahe bei unse-ren Labelregionen», meint Siegrist. Allerdings dürften in derSchweiz nicht mehr als ein Dutzend regionale Naturpärkegeschaffen werden, die insgesamt bloss ein paar Prozent der Lan-

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Typisierung von Landschaftsregionen

Touristisch intensiv genutzte Regionen mit grossen Skigebie-ten und einer starken Hotellerie, um deren wirtschaftliche Zu-kunft man nicht bangen muss. Beispiele: Flims/Laax, St. Moritz,Zermatt. Diese Gebiete sind so vital, dass sie einen Rückgangvon Transferleistungen verkraften könnten, indem sie sichumso stärker den Kräften des Marktes anpassen würden.

Sich entleerende Regionen, in denen die Bevölkerung starkabnimmt, die Landwirtschaft grossflächig verschwindet undkeine oder nur eine sehr extensive touristische Nutzung statt-findet. Solche Gebiete, wie sie etwa in den italienischen West-alpen zu finden sind, könnten in Zukunft auch im SchweizerAlpenraum entstehen. Selbst mit hohen Transferzahlungenlässt sich in diesen Gebieten die wirtschaftliche Strukturschwä-che kaum ausbügeln. Überalterung und Abwanderung sindnicht zu stoppen. In bestimmten Fällen könnte es sinnvoll sein,diese Gebiete der Natur zu überlassen.

Landwirtschaftlich genutzte Regionen mit traditionellenSiedlungen und einer naturnahen touristischen Nutzung. Essind Räume mit dem wirtschaftlichen Potenzial, sich in Zukunftnachhaltig zu entwickeln. Allerdings bedarf es dazu der Unter-stützung durch die öffentliche Hand. Damit sich dieser Land-schaftstyp im Markt behaupten kann, ist er weiterhin auf Trans-ferzahlungen angewiesen. Meistens handelt es sich um Räume,die sich auf Grund ihrer landschaftlichen, kulturellen und öko-logischen Eigenschaften besonders auszeichnen. Beispiele:Binntal, Diemtigtal, Münstertal, Toggenburg.

desfläche ausmachen werden. Das Labelmodell greift weiter.Nach Auffassung des FUNalpin-Teams soll es im gesamtenSchweizer Alpenraum zum wichtigen Instrument in der Regional-entwicklung werden. Selbst wenn die Schwelle tief angesetztwird, dürften die strukturschwächsten Räume dabei nur geringeChancen haben, zur Labelregion zu werden. Sie würden aus demSubventionsraster fallen.

Den Forscherinnen und Forschern ist klar, dass die Arbeit weiter-gehen muss. Bevor eine Implementierung der Labelregionen auchpolitisch spruchreif werden könnte, sind Folgeprojekte notwen-dig. «Ein Problem ist der abgenutzte und schwammige Begriff derNachhaltigkeit, der in unserem Verfahren eine wichtige Rollespielt», stellt Siegrist fest. Ob die 15 Indikatoren, die aus mehre-ren hundert möglichen ausgewählt wurden, auch die richtigensind, muss sich erst noch erweisen. Eine weitere Hürde ergibt sichaus dem Mangel an statistischen Daten, mit denen sich Regionen,etwa bezüglich ihrer Wirtschaftskraft, vergleichen lassen.

Um die Wissenslücken zu schliessen, versucht das FUNalpin-Team zusammen mit interessierten privaten und öffentlichenStellen Umsetzungsprojekte zu lancieren. Das Ziel bleibt dabeibestehen: Die Transferzahlungen in den Alpenraum sollen künf-tig nicht versickern, sondern helfen, vermehrt Wertschöpfungaus konzentrierter ökologischer Landnutzung zu generieren.Davon soll nicht zuletzt auch der private Sektor profitieren,indem er auf Basis des anerkannten Labels geschützte Quali-tätsprodukte erzeugt und vermarktet. Das von FUNalpin konzi-pierte Instrument erlaubt, die öffentlichen Mittel gezielt in jenenRegionen einzusetzen, wo diese Saat die gewünschten Früchteabwirft.

* Prof. Dr. Martin Boesch, Universität St. Gallen, ist Projektleiter von FUNalpin, Prof. Dr. ErichRenner und Dr. Dominik Siegrist sind seine beiden Stellvertreter. Am Projekt beteiligt ist eininterdisziplinäres Team von Forscherinnen und Forschern aus den Bereichen Geografie, Sozio-logie, Ökonomie und Umweltnaturwissenschaften der Universität St. Gallen (HSG), der Zür-cher Hochschule Winterthur (ZHW) und der Hochschule für Technik Rapperswil (HSR).

Kontakt: [email protected]

« Ideell liegen die regionalen Naturpärke ziemlich

nahe bei unseren Labelregionen.»

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Das Bergdorf Binn wirkt im Spätnovember so verschlafen, dass ichmich frage, wie ich die fünf Stunden bis zur Abfahrt des nächstenBusses über die Runden bringen soll. Kein Mensch ist auf derStrasse, und würde nicht der Bach rauschen, wäre es totenstill.Dorfladen, Post und ein paar Geschenkshops mit Schnitze-reien und Mineralien in den Schaufenstern sind um diese Mit-tagsstunde geschlossen. Nur das Restaurant «zur Brücke» istoffen. Einzige Gäste sind drei Kaminfeger und der Buschauffeur.Noch könnte ich der Versuchung nachgeben und postwendendmit dem gleichen Bus nach Fiesch ins Haupttal zurückfahren.

Stattdessen lenke ich nach einem Kaffee meine Schritte wieder insFreie. Eine Informationstafel verrät, dass Binn doch nicht ausge-storben sein kann. Eine paar weitere Restaurants soll es hier geben,die aber alle geschlossen sind, weiter ein paar Bauern, einen Schaf-züchter, eine Schreinerei, Holzschnitzer und ein paar Strahler, eineGesamtschule mit sechs Kindern und natürlich eine Kirche. Da aberimmer noch kein Bewohner auszumachen ist, kehre ich dem Dorfden Rücken zu und folge einem Pfad Richtung Albrun-Pass.

Eldorado der MineralienfreundeNoch liegt so wenig Schnee, dass die Lawinenwarnampel, die ich

schon bald passiere, nicht aufzublinken braucht. Die Berge aufder sonnigen Talseite sind gar aper, aber die Wildbäche und Was-serfälle an ihren Flanken zu Eis erstarrt. Vorbei an einem im Win-terschlaf dösenden Campingplatz und zwei sauber herausgeputz-ten Weilern gelange ich nach einer Stunde eher zufällig zur GrubeLengenbach. Sie gilt mit über 100 Mineralien, von denen 19 bis-lang einzig an dieser Stelle gefördert wurden, als eine der wich-tigsten Mineralienfundstellen überhaupt. Für das Binntal ist sieim Sommer, wenn Wanderer und Hobby-Strahler das Tal bevöl-kern, sozusagen das touristische Wahrzeichen.

Im November aber liegt die Grube verlassen da. Ich stochere kurzauf einer Schutthalde herum, packe ein paar Brocken in den Ruck-sack und marschiere wieder zurück ins Dorf, das inzwischen doch eine gewisse Geschäftigkeit verrät. Ein Bauer hämmert aneinem Vordach seines Stalls, Kinder schreien herum und irgendwokreischt eine Motorsäge. Auch das Büro des Vereins «Binntal pur» –eine Geschäftsstelle, um das seit 2002 laufende Pilotprojekt «Land-schaftspark Binntal» zu managen – ist inzwischen geöffnet.

Hier decke ich mich mit Informationen ein. Binn sowie die beidenGemeinden Ernen und Grengiols wollen mit dem Projekt die

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Binntal: Potenzial für einekünftige LabelregionDas Binntal (VS) erfüllt die notwendigen Nachhaltigkeitskriterien einer künftigenLabelregion. Zu diesem Schluss kommt das Projekt FUNalpin, das das Binntalgenauer unter die Lupe genommen hat. Doch wozu braucht das Gebiet im Ober-wallis, das bereits zum Pilotprojekt für einen Regionalen Naturpark (RNP) auser-koren worden ist, überhaupt noch eine weitere Etikette?

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Text Pirmin Schilliger, Luzern

vorhandenen Entwicklungspotenziale in ihrem 160 km2 grossenGebiet besser ausschöpfen. Die Aufbauphase wird unter anderemvom Staatssekretariat für Wirtschaft (seco), vom Kanton Wallisund vom Fonds Landschaft Schweiz unterstützt.

Am Tropf der Transferzahlungen Amandus Zenzünen, Gemeindepräsident von Grengiols undGeschäftsführer des Vereins «Binntal pur», hatte bereits am Tele-fon erklärt: «Der Landschaftspark ist die eigentliche Entwicklungs-chance für unsere strukturschwache Randregion.» Doch dieknappe Million Franken, die sich die Binntaler von einem künftigenRegionalen Naturpark (RNP) jährlich erhoffen dürfen, werden nichtgenügen, um die Zukunft zu sichern. Denn die Forscher, die im Rah-men des Projekts FUNalpin die drei Gemeinden unter die Lupegenommen haben, konstatieren die typischen Merkmale einesstrukturschwachen Randgebietes: geringe Wertschöpfung, Über-alterung, Bildungsrückstand und ein erheblicher «Braindrain».

In jeder Gemeinde präsentiert sich die Ausgangslage anders: In Ernen spielt der Tourismus eine gewisse Rolle. Der Ort hat sich in den vergangenen Jahren mit einem Sommerfestival fürklassische Musik im nationalen Kulturkalender etabliert. Und daskleine Skigebiet am Erner Galen bringt auch im Winter Gäste. In Grengiols hingegen ist der Tourismus weniger bedeutend.Umso beliebter ist der Ort bei Pendlern, die zur Arbeit in den RaumBrig und Visp fahren. Auf wackeligeren Beinen steht die Zukunftim abgelegenen Teil dieses Gebietes – in Binn. Hier, weit hinten imSeitental, lässt sich weder mit dem Tourismus noch mit einemGewerbe, noch mit Dienstleistungen das grosse Geld verdienen.

Um die regionale Wirtschaft am Leben zu erhalten, leistet dieöffentliche Hand erhebliche Transferzahlungen – jährlich rund 6,3Millionen Franken insgesamt oder 5830 Franken pro Einwohner.Davon fliesst über die Hälfte in die wenig produktive Land- undForstwirtschaft. Ohne die Einnahmen aus der Energiewirtschaft(Wasserzinsen) stünden die drei Gemeinden noch schlechter da.

Schlummerndes Potenzial«Trotzdem schlummert hier ein erhebliches Potenzial», ist KlausAnderegg, Präsident des Vereins «Binntal pur», überzeugt. Am Wirtshaustisch erklärt mir der Radiojournalist und Ethnologeim Detail, was er damit meint. Er weist auf die vergletschertenBerge, die reizenden kleinen Seelein, die charakteristischen Orts-bilder von nationaler Bedeutung, die vielfältigen Moorlandschaf-ten, auf den beeindruckenden Mineralienreichtum und die intakteFauna und Flora hin. Es finden sich hier seltene und endemischeArten wie die leuchtend gelbe «Grengjer Tulpe». Die Verschande-lung durch Transportanlagen und Hochspannungsleitungen bliebder Gegend erspart, weil sie vor vierzig Jahren ins Bundesinven-tar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeu-tung (BLN) aufgenommen wurde. Anderegg ist zuversichtlich,dass spätestens 2007 mit der offiziellen Errichtung des RNPbegonnen werden kann.

Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt auch das Forscherteam vonFUNalpin. «Das Binntal erfüllt zweifellos die gesellschaftlichen,ökologischen und wirtschaftlichen Kriterien der Nachhaltigkeit,wie sie auch an eine Labelregion gestellt werden», so DominikSiegrist*. Das Gebiet könnte also nicht nur Naturpark, sondernauch Labelregion werden.

Doch was ist hier eigentlich der Unterschied? «Die Zertifizierungals Naturpark und die von uns vorgeschlagene Labelregion solltenklar auseinander gehalten werden», erklärt Siegrist. Der primäreAnreiz für die Schaffung eines Regionalen Naturparks liege imwirtschaftlichen Ziel, auf nachhaltige Weise zusätzliche Gäste zugewinnen. Die Labelregion jedoch sei die grundsätzliche Beschei-nigung für einen nachhaltigen Entwicklungsansatz und damit fürkünftige Transfergelder. «Das Binntal braucht für seine Zukunftbeides, einen auf dem Naturpark fussenden naturnahen Tou-rismus, aber auch weiterhin öffentliche Mittel», betont Siegrist.

WackelkandidatZurück in unsere Kaffeerunde. Die Binntaler haben auch ohne dieEtiketten, mit denen sie sich vielleicht einmal schmücken können,die Initiative längst ergriffen. Anderegg zählt verschiedene Projekteauf: die ökologische Vernetzung in der Landwirtschaft, die Ver-marktung regionaler Produkte – Käse, Fleisch und Holzwaren –unter einem Naturpark-Label, den Aufbau eines naturnahen Tou-rismus, die Pflege historischer Säumerwege. Das Hotel Ofenhorn,ein Gebäude aus der Belle Epoque, soll weiter renoviert und ganz-jährig geöffnet werden. Mit dem angrenzenden Nationalpark Veglia-Devero im Piemont möchte man zusammenarbeiten. Das alles kos-tet aber Geld, Millionen allein für das Hotel und für eine Käserei.

Vom Erfolg all dieser Initiativen wird abhängen, ob auch künftigeGenerationen das Tal bewohnen werden. In Binn hat sich dieBevölkerung zwischen 1970 und 2000 von 202 auf 155 Einwohnerverringert. Ob sich der Prozess aufhalten lässt? «Der Natur-park ist nicht das Allerheilmittel, um Binn besiedelt zu halten»,meint Anderegg. Sollte zum Beispiel die Schule geschlossen werden, könnte das fast schon der Todesstoss sein. Der Mann, der sich einem lebendigen Binntal verschrieben hat, macht sichkeine Illusionen: «Sollte sich die Schweiz aus der flächendecken-den Förderung des Alpenraums zurückziehen, wäre das Binntalein Wackelkandidat.» Also gilt es jetzt, dagegen Nägel mit Köpfeneinzuschlagen, mit Naturpark (RNP) und Labelregion.

Als der Bus um fünf Uhr wieder die engen Kurven nach Fiesch hin-unterzuckelt, ist es bereits stockdunkel. Ich bin, wie schon bei derHinfahrt, der einzige Passagier. Und ich fahre eine Strasse runter,die schon Winston Churchill einmal befahren haben soll, wie ausder Gästeliste des Hotels Ofenhorn ersichtlich ist. Schon bald sollsich dort auch Filmregisseur Sidney Pollock eintragen, der aufWeihnachten erwartet wird. Ganz so weit weg von der restlichenWelt, wie das an einem kalten Tag im späten November scheint,ist Binn also doch nicht.

* Dr. Dominik Siegrist, stellvertretender Projektleiter FUNalpin, Forschungsstelle für Freizeit,Tourismus, Landschaft FTL, Hochschule Rapperswil

Projektleitung: Prof. Dr. Martin Boesch, Forschungsstelle für Wirtschaftsgeografie und Raum-ordnungspolitik FWR-HSG, Universität St. Gallen

Kontakt: [email protected]

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Die Schweizer Politik verfolgte jahrzehntelangdie Strategie der flächendeckenden Besiedlungdes Landes. Wie fällt die Bilanz aus?

Thomas Egger: Ziel der Regionalpolitik war seitden 1970er-Jahren die dezentrale Konzentration.Man wollte die regionalen Zentren und damit dieRegionen selber stärken. Diese Strategie war mei-nes Erachtens sehr erfolgreich. Und sie wird auchmit der «Neuen Regionalpolitik» des Bundes(NRP) erfolgreich bleiben. Natürlich: Es hat Ein-brüche gegeben, die Bevölkerungszahlen gingenim Alpenraum teilweise zurück. Diesen Rückgang

darf man aber nicht überbewerten, er bewegtesich zumeist im einstelligen Prozentbereich.

René L. Frey: Mit dieser Analyse bin ich nur teil-weise einverstanden. Letztlich war die Strategienur in den grossen Tourismusregionen erfolg-reich. Im Gebiet rund um den Gotthard zum Bei-spiel läuft sehr wenig. Das ETH-Studio Basel hatdieses Gebiet als «alpine Brache» bezeichnet.Die Frage lautet nicht: «Ist die flächendeckendeBesiedlung erreicht worden?», sondern: «Ist dasZiel der flächendeckenden Besiedlung über-haupt sinnvoll?»

Leben, fördern undabwandern lassen

Einige wenige Regionen im Alpenraum florieren, viele kämpfen jedoch mit Proble-men: Der wirtschaftliche Niedergang, der Strukturwandel und teilweise die Abwan-derung lassen sie ums Überleben kämpfen. Macht unter diesen Umständen die flä-chendeckende Besiedlung des Alpenraumes noch Sinn? Wäre es so schlimm, wenn –wie gewisse Ökonomen fordern – einzelne Berggebiete aufgegeben würden? Sollenöffentliche Fördergelder fokussiert werden auf Alpenregionen mit ökologischemLeistungsausweis? Und zeigt die «Neue Regionalpolitik» des Bundes Perspektivenauf? Benjamin Buser von «Avenir Suisse», der Wirtschaftsgeograf Martin Boesch,Thomas Egger, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Bergge-biete (SAB), und der Ökonom René L. Frey stellten sich einer aktuellen Debatte.

r o u n d ta b l e

Waren denn die angesprochenen Tourismusre-gionen auf die bisherige Regionalpolitik über-haupt angewiesen? Wären sie nicht auch ohneRegionalpolitik erfolgreich gewesen?

Benjamin Buser: Die Regionalpolitik war vor 30Jahren durchaus eine Notwendigkeit. Es gabstrukturelle Nachteile im Alpenraum. Man trafdie richtigen Massnahmen, ich denke besondersan die entwicklungsrelevanten Infrastrukturen.Da konnte das Berggebiet zum Mittelland auf-schliessen. Nur: Diese Phase ist seit längeremvorbei, jetzt muss etwas Neues beginnen.

Martin Boesch: Regionalpolitik lässt sich nichtnur auf die Investitionshilfe für Berggebiete(IHG) reduzieren. Letztlich verfolgte die Schweizseit dem Zweiten Weltkrieg implizit eine alpen-orientierte Idee: Wo sich jemals ein Mensch imBerggebiet niedergelassen hat, da bleiben wirbis in alle Ewigkeit – dieser Gedanke kam einergenerellen Staatsauffassung gleich. Ich finde,dass die Regionalpolitik des Bundes langeerfolgreich war. Mittlerweile haben sich aber dieBedürfnisse der Bergbevölkerung gewandelt:

Sie will die althergebrachte Lebensweise garnicht mehr, sondern strebt selber ein urbanesLebensgefühl an. Dieses lässt sich in den Ber-gen aber nun mal nicht herstellen. Der Paradig-menwechsel, der punkto Raumentwicklung inden Alpen feststellbar ist, kommt gewissermas-sen von innen – er wird nicht etwa von Ökono-men ausgerufen.

Wurde der Grundsatz der dezentralen Konzen-tration zu halbherzig umgesetzt? In der Land-wirtschaftspolitik oder in der Raumplanungs-politik war davon doch wenig zu spüren …

Thomas Egger: Tatsache ist: Die Schweiz hat zulange reine Infrastrukturförderung betrieben.Erst die «Neue Regionalpolitik» will nun explizitdie Wettbewerbsfähigkeit der Berggebiete, dieInnovation fördern und damit über das Wirt-schaftliche hinaus auch die Lebensqualität. Es ist richtig, dass dazu alle Sektoralpolitikenbeitragen müssen.

René L. Frey: Auf einer Reise durch SchweizerAlpentäler habe ich kürzlich festgestellt, welcheUnsummen zum Teil investiert wurden – etwa imVerkehrsbereich. Im Safiental beispielsweise wur-den Millionen für einen 1,7 Kilometer langen undausgesprochen breiten Strassentunnel verbaut.Hinten im Tal wohnen aber nur noch wenige hun-dert Leute. Ich halte dies für Geldverschwen-dung. Kommt hinzu, dass in den 30 Jahren seit der Einführung der Investitionshilfe für Berggebietekeine einzige der 54 Regionen aus dieser Förde-rung wieder entlassen worden ist. Das ist einWitz. Was gibt es beispielsweise in der RegionGstaad/Saanen denn heute noch zu fördern? Da müsste man doch sagen: Jetzt könnt ihr aufeigenen Beinen stehen.

Benjamin Buser: Überspitzt gesagt haben sichviele Regionen sogar um einen Verbleib in der IHG-Förderzone bemüht. Das ist zwar nachvollziehbar,befördert aber eine negative Entwicklung. Dasheisst: Man will gar nicht zu den Guten aufschlies-sen, sondern bleibt lieber unterdurchschnittlich,damit die Fördergelder weiterhin fliessen.

Die Rede war von einem Paradigmenwechsel.Was muss sich an der Zielsetzung der Regional-politik ändern?

René L. Frey: Die dezentrale Konzentration mussgrossräumiger konzipiert werden. Es sind heutedie Metropolitanregionen, die sich dem Standort-wettbewerb erfolgreich stellen. Sie können aberfür sich allein nicht funktionieren; sie brauchenein engeres Umland, und sie brauchen ein weite-res Umland. Mit anderen Worten: Die Zentren soll-ten eine gewisse Mitverantwortung für ihr ländli-ches Einzugsgebiet übernehmen. Das bedeutetjedoch nicht, dass überall, wo jemals jemand ge-wohnt hat, weiterhin gewohnt werden soll.

Thomas Egger: Ich sehe die weitere Entwicklungkleinräumiger. Beispielsweise hat auch ein klei-neres regionales Zentrum wie Ilanz durchauseine Funktion für sein Hinterland. Manche alpineTourismusregionen haben eine Zentrumsfunk-tion. Das kommt im neusten Raumentwicklungs-bericht des zuständigen Bundesamtes schönzum Ausdruck. Die Karten des ETH-StudiosBasel oder von «Avenir Suisse» unterschlagendiese Tatsache geflissentlich.

Die besagte Landkarte von «Avenir Suisse», in welcher der Alpenraum vornehmlich als weisserFleck dargestellt ist, sorgt seit einigen Monatenfür viel Aufregung. Weshalb lässt «Avenir Suisse»die regionalen Tourismuszentren aussen vor?

Benjamin Buser: Man kann es nur wiederholen:Diese Karte bildet ein statistisches Faktum ab.

« Überspitzt gesagt haben sich

viele Regionen sogar um einen

Verbleib in der IHG-Förderzone

bemüht.»

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Darin werden arbeitsmarktliche Verflechtungenaufgezeigt. Es ergab sich, dass die touristischenZentren nicht über die definierten Schwellen-werte hinauskamen. Feststellen muss man aberauch: Der Tourismus hat in die Berggebiete nurpunktuell Wohlstand und Wachstum gebracht,niemals aber flächendeckend. Heute können nurwenige Destinationen in der Schweiz im globa-len Markt mithalten; der Tourismus ist nicht flä-chendeckend eine Wachstumsmaschine für denAlpenraum.

Martin Boesch: Ich teile die Auffassung, dasswir verschiedene Raumtypen unterscheidenmüssen, wobei es verfehlt wäre, nur auf dieMetropolitanregionen zu setzen und den Rest zuvergessen. Die nachgeordneten Zentren sindauch lebenswert, auch sie bieten Arbeitsplätzeund viel Lebensqualität, auch sie generierenWertschöpfung. Es braucht eine Zentrumshierar-chie mit verschiedenen Ebenen. Die Frage ist ein-fach, wie gross- oder kleinräumig man das Ganzebetrachten will. Wie viel Mittel müssen investiertwerden, damit eine Region noch funktionierenkann? Dazu braucht es eine politische Debatte.

Welche Wertvorstellungen könnten in dieserDebatte eine Rolle spielen – neben der rein öko-nomischen Wertschöpfung?

René L. Frey: Ich bin auch für die dezentraleBesiedlung – dort, wo sie langfristig Erfolg hat.Das heisst aber nicht, dass sie flächendeckendsein muss. Ich möchte, dass sich der Menschaus gewissen Tälern zurückzieht. Viele Tälerhaben wirtschaftlich keine Chance, dafür umsomehr ökologisches Potenzial. Ich begreife natür-lich, dass die Betroffenen von solchen Aussagennicht begeistert sind. Aber ich denke an unsereNachkommen. Sie möchten sicher keineSchweiz, die komplett verbetoniert ist.

Martin Boesch: Eine gewisse Dynamik in derBesiedlungsstruktur macht durchaus Sinn.Wachsen und schrumpfen – beides soll möglichsein. Schrumpfen ist keine volkswirtschaftlicheoder gesellschaftliche Katastrophe, sondernkann auch eine Chance sein; ich denke etwa andie ökologischen Erlebnisqualitäten solcherLandschaften. Nur darf diese Entwicklung nichtdem Zufall überlassen werden. Es braucht einenKonsens, es braucht eine Strategie, und esbraucht allenfalls Übergangsmassnahmen zuGunsten der Betroffenen. Zwischen dem gesteu-erten Rückzug aus der Fläche auf der ganzenFront und dem Festhalten am bisherigen Kurssehe ich als dritten Weg eine Strategie für denAlpenraum, welche auf Leistung und Gegenleis-tung beruht. Die Frage lautet doch heute: Wel-chen wirtschaftlichen Nutzen können Alpenre-

gionen von ihren Landschaftsressourcen lang-fristig gewinnen? Die Lösung könnten «Labelre-gionen» sein, die wir in unserem NFP 48-Projektuntersucht haben: Sie erhalten gezielt öffentli-che Gelder für eine hohe ökologische Leistung.

Thomas Egger: Aber entscheidend ist doch,dass die Leute ihr Schicksal selber in die Handnehmen können. Es darf nicht sein, dass ihnenandere erklären, wie positiv die Abwanderungdoch zu werten sei. Wenn in der «Neuen Regio-nalpolitik» von einer verstärkten Kooperationzwischen Stadt und Land die Rede ist, dannschaffen solche Aussagen nur neue Fronten,statt dass das gegenseitige Verständnis geför-dert wird. Man muss mit den Leuten vor Ort dis-kutieren. Natürlich: Wenn in einer Region dieInitiative fehlt, wenn niemand eine Perspektiveaufzeigen kann, dann sollen keine Mittel mehrfliessen, damit bin ich einverstanden. Man mussden Leuten aber die Chance geben, sich selberzu entscheiden, Strategien zu entwickeln.

Martin Boesch: Die Leute selber entscheidenlassen? Tatsache ist doch, dass sie jahrelang

massiv unterstützt wurden! Das Safiental istschon genannt worden. Dorthin fliessen proKopf jährlich rund 6000 Franken an Transferleis-tungen – dreimal mehr als in vergleichbare Berg-regionen. Da kann man nicht mehr von freiwilli-gen, selbst verantworteten Entscheiden reden;das ist reine Strukturerhaltung. Seien wir dochehrlich: Es gibt Standorte in den Bergen, diekeine Chancen haben. Und da braucht es ein-deutig auch Prozesse von oben nach unten. DiePolitik – auf welcher Ebene auch immer – mussdie Frage klären, wo Raumentwicklung fokus-siert werden soll. Es braucht Zielvereinbarun-gen, quantifizierbare Leistungsaufträge, um dieman sich bewerben kann. Die Agrarpolitik läuftgedanklich in diese Richtung, nur wird sie auchdeshalb nicht umgesetzt, weil die Basis logi-scherweise Widerstand leistet. Strukturwandelbedeutet aber nicht nur: Jetzt setze ich aufNischenproduktion. Es bedeutet in GottesNamen auch: An gewissen Orten wird es ohneRückzug aus der Fläche nicht gehen.

« Der Tourismus hat in die Berg-

gebiete nur punktuell Wohlstand

und Wachstum gebracht, niemals

aber flächendeckend.»

Wer könnte solche Prozesse auslösen?

Martin Boesch: Die Kantone werden vermehrtzum Zug kommen. Der «Neue Finanzausgleich»des Bundes wird dazu führen, dass die Mittelzu-teilung nicht mehr in die Fläche erfolgen wird. In erster Linie entscheiden die kantonalen Behör-den darüber, wohin das Geld fliesst. Und sie wer-den dies möglichst effizient und nutzbringendverteilen – dabei werden die dezentralen Anlie-gen vergessen gehen. Darin zeigt sich auch, dassdas Versprechen, wonach der «Neue Finanzaus-gleich» gleichsam ein Ersatz sei für die flächen-deckende Regionalpolitik, so nicht stimmt.

Benjamin Buser: Letztlich gründet auch der«Neue Finanzausgleich» auf dem Prinzip derSolidarität. Die Finanzstarken helfen den Finanz-schwachen – also den Bergkantonen. Diese Soli-darität ist mir zu einseitig. Es gibt auch eineumgekehrte Solidarität. Die Städte erwarten,dass sich die Bergregionen darum bemühen,effizient mit den Mitteln umzugehen, und dassein Rückzug aus gewissen Alpentälern, einegewisse Konzentration möglich wird. Wäre dasKostendenken in den wirtschaftlich benachtei-ligten Gebieten erkennbar, dann stünde es umdie Akzeptanz gegenüber den Berggebieten eini-ges besser. Auch die Städter sind empfänglichfür Solidarität.

Thomas Egger: Leider wird zu wenig anerkannt,dass im «Neuen Finanzausgleich» auch gewisseAusgleichsmechanismen für die Stadt eingeführtwurden – auf Kosten der Berggebiete. Im Übri-gen werden im Verkehrsbereich in den nächstenJahrzehnten gegen 20 Milliarden Franken inStädte und Agglomerationen fliessen – und dieBergregionen unterstützen dies.

René L. Frey: Dies hat aber nichts mit Umvertei-lung zu tun. Fliesst Geld in die Verkehrsinfra-struktur der Städte, so stehen dahinter klareEffizienz- und Wachstumsziele.

Sind die Regionen im Alpenraum fähig, selbereine räumliche Differenzierung vorzunehmen?

Thomas Egger: Heute sind sie dazu nicht in derLage. Es gibt weder Strukturen, Mittel noch Vor-aussetzungen dafür. Nochmals: Man muss denRegionen ermöglichen, diese Prozesse selberdurchzuführen. Es braucht flexiblere Instru-mente, die etwa im Rahmen von Mehrjahrespro-grammen zwischen Kanton und Regionen solcheProzesse unterstützen.

Benjamin Buser: Natürlich braucht es solcheInstrumente. Nur: Mit der «Neuen Regionalpoli-tik» des Bundesrates ist dies nur begrenzt mög-

lich. Gewisse veraltete Instrumente wie etwa dieeinzelbetriebliche Förderung wurden wiederreingepackt – und vor allem: Die Regionen sindnach wie vor nicht ökonomisch dazu verpflich-tet, sich zusammenzuraufen. Dies kritisiert«Avenir Suisse» an der «Neuen Regionalpolitik»,wenn sie sich in dieser verwässerten Formdurchsetzt.

Wie steht es um konkrete Ansätze für eine Se-lektion des Alpenraumes: Welche Gebiete sollman künftig noch stützen, welche soll man fal-len lassen?

René L. Frey: Sicher falsch wäre eine Art Planifi-kation, eine zentralstaatlich gelenkte Raument-wicklung. Die Rahmenbedingungen müssen sogesetzt sein, dass sich die Leute richtig verhal-ten. Es kann nicht mehr darum gehen, Geld indie Alpen zu pumpen und damit marktgesteu-erte Prozesse zu blockieren. Ein Teil der Bevöl-kerung wandert ja ohnehin ab. Sie sollen es,wenn sie anderswo bessere Entwicklungsmög-lichkeiten sehen.

Martin Boesch: Das sehe ich aus ordnungspoli-tischer Sicht anders. Die individuellen Entschei-dungsprozesse müssen in einen strategischenRahmen eingebunden sein – mit klaren Aus-sagen darüber, was wann und wo passiert. Die Kantone haben zuletzt etwa in der Strassen-und Verkehrspolitik gezeigt, dass sie Prioritätensetzen können und wollen. Dies müssen dieRegionen ebenfalls machen, sich auch beimRückzug aus der Fläche fokussieren und ent-fokussieren. Für diesen unvermeidlichen Pro-zess braucht es einen strukturellen Rahmen.Dieser muss politisch diskutiert werden, daskann man nicht dem individuellen Aushand-lungsprozess überlassen.

Die GesprächsteilnehmerProf. Dr. Martin Boesch, Universität St.Gallen. Projektleiter des NFP48-Projekts FUNalpinem. Prof. Dr. René L. Frey, Center for Research in Economics, Manage-ment and the Arts, Projektleiter des NFP 48-Projekts «Verhandlungs-strategien bei Umweltkonflikten» Dr. Benjamin Buser, wissenschaftlicher Projektleiter bei der Stiftung«Avenir Suisse»Thomas Egger, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft fürdie Berggebiete (SAB)

Die Fragen stellten: Urs Steiger, Kommunikationsbeauftragter NFP 48, und Pirmin Schilliger,Luzern; schriftliche Aufzeichnung: Stefan Christen, Luzern.

Das Nationale Forschungsprogramm 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» des Schweizerischen Nationalfonds

Globalisierung, europäische Integration und Marktliberalisierung beschleunigenden Wandel im Alpengebiet und verändern die Rahmenbedingungen in wichtigenBereichen. Im Auftrag des Bundesrates sucht das Nationale Forschungspro-gramm 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» seit 2002 wissenschaftlichfundierte Antworten auf die Frage, welche Entwicklungen im Alpenraum erkennbar,gesellschaftlich wünschbar, ökologisch vertretbar und wirtschaftlich tragbar sind.2007 wird das Forschungsprogramm abgeschlossen sein.

Fünf Leitfragen stehen dabei im Zentrum:

Wie nehmen die Menschen Landschaften und Lebensräume wahr?

Wie und warum verändern sich Landschaften und Lebensräume im Alpenraum?

Wie können gemeinsame Ziele für die Entwicklung der Landschaften und Lebensräume gefunden und erreicht werden?

Welchen wirtschaftlichen Wert haben die alpinen Landschaften und Lebensräume?

Wie kann die Landschaftsentwicklung frühzeitig gelenkt werden?

Eine enge Zusammenarbeit der Forscherinnen und Forscher mit der Bevölkerungim Alpenraum soll darauf hinwirken, dass die Forschung auf die Bedürfnisse derBetroffenen abgestimmt ist und zukunftsfähige Lösungsstrategien entwickelt. Als Nationales Forschungsprogramm legt das NFP 48 Wert darauf, den Forschungs-ergebnissen den Weg in die Praxis zu ebnen und damit einen möglichst hohen Pra-xisnutzen zu erzielen.

Die Themenhefte des NFP 48

Mit seinen Themenheften bietet das NFP 48 journalistisch aufbereitete Informatio-nen rund um die fünf Forschungsleitfragen. Sie erscheinen 2005/2006 im Halbjah-resrhythmus. Die Themenhefte beleuchten das wissenschaftliche Umfeld dieser Fragestellungen, geben Einblick in die Arbeit der Forschungsprojekte und informierenüber die gewonnenen und noch zu erwartenden Ergebnisse. Speziell widmen sichdie Themenhefte auch den Aspekten der transdisziplinären Forschung und zeigen,wie die Forschenden den Dialog mit der Praxis suchen und pflegen. Insgesamt wol-len die Themenhefte an die Forschungsthemen des NFP 48 heranführen. Die Aus-wahl und Darstellung der Themen erfolgt daher im Wesentlichen nach journalisti-schen Gesichtspunkten durch die Redaktion sowie die Autorinnen und Autoren. Die Themenhefte ersetzen damit in keiner Art die wissenschaftlichen Publikationen.Eine Übersicht zu diesen findet sich über die Projekte auf der Website.

AlpensichtenThemenheft I des NFP 48

Bereits erschienen:

www.nfp48.ch

AlpendialogThemenheft II des NFP 48