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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn Planet der Raufbolde Band 2 aus der Reihe „Raumschiff der Kinder“ ungekürzte Originaledition der nicht mehr aufgelegten Einzelausgabe von 1977 © Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk- und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.  ISBN 3-7709-0388-9

Alpers, Hans J. ,Hahn, Ronald M. - Raumschiff Der Kinder - Band 2 - Planet Der Raufbolde (1977)

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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn

Planet der

Raufbolde

Band 2

aus der Reihe„Raumschiff der Kinder“

ungekürzte Originaleditionder nicht mehr aufgelegten

Einzelausgabe von 1977

©   Ensslin   &   Laiblin   Verlag   GmbH   &   Co.   KG   Reutlingen   1977.   SämtlicheRechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   undFernsehübertragung,   der   Verbreitung   durch   Kassetten   und   Schallplattensowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.

 ISBN 3­7709­0388­9

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„Land“ in Sicht!

Harpo Trumpff tauchte auf. Prustend wie ein Walroß durchbrach er denWasserspiegel des künstlich angelegten Sees und warf mit einer raschen Dre­hung das klatschnasse Haar aus der Stirn. Dabei entdeckte er eine Bewegungam Rande des Sees. Er sah gerade noch, wie die Gestalt eines Mädchens imfarbigen Gewirr des Plastikdschungels verschwand.

„He, Babs, warte!“ rief er und watete tropfend ans Ufer. „Warum läufst dudenn weg? Komm lieber ins Wasser!“

Doch das achtzehnjährige Mädchen im roten Jeansanzug schien ihn garnicht  wahrzunehmen. Sie glitt  geschickt  und lautlos  wie ein  Indianer  zwi­schen   den   synthetischen   Sträuchern   und   Büschen   dahin.   Und   dabei   sozielbewußt wie auf der Pirsch nach einem Geheimnis.

Hatte sie vielleicht etwas gehört, etwas entdeckt, das neu und ungewöhn­lich war? Aber nein, dachte Harpo, der ein paar Momente lang bei diesem Ge­danken eine Gänsehaut bekommen hatte. Doch nicht auf der EUKALYPTUS.Schließlich lebten sie in einem Raumschiff und nicht in einem der wenigenUrwälder, die es angeblich noch in irgendwelchen fernen Ecken der Erde gab.

Das   Raumschiff   EUKALYPTUS   war   von   den   Besatzungsmitgliedernverlassen worden, nachdem es durch eine rätselhafte Katastrophe zunächstaus dem Erd­Orbit ausgebrochen war und dann in die Tiefen der Galaxis ge­schleudert  wurde.  Nach einigen bangen Tagen der  Ungewißheit  befand essich inzwischen völlig unter der Kontrolle der Kinder, die eigentlich nur zurErholung an Bord waren. Unterstützt  wurden sie bei den schwierigen Auf­gaben durch die Grünen – wie sie die grünbepeltzen Roboter nannten – unddas Große Gehirn, einen riesigen Computer, der alle Funktionen des Schiffeskoordinierte.   Und   da   die   Erwachsenen   das   Schiff   fluchtartig   aufgegebenhatten,   konnte   es   niemanden   mehr   an   Bord   geben,  den   die   Kinder   nichtkannten.

Babs war immer etwas schwierig, aber sie floh längst nicht mehr, wenn sichKinder   näherten.   Was   mochte   sie   wohl   veranlaßt   haben,   bei   seinem   Auf­tauchen das Weite zu suchen? Ohne sich abzutrocknen glitt Harpo in seinebereitliegenden Kleider. Er war jetzt bald sechzehn Jahre alt, und beim Anzie­hen stellte er fest, daß die Hosen wirklich immer enger und kürzer für ihnwurden. Er mußte langsam zu wachsen aufhören, wenn er nicht so groß wiesein Freund Karlie  Müllerchen  werden wollte, der mit seinen fünfzehn Jah­ren schon weit über zwei Meter maß. Auch die Haare trocknete er nicht erstab, sondern rannte gleich los. Noch konnte er an den sich bewegenden Blät­tern erkennen, welchen Weg Babs nahm. Sie gab keinen Laut von sich. Siesprach sowieso selten, und wenn doch einmal, dann nur wenige Wörter. Abersie verstand sehr gut, wenn man sie etwas fragte.

Nach Luft schnappend eilte Harpo dem Mädchen durch das Dickicht vonDeck  41   hinterher.  Hierher   kamen  nur  die   ganz   begeisterten   Schwimmer,

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seitdem die ehemaligen Bewohner des Decks  in  die Zone null  umgezogenwaren.

„Was ist denn los, Babs?“ fragte Harpo, als er sie eingeholt hatte. Unwillkür­lich sprach er ganz leise, als er den bewußt geheimnisvollen Blick des Mäd­chens   auffing.   Babs   war   stehengeblieben   und   legte   lauschend   den   Kopfschief, so daß ihr linkes Ohr fast die Schultern berührte.

Jetzt legte sie den Zeigefinger an die Lippen und sah Harpo in die Augen.Sie hatte schöne Augen mit eisblauer Iris, aber irgendwie wirkte ihr Blick geis­tesabwesend. Harpo hatte noch immer nicht herausgefunden, wie Babs anBord des Schiffes gelangt war. Ihr Name stand weder auf der Liste der Pati­enten noch der des medizinisch­pädagogischen Personals oder der Astroga­toren und Techniker.

„Dort!“ sagte sie plötzlich und zeigte auf die grüngestrichene Deckwand,die vor ihnen aufragte.

Harpo starrte die Wand an. An verschiedenen Stellen war der Anstrich be­reits fleckig geworden. Er verstand nicht, was Babs meinte. Wieder tastetenseine Blicke nach der Wand, aber dann streiften sie das Stück Boden davor.

Die künstlich aufgeschichtete Erde unmittelbar zu ihren Füßen war einge­stürzt.   Wie   es   oft   im   Leben   vorkommt,   hatte   Harpo   das   Wichtigste,   un­mittelbar   vor   seiner   Nase   nicht   bemerkt:   Der   Erdboden   vertiefte   sich   zueinem etwa zwei Meter abfallenden Hohlweg, der genau auf die Schiffswandzuführte. Offenbar hatte es hier einen das ganze Deck durchziehenden unter­irdischen   Gang   gegeben.   Er   mußte   durch   die   Erschütterungen   beimVerlassen des Erd­Orbits eingestürzt sein und gab nun eine runde Schleusen­tür frei. Sie war leicht geöffnet und bewegte sich zaghaft in den Angeln, weilder Luftzug der kräftigen Deckventilatoren dagegenhielt.

Klick, ging es. Klick, klick, klick.Erschreckt machte Harpo einen Schritt rückwärts. Das war ja beinahe so

unheimlich  wie  in  alten Schlössern,   in  denen Geister  spukten.  Hatte  Babsdieses   Klicken   knapp an  der  Hörgrenze  des  menschlichen   Ohres  über  dieweite Entfernung gehört? Dann mußte sie wirklich über ein phänomenal gutfunktionierendes Gehör verfügen.

„Was ist das?“ fragte er. Zögernd ging er näher, als er keine Antwort erhielt,und spürte instinktiv,  daß Babs  folgte.  Zum ersten Mal  sah er mit eigenenAugen, daß es noch andere Ausgänge als die Schächte des Antigravliftes aufden Decks gab. Aber dann fiel   ihm die allererste Begegnung mit Babs ein.Auch damals war sie vielleicht durch einen ähnlichen Gang gekommen, als ermit Anca gerade die geheimnisvollen Räume jenseits der Deckwand durch­suchte.

Eine Weile ertrug es ein Junge wie Harpo ganz gut, von Dingen umgeben zusein, die er nicht immer auf Anhieb verstand. Aber wenn das Kopfzerbrechenallzu große Ausmaße annahm, begann er zu handeln. Aus einem plötzlichenEntschluß  heraus  sprang  er   in  den   Hohlweg   hinab   und   näherte   sich  vor­sichtig, aber nicht ängstlich jener Schleusentür. Sie war gerade groß genug,

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einen   Menschen   hindurchzulassen.   Ein   vor   der   Tür   angebrachtes   Metall­schild zog seine Aufmerksamkeit auf sich:

14­CNUR FÜR TECHNISCHES PERSONAL

NOTEINSTIEGBEACHTEN SIE DIE SICHERHEITS­

VORKEHRUNGEN!

Babs sagte:  „Wohin, Harpo?“ Ihre Stimme klang wie die eines Mädchensvon höchstens elf Jahren. Und doch schien sie nicht ängstlicher zu sein alsbei  ganz  harmlosen Gelegenheiten,  wenn sie  leicht  zusammenzuckte,  weilsich jemand schnell bewegte oder laut redete.

„Bloß mal nachsehen“, gab Harpo über die Schulter zurück. Er wußte zwarnicht,  welche „Sicherheitsvorkehrungen“ zu beachten waren, aber er  hattenicht die Absicht, wieder hinaufzuklettern, ohne zuvor einen Blick hinter dieTür geworfen zu haben.

Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Da hast du vielleicht eine ganztolle Entdeckung gemacht, Babsie. Komm doch, dann schauen wir gemein­sam nach, was hinter der Tür steckt.“

Babs schüttelte den Kopf. Lieber nicht, hieß das. Offenbar hatte sie keineLust, sich auf ungewisse Abenteuer einzulassen.

Harpo zuckte mit  den Schultern und tastete sich vorwärts.  Dann glitt  erdurch die Schleusentür, die sich spielend mit einem Finger öffnen ließ. Da­hinter lag ein winziger Raum. Harpo entdeckte sofort eine weitere Tür auf dergegenüberliegenden   Wand.   So   ähnlich   sah   auch   die   Luftschleuse   vor   derZentrale aus.

Es   gab   unbekannte   und   verwirrende   Knöpfe,   mit   deren   Hilfe   die   Türelektronisch zu öffnen war,  aber Harpo versuchte es ganz einfach an demHandrad, das wohl für  Notfälle vorgesehen war. Zuvor hatte er  sich davonüberzeugt, daß die beiden Zeiger der Luftdruckmesser deckungsgleich waren.Er mußte also keine Angst haben, daß sich auf der anderen Seite das lebens­feindliche Vakuum des Weltalls befand.

Einen   Moment   lang   rieselte   ihm   trotzdem   ein   kalter   Schauer   über   denRücken. Es könnte ja sein, daß die Instrumente nicht mehr korrekt anzeigten,oder daß ... Entschlossen drehte er weiter, bis sich die Metalltür knarrend auf­sperren ließ.

Licht flackerte  im gleichen Moment  auf  und übergoß ihn so unerwartet,daß er die Augen mit den Händen bedecken mußte, und mühsam zwischenden Fingern hervorlugte.  Er atmete schwer,  sein Brustkasten hob sich wienach einem anstrengenden Hundertmeterlauf.

Schließlich hatten sich seine Augen auf das Licht eingestellt und meldetenihm die ersten Bilder. Er befand sich in einem so großen Saal, wie er ihn nie­mals zwischen den Decks und der Schiffsaußenhaut vermutet hätte. Spätererfuhr er, daß der Raum 140 Quadratmeter umfaßte und „Hangar“ genannt

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wurde. Seine Metallwände wirkten kalt und steril, weil es niemand für nötiggehalten hatte, ein paar Farbtupfer zu verschwenden.

„Hangar“ war ein Wort, das er in diesem Moment noch nicht kannte, aberals er die drei Objekte vor sich in den hydraulischen Docks liegen sah, begriffer sofort, daß dies so etwas wie eine Garage für kleine Raumfahrzeuge war.Unwillkürlich stieß er einen spitzen Jubelschrei aus.

Kein Zweifel! Das waren Gleitboote, die langgezogenen, schnittigen Auto­mobilen glichen, aber eine Kuppel aus durchsichtigem Glas oder Kunststoffals Fahrerkabinen hatten. Kurze Stummelflügel zeigten, daß sie für Flüge in­nerhalb   der  Atmosphäre   geeignet   waren.  Harpo   selbst   hatte   solche   Booteschon   im   Fernsehen   bewundert.   Von   Thunderclap   Genius   wußte   eraußerdem,   daß   diese   Miniatur­Raumschiffe   beinahe   narrensicher   bedientwerden   konnten,   da   sie   mit   dem   Steuersystem   des   Großen   Gehirns   ver­bunden waren und kein geschultes Bedienungspersonal erforderten. Nur fürden Fall, daß auch der Zentralcomputer des Raumschiffes ausfiel,  war eineHandsteuerung   vorgesehen.   Diese   Probleme   hatten   sie   nicht.   WennThunderclap sich nicht irrte, gab man die gewünschten Befehle einfach überdas Mikrofon an den Computer, der sie in elektrische Impulse umwandelteund daraus einen Leitstrahl modulierte,  an dem das Boot sich vorwärtsbe­wegte. Selbstverständlich geschah das alles ohne einen meßbaren Zeitverlust.

Harpo erinnerte sich, daß Lonzo von solchen Beibooten der EUKALYPTUSerzählt  hatte.  Die Schwierigkeit  war nur,  daß man bei  Lonzo nie so genauwußte, ob er die Wahrheit sagte oder sich eine kleine Lügengeschichte ausge­dacht   hatte.   Aber   mit   Sicherheit   besaß   er   keine   Informationen   über   denStandort der Boote.

Nun, die hatte jetzt Harpo. Am liebsten hätte er sich ja gleich in eines derBoote gesetzt. Und warum eigentlich nicht? Von Entdeckerdrang beseelt, um­kreiste er die schnittigen Flitzer. Durch eine geöffnete Luke enterte er nachkurzem Zaudern schließlich eines der Gleitboote und tauchte unter der Glas­kuppel wieder auf. Fasziniert ließ er seinen Blick über die bequeme Innenein­richtung schweifen.   In den  Polstern  hatten  sicherlich  vier   oder   fünf  LeutePlatz,  ohne daß sie sich mit  den Ellbogen allzusehr ihren Platz  erkämpfenmußten.

In seinen Fingern kribbelte es vor Aufregung. Er hatte Lust, diese wunder­baren Dinge zu berühren, war aber intelligent genug, dies zu unterlassen, so­lange er nicht wußte, welchen Schaden er damit anrichten konnte.

Die   gepolsterte   Sitzbank,   kreisrund   und   direkt   an   den   Wänden   desFahrgastraums befestigt,  beherrschte  das Bild.   In der Mitte  erhob sich einkunststoffverkleideter, meterhoher Monolith, in dessen Oberfläche eine Ta­statur  mit  verschiedenfarbigen Schaltern  eingelassen  war.  Dann  entdeckteHarpo   die   Bedienungsanleitung   der   Schaltung.   Sie   lag   unübersehbar   aufeinem der Polster. In mehreren Sprachen wurde erklärt, welche Funktionendie einzelnen Schalter hatten. Vorsichtig probierte er sie aus.

Zuerst   verdunkelte   sich   die   Glaskuppel   zu   einem   undurchdringlichenSchwarz,   dann   flammte   die   Bordbeleuchtung   in   einem   beruhigenden   Rot

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auf. Harpo testete Heizung und Klimaanlage und stellte fest, daß alles ein­wandfrei   funktionierte.   Schließlich   erwischte   er   den   Knopf,   der   die   Ver­bindung mit der Hauptzentrale der EUKALYPTUS herstellte.

„He!“   hörte   er   Karlie   Müllerchen   überrascht   ausrufen.   „Beim   feurigenKometenschweif! Was ist das für ein Leuchtzeichen?“

Karlie hielt im Moment die Funkleitstelle auf Deck null besetzt und sorgtedafür, daß alle Abteilungen zu jeder Zeit miteinander sprechen und Informa­tionen austauschen konnten.

„Na, rat doch mal“, forderte Harpo ihn auf und hatte Mühe, ein helles La­chen zu unterdrücken.

Karlie erkannte seine Stimme sofort. „Harpo? Wo steckst du denn? Ich habedich auf einem Funkkanal, der bisher völlig tot war!“ Aus seiner Stimme klanggrenzenlose Überraschung heraus.

Thunderclap Genius, der wohl auch gerade in der Zentrale hockte, schalte­te sich in das Gespräch ein: „Harpo, wir haben eine ungeheure, gewaltige,sensationelle, noch nie dagewesene, super­duper­tip­toppe Entdeckung ge­macht! Wir sind nämlich auf dem allerbesten Wege, in wenigen Wochen ...“

„Moment, Moment“, unterbrach Harpo, der sich so schnell die Fäden nichtaus der Hand nehmen lassen wollte. „Was immer ihr an guten Nachrichtenhabt – ich habe bestimmt noch bessere.“ Und jetzt spuckte er es aus. „Wißtihr, was ich ... oder besser, was Babsie ... oder vielmehr, was wir zusammen ...Also, hört  ihr überhaupt zu, ganz genau zu? Setzt euch alle hin, obwohl esnicht viel helfen wird, denn das haut euch gewiß vom Hocker. Wir – haben –die – Gleitboote!“

„Waaaaaas?“ kam ein vielstimmiges Echo, an dem außer Thunderclap undKarlie wohl auch noch andere beteiligt waren.

„Na hör mal“,  schimpfte Karlie, „warum sagst du uns das eigentlich erstjetzt?“

Wie ein Sturzbach ergoß sich Harpos Bericht über die Lautsprechersystemein  die  Hauptzentrale  und   ging  von  dort   aus   rasend schnell  von  Mund  zuMund. Er nahm sich natürlich Zeit mit seiner Erzählung und schmückte dieForschungsreportage mit  allerlei  schaurigen Details  aus,  die  den Zuhörernbuchstäblich die Haare zu Berge stehen ließen.

„...  und als  ich die grauslich quietschende Tür am Ende des modrig rie­chenden Gangs aufstieß und der unheimlich finstere Raum vor mir lag, häm­merte mein Herz bis zum Halse hinauf, und meine Knie zitterten, und dannsah ich sie vor mir, drei Stück und bestens in Schuß ...“

Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihen der Zuhörer.  Harposchwieg, erschöpft von der langen Rede und den vielen Flunkereien. Glück­lich schwelgte er bereits im voraus in den kommenden Ehrungen, die ihm si­cherlich zuteil wurden.

Aber er wartete vergebens auf Lobeshymnen. Vielmehr drang ein verhal­tenes Kichern an seine Ohren. Thunderclap knurrte daraufhin jemanden anund sagte rasch: „Im Glanz deiner Entdeckung verblaßt unsere Beobachtung

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natürlich, Harpolein. Aber du solltest trotzdem eiligst mit Babs hinaufkom­men und sie dir ansehen!“

Wenn Thunderclap derart  untertrieb, dann mußte etwas Besonderes ge­schehen sein. Harpo stieg flink aus dem Boot, eilte den Weg zurück und ließsich von Babs aus der Grube ziehen. Er streichelte ihr dankbar die Wange,nahm sie bei der Hand und eilte mit ihr zum Antigravlift. Mit gemischten Ge­fühlen   stellte   er   fest,   daß   sein   Vollbad   umsonst   gewesen   war,   denn   erschwitzte wie ein Braten auf dem Grill.

In der Zentrale wurden sie von der gesamten Besatzung der EUKALYPTUSerwartet, darunter Lonzo, der Roboter, Thunderclap mit einem erwartungs­vollen Lächeln und blitzenden Augen, Brim Boriam, der „Arztlehrling“ undLucky Cicero, der mongoloide Junge mit der Fähigkeit zur Teleportation.

„Siehst du den Stern dort hinten?“ fragte Thunderclap pfiffig.  Er strecktedie Rechte aus und deutete auf einen blaugrünen Punkt, der sich deutlich imLicht der zahllosen Sonnen hinter der Sternenkuppel abzeichnete.

Harpo nickte. Was der bloß wollte? „Klar, aber ...“ Die kleine Lori Powitz ki­cherte. Jetzt wußte Harpo auch, wer das vorhin gewesen war. „Sieh ihn dir ge­nau an, Harpolein“, platzte sie dazwischen. „Fällt dir nichts auf?“

Fiel  ihm etwas auf? Eigentlich nicht.  Oder war der Stern vielleicht  etwasheller   und   auffälliger   geworden?   Schwer   zu   sagen,   fand   Harpo.   Unsicherkratzte   er   sich   am   Kinn   und   verzog   abschätzend   das   Gesicht.   DanielDüsentrieb würde jetzt sicher eine Tausend­Watt­Birne aufgehen, aber ihmleuchtete nicht einmal eine Kerze.

„Mit bloßem Auge“, unterbrach Thunderclap das Schweigen mit gnädigemTonfall, „kann man es auch gar nicht erkennen, hi, hi!“

Karlie  Müllerchen baute  seine  Riesengestalt  vor Harpo  auf.  Er  hatte  wiekein Zweiter  Wissen über Astronavigation in sich hineingefressen und warschon wie ein Alter Hase in der Lage, Positionsbestimmungen vorzunehmen.Sein   Kinn   zuckte   vor   Erregung,   und   die   dünnen   Haare   seines   spärlichenBartes, der ihm trotz seiner Jugend bereits wuchs, wippten hin und her.

„Diese blaugrüne Sonne“,  meinte er mit seiner kieksenden Stimme, „derwir den Namen Archimedes gegeben haben, kommt näher. Besser gesagt: Wirnähern uns ihr, jeden Tag, jede Stunde. Und in vier Wochen werden wir sieerreicht haben!“

Peng! Harpos Kinnlade klappte nach unten. Im gleichen Moment setzte einJubel ein, der die Hauptzentrale vibrieren ließ. Die anderen kannten die Neu­igkeit ja längst und hatten sich nur verabredet, nichts zu verraten, um HarposVerblüffung voll  auszukosten. Aber sie hörten die  gute Nachricht  natürlichgern ein zweites Mal und führten wahre Freudentänze auf.

„Big“ Tom kletterte auf Fidels Schultern und tätschelte dem Riesen Karlieden Hinterkopf, während Lonzo an der Spitze einer Gruppe von besondersÜbermütigen   demonstrierte,   wie   die   legendären   australischen   Känguruhsfrüher durch die Lande gehüpft waren.

All   die  Sterne   am   Himmel   waren   Sonnen,   nur   leider   unerreichbar   fern.Wenn   sie   sich   nun   einem   dieser   Sterne   näherten,   dann   hieß   das   nichts

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anderes, als daß wahrscheinlich auch Planeten, die diese Sonne umkreisten,in ihre Reichweite kamen. Und das bedeutete ...

„Wir können uns in richtigem Gras wälzen“, krähte der kleine Ollie.„Und frische Luft atmen!“ fügte Micel hinzu.„Und Wasser aus einem Bach schlürfen!“„Und Regenwürmer baden!“„Und Berge besteigen!“„Und in einem Meer baden!“„Und ... und ... und ...“Thunderclap  Genius   wandte  sein  Gesicht   langsam  wieder   der  gläsernen

Kuppel zu, die sich über der Hauptzentrale spannte. Harpo sah, wie sich dieLippen des Freundes lautlos bewegten. Er konnte zwar nicht hören, was er indiesem Moment sagte, aber er konnte es sich denken.

Wir kommen! Wir kommen! Wir kommen!

Planet Nordpol, bitte melden!

Die nächsten drei Wochen, in denen die Mannschaft mit ungewohnter Em­sigkeit Zukunftspläne schmiedete, vergingen wie im Flug. Kein Tag verstrich,ohne daß sich nicht Gruppen zusammenfanden, die sich stundenlang überalle  nur  denkbaren  Einzelheiten  einer  möglichen   Landung  die  Köpfe  heißund   die   Stimmbänder   lahm   redeten.   Einige   besonders   verwegene   Be­satzungsmitglieder   der   EUKALYPTUS  gingen  noch   weiter,  etwa   der  kleineOllie. Dessen stille Liebe war es, Listen anzulegen, seitdem er einmal einenStapel alter Formulare in den Verpflegungskammern gefunden hatte. Und sobegann er damit,  eingehende Organisationspläne aufzustellen, die im End­effekt darauf hinausliefen, daß er auflistete, was er alles auf den Planeten mit­zunehmen gedachte. Seine allererste Liste sah so aus:

    1 Lederhose (Eigentum), gut erhalten    2 Bälle (von Lori ausleihen), möglichst bunte    1 Dingsbums zum Spielen (Trompo), sehr lieb    1 Dackel (Moritz), auch sehr liebNatürlich verwarf er seine Liste jeden Tag aufs neue, um sie dann wenig

später in abgewandelter Form erneut zu Papier zu bringen. Für seine Arznei­en legte er sich weitere Speziallisten an, die laufend ergänzt wurden, weil ihmimmer neue Übel einfielen, gegen die man sich wappnen mußte.

Fantasia Einstein, ein sensibles, rothaariges und immer nervöses Mädchenvon   fünfzehn   Jahren,   das   starke   Fähigkeiten   im   technischen   Bereich   zuentwickeln begann, programmierte das Große Gehirn, jenen Computer, derdie  EUKALYPTUS steuerte und auch sonst alle  Anlagen fehlerlos bediente.Seit dem Eingriff der Weltraumärzte arbeitete es zu 98 Prozent wieder, undmehr konnte im Moment niemand verlangen.

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Wie es sich herausgestellt hatte, war die Denkmaschine wie die Roboter fä­hig, mit einer dem Klang des menschlichen Organs täuschend nachgemach­ten   Stimme   zu   sprechen.   Und   so   kam   es,   daß   die   Kinder,   wenn   sie   denErklärungen lauschten, manchmal meinten, es mit einem unsichtbaren Men­schen   zu   tun   zu   haben.   Manche   meinten   ernsthaft,   daß   im   Innern   derriesigen Apparatur ein echter Mensch lebte, der sich hinter den Stahlwändenverbarg.

Schuld an solchen Vermutungen trug die Tatsache, daß das Gehirn sich inmancher Beziehung für eine Maschine seltsam menschlich benahm, was vorallen Dingen diejenigen überraschte,  die den Roboter Lonzo – der  ja aucheine Maschine und kein Mensch war – nicht so gut kennengelernt hatten wieHarpo und seine Freunde. Denn Lonzo handelte auch nicht gerade mit derkühlen   Sachlichkeit   einer   mechanisch­elektronischen   Ansammlung   vonallerlei Drähten, Wicklungen, Transistoren und Blech.

Das Große Gehirn hatte die Angewohnheit, den Zuhörern allerlei Informa­tionen aufzudrängen, die gar nicht gefragt worden waren. Vielleicht fühlte essich einsam mit seinem umfassenden Wissen und wollte andere daran teil­haben lassen. Aber es entschuldigte sich immer sehr artig, wenn man den Re­defluß abbrach.

Allmählich   hatten   sich   die   EUKALYPTUS­Kinder   an   das   ungewöhnlicheComputerwesen gewöhnt und machten sich auf ihre Art lustig darüber.

„Wie   groß   ist   unsere   derzeitige   Entfernung   zum   System   Archimedes,Großes   Gehirn?“   fragte   Karlie.   Erwartungsvoll   lauschte   die   Versammlung.Man hatte es sich auf dem Boden der Zentrale bequem gemacht, weil es nurzwölf Sitzplätze gab.

„Die   Entfernung   zur   Umlaufbahn   des   äußersten   Planeten   beträgt   amkürzesten Punkt  absolut  exakt  3.222.772,1675423  Kilometer,  wobei   ich mirerlaubt habe, die letzte Kommastelle aufzurunden“, erwiderte der Computermit  tiefer Stimme. „Wenn man allerdings berücksichtigt,  daß dieser Planetalle vierzehn Jahre, drei Monate, zwei Wochen, fünf Tage und ... ahem, ichmöchte auch hier aufrunden ... eine Bahnabweichung aufweist, müßte manden vorgenannten Wert um 0,00017 Prozent revidieren, sofern man die Ent­fernung auf einen Punkt in der Zukunft bezieht, der zwei Jahre und ...“

„So genau wollen wir es gar nicht wissen“, stöhnte Karlie.„Karlie?“ fragte das Gehirn vertraulich.„Ja?“„Darf ich mir eine Zusatzbemerkung erlauben?“„Du darfst.“„Das Schiff wird die erwähnte Kurve in genau sieben Tagen, vier Stunden

und 36 Minuten schneiden, falls die Geschwindigkeit nicht geändert wird.“„Das hat zwar keiner gefragt“, meinte Karlie grinsend, „aber mit dieser In­

formation kann man wenigstens etwas anfangen.“Das Große Gehirn sagte  mit einem wohlgefälligen Unterton: „Ich dachte

schon,  daß es  euch   interessieren  würde.  Darf   ich  euch noch  auf  ein  Phä­

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nomen   bei  der   Umlaufbahn   des   dritten   Monds   des   zweiten   Planeten   desSterns Taurus hinweisen, wo –“

„Interessiert uns überhaupt nicht“, entgegnete Karlie trocken.„Nicht?“ fragte das Gehirn. „Ich bin untröstlich, daß ich es wagte, eure Oh­

ren mit meiner rostigen Stimme über Gebühr zu beleidigen. Aber vielleichtmöchtet   ihr   etwas   anderes   wissen.   Zum   Beispiel   gibt   es   ein   wahnsinnigkomisches Zahlenspiel der Prrrzturwqzt auf dem Planeten –“

Harpo   unterbrach   lachend.   „Besser   wäre   es,   wenn   du   uns   Einzelheitenüber die Sonne Archimedes verraten könntest. Sie besitzt also Planeten? Undda von einem äußeren Planeten die Rede war, auf jeden Fall mehr als einen.“

„Eine  logische Folgerung“,   lobte  der  Computer.  „Archimedes besitzt   tat­sächlich mehrere Planeten. Ähnlich wie unser heimatliches Sonnensystem,das bekanntlich neun Planeten hat: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Sa­turn,   Uranus,   Neptun,  Pluto.   Dazu   kommen   die   Marsmonde   Phobos   undDeimos, die Jupitermonde –“

Anca zog eine Schnute und warf ein: „Ich verstehe das alles nicht. Wohersoll unser Computer wissen, wie viele Planeten Archimedes hat? Kann manvon hier aus doch noch gar nicht erkennen!“ Sie legte nach Indianerart wieein Späher die Flache Hand gegen die Stirn und tat so, als würde sie den Ster­nenhimmel absuchen.

Bevor das Große Gehirn die Gelegenheit wahrnahm, erklärte Karlie bereits,daß die EUKALYPTUS  ein vollautomatisches Observatorium  besaß,  das  ander Außenhaut des Raumschiffs angebracht war. Die Daten wurden sogleichan den Computer weitergegeben. Und nicht nur, daß die Fernrohre Dinge re­gistrierten, die das menschliche Auge nicht mehr erkennen konnte: Mit Hilfeder  Spektralanalyse  des Sternenlichts  konnte auch manches  über die  che­mische   Beschaffenheit   der   Körper   festgestellt   werden.   Das   Große   Gehirnnahm den Faden wieder auf und begann damit, die Namen der Jupitermondeherunterzurattern, bis Karlie in einem Anfall komischer Verzweiflung erneutunterbrach. Er bat den Computer, doch endlich zur Sache zu kommen.

„Untertänigster Diener“, meinte das Gehirn und tat zerknirscht. „Archime­des besitzt  fünf Planeten.  Einer  davon – es handelt  sich um den vierten –bietet   Lebensbedingungen,   unter   denen   Menschen   existieren   können.   ImMoment ist es dort allerdings etwas zugig, wenn ich mal so sagen darf.“

„Du   darfst!“   rief   Thunderclap   und   prustete   dabei   vor   Lachen.   Kopf­schüttelnd kniff er ein Auge zusammen und flüsterte Harpo zu: „Da habenwir uns aber ein Schwatzmaul eingefangen.“

Da   zufällig   alle   still   waren,   hatten   einige   das   Flüstern   verstanden   undriefen:  „Schwatzmaul!  Schwatzmaul!“  Damit  hatte  die  Denkmaschine  end­gültig ihren Namen weg. Unter großem Beifall wurde beschlossen, daß derSchiffscomputer der EUKALYPTUS fortan den Namen Schwatzmaul tragensollte.  Harpo schrieb es   ins  Logbuch  ein,  und Schwatzmaul  bedankte  sichartig für die Aufmerksamkeit.

„Gehen wir der Reihenfolge nach“, begann er seine Antwort auf eine FrageFantasias. „Archimedes am nächsten ist logischerweise der erste Planet, eine

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Steinkugel   ohne   Wasser,   Atmosphäre   und   Vegetation,   mit   einem   Durch­messer von viertausenddreihundertsiebenundzwanzigkommadreisechs­“

„Kannst   du   nicht   ein   bißchen   schneller   machen,   Schwatzmaul?“   fragteBrim  Boriam   in  das  Murren  der  anderen  hinein.   „Sag   uns   lieber,   wie  derPlanet heißt.“

„Döskopp!“   antwortete   Karlie.   „Der   ist   doch   noch   gar   nicht   getauftworden!“

„Dann geben wir  ihm halt  einen Name“, schlug Anca vor.  Im Namener­finden war sie groß; allerdings fielen ihr nur selten Planetennamen ein. Dafürnervte  sie   ihre   Mitspieler  beim   Scrabble  mit  ungeheuren  Phantasienamenund mußte meistens disqualifiziert werden.

„Prima! Aber dieses Mal wird keine Flasche daran zerschlagen.“„Wer weiß einen guten Namen für einen Steinhaufen?“„Vielleicht Rolling Stone?“„Oder Wackelstein?“„Nennen wir ihn Primus“, schlug Thunderclap vor. „Das hört sich wissen­

schaftlich an. Und heißt außerdem ‚der erste‘.“„Du immer mit deinem Latein“, brummte Fidel Flottbek, meinte es aber

nicht böse.Schließlich einigten sich alle auf Primus.Planet Nummer zwei war ein ziemlich unwirtlicher Patron mit einer Atmo­

sphäre aus Chlorgas. Tosende Stürme jagten mit Geschwindigkeiten von über700 Kilometern in der Stunde über seine Oberfläche. Die Zuhörer schütteltensich, als Schwatzmaul  ihnen die Zustände dort plastisch vor Augen führte,und sahen ein, daß auf diesem Planeten Leben in der gewohnten Form kaumexistieren konnte.

Bei der Namensgebung schlug Harpo Duftbeutel vor, während andere fürHaderlump   oder   Fiesling  waren,  aber   am  meisten   Beifall   fand  wieder   derschlichte Name Secundus, „der zweite“, weil er so schön lateinisch und ge­lehrt klang. Fantasia hatte den Vorschlag gemacht, um zu beweisen, daß sieebenfalls etwas von Latein verstand.

Bei   der   dritten   Welt,   einem   heißen,   trockenen   Himmelskörper,   dessenOberfläche eine einzige Wüste war, ging den Lateinern allerdings die Pusteaus. Schamhaft mußten sie zugeben, daß ihnen die lateinische Bezeichnungfür „der dritte“ nicht einfallen wollte. Und ausgerechnet dieses Mal hielt sichder geschwätzige Computer  zurück; vielleicht  hatte selbst  er hier  und dortkleine Wissenslücken. Schließlich einigte man sich auf „Nummer drei“, unddas war ja auch kein schlechter Name.

„Wenn uns später jemand danach fragen sollte“, meinte Thunderclap pfif­fig, „dann sagen wir einfach, daß nur lateinische Namen einfallslos wären.“Schwatzmaul registrierte die neuen Namen, und Harpo schrieb sie außerdemgewissenhaft in sein Logbuch. Dann lieferte der Computer weitere Informa­tionen: „Der vierte Planet macht gerade eine Winterperiode durch, eine ArtEiszeit. Die Atmosphäre besteht zu 25 Prozent aus Sauerstoff, zu 70 Prozentaus Stickstoff. Der Rest sind Edelgase wie Neon, Xenon, Helium und –“

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„Ist das nicht giftig?“„Nicht   der   Rede   wert“,   erwiderte   Schwatzmaul   eilfertig.   „Versuche   von

Professor Doktor Reinhard Merker haben ergeben, daß –“„Den kenne ich!“ rief Brim Boriam aufgeregt.„Oh“, antwortete Schwatzmaul verdutzt. „Ich dachte, daß nur ich ... Nun,

wenn es mir  gestattet  ist,  möchte ich gern mein kleines Referat fortsetzen,ahem, aber nur, wenn es wirklich niemanden stört ...“

Aus den Lautsprechern kam so etwas wie ein verlegenes Hüsteln. „Verzei­hung“, hieß es dann. „Herr Präsident, Frau Präsidentin, Herr Minister, meineHerren   Kanzleiräte.   Ich   möchte   an   dieser   Stelle   nicht   versäumen,   in   allerDeutlichkeit   und   mit   dem   gebotenen   Ernst   dieser   Stunde   darauf   hinzu­weisen, daß es mir ein Herzensbedürfnis ist –“

„He, ‘ne andere Platte!“ rief Fidel.„Zur Sache, Schwatzmaul“,  kam ihm Thunderclap zu Hilfe,  während die

anderen feixten und lachten.„Ich bitte vielmals um Verzeihung“, sagte der Computer höflich. „Das ist

mir so herausgerutscht. Das war ein Ausschnitt aus der Taufrede für diesesRaumschiff.“

„Och“,   entfuhr   es   dem   staunenden   kleinen   Oliver.   „Echte   Kanzleirätewaren dabei?“

„Ich fahre fort“, meinte Schwatzmaul, ohne den Einwurf zu beachten. „Dervierte Planet ist nahezu erdgroß, und seine Schwerkraft beträgt 0,99 Gravita­tionseinheiten, was bedeutet, daß man sich auf ihm eine Winzigkeit leichterbewegen kann als auf der Erde. Ein Zentner wiegt dort gewissermaßen nurneunundneunzig Pfund.“

Harpo klatschte vor Begeisterung, und auch die anderen Kinder atmetenauf. Diese Nachricht bedeutete ihnen sehr viel, denn wer wollte schon seinenFuß auf eine Welt setzen, wo er fortwährend darauf achten mußte, daß schonein kleiner Sprung ihn in ungeahnte Höhen trieb.  Das konnte nämlich ge­schehen, wenn die Schwerkraft nur gering war, wie etwa auf dem Mond derErde.   Das   Gegenteil  konnte  natürlich   noch  unangenehmer  sein,  denn  einMensch kann schlecht in einem Gravitationsfeld von vielleicht fünf Gravosleben und arbeiten. Das wäre so, als müßte man dauernd mit riesigen Mühl­steinen am Hals durch die Gegend laufen.

Planet  Nummer fünf, der unter großem Gelächter Gustav getauft  wurde,weil  sein grantiges Äußeres eines der Kinder an das Gesicht seines OnkelsGustav   erinnerte,   stellte   sich   ebenfalls   als   lebensfeindlich   heraus.   Undaußerdem kreiste er in so großer Entfernung um die Sonne, daß sie geradenoch als  pfenniggroße  Scheibe  zu erkennen war.  Entsprechend  lausig  kaltmußte es dort sein.

Allen war klar, daß allein der vierte Planet das Ziel der EUKALYPTUS seinkonnte. Man würde Eis und Schnee auf ihm finden und nannte ihn deshalb„Nordpol“, aber vielleicht spielte auch die Hoffnung mit, daß er trotz allemein bißchen wie die Erde aussah – jene grüne Erde aus den Geschichtsbü­chern.

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Dann   mußten   die   neuentdeckten   Gleitboote   auf   Vordermann   gebrachtwerden. Lonzo organisierte ein Kommando von technisch versierten Grünenund ließ sie in den inneren Organen der Maschinen so lange herumkriechen,bis sie melden konnten, daß zwei der Boote einsatzbereit wären. Das dritte –es trug die Bezeichnung A­1 auf den Außenwänden und den Stummeltragflä­chen – hatte  einige Schäden davongetragen,  die nicht  sofort  zu reparierenwaren. Es würde einige Wochen dauern,  bis  dieses Boot  wieder eingesetztwerden konnte. Ein bißchen lag das auch wohl daran,  daß die Grünen fürWartungsaufgaben programmiert worden waren und mit ungewohnten Re­paraturen nicht so gut zurechtkamen. Einige besaßen nur ein Programm fürUnterrichtsfunktionen – schließlich hatten sie in den alten Tagen der EUKA­LYPTUS die Kinder als Lehrer betreut und wurden von vielen noch immermit  gemischten Gefühlen  betrachtet.  So stellten sie  sich an wie  Leute  mitzwei linken Händen. Weder Lonzo noch Schwatzmaul konnten in dieser Be­ziehung groß helfen, weil ihnen Informationen über Reparatur und Montageweitgehend fehlten. Und die technisch Begabten unter den Kindern warenebenfalls überfordert.

Der historische Augenblick kam, der Tag, an dem die Gleitboote A­7 undA­9 an das große Gehirn angeschlossen wurden. Bisher hatte es nur Energie­zufuhren gegeben, deren Existenz dem Schiffscomputer zwar bekannt aberso wenig bewußt war wie dem Menschen eine einzelne Ader am großen Zeh.Fast   zum   gleichen   Zeitpunkt,  als   Schwatzmaul   zum   ersten   Mal   die   Bootefühlte,  kam das Signal,  auf das alle  gewartet  hatten:  Die EUKALYPTUS er­reichte einen Position, von der aus ein sanftes Einschwenken in eine Kreis­bahn um Nordpol möglich wurde.

Ein leichtes Zittern durchlief das Schiff, als die seitlichen Schubdüsen, dieals einzige Antriebselemente funktionierten, den vorausberechneten Stoß inden   Orbit   ausführten.   Die   Antischwerkraftfelder   der   EUKALYPTUSverhinderten, daß sich irgendwelche Gegenstände selbständig machten undSchäden anrichteten. Es gab nur einen ganz kleinen Ruck, dann waren sie aufder Umlaufbahn. Die Eigengeschwindigkeit des Schiffes und die Anziehungs­kraft  des Planeten hielten sich  jetzt  die  Waage. Das  Ergebnis  war eine ge­krümmte   Flugkurve,   die   nur   ganz   allmählich   flacher   wurde.   DieEUKALYPTUS konnte sich antriebslos einige hundert Jahre hier oben halten,bis eines Tages die Schwerkraft des Planeten siegen würde – wenn das Raum­schiff dann noch Nordpol umkreiste. Immerhin bestand die Möglichkeit, daßder Antrieb vielleicht doch noch repariert werden konnte. Dann boten sichnatürlich ganz neue Möglichkeiten.

„Harpo“,   stöhnte  Thunderclap   mit   heiserer   Stimme,   „wir   sind   vielleichtTränentiere! Aber intergalaktische! Weißt du auch, warum?“

„Neee!“ gaben Harpo und ein paar andere verdutzt zurück.„Weil wir auf der Kreisbahn um Nordpol sind.“„Wieso?“ meinte Harpo verständnislos. „Das wollten wir doch auch, oder?“„Ja, das heißt: nein“, sagte Thunderclap. „Ich weiß schon selbst nicht mehr,

was ich davon halten soll. Verstehst du denn nicht: Wir können jetzt nicht

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mehr zurück! Wir werden den Planeten umkreisen, bis wir schwarz sind oderbis der Antrieb wieder in Ordnung ist!“

In dieser Deutlichkeit hatte sich Harpo die neue Situation noch nicht be­wußt gemacht, aber so dramatisch fand er es nun auch wieder nicht.

„Na und?“  meinte  er.  „Wir wollen uns doch sowieso auf  Nordpol  ansie­deln.“

„Was wollen wir?“ schrie Thunderclap entsetzt.Schlagartig wurde allen bewußt,  daß sie  in eine Sache hineingeschlittert

waren, ohne daß sie sich über die Folgen und ihre Ziele unterhalten hatten.Alle wollten  auf  den  Planeten hinab.  Aber offensichtlich hatten einige nurdaran gedacht, ihm einen Besuch abzustatten, während sich die anderen eineneue Heimat erhofften. Und die erste Fraktion hatte nicht bedacht, daß dieEntscheidung für Nordpol etwas Endgültiges war. Die Schubdüsen waren vielzu schwach,  um sie  rückgängig  zu machen,  nachdem  die  Schwerkraft  desPlaneten sie eingefangen hatte.

„Das ist putzig, daß wir uns nicht darüber unterhalten haben“, meinte Har­po. Aber so war es nun einmal. Er fühlte sich nicht entfernt so unglücklichdarüber wie Thunderclap, der mit den Tränen kämpfen mußte. Der Junge imRollstuhl war immer an einen bestimmten Ort gebunden gewesen und kann­te die Freiheit nicht, sich zu bewegen, wie er wollte. Jetzt war das anders: Siehatten   die   Erde   weit   hinter   sich   gelassen.   Da   wollte   er   doch   nicht   eineneinzigen   Planeten   eintauschen   gegen   all   das,   was   unter   anderen   Sonnennoch verborgen lag!

Harpo konnte den Freund gut verstehen und wäre gern mit ihm durch dasAll  gezogen.  Aber er hatte sich längst  damit abgefunden, daß so etwas mitdem defekten Antrieb nur ein Traum war. Also blieb Nordpol, und das schienihm nicht das Schlechteste zu sein.

Eine   Versammlung   wurde   einberufen.   Die   Stimmung   war   zerfahren,   alssich   alle   hinsetzten   und   Lonzo   das   Wort   ergriff.   „Liebe   Freundinnen   undFreunde“, begann er in seiner komischen Art. „Lieber Herr Landrat und liebeFrau Landratte! Eine ganz und gar erschröckliche Tatsache drang an unseregeplagten Ohren, über die wir eine Entscheidung fällen müssen. Wie unsereunschlagbaren Ingenieure Einstein und Sause –“

„Lonzo!“  zischte  Thunderclap  drohend.  Ein bißchen hatte  er  sich schonvon dem Schock erholt.

„... und Genius“, verbesserte sich Lonzo schnell, „ausgetüftelt haben, sitzenwir ziemlich tief drin in der dicken Tinte.“

Rasch   informierte  er  alle,  die  es  noch nicht  wußten,  daß  man vielleichteinen Fehler begangen hatte, als man die Kreisbahn um Nordpol wählte.

Nach einigen „Ahs“ und „Ohs“ kamen die ersten brauchbaren Vorschläge.Einen Schuldigen für die Situation zu suchen, lag allen fern, und deshalb hieltman sich damit gar nicht erst auf. Mehr als ein halbes Dutzend Interessiertegelobten, Fachliteratur zu studieren, um vielleicht doch herauszufinden, wieder Antrieb repariert werden konnte. Karlie fielen die Weltraumärzte ein. Erversprach, alles Menschenmögliche zu tun, um eines ihrer vielleicht in der

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Nähe kreuzenden Schiffe anzufunken. Die Ärzte hatten ja sowieso verspro­chen, irgendwann nach ihnen zu sehen. Also war die Situation gar nicht sodüster, wie sie im ersten Moment geglaubt hatten.

Der Planet füllte einige Stunden später fast das gesamte Gesichtsfeld aus,wenn man in der Sternenkuppel stand und ins All hinaussah. Deutlich konn­te man nun Gebirgsrücken und kleinere Ozeane sehen, die wider Erwartennicht zugefroren waren. Von intelligentem Leben keine Spur, aber das moch­te   aus   dieser   Höhe   höchstens   besagen,   daß   es   dort   unten   keineWolkenkratzer und Stratosphärenflugzeuge gab. Schwatzmaul schickte For­schungssonden ab, die sich zum Planeten senkten und dann mit Forschungs­ergebnissen zurückkehrten. Die meisten Flüsse dieser Welt waren gefroren,und   es   gab   nur   wenige   Vegetationsstreifen.  Schnee  fiel  beinahe   täglich   inweiten Gebieten. Aber das größte Mysterium, über das die Sonden Berichterstatteten, war ein auf der nördlichen Halbkugel gelegenes, seltsam geform­tes Hügelgebiet,  dessen Symmetrie auf einen künstlichen Ursprung hinzu­weisen   schien.   Der   natürliche   Entdeckerdrang   der   EUKALYPTUS­Mannschaft führte dazu, daß dieses Gebiet als erstes für eine Landung in Be­tracht gezogen wurde.

„Und   wen   schicken   wir   hinunter?“   fragte   Thunderclap   am   Tag   des   ge­planten Starts mit dem Gleitboot, während er aufgeregt mit seinem Rollstuhlüber das gesamte Deck null raste. „Ich würde ja gern mitgehen, aber dort un­ten im Schnee könnte ich mich doch nicht bewegen und müßte die ganzeZeit über im Boot hocken bleiben.“

Harpo beruhigte ihn mit dem Hinweis, daß schließlich auch jemand vonder Zentrale des Raumschiffs aus das ganze Unternehmen leiten mußte. Dierichtige Aufgabe für Thunderclap. Da die größeren Kinder alle darauf brann­ten, als erste den Fuß auf Nordpol zu setzen, mußte schließlich das Los ent­scheiden. Vier Plätze waren zu vergeben. Die Lose fielen auf Micel Fopp, FidelFlottbek,   Brim   Boriam   und   „Big“   Tom   Schlitz,   einen   Jungen,   der   seinenKameraden  anfangs   große   Schwierigkeiten   bereitet   hatte,   inzwischen   aberbewies, daß er freundlich und hilfsbereit wie alle anderen sein konnte, wennman ihn nicht dauernd anmeckerte und hänselte.

Der Start der A­9 ging reibungslos vonstatten, nachdem Thunderclap jedeneinzelnen der Besatzung eindringlich darauf hingewiesen hatte, ihm späterauch die kleinste Einzelheit des Abenteuers zu berichten. Schwatzmaul be­herrschte das Gleitboot sicher und befolgte mit präziser Routine die Anwei­sungen Fidels, der als Kommandant gewählt worden war. Die Außenkamerasder EUKALYPTUS verfolgten das winzige Schwebefahrzeug mehrere Stundenlang und verloren es erst aus den Augen, als es durch eine dichte Wolkenbankauf der Tagseite des Planeten zur Landung ansetzte.

Mit schweißfeuchten Händen ergriff Karlie Müllerchen sein Mikrofon undsprach die Worte, die man vorher ausgemacht hatte:

„Planet Nordpol, bitte melden! Hier spricht die EUKALYPTUS!“Aber niemand antwortete ...

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Spuren im Schnee

Der Schock saß so tief, daß mehrere Minuten lang niemand wagte, ein Wortzu sagen. Sogar Schwatzmaul zog es vor, technisch­unpersönlich zu werden.Sein   Großbildschirm   flammte   auf   und   präsentierte   eine   Reihe   von   Buch­staben, die sich nach und nach zu Wörtern zusammensetzten.

FUNKKONTAKT ABGERISSENMÖGLICHE GRÜNDE: KEINE DATEN„Kein   Irrtum   möglich?“   fragte   Harpo   entsetzt.   Er   war   aus   seinem

Schwenksessel   aufgestanden   und   strich   sich   fahrig   über   das   Kinn.   SeineHandflächen fühlten sich feucht an, und sein Herz schlug schneller als üb­lich. Thunderclap biß sich auf die Unterlippe. Er wirkte blaß. Was mochte ge­schehen sein?

KEINE DATEN KEINE DATEN KEINE DATEN gab Schwatzmaul erneut be­kannt, ein wenig vorwurfsvoll, wie es schien.

Harpo war nicht der einzige, der anfing, sich Vorwürfe zu machen. Warensie nicht  doch zu  hastig  vorgegangen?  Wäre  es nicht  besser  gewesen,  denPlaneten erst noch einige Tage lang zu umkreisen, um klarere, eindeutigereInformationen zu sammeln?

Schließlich war es Lonzo, der die trübe Situation aufhellte. Radschlagendwirbelte er durch die Zentrale und krächzte dabei: „Nicht verzagen – Lonzofragen! Nordpol ist frei von Piraten jeglicher Art, bei Neptun! Niemand kannunseren Freunden ein Leid angetan haben.“

„Und falls doch“, piepste der kleine Ollie und zerrte dabei wütend an denFransen   seiner   Lederhose,   „kriegt   er   es   mit   mir   zu   tun!“   Er   reckte   seinewinzige Gestalt.

Unter normalen Umständen wären wohl alle in befreiendes Gelächter aus­gebrochen,  denn Ollie konnte nicht einmal  einer  Fliege etwas zuleide tun,aber diesmal nagte an allen der Zweifel.  Fröhlichkeit  wollte  nicht  so rechtaufkommen. Die Freunde mochten wohlauf sein, aber auf jeden Fall  fehlteauch  ihnen  die  Verbindung  zum  Mutterschiff.  Sie  mußten  sich  allein  undverlassen vorkommen.

„Und   wenn   sie   nun   abgestürzt   sind?“   fragte   Anca.   In   ihren   Augensammelten sich langsam, aber sicher Tränen. Während Harpo seine jüngereSchwester tröstete, griff Schwatzmaul in die Beratung ein.

„Mit   Verlaub   bemerkt“,  äußerte  sich   das   Große   Gehirn   zum   ersten  Malwieder akustisch, „das ist unmöglich! Ich bin nach wie vor mit der A­9 ver­bunden. Nur hören kann ich nichts. Aber ich spüre das Boot – etwa so, wieeiner von euch seinen linken Zeigefinger fühlt und weiß, daß er vorhandenist, auch ohne daß er ihn sieht.“

„Langer Rede kurzer Sinn“, schnaufte Thunderclap Genius und raufte sichdabei   wild   die   Haare,   „Schwatzmaul   spürt   deutlich   seinen   linken   Zeige­finger.“

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„Untertänigster Diener“, gab das Große Gehirn überhöflich zurück, „so istes!“

Ein einziger, lang anhaltender Seufzer schwebte durch die Hauptzentrale.Die Anspannung wich aus den Gesichtern. Aber in den folgenden Stundenvergingen doch nur wenige Minuten, in denen nicht jemand bei Karlie Mül­lerchen an der Funkleitstelle auftauchte und nach Neuigkeiten fragte. Karlieertrug alles mit stoischer Gelassenheit, aber es blieb nicht aus, daß mit derverstreichenden Zeit die Unruhe bei allen wieder größer wurde.

Als sich auch am nächsten Morgen noch niemand von der A­9 gemeldethatte,   sagte   Harpo:   „Wir   müssen   nachsehen,   Thunderclap!   Schwatzmaulkann noch so beruhigende Kommentare abgeben. Ich glaube nicht eher dar­an,  daß  unsere Freunde  gesund und munter  sind,  bevor  ich   sie nicht  miteigenen Augen gesehen habe!“

„Ich  gehe   mit!“   rief   Anca   sofort.  Trompo,  der  nicht   einmal  katzengroßeAußerirdische,   der   einem   winzigen   Elefanten   glich   –   ein   irdischer   Kurier­flieger hatte ihn einst auf der EUKALYPTUS zurückgelassen –, gab pfeifendeGeräusche von sich. Auch andere Stimmen wurden laut. Einige Besatzungs­mitglieder brannten wie Anca und Harpo darauf, so schnell wie möglich dasandere Gleitboot zu besteigen und nach dem Rechten zu sehen. Einige derkleineren   Kinder   hatten   Angst   und   wollten   um   jeden   Preis   aus   der   Nähedieses  unheimlichen  Planeten  verschwinden.  Sie  dachten gar  nicht  daran,daß die EUKALYPTUS selbst dann nicht entfliehen konnte, wenn sich riesigeSchlangen von der Planetenoberfläche zu ihnen heraufringeln sollten. Über­haupt kamen unterdrückte Ängste und Hirngespinste an den Tag.

„Was ist, wenn sie Ungeheuern begegnet sind?“„Ach, du liest zu viele Schundromane!“„Oder sie sind in eine Falle geraten!“„Quatsch mit Soße! Wer soll die denn aufgestellt haben?“„Weißt du Döskopp denn, wer auf Nordpol lebt? Sicher gibt es da Riesen

mit drei Beinen und nur einem Auge mitten auf der Stirn!“„Pah!“Der kleine Ollie verbreitete eine Version, wonach glotzäugige Ungeheuer

mit   unheimlich   langen   Zähnen   und   einer   ganz   blaugefrorenen   Haut   imSchnee vergraben lagen und auf herabfallende Raumfahrer lauerten. Je deut­licher   er   sich   dieses   Bild   vorstellte,   desto   größer   wurde   die   Angst.   Erschüttelte sich schließlich vor Entsetzen, und seine Zuhörer lachten ihn aus.

Da nach einiger Zeit alle einsahen, daß es besser war, Gewißheit zu haben,als mit flatternden Pulsen über die Decks des Raumschiffs zu rennen oder vorAngst in die Hose zu pinkeln, gab es keine Einwände mehr gegen die geplanteSuchexpedition. Die Lose fielen diesmal auf Harpo Trumpff, der vor Freudedarüber einen kleinen Luftsprung  machte,  Fantasia,  die  kleine Lori  Powitzmit den blauschwarzen Locken und dem süßen Lispeln und – Lonzo! Ancaguckte ziemlich traurig drein, weil sie nicht mitdurfte.

„Alter Blechmann“, sagte Harpo erfreut und klopfte seinem metallenen Ge­fährten auf die Brust. „Das ist aber riesig, daß du mitkommst!“

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„Grrrkk, grrkkk“, machte Lonzo, was wohl dem „Blechmann“ galt, denn soetwas hörte er gar nicht gern. Aber es klang auch ein bißchen wie Lachen.„Bitte an Bord kommen zu dürfen, Captain.“

Der Himmel allein mochte wissen, wo er die alte Seemannsmütze mit denblauen Bändern aufgetrieben hatte, die er blitzartig hervorzauberte und überdas Metallei seines Kopfes stülpte.

Nachdem sich die Schleuse des Gleitbootes A­7 hinter der Besatzung ge­schlossen hatte und die Funkhelme verteilt waren, zeigten leichte Knackge­räusche an, daß Karlie die Funkverbindung mit der Hauptzentrale hergestellthatte und dort vor den Geräten saß.

„Alles im Lot?“ fragte Thunderclap.„Aye, aye, Sir!“ brüllte Lonzo. „Alle Mann in die Wanten! Refft die Segel!“ Er

blieb   als   einziger   stehen,   als   sich   die   A­7   behutsam   in   Bewegung   setzte.Schwatzmaul pumpte die Atemluft aus dem Hangar, dann glitt die quadra­tische Außenschleuse der EUKALYPTUS zur Seite. Langsam bewegte sich dasGleitboot in den Weltraum hinaus.

Mit   offenen   Mündern   starrten   die   Kinder   auf   das   Panorama   vor   ihrenAugen.  Es war phantastisch und noch viel  erregender als von der  Zentraleaus! Der nachtschwarze Raum, nur durchstochen vom Glitzern und Funkelneinzelner  Fixsterne   in verschiedensten Farbabstufungen,  wirkte  grenzenlosund schien sich bis  in die  Unendlichkeit  zu erstrecken – und so war es  jaauch. Das schmale Band der Milchstraße befand sich im Moment unter ih­nen,  aber  das war nur  eine Frage der  Perspektive und hing vom Kurs  desGleitbootes ab.

Die größte Bewunderung rief das gerade verlassene Raumschiff hervor, daszum ersten Mal in seiner ganzen Pracht und Größe zu sehen war.

„Das ist ja viele, viele Kilometer lang!“ stöhnte Harpo. Von der Zentrale aussah man immer nur einen winzigen Teil.

„Ist  doch logisch, wenn man daran denkt,  wie groß die einzelnen Deckssind“,  meinte   Fantasia.  Aber  auch  sie   konnte   ihre  Begeisterung  nicht  ver­bergen.

„Das muß aber ein Getöse gewesen sein, als die EUKALYPTUS von der Erdegestartet   ist.“,   lispelte   Lori   mit   ihrem   weichen   Stimmchen.   Da   die   kleineimmer sehr empfindlich reagierte, wenn sie meinte, daß sie nicht genügendBeachtung fand, wollte Harpo schnell  auf die Bemerkung antworten. DochThunderclap kam ihm zuvor.

„Diese großen Raumschiffe sind nur für den Weltraum gedacht, Lori“, er­tönte   seine   Stimme   in   den   Helmlautsprechern   der   Besatzungsmitglieder.„Deshalb starten  und  landen sie niemals  auf  einem  Planeten und werdenauch im Weltraum montiert. Das Material wurde aus dem Asteroidengürtelherangeschafft, zum Teil aber auch von der Erde aus hochgeschossen.“

„Astro...  Astaro... gürtel?“ fragte Lori neugierig und schüttelte verwundertden Kopf. „Was ist das denn? Kenn’ ich gar nicht!“

Thunderclap lachte leise in sich hinein. „Kein Wunder“, sagte er dann et­was gönnerhaft. „Das ist nur etwas für ganz alte Raumhasen. Weißt du, zwi­

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schen den Planeten Mars und Jupiter befindet  sich ein Ring aus winzigen,großen und ganz dicken Steinbrocken. Einige sind beinahe so groß wie derMond der Erde. Viele enthalten wertvolle Erze, aus denen durch SchmelzenMetalle gewonnen werden. Übrigens glaubt man, daß dort in Urzeiten beina­he ein weiterer Planet entstanden wäre.“

„Nach   einer   anderen   Theorie   gab   es   einen   solchen   Planeten“,   ergänzteHarpo. „Man nimmt an, daß die Asteroiden die Reste von ihm sind, als erauseinanderplatzte.“

Thunderclap   war   während   der   Planetenumkreisung   ihr   einzigerGesprächspartner, aber die Zeit verging im wahrsten Sinne des Wortes wie imFluge, denn dem Rollstuhlfahrer – eine unbekannte Krankheit machte es ihmunmöglich zu gehen – fiel eine interessante Geschichte nach der anderen ein.Trotz seiner Jugend wußte er unheimlich viel. Die Krankheit hatte dazu ge­führt, daß Bücher und Zeitschriften seine besten Freunde wurden.

Unterwegs gab es noch helle  Aufregung,  als Harpo ausrief:  „Wir  müssenumkehren, ich habe den Translator vergessen!“

Er meinte damit ein Gerät, das nicht größer war als eine Armbanduhr unddazu dienen konnte, die unbekannte Sprache etwaiger Bewohner des Plane­ten verständlich zu machen. Bereits die erste Expedition hatte ein solches Ge­rät   an   Bord   gehabt.   Insgesamt   besaßen   sie   nur   fünf   Translatoren   undbehandelten   sie   entsprechend   sorgfältig.   Es   waren   Geschenke   der   Welt­raumärzte.

Aber dann entdeckte Harpo den Translator doch noch. Er hatte ihn beimBetreten des Bootes gedankenlos in ein Ablagefach gesteckt. Er band sich daskleine Wunderwerk sicherheitshalber um das Handgelenk.

Als   die   A­7   in   die   Lufthülle   des   Planeten   eintauchte   und   ThunderclapsStimme häufig  durch  Störgeräusche  überlagert  wurde,  hatten Harpo,  Fan­tasia und Lori das Gefühl,  nun eine Menge mehr über den Menschen, denWeltraum und den ganzen wunderbaren Kosmos zu wissen. So beeindrucktwaren   sie   von   Thunderclaps   Erklärungen.   Sogar   Lonzo,   der   nun   wirklichmehr wußte als alle Kinder zusammen, grunzte Beifall.

„Lesen kann einen tatsächlich nur klüger machen“, brummelte er tentakel­wedelnd.   „Obwohl   es   natürlich   auch   darauf   ankommt,   was   man   liest.Schundhefte sind Gift. Glaubt eurem alten Lonzo, der mehr Magengeschwürehat als Karlie Müllerchen Pickel auf der Nase!“

Obwohl das ein bißchen lehrerhaft geklungen hatte, mußte Harpo seinemMetallfreund   im   Grunde   recht   geben.   All   die   Superhelden   in   den   buntenHeftchen, ob sie nun Perry, Jerry oder Barry hießen, konnten ihm gestohlenbleiben, seitdem er aus eigener Erfahrung wußte, wie großspurig dort auf diePauke gehauen wurde.

Dann stieß das Gleitboot  durch die Wolkendecke hindurch.  Gebirgszügetauchten auf. Ein großer See huschte gerade aus ihrem Blickfeld.  Sie über­querten ein riesiges Waldgebiet, das unter einer dichten Schneedecke lag. Eswurde langsam dunkler.

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„Wird   es   jetzt   schon   Nacht?“   fragte   Lori   gespannt.   Lonzo   erklärte,   daßdieses  Phänomen damit  zu tun hatte,  daß die A­7 sich der Nachtseite  desPlaneten näherte.

„Höhe   siebentausend   Meter“,   sagte   Schwatzmaul,   der   sich   bisher   be­scheiden im Hintergrund gehalten hatte. Dann: „Viertausend Meter.“

Der   geschwätzige   Computer,   nun   die   Sachlichkeit   in   Person,   hielt   dasGleitboot genau auf Kurs. Zehn Minuten später überflogen die Kinder eineHügellandschaft,   deren   Gipfel   etwa   sechshundert   Meter   hoch   aufragten.Auch hier lag überall Schnee, aber man konnte erkennen, daß die Hügel sehrgleichmäßig   waren   und   eine   runde   Kuppe   hatten.   Und   einer   glich   demanderen so sehr, daß man von oben glaubte, hier hätten einige Riesen platt­getretene Fußbälle verstreut. Das mußte die Landschaft sein, die ihnen schonvon der EUKALYPTUS aus aufgefallen war und das Ziel der ersten Expeditiongewesen war.

„Dort!“ rief Fantasia. „Die A­9! Seht ihr?“Richtig.   Das   Gleitboot   stand   verlassen   zwischen   zwei   eng   beieinander­

stehenden Platthügeln. Es war fast eingeschneit, aber immer noch deutlichzu erkennen. Thunderclap erkundigte sich aufgeregt nach Neuigkeiten, weiler Fantasias Aufschrei mitgehört hatte.

„Außer dem Boot  ist  nichts  und niemand zu sehen“, meldete Harpo ge­knickt.

Die A­7 sank tiefer. Plötzlich verkündete ein feines, hohes Rauschen, daßdie Funkverbindung zu EUKALYPTUS abriß.

Harpo   reagierte   blitzschnell.   „Rauf,   Schwatzmaul,   rauf!“   brüllte   er   ausLeibeskräften, obwohl auch ein Flüstern genügt hätte. Ihm war eine Idee ge­kommen: Wenn die Funkstörung nun damit zusammenhing, daß die Hügelnäher   rückten?   Diese   seltsam   symmetrischen  Felsformationen   wirkten  beiweitem nicht so, als hätten die Naturgewalten sie im Laufe der Jahrmillionenabgeschliffen.

Schwatzmaul hatte verstanden. Ein Ruck ging durch die A­7 und brachtedas Boot leicht ins Trudeln, aber dann zischte es wie ein von der Sehne ge­schnellter Pfeil in die Höhe. Sofort war die Verbindung wieder einwandfrei.

„Muß   mit   der   Höhe   zu   tun   haben“,   meinte   auch   Thunderclap   nach­denklich.  „Vermutlich  wird die  Verbindung wie bei  den anderen abreißen,wenn ihr  landet.  Aber ich höre gerade,  daß euch Schwatzmaul  auch ohneFunkbefehl wieder heraufholen kann.“

Es stellte sich heraus, daß hierzu ein Knopfdruck ausreichte. Das dabei aus­gelöste Signal lief auf  einer  Frequenz, die von der Funksperre nicht beein­trächtigt wurde. Nachdem ausgemacht worden war, daß dieser Knopf nur imNotfall   gedrückt   werden   sollte   und   dann   bedeutete:   „Gleitboot   sofortstarten“,   konnte   das   Abenteuer   der   Landung   gewagt   werden.   Behutsamsenkte sich die A­7 in den Schnee neben das Schwesterboot.

Schnuppernd   sogen   die   Kinder   die   Luft   ein,   als   sie   die   Köpfe   aus   derSchleusentür steckten. Es war kalt. Sie sprangen hinaus und versanken bis zu

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den Knien   im  weichen,   flockigen  Pulverschnee.  Es  war  so  hell,  daß  ihnenanfangs die Augen brannten.

„Brrrrr“, machte Fantasia. „Bloß schnell wieder ins Boot und in die Schutz­anzüge. Hier friert man sich ja sonst was ab.“

„Angeberin“, meinte Harpo, folgte ihr aber rasch in das Gleitboot. Nur Lorimußte  erst   mehrfach  ermahnt  werden,  bevor   sie   ebenfalls  hineinkletterte.Lonzo, der sich meckernd geweigert hatte, auch nur die kleinste Spitze seinereisernen Füße in den Schnee zu setzen, weil er angeblich höllische Angst vorRostflecken hatte, half ihnen wieder hinein. Natürlich machte er nur Theater,denn er bestand aus rostfreiem Edelstahl und hatte von Wasser, Schnee undEis nicht das geringste zu befürchten.

In den wetterfesten, heizbaren Anzügen betraten sie den Planeten Nordpolerneut.  Diesmal   in  ernsterer  Stimmung,  denn   schließlich  waren  vier   ihrerFreunde verschollen. Da konnte man nicht Hanswurst spielen und naiv in dienächste Falle  rennen.  Sie bedauerten,  daß sie die Oberfläche des Planetenunter diesen traurigen Umständen betraten.  Viel   lustiger wäre es gewesen,jetzt eine Schneeballschlacht zu machen oder Schlitten zu fahren.

Mißtrauisch beäugte Harpo die Umgebung. Ihr Boot stand in einem Tal di­rekt am Fuß eines Platthügels. Das flache Gelände zwischen diesem und demnächsten Hügel maß etwa einen Kilometer. In allen vier Windrichtungen rag­ten kahle Hügel  empor,  denen ihr  besonderes  Augenmerk galt.  Ein eisigerWind pfiff. Rasch wurden die Nasen rot. Harpo hob Lori auf Lonzos Roboter­körper, damit sie Huckepack reiten konnte. Die Kleine war trotz ihrer elf Jah­re im Wachstum zurückgeblieben und drohte bei jedem Schritt  in dem fürHarpo und Fantasia nur knietiefen Schnee bis zum Bauch einzusinken.

„Halt!“ rief Fantasia plötzlich. „Ist das nicht eine Spur?“Tatsächlich,   das   sah   aus,   als   wäre   dort   jemand   hingefallen.   Selbst   die

dünne Schicht Neuschnee konnte den deutlichen Abdruck eines Hinterteilsnicht verbergen.

Vorsichtig bewegte sich die Gruppe weiter  nach Norden.  Vereinzelte  Lö­cher im Schnee, halb zugeschüttet, aber immer noch sichtbar, führten genauauf einen der Hügel zu. Als sie ihn erreicht hatten, mußten sie die Köpfe weitin den Nacken legen, um bis zur Kuppe hinaufzuschauen.

„Sie können sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben“, lispelte Loriungläubig.

Dann entdeckte Harpo im Schnee einen Handschuh. Er glaubte, daß er denschon mal bei Brim Boriam gesehen hatte. Aber die Stelle, an der er lag, mar­kierte zugleich das Ende der Spuren. Als hätte Brim: „Sesam, öffne dich“ ge­sagt und sei direkt in die Hügelwand hineingegangen.

Seltsam. Brim und die anderen waren also hier gewesen, genau an dieserStelle. Aber was war dann geschehen?

„Es wird bald dunkel“,  sagte Lonzo und zeigte mit  einem Tentakel  – dieanderen drei waren nötig, um Lori auf seinem glatten Körper Halt zu geben –auf die am Horizont versinkende Sonne Archimedes. „In der letzten Nachthaben wir kaum geschlafen. Schlage vor, wir gehen in die Hängematten unter

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Deck, Captain. Kleiner Imbiß in der Kombüse wäre natürlich vorher nicht zuverachten!“

Als er das sagte, fühlten sich alle plötzlich hungrig und müde. Sie kehrtenins Boot zurück, gaben Schwatzmaul mit dem Druckknopf Anweisung, dasBoot zu starten und lieferten der Zentrale ihren ersten Bericht ab. Die Stim­mung   war   ziemlich   niedergeschlagen.   Obwohl   sie   keine   ausgesprochenenschlechten   Nachrichten   durchgaben   –   zum   Jubeln   gab   es   keinen   Anlaß.Erfreulich war nur, daß man weder wilde Raubtiere noch Ollies glotzäugigeAstronautenfresser entdeckt hatte.

Harpo, Fantasia und Lori lagen lange wach. Obwohl sie eigentlich hunde­müde waren, wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen.

Rätselhafte Schatten

Mitten in der Nacht wachte Harpo auf, ohne zu wissen, was ihn geweckthatte. Er reckte sich und lehnte den Kopf gegen die Rundsichtscheibe. Er riebsich die Augen und lauschte dann in die Finsternis hinaus.

Etwas berührte sanft seinen rechten Arm. Lonzo. Da er eine Maschine war,benötigte er keinen Schlaf. Er war die ganze Zeit wach gewesen.

„Psssst!“ zischte der Roboter. „Hörst du?“„Mmmmmm“, brummte Harpo verschlafen. Seine Glieder schmerzten vor

Erschöpfung.   Von   irgendwoher   drangen   Geräusche.   Er   glaubte,   daß   dieVermißten zurückkehrten, und wollte mit einem Freudenschrei aufspringen,aber Lonzos Tentakel drückten ihn schnell zurück und verschlossen seinenMund.  „Nicht  bewegen,   Junge“,   flüsterte  er  dabei.   „Draußen  tut  sich  was.Steh ganz langsam auf.“

Auch Fantasia erwachte durch das Gemurmel, dann Lori, aber beide begrif­fen   schnell,   daß es   besser  war,  sich   leise  zu   verhalten.   Zaghaft   hoben  dieKinder ihr Köpfe und spähten durch die Glaskuppel.

Im Schein der beiden winzigen, rötlichleuchtenden   Monde des Planeten,die einen geheimnisvoll anmutenden Schein über die Schneedecke warfen,bewegten sich mehrere riesenhafte Gestalten, die jauchzend auf ihren Hin­terteilen   die   Schneehügel   hinabrutschten   und   johlend   in   weiche   Schnee­wächten plumpsten, sobald sie unten ankamen.

Die   heimlichen   Beobachter   in   der   A­7   glaubten   ihren   Augen   nicht   zutrauen: sieben, acht, neun zottelfellige, langhaarige, entfernt menschenähnli­che Wesen benutzten die Stille der Nacht dazu, auf den Hügeln Schlitten zufahren.  Allerdings  ohne Schlitten.  Und daß es   ihnen Spaß machte,  konnteman an den Lauten, die sie ausstießen, leicht feststellen.

„Was sind denn das für welche?“ fragte die kleine Lori staunend. „Affen?“„Bei allen Planeten!“ prustete Harpo los. „Wenn das ein Traum ist, Lonzo,

dann zwick’ mich!“

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„So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen!“ rief jetzt auch Fantasia undgluckste   in   sich   hinein.   Das   war   wirklich   umwerfend   komisch,   wie   dieschwerfällig   wirkenden  Gesellen  die   Schneebahn   hinunterrutschten   undnach geglückter  Landung sofort  wieder  den Hügel  hinaufhasteten,  um diegleiche Prozedur von neuem zu beginnen.

Niemand konnte sich vorstellen,  daß die  fröhlichen Gestalten etwas mitdem Verschwinden ihrer Freunde zu tun hatten. Immerhin wußten sie jetzt,daß dieser Planet nicht unbewohnt war.

„Ob sie wohl intelligent sind?“ fragte Lori.„Und  ob!“   antwortete   Lonzo.   „Oder   hast   du   schon   mal   lachende   Bären

gesehen?“„Sind das denn Bären?“Nun, aus der Ferne wirkten sie wenigstens so oder sahen ihnen zumindest

doch sehr ähnlich. Gemeinsam beratschlagte man, ob man es wagen sollte,mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber so mitten in der Nacht war die Ent­schlußfreudigkeit nicht sehr groß. Und in der Dunkelheit mochte das über­raschende  Auftauchen  von  Menschen  leicht  zu Mißverständnissen   führen.Ganz  abgesehen  davon,   daß die  Bären  es  vielleicht  gar  nicht   gern  hatten,wenn ihnen jemand den Spaß im Schnee verdarb.

So aufregend alles auch war, übermannte die Kinder doch bald wieder derSchlaf.  Am Morgen,  als  die ersten Sonnenstrahlen den vierten Planeten  inWärme und Licht badeten, waren die Zottelgestalten verschwunden. Nächtli­cher Schneefall hatte die Spuren beseitigt, als hätte es sie nie gegeben.

Schwatzmaul hob die A­7 wieder einige tausend Meter hoch, und Fantasiaerstattete Bericht, während Harpo das Frühstück bereitete. Die Nachricht vonden augenscheinlich friedlichen und vergnügten Wesen wurde auf der EUKA­LYPTUS mit Begeisterung aufgenommen. Aber an gutgemeinten Mahnungenund   Ratschlägen   fehlte   es   natürlich   trotzdem   nicht.   Nach   dem   Frühstückkletterten die vier Entdecker wieder in die Schneelandschaft hinaus. Sie teil­ten sich in zwei Gruppen: Harpo und Fantasia, Lonzo und Lori. Sie umrunde­ten   den   nördlichen   Hügel,   und   als   sie   sich   auf   der   anderen   Seite   trafen,winkte Lonzo schon von weitem aufgeregt mit einem Tentakel.  Harpo undFantasia liefen so schnell heran, daß der Schnee nur so spritzte.

„Habt ihr etwas entdeckt?“ fragten beide wie aus einem Munde.„Ich will meinen Kopf aufessen, wenn ich nicht jemanden gesehen habe“,

krächzte  Lonzo.   „Ganz  deutlich  habe   ich  einen  Schatten  wahrgenommen.Potz Galaxis! Ich könnte schwören, daß es der Geist des alten Captain Kiddwar!“

Fantasias helles Lachen kugelte zu den Hügelkuppen hinauf und rollte vondort zurück. Harpo konnte ebensowenig ernst bleiben. Lonzo will uns wiedereinmal foppen, dachte er. Aber zum allgemeinen Erstaunen war der Roboternicht  von seiner  Behauptung abzubringen,  daß er  einen Schatten gesehenhatte. Er tat sogar recht empört, als die anderen zur Tagesordnung übergehenwollten.

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„Glaubt ihr mir denn nicht, Freunde?“ knarrte er stur. „Ich meine es ernst!Dieser Freibeuter hatte einen wüsten roten Vollbart und geflochtene Zöpfe!Er schaute ziemlich grimmig drein, au weia!“

Lori, die noch immer, von Lonzo getragen, über den anderen thronte, ki­cherte verhalten. „Lonzo spinnt mal wieder“, meinte sie vergnügt. „Ich habejedenfalls   niemandes   Geist   gesehen.   Am   allerwenigsten   den   von   CaptainKitz!“

„Kidd!“  zeterte  Lonzo.  „Nicht  Kitz!  Ha,  du kennst   ihn  ja  auch  gar  nicht,mein Täubchen! Soll ich dir die Geschichte erzählen, wie ich zusammen mitCaptain Kidd auf der Knocheninsel nach der vergrabenen Schatztruhe such­te?  Also, paß mal  auf,  die Sache war so: Nachdem  wir  aus dem IndischenOzean kamen,  die   langen  Messer  zwischen den Zähnen,   gingen  Kidd undich ...“

Lonzo plapperte drauflos, obwohl keiner richtig zuhörte. Diese Geschichtekannten sie inzwischen auswendig, so oft hatte Lonzo sie erzählt. Man konn­te fast  meinen,  er  sei   tatsächlich  dabeigewesen.  Aber Harpo  wußte genau,woher   Lonzo   seine   Lügengeschichten   bezog:   Nichts   war   leichter   für   denEisenmann, als Seefahrerbücher aus der Bordbibliothek auswendig zu lernen,da   er   ein   elektronisches   Gehirn   besaß,  das   niemals  auch  nur   ein   Kommavergaß. Angefangen von Klaus Störtebeker bis hin zu Kapitän Marryat hatteLonzo alles aufgesogen, was sich mit Piraten beschäftigte. Sicherlich hatte erdabei auch eine Menge Seemannsgarn mitverdaut.

Egal!  Harpo und Fantasia,  die Lonzo bereits  lange kannten, wußten, daßman  sich  auf   ihn verlassen   konnte,  wenn  es   darauf   ankam.  Und   der  Me­chanismus   des   Roboters,   eine   Ansammlung   aus   Metall,   Kristallen   undNeuronen,   war   bestimmt   gegen   Halluzinationen   hundertprozentig   gefeit.Lonzo konnte Dinge wahrnehmen, die Menschen verborgen bleiben mußten,weil ihre Augen für solche Feinheiten nicht geschaffen waren. Auch ein Hundhört ja beispielsweise Töne aus dem Ultraschallbereich, die Menschen längstnicht mehr wahrnehmen können.

„Noch einmal von vorn, Lonzo, altes Haus“, sagte Harpo deshalb. „Wie sahdas Wesen aus, das du gesehen hast?“

„Es war einen Meter groß, wieselflink, grau ... ähm ... ich meine, es schienmir grau zu sein, weil es so wieselflink war. Es hatte einen Bart und Zöpfe undeinen Topf auf dem Kopf und einen komischen Anzug an, wie ein Taucher.“

„Topf auf dem Kopf?“ echote Fantasia ungläubig.„Taucheranzug?“ fragte Harpo. „War es vielleicht ein Raumanzug?“„Nitschewo!“ sagte Lonzo beharrlich. „Nein!“Er   schüttelte   seinen   freien   Greiftentakel.   „Der   Anzug   war   ziemlich   eng,

wollte ich damit sagen. Und der Bursche sah ziemlich rauflustig aus.“Wieder wedelte er mit dem Tentakel, tippte damit auf Harpos Schulter und

brummte: „Er sah genauso aus wie der Kerl, der gerade hinter dir steht.“„Huch!“ quiekte Lori.Fantasia und Harpo wirbelten herum. Für einen Sekundenbruchteil glaub­

te Harpo eine zwergenhafte Gestalt zu sehen, die sie aus einigen Metern Ent­

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fernung beobachtete. Dann war sie verschwunden. Sie löste sich im Nichtsauf und existierte nicht mehr!

„Ein Wichtelmann!“ rief Lori begeistert. „Mit Zöpfen! Wie süß!“„Er ... ist ... weg ...“ stotterte Harpo verdutzt.„Gar nicht  wahr“, behauptete Lonzo. „Wieso denn? Er steht noch da! Sagt

mal, könnt ihr denn nicht sehen?“„Wie?“ fragte Harpo.„Jetzt kommt er sogar näher!“„Harpo, ich fürchte mich“, flüsterte Fantasia.„Uijuijui, ist der aber schnell!“Alle rieben sich die Augen, nur Lonzo nicht. Es half nichts, die geheimnis­

volle Zwergengestalt blieb ihren Augen weiterhin verborgen. Sie sahen nie­manden, obwohl Lonzo steif und fest behauptete, der Wichtel stände genauneben Harpo.

„Also kann er sich unsichtbar machen“, folgerte Lori stolz, als hätte nochkeiner an diese Möglichkeit gedacht.

„Und wo ist er jetzt?“ fragte Harpo, der immer noch nicht wußte, was ervon der Sache halten sollte.

„Er gafft dich an“, versetzte Lonzo. „Ziemlich aufdringlich, wie ich finde.“Harpo verlor vor Schreck das Gleichgewicht und machte einen Schritt zur

Seite. Ihm war, als prallte er gegen eine unsichtbare Mauer. Ein spitzer Schreierklang, der sich recht empört und wütend anhörte. Dann wurde der Wichtelplötzlich   sichtbar.   Er   schnatterte   und   keifte,   da   er   genau   wie   Harpo   denBoden unter den Füßen verloren hatte und strampelnd im Schnee lag. Lang­sam   begann   die   weiße   Flockendecke   im   Umkreis   seiner   Gestalt   zuschmelzen.

„He, hallo!“ rief Fantasia. „Wer sind Sie denn?“„Unglgrungmumpf“, war die knurrige Antwort. Wie alle zugeben mußten,

war das weder ein schöner Name, noch klang das ganze besonders freund­lich.   Staunend   nahmen   die   Kinder   das   schimpfend   aufstehende   und   denSchnee   aus   den  Kleidern  klopfende  Zwergenwesen  in  Augenschein.   Untereinem spitz zulaufenden Ritterhelm mit kleinen Metallflügeln an den Seitenschaute sie ein faltiges Gesicht mit rotblonden, buschigen Augenbrauen an.Das Männlein besaß listige Äuglein, die zornig funkelten. Ein mächtiger Bartsorgte dafür, daß man von seinem Gesicht nicht allzu viel erkennen konnte.Feingeflochtene Zöpfe erinnerten die Kinder an einen Miniatur­Wikinger ausder irdischen Geschichte.

Bekleidet   war   das   Wesen   mit   einem   blaugrauen   Wams,   gleichfarbigenHosen und hohen Stulpenstiefeln. Um seinen Bauch spannte sich ein breiterLedergurt,  an dessen Vorderseite  ein  streichholzschachtelgroßes  Gerät  un­heimlich summte. Mehrere Schaltknöpfe waren darauf zu erkennen und paß­ten nicht zu dem sonstigen Äußeren.

Die Zunge vor Aufregung zwischen die Lippen geschoben, nestelte Harpoan seinem  Translator,  bis  er  den Knopf  gefunden hatte,  der das Gerät  ak­tivierte.  Dieses Meisterwerk der Mikrotechnik barg  einen Sprachcomputer,

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aber zaubern konnte der auch nicht. Zunächst mußte er einige Minuten langdie Laute einer unbekannten Sprache aufzeichnen und analysieren.

Es war also wichtig, daß der Fremde redete.„Wie ist das werte Befinden, edler Seemann?“ fragte Lonzo und ersparte da­

mit Harpo eine Arbeit.Der Inhalt der Frage war unwichtig. Es kam nur darauf an, daß der Zwerg

sprach. Tatsächlich hörte er mit  dem Knurren auf, begann zu grinsen, tratfrierend   von   einem   Fuß   auf   den   anderen   und   ratterte   dann   los   wie   einedefekte Schallplatte.

Schnurrend setzte sich der Translator in Gang. Die Apparatur registriertewachsam jeden Laut. Es dauerte kaum zwei  Minuten, da flossen die erstenabgehackten Sätze aus dem Translator und wurden von Silbe zu Silbe siche­rer und verständlicher.

„... elende Affenkälte ... Konntest nicht aufpassen, du Lausebengel? ... JetztDeflektorschirm   im   Eimer   ...   Mir   frieren   die   Zehen   ab   ...   Beim   sieben­schwänzigen Schneegespenst!“

Harpo entschuldigte sich wortreich, und da begann der Zwerg aufzuhor­chen.

„Schneegestöber   und   Eiszapfen!“   gurgelte   der   Translator,   als   der   kleineFremde mit  dem mächtigen Bartwuchs zu einer  Gegenrede ansetzte.  „Wiewird mir? Schon wieder diese Sternenbengel mit ihrer Sprechmaschine, diedie Sprache des Großen Flunkerers nachahmt!“

Die   Kinder   lachten   vor   Begeisterung,   während   Harpo   stolz   auf   seinenTranslator sah. Nach dieser grantigen Einleitung grinste der Zwerg erst ein­mal ausgiebig und sprudelte dann so hastig los, daß der Translator sich schierüberschlagen mußte, um alles ebenso schnell zu übersetzen.

Während er redete, zerrte der Große Flunkerer aufgeregt an Lonzos Tenta­keln, die ihn sehr zu beeindrucken schienen. Sie sollten sich nur keine Sorgenmachen, sagte er. Die Freunde seien in der Obhut der „Raufbolde“ und beibester   Laune.   Man   sei   ihnen   ja   sooo   dankbar,   vor   allem   dem   kleinenschwarzen Doktor.

Er hatte sich jetzt richtig in Begeisterung hineingeredet, versuchte bis zuden Schultern von Harpo und Fantasia hinaufzulangen und kollegial daraufzu klopfen, tätschelte Lonzo und kitzelte Loris Füße. Dann machte er alle An­stalten, gleich zu explodieren, wenn sie nicht sofort mit ihm kämen, da er aufdem besten Weg sei, zu einem bärtigen Eisklumpen zu werden.

Die anfängliche Verwirrung der Kinder wich schließlich, als  Harpo,  Fan­tasia, Lori und Lonzo begriffen, daß sie sich umsonst Sorgen um ihre Freundegemacht hatten.

Rasch folgten sie dem zitternden und zähneklappernden Flunkerer, der ih­nen großzügig gestattete,   ihn „Flunki“ zu rufen. Er schleppte sie genau zujener Stelle, an der sie bereits einmal rätselnd gestanden hatten: direkt vor diesteile Hügelwand, die graublau an einigen Stellen unter dem Schnee hervor­leuchtete.

Und dann kam die große Überraschung. Die Wand öffnete sich.

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Ein seltsamer Berg

„Eintreten,   Freunde!“   rief   Flunki   und   rannte   los.   Schon   hatte   er   dasschwarze Tor in der Felswand erreicht und war verschwunden.

Zögernd folgten ihm die Kinder.„He“,   ertönte   es   dumpf   aus   dem   Berg,   und   der   Translator   übersetzte

pflichtschuldig: „He!“ Flunkis dicke Nase tauchte aus dem Dunkel auf. Seinroter Bart schimmerte im Licht der Sonne. Die listigen kleinen Äuglein fun­kelten. „Beim einäugigen Eis­Zyklopen!“ schimpfte er los. „Worauf wartet ihrnoch?   Eure  Vorfahren   müssen   Schnecken   gewesen  sein.   Tausend   Schnee­mücken sollen euch in den Hintern stechen!“

Die   Kinder   lachten,   weil   sie   ja   inzwischen  wußten,  daß  man  nicht  allesernst nehmen durfte, was der Raufbold von sich gab. Aber sie setzten doch zueinem kleinen Spurt an. Verderben wollten sie es sich mit dem kleinen Minia­tur­Wikinger keinesfalls.

„Elender Schurke!“ fluchte Lonzo, der sich den sprachlichen Gegebenhei­ten dieses Planeten als erster anpaßte. „Mir qualmen schon die Socken. Meinalter Freund Captain Kidd hätte Euch für Eure Redensart in Eisen gelegt. Ja­woll, Herr Raufbold!“

„Pah, Captain Kidd“, kam die Antwort. „Wenn er so langsam war wie ihr,hätte er mich nie erwischt. Dem hätten ich die Zipfelmütze über die Ohrengezogen und ihn dann mit Schnee eingeseift.“

„Himmel,   Po   und   Zwirn!“   schrie   Lonzo   aufgebracht.   „Er   wagt   es   tat­sächlich, den mächtigen Captain Kidd zu beleidigen!  Herr Raufbold, merktEuch gefälligst, daß Captain Kidd nie eine Zipfelmütze, sondern stets einenprächtigen Dreispitz trug. Und so wahrhaft, wie ich Lonzo­Joachim Washing­ton de la Chevalier heiße: Schnee haben wir nicht auf einer einzigen unserervierhundertsiebzehn Kaperfahrten erspäht.“

„Lonzo!“ mahnte Fantasia entrüstet. „Seit wann gebrauchst du solche Aus­drücke? Und du sollst nicht so schauerlich lügen. Du heißt gar nicht LonzoWaschmirschon Dingsbums!“

„Was bedeutet der Ausdruck Schneewolke, verlängerter Rücken und Bind­faden?“ erkundigte sich Flunki neugierig.

„Schneewolken?   Verlängerter   Rücken   ...   und   ...“   wiederholte   Harpo   undprustete los. „Ach herrjeh! Da hat unser kleiner Translator aber wieder maleine Meisterleistung der Übersetzungskunst zustande gebracht.“

„Das haben wir gleich“, meinte Lonzo und drückte einen Knopf des Gerä­tes.   „Für   besondere   Fälle“,   dozierte   er,   „haben   wir   auch   eine   Deftig­Schaltung.“   Seelenruhig   wiederholte   er  seinen   Fluch   und   wartete,   bis   dasÜbersetzungsgerät ihn in Flunkis Sprache übertrug. „So“, sagte er zufriedenund ließ den Knopf wieder los.

Der Raufbold machte „Grrrrr!“ und sprang aus dem Stand zwei Meter hochin die Luft. „Gemeine Verleumdung! Meine Großmutter trinkt niemals!“

„Was hat der Translator denn gesagt?“ fragte Lori lachend.

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„Da fragst du noch?“ brummte der Raufbold und funkelte sie an – was Loriaber nicht  einschüchtern konnte,  weil  man zu deutlich sah,  welchen SpaßFlunki diese Schimpferei machte. „Dieser mißratene Schneeochse hat etwasvon einem letzten Rülpser meiner betrunkenen Großmutter gesagt!“

Flunki  machte  eine Anstandspause und fügte  dann schmunzelnd hinzu:„Also ehrlich, Freunde. Bisher hielt ich eure komische Sprache ja für ziemlichtrocken. Wußte gar nicht, daß ihr so gute Flüche auf Lager habt.“

„Wir müssen wohl öfter mal den Knopf drücken, damit sich der Translatorweniger gewählt ausdrückt“, meinte Harpo schelmisch.

Er  wußte   inzwischen,  daß  diese  winzige  Apparatur,   so  nützlich   sie   war,auch ihre Schwächen hatte. Normalerweise übersetzte sie ziemlich trockenund bürokratisch, und manchmal waren hochgeschraubte Redewendungendas Ergebnis. Die Kinder hatten das Gerät auf der EUKALYPTUS ausgiebig ge­testet und sich dabei vor Lachen gekugelt, wenn aus: „Heiliger Bimbam, waszieht   der   Kerl   für   eine   komische   Visage“   ein   gepflegtes   „Gesegnetes   Glo­ckengeläut,   der   Herr   Kommerzienrat   hat   aber   ein   freundliches   Lächeln“wurde.

Da der Translator auch ein Programm besaß, in dem drastische und lustigeWörter der Umgangssprache gespeichert waren, kam er mit der Sprache derRaufbolde   gut   zurecht.   Sobald   Flunki   redete,   schaltete   sich   das   Gerätautomatisch auf Programm II.

„Wollen wir nicht weitergehen?“ fragte Lori Powitz. Die Kleine brannte dar­auf, das Innere des geheimnisvollen Berges zu erkunden.

„Ein   guter   Streit   ist   wichtiger   als   alles   andere“,   tönte   Flunki.   „Aber   imGrunde  hast  du  schon  recht,  Schneeflöckchen.  Borro  wird  sicher   langsammüde, das Tor weiterhin offenzuhalten.“

„Borro?“ fragte Harpo neugierig.„Ja, Borro“, erwiderte Flunki und tat sehr wichtig. „Der Schneekrabbler.“„Ehrlich gesagt“, gab Harpo zu, „ich verstehe immer nur Schneekrabbler.“„Ha“, sagte Flunki und freute sich diebisch. „Beim Ringelschwanz des alten

Frostaffen: Das wundert mich gar nicht.“Die Freunde beeilten sich, Flunki weiter in das geheimnisvolle Innere des

Berges zu folgen. Plötzlich wurde es düster. Dort, wo sich eben noch der Ein­gang befunden hatte, erschien wie durch Zauberei eine Wand. Das Sonnen­licht konnte nicht mehr in die Höhle eindringen.

„Wird gleich wieder heller“, versicherte ihr Führer beruhigend. Man hörteetwas rascheln. Allem Anschein nach kramte Flunki in seinen Taschen. Dannblitzte der Lichtkegel eines kleinen Handscheinwerfers auf.

„Wir  haben  unsere  Scheinwerfer  natürlich   im Beiboot  gelassen“,  meinteHarpo und schlug sich schuldbewußt gegen die Stirn.

„Macht nichts“, sagte der Wichtelmann. „Nur die Außengänge sind dunkel.Wir kommen bald in die beleuchteten Wohngebiete.“

„Wo ist denn der Eingang geblieben?“ forschte Fantasia mißtrauisch.„Ho,   ho,   ho!“   lachte   Flunki.   „Wahrlich,   bei   den   zehn   Rüsseln   des

fischfressenden Mammuts: Wo ist er denn?“

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Man sah ihm an der Nasenspitze an, daß er nicht im Traum daran dachte,dieses Geheimnis zu lüften, zumindest nicht jetzt. Die Kinder vertrauten ih­rem neuen Freund inzwischen soweit,  daß sie sich keineswegs  eingesperrtoder beunruhigt fühlten. Nur Lonzo konnte sich nicht verkneifen, seinen Senfbeizusteuern. „Mich dünkt, der Kollege Raufbold ist ein ganz entschiedenerWitzbold. Eine richtige Ulknudel!“

„He, he, he!“ lachte Flunki meckernd. „Das will ich meinen!“Ein merkwürdiger  Berg war dies  wirklich,  selbst  wenn man nicht   länger

über das Geheimnis des verschwundenen Eingangs grübelte. Der Boden fühl­te sich nicht etwa hart und felsig an, wie man es von einem ordentlichen Bergerwarten sollte, sondern war weich und schwammig. Als würde man auf einerprallgefüllten   Luftmatratze   gehen.  Und   warm   schien   er   auch   zu  sein.   DieWände des Tunnels, in dem sie ihrem eifrigen kleinen Führer folgten, warenhärter. Sie erinnerten an Kalkstein und schimmerten auch in hellen Farbtö­nen.

Die   Freunde   hatten   bereits   ein   Dutzend   anderer   Tunnel   gekreuzt   undkamen langsam zu der Überzeugung, daß der ganze Berg durchlöchert warwie   ein   Schweizer   Käse.   In   diesem   Labyrinth   konnte   man   sich   bestimmtleicht verlaufen.

Aber   schließlich  hatten   sie   einen   ortskundigen  Pfadfinder.   Und  zur  Nothätte wohl auch Lonzo den Rückweg gefunden, denn der brauchte ja nur seinfotografisches Gedächtnis zu befragen. Wenn er wollte, konnte er zum Bei­spiel nacheinander hundert Kieselsteine beschreiben, die an einer beliebigenStelle in einem der künstlichen Bachbette an Bord des Raumschiffes EUKA­LYPTUS   lagen.   Er   brauchte   nur   seinen   elektronischen   Schaltkreisen   denBefehl   zu   geben,   diese   gespeicherten   Einzelheiten   abzurufen.   Die   Kinderbeneideten ihn um diese Fähigkeit, besonders dann, wenn sie mühsam ver­suchten, sich irgend etwas Wichtiges einzuprägen, indem sie ein Buch mehr­mals lasen oder die Videofilme immer wieder ablaufen ließen. Lonzo genügtein  einziger   flüchtiger  Blick  aus  seinen Sehzellen,  und schon  war  das  Ge­schehene Bestandteil seines Gedächtnisses.

Lonzo trug noch immer seine Matrosenmütze auf dem eiförmigen Wulst,der aus dem ansonsten kugelrunden Metallkörper herausragte. Dort warenseine   wichtigsten   Sensoren   untergebracht,   die   die   menschlichen   Sinnes­organe   ersetzten.   Nicht  zuletzt   die   funkelnden   Sehzellen   und   die   Sprech­membrane erinnerten  an  einen   menschlichen  Kopf.   Lonzo   hatte  danebenaber   auch   noch   Sensoren,   die   ihm   Ultraschall,   die   chemische   Zu­sammensetzung   von   Stoffen,   Luftfeuchtigkeit,   Temperatur   und   manchesandere   meldeten;   Dinge,   die   Menschen   nur   mit   technischen   Hilfsmittelnmessen können.  Er bewegte sich munter  auf  seinen beiden kurzen Beinenvoran, die wie die vier Tentakel aus winzigen Metallringen zusammengesetztwaren. Überhaupt schien er bester Laune zu sein, denn er benahm sich abso­lut nicht wie ein Forschungsreisender auf einem fremden Planeten.

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„Alle, die mit uns auf Kaperfahrt gehen, müssen Männer mit Bärten sein“,sang er laut und in schauriger Tonlage. „Flunki und Harpo und Lonzo undKidd – die haben Bärte, die fahren mit.“

„Is’ ja ga’ nich’ wahr“, lispelte Lori. „Nur Flunki hat einen Bart!“„Macht nix“, meinte Lonzo fröhlich. „Dann bekommen die anderen Fah­

rensleute eben einen Bart ehrenhalber verliehen.“„Und was ist mit uns Mädchen?“ fragte Lori enttäuscht.„Bärte sind nichts für Mädchen“, antwortete der Roboter. „Aber ich werde

mich bei Captain Kidd dafür einsetzen, daß Fantasia Einstein und Loretta Po­witz wegen besonderer Verdienste für den großen Klabauter­Orden mit ge­kreuzten Knöcheln vorgeschlagen werden.“

„Klasse“, lispelte Lori. „Aber ich heiße nicht Loretta, sondern Lotharine!“Flunki behielt  recht.  Als sie wieder einmal in einen anderen Höhlengang

des Labyrinths abbogen, leuchtete vor ihnen ein warmes, rotgelbes Licht, dasseine Lampe bald überflüssig machte. Der Raufbold verstaute sie wieder inden Falten seiner Kleidung. Erstaunlicherweise kam das Licht aus dem Bodendes Ganges, der förmlich zu glühen schien.

Harpo hatte wie die anderen die Kapuze seines Schutzanzuges zurückge­schlagen und seine langen, blonden Haare aus der Umhüllung geschüttelt. Eswar wirklich sehr warm. Er öffnete den Reißverschluß des Anzugs und mach­te sich etwas Luft. Er hoffte, daß sie bald am Ziel waren und die Anzüge ab­legen konnten.

Plötzlich   drang   eine   Gruppe   von   sechs   Raufbolden   lärmend   aus   einemNebentunnel.

„Heilige Winternacht mit Tannenzapfen!“ rief der eine, ein dickes, rundesMännchen mit  einem langen Zopf. „Mir  sollen sofort  alle  Schneeläuse ausdem Bart springen, wenn das nicht der Große Flunkerer persönlich ist. Unddiese  rasierten  Rotznasen sehen dem schwarzen Doktor  verflucht  ähnlich,he!“

„Frostbeulen und Eishagel“, antwortete Flunki mit ausgebreiteten Armen.„Kann man denn nicht ein einziges Mal in diesen Höhlen spazierengehen,ohne über den dicken Wanst des alten Flusi und seinen Anhang zu stolpern?“

„Mann, wenn die in Massen auftreten, ist aber echt der Eisbär los“, meinteHarpo staunend.

„He, he, he!“ lachte die Schar der Raufbolde, während Flunki und Flusi sichbegeistert auf die Schultern klopften.

Die Gruppe bestand aus drei männlichen und drei weiblichen Wesen, vondenen   letztere   kleiner   und  zierlicher   wirkten  als   ihre   Begleiter.  Sie   hattendünnere Nasen als die Männer und waren natürlich bartlos. Eine der Frauensah wie ein kleines Mädchen von zehn Jahren aus und trug das rotblondeHaar offen. Die anderen hatten dicke Zöpfe wie die Männer.

Alle wirkten freundlich und lächelten die Besucher an. Gekleidet waren siewie   die   männlichen   Raufbolde:  derbes   Lederwams   oder   ein   grobgewebtesHemd, enge Hosen, Stulpenstiefel oder Sandalen mit Lederriemen bis überdie Knöchel und breite Gurte um die Hüften. Die meisten trugen jenes kleine

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Gerät an Stelle einer Gürtelschnalle, mit dem die Raufbolde die Schnelligkeitihrer Bewegungen erstaunlich steigern konnten.

„Meine Freunde hier wollen zu dem kleinen schwarzen Doktor“,  erklärteFlunki, nachdem er seine Begrüßungszeremonie mit einem Knuff  in FlusisRippen abgeschlossen hatte. „Weiß einer von euch, wo er und die anderenBurschen stecken?“

Brim hätte sich wohl gewundert,  daß Wesen, die nur halb so groß warenwie er, ihn als klein bezeichneten – aber gewiß hatte er inzwischen selbst sei­ne Erfahrung mit dem Wortschatz der Raufbolde gemacht. „Beim eisigen Eisdes Schneegockels“, erwiderte Flusi vergnügt, „gewiß weiß ich das!“

Wenn die Kinder jetzt erwartet hatten, daß Flusi weiterreden würde, sahensie sich getäuscht. Er grinste nur und zwirbelte seinen prächtigen roten Bart.

„Aber wie ich dich kenne“, knurrte Flunki mit geballten Fäusten, „willst dues mir nicht verraten, he?“

„Freilich.“„Beim Eiszahn des Frostvampirs!“ schrie Flunki. „Dann rede doch endlich,

Kerl!“„Kein   Grund   zur   Aufregung“,   antwortete   Flusi   grinsend.   „Der   schwarze

Doktor und seine Freunde sind mit unserem Pilzsammelkommando weg undkehren erst gegen Abend zurück.“

„Dann machen wir es uns einstweilen gemütlich“, sagte Flunki. „Folgt dem Großen Flunkerer zu den Fleischtöpfen der Raufbolde. Sicher­

lich seid ihr hungrig.“

Der Clan der Raufbolde

Die Kinder warteten, bis Lonzo nach einer chemischen Analyse mit einemfröhlichen „Haut rein!“ die Speisen für unbedenklich erklärte, dann machtensie sich mit Heißhunger über Fleischbrühe, Salat und Obst her.

Die chemische Analyse war notwendig, obwohl niemand an der Gutartig­keit der Raufbolde ernsthaft zweifelte. Die Möglichkeit konnte nicht ausge­schlossen werden, daß die Speisen für menschliche Organismen ungeeignetwaren.

Im Grunde aßen die Kinder nun zum ersten Mal in ihrem Leben natürlicheNahrung, denn alles, was sie von der Erde und vom Raumschiff her kannten,war synthetisch – sogenanntes Synthofood –, wenn es auch in Aussehen undGeschmack natürlicher Nahrung angeglichen war.

„Das müßte Karlie miterleben“, sagte Harpo und kaute mit vollem Mundan   einer   eiförmigen,   grüngelben   Frucht,   die   saftig­süß   schmeckte.   „Derwürde   uns   nicht   länger   mit   seinen   blöden   Kartoffelpuffern   in   den   Ohrenliegen.“

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Fantasia und Lori Lachten. Karlie Müllerchen war berühmt­berüchtigt fürseine vielen Kartoffelpuffer­Rezepte. Wenn er Küchendienst hatte,  und daskam oft vor, weil er sich regelrecht danach drängte, war es nicht schwer, denSpeisezettel zu erraten.

Flunki gab sich nicht damit zufrieden, seine Gäste beim Essen zu beobach­ten, sondern langte selbst kräftig zu. Die Brühe schöpfte er aus einem riesigenMetallkessel,   dessen   Inhalt   mindestens   drei   Dutzend   hungrige   Mäulergestopft hätte. Obst und Salate reichte er aus großen Schüsseln und Körben.Wie es schien, waren die Raufbolde mit ungeheurem Appetit gesegnet. Na,kein Wunder,  wenn sie  sich so schnell  bewegten und zusätzliche Kalorienbeim Fluchen verbrauchten.

„Ich will  mal  nicht  so sein“,  meinte  Flunki  augenzwinkernd.  „Normaler­weise   schalten   wir   nämlich   beim   Essen   unser   Beschleunigerfeld   auf   diehöchste Stufe,  damit  wir  richtig reinschaufeln können. Würde ich das tun,hättet ihr keine Chance gegen mich.“

Sein mächtiger Schnauzbart  hatte beim Schlürfen der Brühe bis  auf denBoden der Kumme gehangen und tropfte  jetzt  wie  ein Pinsel,  den man inFarbe getaucht hatte.

Lori kicherte leise in sich hinein und stieß mit dem Fuß Fantasia an.„Schneebeutel   und   Eishörnchen!“   fluchte   der   Große   Flunkerer.   „Mir

scheint, das Schneeflöckchen Lotharine macht sich über mich lustig!“„Nein,  nein“,  beruhigte  ihn Harpo hastig.  „Sie  ist   immer so albern beim

Essen.“„Na, ausnahmsweise will ich das mal glauben“, sagte Flunki schmunzelnd.

Dann versuchte er Lori einen strengen Blick zuzuwerfen, der ihm so gründ­lich mißlang, daß die Kleine mit einem glockenhellen Lachen herausplatzte.Das   war   so   ansteckend,   daß   alle   mitlachen   mußten,   selbst   Flunki.   Dabeitraten ihm vor Freude sogar die Tränen in die Augen.

Allein Lonzo schaute beim Essen zu, ohne etwas anzurühren. Ihm machtedas aber wenig aus.  Als Roboter  kannte er Gefühle wie Hunger  und Durstnicht, wenn er auch manchmal wie ein Mensch redete und es weit von sichwies, eine Maschine zu sein. Allerdings freute er sich zuzusehen, wie es sei­nen Freunden schmeckte. Er beanstandete nur, daß Essen für Captain Kiddstets eine wichtige und ernste Sache gewesen sei, die mit Albernheiten nichtvereinbar  war,  und deshalb die Sache  mit  dem Klabauter­Orden vielleichtdoch noch einmal überlegt werden müsse.

Ansonsten registrierte er in seinem fotografischen Gedächtnis, daß sie hierin einer kleinen Grotte saßen, die man wohl als Küche bezeichnen mußte. Einniedriger,  derber  Holztisch trug das Eßgeschirr,  das nur aus Kummen undkleinen Messern bestand. Man hatte es sich auf dem weichen Boden bequemgemacht und die warmen Anzüge abgelegt.  Falls  die  Raufbolde Stühle  ge­kannt hätten, wären sie ohnehin zu klein für Menschen gewesen.

Abgesehen von dem Tisch und den vielen Töpfen und Körben gab es nurnoch ein paar Regale mit allerlei Vorräten und in einer Ecke stand eine glü­hendrote Platte, auf der der Suppentopf gestanden hatte.

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Das   war   wieder   einmal   erstaunlich.   Obwohl   die   Raufbolde   rustikal   ein­gerichtet   und  angezogen   waren  und   in   Felsenhöhlen   wohnten,   hatten   sieandererseits doch einige Dinge, die nur mit einer hochtechnisierten Zivilisa­tion zu erklären waren, etwa Heizplatten, Taschenlampen oder die Gürtel mitdem Beschleuniger.  Nicht zu vergessen die Beleuchtung, die auch hier ausdem Fußboden drang. Eigenartig nur, daß man die leuchtenden Fläche sahund auch dunklere und hellere Flecken und Stränge ausmachen konnte, aberweiter im Boden nichts zu erkennen war.

„Erzähl   uns   doch   bitte   was   über   die   Raufbolde,   Flunki“,   platzte   Harposchließlich heraus, als alle satt waren.

„O ja, bitte!“ fielen auch Fantasia und Lori ein.Für einen Moment redeten alle durcheinander, aber schließlich setzte sich

Harpo durch.„Wie   viele   Raufbolde   gibt   es   eigentlich   auf   eurem   Planeten?“   wollte   er

wissen.„Nicht mehr sehr viele“, antwortete Flunki. „In diesem Clan leben knapp

hundert von uns. Die ganze Ostgruppe besteht aus siebenundvierzig solcherClans. Und dann gibt es noch eine Westgruppe und eine Nordgruppe mit zu­sammen noch einmal einhundertelf Clans. Alles in allem besteht unser Volkaus   höchstens   zwanzigtausend   Raufbolden,   Kinder   und  Greise   mitgerech­net.“

„Oh“,  machte Harpo.  Das war  wirklich  nicht  sehr  viel.  Besonders,  wennman bedachte,  wie  groß der  Planet  Nordpol  war.  Auf  der  Erde  lebten fastzehn Milliarden Menschen!

„Früher waren wir mehr“, erklärte Flunki. „Damals war es aber auf dieserRiesenmurmel  noch nicht  so hundekalt.  War leichter,  etwas zu Futtern füruns und die Partner zu finden.“

„Woher habt ihr die Beschleuniger­Gürtel?“  fragte Fantasia, bevor Harpoweiterfragen konnte. Er hätte gern gewußt, wen der Raufbold gemeint hatte,als er von Partnern sprach.

„Ha!“   explodierte   Flunki.   „Bei   den   sieben   Rotpelzen,   die   ich   mit   einemHolzschwert   erledigte!   Ich   möchte   jedes   Haar   meines   prachtvollen   Barteseinzeln darauf wetten,  daß du uns nicht zutraust,  daß wir genügend Gripshaben, so etwas selbst zu bauen! Du hältst uns für finstere Höhlenaffen, dienichts können, als Schneebeeren und Frostpilze sammeln, he?“

„Aber nein, ich wollte nur ...“ protestierte Fantasia, die nicht recht wußte,ob Flunki nun in der Tat beleidigt war oder wieder einmal den starken Mannspielte. Und sie fühlte sich wirklich ein wenig schuldbewußt, denn sie hattetatsächlich daran gedacht, daß vielleicht eine andere Rasse den Raufboldenein paar technische Instrumente überlassen hatte.

„Schneematsch   und   Eisklumpen!“   redete   sich   der   Gnom   in   Rage.   „Wiemacht man diesen Rotznasen nur klar, daß wir Raufbolde schon Raumschiffebesaßen, als die Menschen noch auf den Bäumen hockten und ihre Läusezählten?“

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Er   raufte   sich   theatralisch   die   Barthaare   und   fummelte   dann   an   seinenZöpfen.  Schließlich  warf  er  seinen Helm mit  den kleinen  Metallflügeln  zuBoden und tat so, als würde er darauf herumtrampeln. Aber er achtete ge­schickt darauf, daß er nichts an seiner Kopfbedeckung beschädigte.  Flunkizeigte   die  Zähne,   machte   wieder   mal:   „Grrrr!“,   und   dabei   funkelten   seineAugen vor diebischer Freude. Mit diesen Leuten von der Erde konnte mansich so herrlich aufregen.

Schließlich hielt er erschöpft inne, holte tief Atem und erzählte, daß es ingrauer   Vorzeit   auf   dem  Planeten   Nordpol   einen  Streit   gegeben  hatte   zwi­schen Raufbolden, die immer weiter in den Kosmos hinausstürmen wollten,und   solchen,   die   lieber   erst   einmal   auf   dem   Planeten   alles   in   Ordnungbringen wollten, bevor man sich auf Abenteuer einließ.

Tatsächlich hatte sich dann eine Gruppe von Raufbolden von ihren Part­nern getrennt und war ins All gestartet. Man hatte nie wieder etwas von ih­nen gehört. Die Zurückgebliebenen wurden nachdenklich. Man fragte sich,ob es Sinn hatte, immer weitere Reichtümer auf Kosten anderer anzuhäufen,sich gegenseitig  zu beneiden und zu bekämpfen.  Man fand einen anderenWeg: mit den Partnern und in der Geborgenheit des Clans, in dem niemandNot leiden mußte und jeder seinen Spaß hatte.

„Caramba!“ schimpfte Lonzo. „Dieser bärtige Knirps kann es einfach nichtlassen, uns ehrliche Seeleute zu verschaukeln. Er will uns einfach nicht sagen,wer denn diese geheimnisvollen Partner, von denen er dauernd redet, über­haupt sind!“

Plötzlich tauchte ein vor Anstrengung keuchender Jungraufbold am Ein­gang der Küchenhöhle auf. Seine großen, dunklen Augen blitzten freudig indem schwarzhäutigen Gesicht. Nanu, ein schwarzer Raufbold?

„Harpo! Lori, Lonzo, Fantasia!“ rief er. „Die R­r­r­raufbolde haben m­mirgesagt, daß eine zweite E­expedition eingetroffen ist.“

„Mensch,   Brim!“   schrien   die   anderen.   Sie   hatten   ihren   Freund   von   derEUKALYPTUS   in  seinem   neuen  Raufboldanzug   nicht  erkannt.  „Wir  habenuns die größten Sorgen gemacht, als der Funkkontakt abriß.“

„D­das war wegen ...“„Wissen wir schon alles“, unterbrach ihn Fantasia. „Erzähl doch mal, wie es

euch ergangen ist.“Jetzt kamen auch Tom Schlitz, Micel Fopp und Fidel Flottbek angerannt.

Die Sonne Archimedes hatte sie braun gebrannt, und auch sie sahen in denfremdartigen Kleidern abenteuerlich und verwegen aus. „Hat Borro uns ge­schenkt“,   verkündete   Brim   Boriam   stolz   und   deutete   auf   seine   Stiefel.„Mächtig dankbar, der Bursche!“

„Ich habe euch schon von draußen gespürt“, sprudelte Micel  hervor, derJunge mit den verkümmerten Ärmchen. Er verfügte über telepathische Kräf­te, das heißt, er konnte gelegentlich die Gedanken anderer Leute empfangen.„Denkt   nur,   ich   habe   mich   telepathisch   mit   Borro   unterhalten.   EinfachKlasse, kann ich da nur sagen!“

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„He, das wird aber eng hier“, knurrte Flunki. „Laßt uns in eine der Schwatz­höhlen rübergehen.“

Er setzte seinen Gedanken direkt in die Tat um und führte seine Gäste ineine große Nachbarhöhle, in der alle genügend Platz hatten. Sie ließen sichauf weichen Fällen am Boden nieder.

„Wo wart ihr denn die ganze Zeit?“ fragte Lori gespannt.„Wir haben den Raufbolden bei der Schneepilz­Ernte geholfen“, verkünde­

te Tom stolz, dessen krankhafte Blässe fast ganz verschwunden war. „Stellteuch mal vor: Ich allein habe mehr als vier Tonnen geerntet. Da wird Borroanständig über den Winter kommen!“

„Verflixt und zugenäht!“ explodierte Harpo. „Langsam reicht es mir aber.Dauernd wird hier  von Partnern und diesem Borro geredet,  und niemandhält es für nötig, uns diese mysteriösen Burschen einmal vorzustellen!“

„Jawoll!“  krähte Lonzo. „Selbst  Captain Kidd würde niemanden so langeauf die Folter gespannt haben!“

Micel blickte seinem Freund in die Augen, sah in Wahrheit aber viel tiefer,nämlich  in Harpos  Gehirn.  „He!“  rief  er  aus.  „Die wissen tatsächlich nochnicht, wer Borro ist!“

„Juchhu!“ lärmte Tom. „Dann steht euch die dickste aller dicken Überra­schungen ja noch bevor!“

„Hahaha“, lachte Brim. „Das zieht ja den stärksten Eskimo vom Schlitten.Hört mal, Leute, könnt ihr euch vorstellen, daß man Borro übersieht?“

Die   Neuankömmlinge   schienen   die   Sache   unheimlich   lustig   zu   finden,denn sie konnten sich kaum beruhigen vor lauter Lachen.

„Allmächtiger Schüttelfrost!“ jubelte Flunki, dessen mächtiges Organ allesübertönte. „Ist das ein Spaß! Das muß ich nachher sofort den anderen erzäh­len. Und vor allen Dingen natürlich Borro.“

„Wo ist er denn, euer Borro?“ rief Harpo und sah sich um. „Holt ihn dochendlich her, damit wir ihn sehen können.“ Aus unerfindlichen Gründen riefauch diese Äußerung eine Lachsalve hervor.

„Großvater des Frostfiebers!“ kreischte Flunki in höchstem Entzücken undmit  Tränen in den Augen. „Ich kann nicht mehr. Diese Erdenwürmer sindaber auch wirklich zu spaßig.“

Wider Erwarten hatte Brim Boriam dann doch ein Einsehen. „Hört zu“, sag­te er mit Verschwörermiene, „ihr werdet gleich mit uns lachen und einsehen,wie komisch das alles ist. Borro ist ein Schneekrabbler und zugleich Partnerder Raufbolde. Sie leben mit ihm zusammen – genaugenomen sogar mehr alsdas!  Sie  leben in ihm. Versteht  ihr   jetzt?  Borro ist  eine intelligente  Riesen­schildkröte, die sich ganz gemächlich über den Planeten bewegt. Die Rauf­bolde leben in seinem Rückenschild,  den wir  anfangs alle  für  einen Hügelgehalten haben!“

Er klopfte auf den weichen Höhlenboden. „Dies ist Borro“, verkündete er.„Die   Wände,   das   ganze   System   der   Höhlen   und   Gänge,   der   ganze   sechs­hundert Meter hohe Hügel – das alles ist Borro!“

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„Potztausend!“ rief Lonzo begeistert. „Wenn das Captain Kidd noch erlebthätte!“

Harpo,  Fantasia  und  Lori  hatten   ihren  Ohren  nicht   trauen  wollen.  Aberjetzt verstanden sie alles. Da hatten sie ja wahrhaftig vor lauter Bäumen denWald nicht gesehen. Natürlich, das erklärte alles: Der Eingang in den „Berg“war nichts anderes gewesen als ein Muskel dieses riesigen Wesens und konn­te auch deshalb wieder verschwinden, weil er sich zusammenzog und die Öff­nung verschloß. Das erklärte auch die Weichheit des Untergrundes, auf demsie gelaufen waren.  Sie  hatten sich auf  der Haut des Schneekrabblers  vor­wärtsbewegt.

Jetzt   lachten   alle   und   riefen   fröhlich   durcheinander.   Es   war   in   der   Tatphantastisch. Sie hielten sich im Schutzpanzer eines lebendigen Wesens desPlaneten Nordpol auf. Thunderclap und die anderen Freunde auf der EUKA­LYPTUS würden Augen wie Mühlräder machen, wenn sie davon hörten.

„Erzählt uns mehr über die Schneekrabbler“, forderte Fantasia ungeduldig.

Ein komisches Erdbeben

„Es steigt die große Besichtigung des Schneekrabblers Borro!“ rief Flunki.„Was Beine hat, folge mir!“

„Klar“, meinte Brim. „Es ist viel beeindruckender, alles selbst anzusehen,als sich von den anderen was erzählen zu lassen. Wir kommen auch mit. Wirhaben uns noch lange nicht sattgesehen.“

Lärmend setzte sich die Schar in Bewegung. „Nehmt die Kratzer mit“, rietFlunki und zeigte auf eine Reihe von schrubberähnlichen Instrumenten, diean der Wand befestigt waren. „Die können wir wahrscheinlich gut gebrau­chen.“

Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und ergriffen die Geräte. Siedurchquerten eine Reihe von Wohnhöhlen. Das Lachen, Grüßen und Fluchenwollte überhaupt nicht abreißen, denn in den meisten Räumen hielten sichandere Raufbolde auf. Da einige beim Essen waren, auf der faulen Haut lagenoder in fröhlicher Runde den Becher mit Schnapshonig kreisen ließen, fragteHarpo seinen Freund Brim verstohlen,  ob hier  denn nirgendwo gearbeitetwürde. Überhaupt hatten sie bisher noch nicht einen Raum bemerkt, in demes wie in einer Werkstatt, einer Wäscherei oder einer Fabrikationsstätte aus­sah.   Und   doch   mußten   die   Kleider   und   Einrichtungsgegenstände   dieserWessen irgendwo entstehen, gereinigt, geflickt und gewaschen werden.

„Wie das vor sich geht, weiß ich auch noch nicht“, gab Brim zu. „Aber glaubja nicht,  daß die Raufbolde faul sind. Während sich der Schneekrabbler solangsam fortbewegt, daß es ein menschliches Auge kaum wahrnehmen kann,schwärmen sie mit automatischen Schlitten aus und sammeln Nahrung oderpflanzen neue an. Du glaubst ja gar nicht, was alles unter der Schneedecke

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wächst! Der Planet ist überhaupt nicht so tot, wie er aussieht. Pausenlos wirdNahrung eingefahren und gelagert. Riesige Mengen! Wirklich, du wirst dichwundern. Unterwegs haben wir auch Raufbolde aus anderen Clans getroffen,denn die Schneekrabbler bewegen sich ja in einer Gruppe über das Land.“

„Flunki   hat   erzählt,   daß   die   Ostgruppe   aus   insgesamt   siebenundvierzigClans besteht. Gibt denn das Land so viel Nahrung her?“

„Flunki?“   fragte   der   Raufbold,   der   alles   verstanden   hatte,   obwohl   diebeiden   Jungen   leise   gesprochen   hatten   und   außerdem   genügend   Lärmherrschte,  der nicht zuletzt durch sein eigenes lautstarkes Organ hervorge­rufen wurde. „Wer sagt etwas über den Großen Flunkerer, he? Heraus damit!“

„Wir unterhielten uns gerade über die riesigen Nahrungsvorräte“, erklärteBrim Boriam bereitwillig. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß hundert nochso hungrige Raufbolde derartige Mengen verdrücken können.“

„Na, die Futtermengen sind doch für Borro“, erklärte Flunki stirnrunzelndund mit gesträubtem Bart. „Und wieso frißt er sie nicht gleich?“ fragte Lorinaseweis.

„Eisregen   und   Frostnebel!“   knurrte   Flunki.   „Weil   er   schläft,   natürlich!Deshalb frißt er sie nicht, Schneeflöckchen.“

„He“, rief Tom ungläubig, „das stimmt doch gar nicht. Ich habe mit meineneigenen Augen gesehen,  wie  Borro sich weiterbewegt  hat.  Er  schläft  nicht.Der marschiert munter weiter. Na, munter für seine Verhältnisse jedenfalls.“

„Grrrrr“,  machte Flunki,  ergriff  dann mit beiden Händchen seinen Helmund versuchte ihn sich über die Ohren zu ziehen. „Der Eisverkäufer soll michim Packeis einfrieren, wenn Borro nicht schläft. – Und munter nennst du seinSchleichen? He, du müßtest mal sehen, wie er abzischt, wenn der Sommerkommt! Dann machen wir die großen Schneekrabbler­Rennen, an denen sichalle Clans beteiligen. Borro hat in den letzten tausend Jahren fast ein Viertelaller Wettrennen gewonnen. Wenn er im Sommer erwacht, jagt er schnellerals ein galoppierender Quadrubbel durch die Gegend. Ganz zu schweigen da­von, wenn er sich ins Gletschertal hinabschlittern läßt! Könnt ihr euch dasüberhaupt vorstellen, wenn diese wandelnden Berge wie Bobschlitten in dieTiefe trudeln und dann zusammenstoßen? Das macht vielleicht Spaß! Junge­junge!“

„Halt!“ rief Fantasia nun. „Hast du nicht eben gesagt, Borro sei tausend Jah­re alt?“

„Habe ich nicht“, meinte Flunki und streckte ihr die Zunge heraus. „Er istnämlich   zweitausend   Jahre   alt“,   fügte   er   grinsend   hinzu.   „Schneekrabblervermehren sich selten, dafür werden sie aber auch steinalt.“

„Und ihr?“ fragte Micel. „Werdet ihr auch so alt?“ Noch bevor Flunki dieAntwort aussprach, hatte Micel sie bereits im Gehirn des Raufbolds gelesen.

„Nein,  nein,  beim eisigen Bart  meiner Urgroßmutter“,  versicherte Flunkiabwehrend. „Wir werden auch nicht viel älter als ihr Menschen. Aber hört zu,ich will  euch erklären, warum Borro schläft  und trotzdem weiterkrabbelt  –und weshalb Raufbolde und Schneekrabbler so famos miteinander auskom­men.“

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Die Besucher  von der  EUKALYPTUS spitzten die  Ohren, während Lonzowie üblich alles in seinem Gedächtnis speicherte.

„Dieser  Planet,  den   ihr  Wichte  Nordpol  nennt  –  unser  Name  für   ihn  istRaufboldparadies –,  ist  groß. Und es gibt  auf ihm nur wenige Schneekrab­bler.“

Flunki   zwirbelte   seinen   Bart.   „Aber   sie   würden   bald   alles   kahlgefressenhaben und müßten aussterben, wenn die Natur im Laufe der Evolution nichteinen Schutzmechanismus entwickelt hätte. – Das geht so: Die Krabbler sindnur zehn Tage im Jahr putzmunter. Dann machen sie das große Rennen, vondem ich eben erzählt habe, und legen eine größere Strecke zurück als in denanderen 350 zusammen. Außerdem futtern sie  in diesen Tagen fast  unun­terbrochen. Sie fressen derart viel, weil es für das ganze Jahr reichen muß.Allein können sie gar nicht genügend Futter aufspüren in der kurzen Zeit.“

„Deshalb   also   helfen   ihnen   die   Raufbolde“,   unterbrach   ihn   Lori   miterhobenem Zeigefinger.

„Genau, Schneeflöckchen“, gab Flunki lachend zu. „Wir sammeln die ganzeZeit über Futter und stopfen es in die Hohlräume unter Borros Panzer. Wenner wach wird, schlingt er alles hinunter. Und noch einiges mehr, was er sichdann selbst sucht.“

„Dafür ist er euch sicherlich sehr dankbar.“„Stimmt.  Er gibt uns das ganze Jahr über behaglichen Unterschlupf und

Wärme, was am wichtigsten für uns Raufbolde ist, denn wir sind sehr kälte­empfindlich.  Deswegen  auch  unsere  Beschleunigerfelder,  die  wir  meistensdraußen einschalten, um schneller wieder zu Borro zurückkehren zu können.Früher war  es auch wichtig,  daß Borro uns vor  unseren Feinden schützte.Aber das ist noch nicht alles.“

„Nein?“ fragte Lori.„Borro kann noch viel mehr, denn er ist kein gewöhnliches Tier, sondern

ein hochintelligentes Wesen. Während sein Körper den größten Teil des Jah­res Winterschlaf hält, also gewissermaßen auf Sparflamme schaltet und dabeidoch langsam weiterkrabbelt, damit die Gelenke nicht einrosten, wacht seinGehirn! Er unterhält sich mit uns auf ähnliche Art wie euer Freund Micel, dergelegentlich eure Gedanken lesen kann. Wir haben dann nicht  nur großenSpaß miteinander, sondern Borro kann uns auch fast jeden Wunsch erfüllen.Deshalb   hat   Harpo   auch   nirgendwo   Fabriken   und   Werkstätten  entdeckenkönnen.   Borro   selbst   ist   nämlich  unsere  Fabrik!   Er  entnimmt   dem   BodenMineralien,  wandelt  sie  in flüssiges  Metall,  Glas  oder was  auch immer wirbrauchen   um   –   und   verwertet   gleichzeitig   die   unverdauten   Reste   derverzehrten Pflanzen.  Wir  machen dann  die  Konstruktionsentwürfe:   für  einWams oder einen Helm beispielsweise – und Borro spuckt die fertigen Sa­chen aus.“

„Klasse!“ sagte Brim bewundernd.„Phantastisch!“ mußte auch Harpo anerkennen.„Das ist ... intergalaktisch!“ rief Lonzo jubelnd und wirbelte seine Tentakel

umher.   „Das   hätte   Captain   Kidd   wissen   müssen,   als   wir   damals   vor   Kap

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Hoorn gekentert  sind. Zwei Jahre hat es gedauert,  bis wir wieder eine see­tüchtige Schaluppe unter die Füße bekamen.“

„Die Schneekrabbler haben sogar die Raumschiffe gebaut, mit  denen dieandere Hälfte unseres Volkes zu den Sternen flog“, verriet Flunki augenzwin­kernd. „Allerdings hat er dafür schon eine Menge Zeit gebraucht.“

„Donnerwetter“,   staunte   Fantasia.   „Dann   sind   Borros   Leute   ja   wohl   diegrößten   Ingenieure   der   Galaxis.   Oder   sagen   wir   mal,   Schneekrabbler   undRaufbolde zusammen.“

„Das möchtste wohl auch mal können, wie?“ neckte Tom sie. Es hatte sichherumgesprochen, daß das rothaarige Mädchen nichts lieber werden wollteals ein einfallsreicher Raumschiffbauingenieur. „Fertige Raumschiffe ausspu­cken und so?“

Harpo glaubte plötzlich auf einem Drahtseil zu laufen, das im Begriff war,sich erst  nach  links und dann nach rechts  zu verschieben.  Erschreckt  ver­suchte  er  die  Balance zu  halten  und erkannte,  daß er  keine  Halluzinationhatte, sondern daß seine Freunde – einschließlich Flunki, dem der Helm bisauf die Nasenspitze hinuntergerutscht  war – mit  demselben Phänomen zukämpfen hatten.

Der Boden bebte! Erschreckte Ausrufe drangen von allen Seiten auf Harpoein, dann purzelten die Kinder hilflos durcheinander. Von draußen ertönteein   Krachen,   das   sich   wie   das   Donnern   eines   Gewitters   in   den   Bergenanhörte.

„Die Engländer greifen Captain Kidd an!“ schrie Lonzo. „Alles in Deckung,Leute! Es werden schwerste Geschütze eingesetzt. Na los! Geschützklappenrunter! Geben Sie dem unverschämten Kerl eine Breitseite, Mister Trumpff!“

„Was war denn das?“ fragte Fidel, der sich wie die anderen mit wirren Haa­ren aufrappelte, als die Erschütterungen nachließen. „Ein Erdbeben?“

Ein Nachläufer riß ihnen erneut die Beine weg. Vorsichtshalber blieben sieeine Minute sitzen und beobachteten kichernd Flunki, dem der Helm nun bisans Kinn gerutscht war.

„Potz   Galaxis!“   schrie   der   Raufbold.   „Wollt   ihr   mich   nicht   von   diesemBlecheimer befreien? Ich sitze im Dunkeln!“

Lonzo war so frei.„Uff!“ machte Flunki mit hochrotem Kopf. Obwohl die anderen nun alle

damit rechneten, daß er ein paar saftige Flüche ausstoßen würde, grinste ernur breit und sagte: „Der Junge hat eben einen goldigen Humor. Wenn dasein Erdbeben war, dann ein sehr komisches.“ Er schüttelte den Kopf, daß sei­ne Zöpfe flogen. „Nein, Freunde, Borro hat gelacht. Richtig herzhaft gelacht.“

„Gelacht?“ echote Lori erstaunt.„Wie, wo, was?“ fragte Harpo verdutzt.Lonzo schnaufte: „Dann möchte ich nicht erleben, wenn er sich über etwas

ärgert!“„Hat er etwa über uns gelacht?“ meinte Fantasia pikiert.„He, he, he!“ lachte Flunki. „Ich nehme an, daß ihm ein Witz besonders gut

gefallen hat. Ihr werdet gleich sehen.“

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Tatsächlich  hörten   sie  aus  der   Ferne  ein   schallendes,   überschäumendesGelächter,  dieses Mal  aber aus den Kehlen einiger  Raufbolde,  die   in einerNebenhöhle saßen. Sie hatten flauschige Felle herangeschleppt, auf denen siegemütlich Schnapshonig tranken und dicke schwarze Zigarren rauchten. DasBesondere an dieser Höhle war, daß hier das Bodengewebe viel heller aussahund dicke Falten warf.  Die  Decke bestand ebenfalls  aus  weichem  Gewebeund nicht wie sonst aus dem Knochenkalk des Panzers. Dicke Stränge ausfleischigem Material hingen tief in die Höhle hinein. Ob das Nervensträngewaren?

„In solchen Kammern kann man sich besonders mühelos  mit  Borro un­terhalten“, bestätigte Flunki. „Sie sind direkt mit seinem Gehirn verbunden.“

„Ihr kommt gerade recht“, sagte einer der Raufbolde und nebelte sich der­art mit dem Qualm seiner Zigarre ein, daß man nur noch den bis zum Bauchreichenden   rotblonden   Bart   erkennen   konnte.   „Wir   sind   gerade   dabei,Flunki!“

„Dann legt mal los, Kollegen.“ Flunki rieb sich grinsend das Kinn.Der   andere   Raufbold   sagte:   „Hör   zu,   Borro:   Da   kommt   eines   Tages   der

Raufbold Rastus in das schneebedeckte Waldland von Süd­Talizien, weil erbeschlossen hat, einige Klafter Holz zu hacken. Als er ankommt, sieht er eineMenge anderer Raufbolde kräftig die Äxte schwingen. Kopfschüttelnd geht erauf die anderen Holzfäller zu und fragt: ‚Wieso arbeitet ihr denn so langsam?‘– Das regt die Befragten natürlich auf. Und das kann man verstehen, wennman weiß, daß sie den kleinen Rastus alle um einen ganzen Kopf überragenund ihre Muskeln durch die wochenlange Hackerei mächtig stark gewordensind. Geringschätzig sagt einer zu Rastus: ‚Sag mal, hast du Wicht überhauptschon   einmal   einen   Baum   gefällt,   daß   du   hier   so   große   Sprüche   klopfenkannst?‘ Rastus verschränkt die Arme vor der Brust, sieht hochnäsig zu demFrager auf und erwidert: ‚Klar! Zweifelt etwa jemand an meiner Kraft?‘ Dar­aufhin brechen die altgedienten Holzfäller in lautes Gelächter aus. ‚Wo solldenn das gewesen sein, wo du Bäume gefällt  hast?‘   fragt ein anderer. UndRastus  antwortet:   ‚In der   Sandwüste  von Pelombang  natürlich!‘  Daraufhinschrien die anderen lachend: ‚In der Sandwüste von Pelombang? – Aber dagibt’s doch nicht einen einzigen Baum!‘ – ‚Tja‘, erwidert der clevere Rastus,‚jetzt natürlich nicht mehr!‘“

„Ho, ho, ho!“ lachten die Raufbolde und schlugen sich auf die Schenkel.Die Kinder stimmten in das Lachen ein. Dann wurden sie alle wieder einmaldurcheinandergeworfen. Das war Borro.

„Kennst du den schon, Borro?“ fragte ein anderer Raufbold. „Da kam einesTages der Raufbold Rastus in eine Schenke ...“

„Nichts wie weg!“ rief Lonzo, bei dem sich im allgemeinen Durcheinanderzwei   Tentakel   verknotet   hatten.   Lachend   folgte   ihm   die   Meute.   Nur   dieWitzeerzähler blieben in der Höhle zurück und waren bald außer Hörweite.

„Da staunt ihr, was?“ sagte Flunki mit leuchtenden Augen. „Ein paar vonuns sitzen immer hier und heitern Borro auf, damit er nicht trübsinnig wird,während sein Körper Winterschlaf hält.  Er hat ja sonst kaum Abwechslung.

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Als nächstes wird Borro dann den anderen Schneekrabblern die Witze telepa­thisch weitergeben.“

„Na, so was!“ meinte Harpo. Die anderen prusteten immer noch.„Wenn ihr gute Witze kennt, müßt ihr sie mir unbedingt erzählen“, meinte

Flunki,   „weil  mein  Repertoire   neuen  Stoff  dringend   nötig  hat  –   aber   jetztwerden wir Borro einen anderen Gefallen tun, um den er mich gebeten hat.“

Er  musterte mit  Scharfblick  die Wände.  „Hier muß es sein.“ Er wies aufbesonders auffälliges, hellrot leuchtendes Gewebe. „Den Guten juckt es näm­lich hier. Er braucht ein paar Leute, die ihn kratzen.“

„Klar, machen wir!“ rief Tom begeistert. „Ran an die Schrubber und auf insGefecht!“

Jubelnd stimmten die anderen mit ein und begannen damit, die Haut derRiesenschildkröte mit ihren mitgebrachten Werkzeugen zu bearbeiten.

Lonzo, dessen Tentakel   inzwischen wieder entknotet waren, stürzte hin­terher.   „Weiter   so,   Matrosen!“   rief   er.   „Scheuert   das   Deck.   Die   Schaluppemuß blitzen!“

Schlittenfahrt

Es war unmöglich, in der kurzen Zeit jede Besonderheit im Labyrinth desSchneekrabbler­Panzers  zu   besichtigen,  denn  schließlich  war   er  nicht  nursechshundert   Meter  hoch  und an  der   längsten  Stelle   fast  einen  Kilometerlang, sondern auch etwa hundert Meter dick.

Flunki zeigte ihnen das Wichtigste. Da gab es nicht nur den einen Einstieg,durch den sie selbst in den Panzer gelangt waren, sondern mindestens einDutzend solcher Öffnungen, meistens mit einem Muskel unter Borros Panzerkontrollierbar.

Das Erstaunlichste war jedoch jener Teil des Panzers, der die runde Kuppelbildete. Hier wurden die Nahrungsvorräte gelagert.  Die engen Höhlen undGänge, die man bisher kennengelernt hatte, fehlten hier. An ihrer Stelle sahendie  Besucher  richtige große Hallen,   in  denen sich  menschengroße Riesen­pilze,   Heu,   Früchte   unbekannter   Art,   zahllose   ebenfalls   unbekannte   Ge­müsesorten   und   ein   schilfartiges   Gewächs   türmten,   das,   so   äußerte   sichFlunki, besonders gut unter der Schneedecke gedieh.

Selbst für die Raufbolde mit ihren Beschleunigern wurde es schwierig, sichin   diesen   Vorratsräumen   zu   bewegen.   Aus   diesem   Grund   hatten   sie   querdurch die Hallen eine Seilbahn gebaut. Von einer Gondel aus bestaunten dieKinder die Nahrungsvorräte.

„Ein großes Problem stellen die zahlreichen Insekten dar“, erklärte Flunki.„Ihr wißt schon: Stechmücken, Fliegen, Kakerlaken, Wanzen, Läuse und jedeMenge dieser elenden Käfer. Die sind nicht nur lästig und quälen uns, son­dern legen es auch darauf an, unsere Vorräte aufzuessen und Borro zu piesa­

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cken. Da es hier ziemlich warm ist und unzählige dunkle Winkel und Ritzenur   so   zum   Verkriechen   einladen,   sind   dauernd   einige   von   uns   damitbeschäftigt,   die   Störenfriede   zu   bekämpfen.   Auch   dafür   ist   die   Seilbahnwichtig, denn mit ihr erreichen wir Bezirke, die sonst nur schwer zugänglichsind.“

„Hat Brim euch gegen diese Insekten geholfen?“ fragte Lori gespannt.„Ja“, erwiderte Flunki nickend. „Das hatte auch etwas mit Insekten zu tun.

Stellt euch vor, eine Mückenart hat eine große Stelle des Schneekrabblers inderartig großen Schwärmen überfallen und ihm Blut ausgesaugt, daß sich dieStelle entzündete. Wir wußten keinen Rat. Die Entzündung ging einfach nichtzurück, sondern fraß sich immer tiefer in Borros Körper.“

„Ich habe Borro ein entzündungshemmendes Präparat  gegeben“, meinteBrim Boriam bescheiden. Er hatte sich dank der Hypnoschulung der Galak­tischen   Mediziner   wirklich   zu   einem   erstklassigen   Arzt   gemausert.   Dasfanden alle.  „Am gefährlichsten war allerdings eine Pilzwucherung,  die  ichmit Miconazolnitrat in den Griff bekam“, fügte er hinzu. „Ich benötigte meh­rere Tonnen von dem Zeug. Nur gut, daß die Arzneimaschine des Bootes aufNordpol   genügend   Grundmaterial   fand,   um   den   Stoff   schnell   zu   synthe­tisieren.“

„Was er für Ausdrücke kennt!“ himmelte Lori „Doktor Boriam“ an.„Borro   bietet   euch   allen   von   der   EUKALYPTUS   für   diese   rasche   Hilfe

Wohnrecht auf Lebenszeit in seinem Panzer an“, informierte sie Flunki.„Das ist wirklich riesig nett“, antwortete Brim. „Aber im Augenblick wissen

wir   wirklich   noch   nicht,   ob   wir   auf   diesem   Planeten   bleiben   wollen.Allerdings ist es schön, zu w­wissen, daß man irgendwo ein Zuhause hat.“

Er hatte recht. Sie wußten wirklich noch nicht, wie alles weitergehen sollte.Harpo allerdings wußte, daß es viele Kinder an Bord des ehemaligen Sanato­riumsschiffes   gab,   die   um   jeden   Preis   so   schnell   wie   möglich   wieder   aufeinem   echten   Planeten   leben   wollten   –   selbst   wenn   er   größtenteils   mitSchnee und Eis bedeckt war. Andererseits war ein nicht unbeträchtlicher Teilder Mannschaft, darunter Thunderclap Genius, Karlie Müllerchen, der kleineOllie und auch er dafür, weiter durch das All zu fliegen, die Wunder des Kos­mos zu sehen und fremde Planeten zu erforschen.

Es   würde   eine   schwierige   Entscheidung   werden.   Daß   die   Raufbolde   ihrAngebot ernst meinten, bezweifelte niemand. Aber würde es auf die DauerSpaß machen, mit einem Schneekrabbler durch unbekannte Länder zu zie­hen, wenn man die Chance hatte, den Weltraum zu durchqueren? Anfangs si­cherlich,  aber   nach  einigen   Jahren   ...  Zudem  war   das  einzige   Eis,   auf  dasHarpo wild war, Schokoladeneis ...

„Mensch, Brim!“ rief Harpo plötzlich. „Wir haben uns schon eine Ewigkeitnicht mehr mit Thunderclap verständigt. Am Ende glauben die, daß uns waszugestoßen ist!“

„Verdammt“, erwiderte Brim nachdenklich. „Wir müssen unbedingt zu denBeibooten zurück. Ihr könnt ja solange hierbleiben. Wir kommen wieder.“

„Ja, so ist es am besten“, stimmten die anderen zu.

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Flunki stieß einen schrillen Pfiff aus, worauf ein anderer Raufbold mit einerzweiten Gondel erschien und Brim, Fidel, Tom und Micel zu einem Ausgangin der Nähe der Beiboote brachte. Die anderen Kinder blieben zurück.

„Habt   ihr   eigentlich  keinen   König   oder   so   was?“   fragte   Lori   und   zupftedabei an Flunkis Ärmel.

„König?“ fragte Flunki zurück. Sein ganzes Gesicht drückte Erstaunen aus.„Nie gehört, das Wort.“

„Na, einen Häuptling, Fürsten, Präsidenten oder Diktator. Einen, der allesbestimmt.“

„So etwas gibt es bei uns nicht“, wehrte der Gnom entrüstet ab. „Jeder tutbei uns, was er für richtig hält, was ihm Spaß macht. Wäre ja noch schöner,wenn uns jemand vorschriebe, etwas zu tun, was uns keinen Spaß macht.“

„Und doch funktioniert alles?“ fragte Harpo. „Alle arbeiten?“„Klar doch“, erwiderte der Raufbold. „Arbeit macht schließlich Spaß, wenn

man genau weiß,  daß sie nützt.  Und außerdem haben wir soviel  Zeit,  daßArbeit immer eine willkommene Abwechslung ist.“

Die Kinder mußten zugeben, daß Flunki eigentlich recht hatte. Seitdem sieauf der EUKALYPTUS selbständig waren und sahen, wie etwas unter ihrenHänden entstand, waren sie viel fleißiger.

„Wos“, knurrte Flunki, „holtöt öhr von oinör kloinön Sprötztour möt dömSchlöttön?“

Harpo schlug mit der Faust auf den Translator an seinem Armgelenk.„Das Ding scheint einen Rappel zu haben“, sagte Fantasia lachend.„Oinön Rappöl?“ fragte Flunki.Harpo   schlug   wieder   gegen   das   Gerät,   und   im   gleichen   Moment   keifte

Flunki:   „Der   Eierdieb   soll   mich   rauben,   wenn   das   Schneeflöckchen   nichteben über mich gelacht hat!“

„Na also, es funktioniert wieder“, sagte Harpo befriedigt. Er erklärte Flunki,daß der Übersetzungsapparat soeben aus seinen Worten etwas Lustiges fabri­ziert hatte.

„Schade“, knurrte Flunki, „ich hätte gerne mitgelacht.“Flunki wiederholte sein Angebot, eine Schlittenfahrt zu machen, und alle

stimmten begeistert zu. Der Raufbold steuerte die Seilgondel zu ihrem Aus­gangspunkt zurück und noch ein ganzes Stück darüber hinaus. „Aussteigen!“rief er dann. „Wir sind da!“

Vor den staunenden Augen der Besucher lag eine Höhle, in der mindestenszwanzig Fahrzeuge einsatzbereit dastanden. Im Vergleich zu den Raufboldenwaren es riesige  Dinger,  etwa zehn Meter   lang.   Ihre  Aufgabe  bestand,  wieFlunki erklärte,  darin,  möglichst  schnell  viele Pflanzen zu ernten und zumSchneekrabbler   zurückzubringen.   Am   vorderen   Teil   der   Fahrzeuge   warenMesserköpfe   und   Greifarme   angebracht,   die   von   innen   gesteuert   werdenkonnten. 

„Wir brauchen sie jetzt nicht“, sagte der Raufbold und ließ sie per Knopf­druck   verschwinden,   als   alle   unter   der   durchsichtigen   Glocke   der   Fahrer­

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kabine  angelangt   waren.  Geräuschlos   verschwanden die  Werkzeuge  hintereiner Verkleidung.

In Ruhe betrachteten die Kinder und Lonzo den Schlitten. Er war aus leich­tem   Metall,   hatte   eine   Steuerkuppel   aus   glasähnlichem   Material,   eineschnittige,  ovale Form und ähnelte  einem Motorboot.  Bei  den Raufboldenhätten sie eine solche Maschine gar nicht vermutet. Die Kinder staunten, alsFlunki wie ein erfahrener Pilot den Düsenantrieb startete und den Schlittenzischend auf seinen Kufen an die Wand von Borros Panzer herangleiten ließ.

Jetzt wurde verständlich, daß selbst Raumschiffe für die Raufbolde nichtsUngewöhnliches waren, obwohl sie selbst keine besaßen.

Als der Schlitten die Wand erreichte, reagierte Borro sofort. Er öffnete einTor, das groß genug war, um den Schlitten passieren zu lassen. Flunki startetedurch, und im Nu rasten sie Borros schneebedeckten Panzer hinab.

Harpo, Lori und Fantasia quetschten sich die Nasen an der Sichtscheibeplatt, während Lonzo erfreut blubberte. Kein Wunder, denn zum ersten Malseit vielen Stunden befanden sie sich wieder im Freien. Und zum ersten Malsahen sie bewußt das Äußere des Schneekrabblers  als  das, was es war:  alsPanzer eines riesigen Intelligenzwesens.

Aber im Grunde konnte man auch jetzt nicht mehr entdecken als zuvor.Borro  sah von außen  eben  tatsächlich   wie ein Hügel  aus,  der  zwar  merk­würdig  gleichmäßig  geformt  inmitten  einer  Gruppe ähnlicher  „Hügel“   lag,ansonsten aber unter einer dichten Schneedecke jede vielleicht interessanteEinzelheit geschickt verbarg. Im Hintergrund waren die Beiboote der EUKA­LYPTUS zu erkennen.

„Hat   Borro   eigentlich   Füße?“   wollte   Lori   wissen.   „Ich   meine   wie   eineSchildkröte?“

„Das will ich meinen“, gab Flunki verschmitzt lächelnd zurück. „Wie sollteer sich sonst bewegen? Und er hat sehr große Füße, das dürft ihr mir glauben,Freunde. Seht mal genau hin. Dort drüben entstehen doch in regelmäßigenAbständen so kleine Trichter im Schnee. Gesehen?“

„Gesehen!“ schrien die Kinder.„Dort  sind seine  Füße“,  fuhr  der  Raufbold fort.  „Beim Vorwärtsbewegen

stürzt immer etwas lockerer Schnee nach. Und jetzt schaut mal nach hinten.Glaubt ihr jetzt, daß Borro sich bewegt?“

Flunki hatte recht. Ganz deutlich sah man hinter den Schneekrabblern tiefeFurchen in der weißen Landschaft, die genau der Hügelbreite entsprachen.Aber man mußte vorher wissen, auf was man zu achten hatte, um ihre Be­deutung zu erkennen. Und der eisige Wind wehte bereits wieder Schnee indie Mulden und ebnete alles ein.

„Ich kann mir  einfach nicht vorstellen,  daß es in dieser  Einöde Pflanzenund Tiere geben soll“, murmelte Harpo mit gerunzelter Stirn.

„Abwarten“,   brummte   Flunki   und   drückte   einen   anderen   Knopf.   Jetztbohrte der Schlitten seine spitze Nase tief  in den Schnee hinein. Es wurdedunkel, so daß Flunki in der Kabine ein mattes Licht einschalten mußte. Ander Spitze des Fahrzeugs flammten Suchscheinwerfer auf.

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„Jetzt!“ schrie Flunki. Im gleichen Moment brach der Schlitten durch dieSchneedecke   und  glitt   über   einen   Pflanzenteppich,  der   die   weiche,   weißeMasse wie ein Dach vom Boden des Planeten fernhielt.

Eine völlig  neue Welt  tat  sich vor den Augen der überraschten Besucherauf.   Sie   war   wohl   dunkel   und   ohne   Sonnenlicht,   aber   dennoch   bedecktedichter Pflanzenwuchs den schwarzen Boden des Planeten. Das war so über­raschend   wie   der   Formen   –   und   Farbenreichtum,   den   man   mitunter   tiefunten auf dem Grund der Ozeane finden konnte, bevor die großen Chemie­konzerne das Wasser auf der Erde vergiftet hatten.

„Die   Pflanzen   arbeiten   ähnlich   zusammen   wie   die   Schneekrabbler   undwir“,  erklärte Flunki nicht  ohne Stolz.  „Symbiose nennt man das. EinzelneGewächse gedeihen nur am Körper von anderen. Gerade sie wachsen aberdurch   den   Schnee   bis   zum   Sonnenlicht   durch.   Dort   zersetzen   sie   sich,schmelzen durch eine chemische Reaktion kurzzeitig Löcher in den Schneeund führen dadurch Licht und Wasser für die anderen Pflanzen nach unten.“

„Und so sieht es überall auf dem Planeten aus?“ fragte Harpo verblüfft.„Nein“, erwiderte Flunki lachend. „Natürlich nicht. Tatsächlich muß man

solche Gebiete mit der Lupe suchen; so, wie man auf der Erde eine Oase inder  Wüste   finden muß.  Aber  im  Aufspüren  dieser   Gewächszonen sind  dieSchneekrabbler  nun einmal  wahre  Meister.   ­   Überdies  gibt  es  auf  unsererWelt auch ein ewiges Sommergebiet,  wo man keinen Schnee findet. In derÄquatorzone.“

„Und warum geht ihr da nicht hin? Dann müßtet ihr die Pflanzen unter derSchneedecke nicht so mühsam abernten.“

Flunki   zuckte   die   Schultern.   „Die   Sommerzone   ist   schmal.   Außerdemkönnte sie die Krabbler schon aus dem Grunde nicht ernähren, weil die dortherrschende  Wärme andere Gewächse produziert.  Nämlich solche,  die  dieKrabbler nicht mögen. Die dort lebenden Tiere sähen es sicher auch nichtgern, wenn eine Herde unserer Partner ihnen in ein paar Monaten alles ratze­kahl leerfressen würde.“

„A   propos   sehen“,   warf   Lori   ein.   „Kann   Borro   denn   überhaupt   sehen?Frieren ihm bei dieser Affenkälte nicht die Augen zu?“

„Bei Rastus und seinen vierzig Äxten“, meinte Flunki, „das würden sie tat­sächlich tun. Aber keine Sorge,  Schneeflöckchen,  unsere Partner  brauchenkeine Augen.   Ihre  telepathischen Talente genügen völlig,  um  jedes andereSinnesorgan zu ersetzen.“

„Bitte,   lieber  Flunki“,  bettelte Lori,  „ich möchte so gern etwas mehr vonBorro sehen. Können wir nicht näher an ihn heranfahren?“

„Klar, machen wir!“ versprach Flunki gutgelaunt und betätigte das Steuerdes Schlittens.

„Heißt   Flagge!“   brüllte   Lonzo   salutierend   los.   „Riesige   Quadratlatschenvierzig Grad Ost! Was sehen meine pulvergeschwärzten Piratenaugen?“

Tatsächlich kam in diesem Moment ein Gebilde ins Gesichtsfeld der Beob­achter, das dreimal so groß war wie ihr Schlitten. Man mußte erst einmal denBlick hin und her schweifen lassen, bis man die einzelnen Zehen erkannte

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und die dicke, schuppige Haut. Das sah wahrhaftig aus wie der dicke, tapsigeFuß einer Schildkröte in Großaufnahme. Und ganz ohne Zweifel konnte mannun auch  ausmachen,  daß er  ganz gemächlich,   im Zeitlupentempo,  ange­hoben und wieder abgesetzt wurde.

„Borro!“ flüsterte Lori entzückt.„Du suchst dir nicht gerade kleine Spielgefährten aus, mein Schneeflöck­

chen“, brummte Flunki gutmütig und strich ihr über die blauschwarzen Lo­cken. „Den Burschen da wirst du nicht so leicht zum Schmusen mitnehmenkönnen ...“

Stimmen in der Nacht

Leise summend glitt  Flunkis Motorschlitten über den Schneeteppich. Siehatten Borro bereits weit  hinter sich gelassen und steuerten auf das offeneLand   jenseits   der   Schneekrabbler­Kolonne   hinaus.   Archimedes   stand   imZenit und schüttete ein Lichtmeer aus. Nur selten konnte man zwischen demWeiß   einen   Vegetationsstreifen   entdecken.   Der   Schnee   reflektierte   dasSonnenlicht so stark, daß den Kindern bald die Augen brannten.

„Beim fröstelnden Eierdieb!“ rief Flunki und schlug sich mit der Handflä­che   gegen   die   Stirn.   „Hab’  ich   doch   tatsächlich   vergessen,   euch   Sonnen­brillen   zu   verpassen!“   Aufgeregt   kramte   er   in   der   Ablage   unter   demArmaturenbrett,  bis er mehrere Brillen hervorzerrte.  Die Gestelle waren sobiegsam, daß man sie den Köpfen der Kinder anpassen konnte.

Die   dunklen   Brillengläser   ließen   die   Landschaft   in   einem  ganz   anderenLicht erscheinen. Harpo deutete auf einen abgerundeten weißen Hügel amHorizont. „Was ist das, Flunki? Ein einzelner Krabbler?“

Der bärtige Raufbold kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. „DasHügelchen dort? Ein verlassener Iglu. Habt ihr Lust, ihn zu besichtigen?“

„Klar!“ war die einmütige Antwort.Und Lonzo fügte hinzu: „Ein Iglu? Dann habt ihr wohl auch Eskimos, Eis­

bären und Pinguine?“Der Raufbold lachte dröhnend. „Abwarten“, meinte er grinsend.Nach wenigen Minuten war der Schlitten bis auf zehn Meter an das Ziel

herangefahren. Mit jeder Sekunde beeindruckte die halbkugelförmige, aus di­cken   Schnee­   und   Eisblöcken   zusammengesetzte   Kuppel   ein   Stückchenmehr. Sie schien gut zwanzig Meter hoch zu sein.

„Donnerschlag!“   rief   Lonzo   anerkennend.   „Die   Schneemaurer   verstehenwirklich etwas von ihrem Fach.“

Der Schlitten rutschte noch ein Stückchen vorwärts und bohrte sich dannin den Schnee. Alle sprangen hinaus. Ein bißchen Bewegung tat gut, denn dieengen Sitze des Motorschlittens waren für die kleinwüchsigen Raufbolde ge­dacht und ließen den Beinen wenig Bewegungsfreiheit.

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Der Boden hier wirkte härter als anderswo und sah aus, als hätten ihn vieleFüße festgestampft. Harpo, Fantasia und Lori staunten das Bauwerk an undgingen langsam näher. Der Iglu hatte einen Umfang von mindestens 150 Me­tern und war auch noch weitaus höher, als sie anfangs geschätzt hatten. Inregelmäßigen   Abständen   fehlten   einzelne   Schneequader   in   den   Wänden,vermutlich, um genügend Sonnenlicht hineinzulassen. Ein zehn Meter langerTunnel führte in das Innere und war so geräumig, daß man auch bequem mitdem Schlitten hätte hineinfahren können.

Vor den Besuchern lag ein riesiger runder Saal: der gesamte Innenraum desIglus ohne Unterteilungen oder stützende Pfeiler. Das einfallende, flirrendeSonnenlicht malte bizarre Kringel auf den festen Schneeboden und ließ dieweißen Atemwolken der Kinder wie Dampf aufsteigen. Die Atmosphäre hatteetwas von der besinnlichen Ruhe und Feierlichkeit einer Kathedrale.

Nur Flunki zeigte sich wenig beeindruckt. „Kalt und ungemütlich“, knurrteer. „Da lobe ich mir doch unseren lieben Borro. In dem läßt es sich wohnen!“

„Jedem das seine“, quakte Lonzo, dem Empfindungen wie Wärme und Käl­te fremd waren. „Ein Fisch findet es eben im Wasser schön und ein Teufel inder Hölle. Und Captain Kidd fühlte sich nur wohl, wenn er Holzplanken unterden Füßen hatte.“

„Wer hat dieses Ding gebaut?“ fragte Harpo. „Raufbolde etwa, die keinenSchneekrabbler  bekommen  haben?“  Konnten  die  kleinen  Burschen  solcheRiesenbauwerke überhaupt errichten?

„Nein, nein“, rief Flunki. „Das würde uns niemals einfallen. Die Faulpelzebauen solche Iglus.“

„Die Faulpelze?“ fragten die Kinder und lachten.„Habt   ihr   noch   keinen  von   diesen   Burschen  gesehen?   Große  Flegel   mit

Haaren am ganzen Leib? Na ja, eigentlich heißen sie Rotpelze. Der Haupt­zweck ihres Lebens scheint Schlittenfahren zu sein.“ Flunki grunzte verdrieß­lich.

„Ein angenehmeres Leben kann man sich doch gar nicht vorstellen“, warfLonzo ein und kümmerte sich wenig um den mißbilligenden Blick, den ihmdaraufhin der Raufbold zuwarf.

Harpo erinnerte sich an die geheimnisvollen, bärenhaften Gestalten in derersten Nacht auf dem Planeten. Als er Flunki davon erzählte, riß der kleineMann empört Mund und Augen auf und schrie: „Ha! Haben die Nichtsnutzewieder  einmal  unseren Borro als  Rutschbahn mißbraucht!  Diese Burschenhaben keinen Respekt! Der Schneegockel möge seine Eier im Fluge auf ihreKöpfe werfen!“

So wütend sich das auch angehört hatte: Es fiel wieder einmal allen schwer,den Raufbold ernst zu nehmen.  Jetzt prasselten tausend Fragen auf Flunkiein, so daß er notgedrungen etwas mehr über die Faulpelze erzählen mußte.

„Sie leben in Clans wie wir Raufbolde und ernähren sich vom Fischfang“,ließ er seine Gäste wissen.

„Wo soll es denn hier Fische geben?“ fragte Harpo. „Bisher haben wir weitund breit keinen Fluß entdecken können.“

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Flunki schmunzelte. „Es gibt aber welche, nur verlaufen sie unterirdisch.Die Faulpelze  hacken Löcher in die Eisdecken zugefrorener Seen und tau­chen hinab, um ihre Fangnetze auszuwerfen.“

Fantasia schüttelte sich. „Brrrrrrr! Bei dieser Kälte?“„Es sind eben harte Burschen – und faule Flegel natürlich.“ Flunki zwin­

kerte mit einem Auge und erzählte dann, daß die Bären einen Heidenrespektvor den viel kleineren und schwächeren Raufbolden hatten. Den Grund um­schrieb er recht blumig, aber wie es schien, hatte dies mit dem selbstbewuß­ten Auftreten und der deftigen Sprache der kleinen Männer zu tun. Damitschüchterten sie die Rotpelze ganz schön ein.

„Wieso haben die Faulpelze denn ihren Iglu verlassen?“ lispelte Lori. „Er istdoch noch sehr schön!“

„Treffend bemerkt, verehrte Frau Powitz“, stimmte Lonzo zu. „Nirgendwoist auch nur die allerkleinste Roststelle zu entdecken.“

„Ha!“ rief Flunki. „Weil Borro und die anderen Krabbler sich langsam nä­hern. Die Faulpelze senden Späher aus und verziehen sich, sobald sie unsereSchneekrabbler am Horizont ausmachen.“

„Weil die Iglus sonst plattgewalzt werden?“„Deshalb nicht. Aber unsere Leute können es nun einmal nicht lassen, die

Burschen kräftig anzuraunzen, wenn sie im Schnee liegen und sich die Sonneauf den Bauch brennen lassen. Wenn wir kommen, suchen die Faulpelze dasWeite. Das war schon so, als ich noch ein kleiner, winziger Wichtel war.“ Ersagte  das  mit  solch einer  Überzeugungskraft,  daß man  ihn glatt   für  einenRiesen hätte  halten können. Dabei  überragte  er  die kleine Lori  gerade umeinen Zentimeter. Und das auch nur, weil er einen Helm trug!

Etwas enttäuscht meinte Harpo: „Wie schade, dann werden wir  sie wohlnicht zu Gesicht bekommen. Na egal, Nordpol hat uns sicher noch mehr zubieten, oder?“

„Das will  ich meinen!“ Flunki reckte sich stolz, wobei ihm der Helm fastüber die Augen rutschte.  „Wartet  nur ab, bis der Sommer kommt,  nächsteWoche um drei Uhr! Dann kreucht und fleucht, kriecht und rennt, krabbeltund wetzt, wimmelt und wummelt es hier nur so. Im Moment haben natür­lich die meisten Tiere ihre Schnarchzeit. Habt ihr schon mal Vögel gesehen,die  größer  sind als   Lonzo?  Salamander,   auf  denen   man reiten  kann?  Undwunderschöne, meterlange Würmer?“

„Igitt!“ quiekte Lori. „Würmer! Gibt es bei euch keine Hasen?“„Kleine Hopser mit langen Ohren“, erklärte Lonzo auf Flunkis verständnis­

losen Blick hin.„Wißt ihr was?“ fragte der Raufbold und trommelte sich mit den Fäusten

vor Begeisterung gegen die Brust. „Wir übernachten hier und schleichen unsmorgen zum Ufer des Fettbauchfisch­Sees! Vielleicht könnt ihr dort ein paarrotfellige Faulpelze beim Fischen beobachten.“

Das war ein Wort! Freudig stimmten alle zu. Während Lonzo Decken undVerpflegung aus dem Schlitten holte, wobei ihm seine vier Greiftentakel einegroße Hilfe waren, informierte Flunki über Funk seine Leute.

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Nach dem Zwielicht  der Dämmerung kamen die ersten Sterne zum Vor­schein. Flunki hatte einen Spezialkocher aufgebaut und zauberte im Nu einduftendes Mahl. Schon beim Schnuppern wurde man richtig hungrig.

Lonzo brummte: „Beeilt euch, edler Lord Flunki! Der Kohldampf schnürtmir schon die Eingeweide zusammen!“

Aber   Flunki   kramte   nur   in   seinen   Taschen   und   reichte   ihm   mit   einemartigen „Aye, aye, Sir!“ zwei Trockenbatterien und ein Ölkännchen.

„Guten Hunger, Steuermann!“Lonzo   beäugte   beides   mit   großem   Mißtrauen   und   gab   es   mit   der   Be­

merkung zurück, das eine sei entschieden zu trocken für einen Seemann, dasÖl   hingegen   zu   fett.   Schließlich   müsse   er   auf   seine   Linie   achten,   sonstwürden ihn die Robotermädchen nicht mehr anschauen.

In   der   Nacht   erwachte   Harpo.   Lori   schlief   unter   ihren   Decken.   Flunkischnarchte so laut,  daß davon der Boden erzitterte.  Lonzo hatte sich wohlabgeschaltet,   um   Energie   zu   sparen.   Jedenfalls   hockte   er   reglos   auf   demBoden und hatte nicht das gewohnte Funkeln in den Sehzellen. Nur Fantasiahob fragen den Kopf. „Ist was?“ flüsterte sie.

Beruhigend erwiderte Harpo: „Nee, was soll sein?“ Zwar hatte er ein unge­wohntes Geräusch gehört, glaubte es gehört zu haben, aber bevor er nichtsGenaues wußte, wollte er andere nicht unnötig beunruhigen.

„Das sind doch Stimmen!“ murmelte Fantasia  und setzte hinzu: „Harpo,dort draußen ist jemand!“

„Pschscht!“ machte Harpo, schälte sich aus den Decken und reichte demrothaarigen Mädchen die Hand. Sie fühlte sich feucht an. Gemeinsam kro­chen die beiden zum Ausgang des Iglus. Im Eingangstunnel wurden die Ge­räusche immer deutlicher. Rotpelze?

Harpo und Fantasia hatten Angst. Was ging dort draußen vor? Leise pirsch­ten   sie  weiter.  Etwa   fünf  Meter   vor  dem  Ausgang  stand ein  Schlitten,  dernicht Flunki gehörte, aber entfernte Ähnlichkeit mit den Schlitten der Rauf­bolde hatte. Auf den zweiten Blick erkannte man, daß die Glaskuppel, die frü­her einmal vorhanden gewesen war,  jetzt  fehlte.  Der Schlitten machte vonvorn bis hinten einen ungepflegten Eindruck. Fast schien es, als habe ihn je­mand in letzter Sekunde vor der Müllkippe bewahrt. Ein grimmiger, hünen­haft  wirkender Rotpelz,  der  sicher  nicht  kleiner als  Karlie  Müllerchen war,verstaute   prallgefüllte   Säcke   auf   der   Ladefläche.   Er   stieß   dabei   ein   leisesKnurren oder Brummen aus.

Jetzt erkannten die heimlichen Beobachter noch zwei andere Bärenwesen,die in einem frisch ausgehobenen Schneeloch an der Igluwand standen undweitere Säcke hinaufwuchteten. Sie legten ein ganz hübsches Tempo vor.

Harpo und Fantasia tauschten einen fragenden Blick. Was hatte das nur zubedeuten?  Was holten die Bären aus der  Erde?  Einen vergrabenen Schatz?Vielleicht gehörte ihnen gar nicht, was sie dort auf den Schlitten luden?

Harpos   Wangen   begannen   zu   glühen.   Mann,   oh   Mann!   Das   war   einAbenteuer nach seinem Herzen! Eine geheimnisvolle Rotpelzbande, die ihrevergrabene Beute verlud, die vielleicht gefährlich war und das Messer locker

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sitzen hatte. Und er, Harpo Trumpff, Chronist und Logbuchführer der EUKA­LYPTUS, saß mitten im Brennpunkt des Geschehens.

„Wir  müssen  herauskriegen,  was  sie  treiben“,  wisperte  er   leise.  Fantasianickte.

Wie zwei Schatten huschten die beiden auf die Rückwand des Schlittens zu,während Rotpelz Nummer drei gerade zu den anderen zurückging.

Mit fliegenden Fingern versuchte Harpo einen der mit Lederschlingen ver­knoteten Beutel zu öffnen. Umsonst, die Säcke waren hart wie gefrorene Erdeund ungeheuer schwer. Fantasia hatte plötzlich zwei leere Beutel in der Handund zischte aufgeregt: „Ha­ha­harpo! Er kommt zurück!“

Die beiden Rotpelze im Schneeloch hatten ihre Arbeit eingestellt und hal­fen   sich   gegenseitig   hinaus,   während   der   dritte   bereits   wieder   auf   denSchlitten zuging. Nicht nur, daß der Iglueingang im Sichtfeld der beiden Bä­ren lag, jetzt bewegten sie sich auch noch schwatzend genau auf diesen Ein­gang zu. Harpo und Fantasia war der Rückweg abgeschnitten.

Die beiden durchfuhr ein eisiger Schreck. Aber Fantasia, die sonst immerso schnell nervös reagierte,  kam auf eine phantastische Idee und setzte sienach blitzartiger Verständigung mit Harpo in die Tat um: Beide kletterten aufdie  Ladefläche des Schlittens, schlüpften hinter  die Fracht und halfen sichdann gegenseitig in die beiden leeren Säcke, die Fantasia gefunden hatte. Sieduckten sich und spielten Fracht. Mit pochenden Herzen warteten sie darauf,daß der Schlitten sanft anfuhr. Dann wollten sie sich in den weichen Schneerollen und unbemerkt zum Iglu zurückkehren.

Aber es kam anders. Der Schlitten ruckte nur kurz an und hielt wieder, weileiner der Rotpelze zwei nachlässig verstaute Säcke entdeckte, die nicht ein­mal  zugebunden waren.  Er  zerrte  die  Säcke zur  Mitte  der  Ladefläche  undverschnürte sie.

Die beiden Kinder hatten diese unerwartete Wendung mit Todesangst ver­folgt, ohne recht zu begreifen, was geschehen war. Fest stand plötzlich nur,daß sie sich aus eigener Kraft nicht befreien konnten. Das Versteck war zueinem   Gefängnis  geworden.  Das   Beste,  was  sie   aus  der  Situation   machenkonnten,  war,  sich so ruhig  wie möglich zu verhalten.  Summend jagte  derSchlitten in die Nacht hinaus. Der riesige Iglu war bald zu einem winzigenPunkt am Horizont zusammengeschrumpft.

Das Lager der Rotpelze

Harpo erwachte, als behaarte Hände seine Nase berührten. Die Sonne schi­en ihm in sein Gesicht, und er mußte niesen. Aber das machte ihn vollständigwach.

Herrjeh! Er war eingeschlafen!

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Mehr   als   ein   Dutzend   Rotpelze   umstanden   den   Schlitten   und   stießenerstaunte Rufe aus. Ein sehr kleines Exemplar dieser Spezies, das kaum grö­ßer   als   Lori   Powitz   war,   klammerte   sich   an   einen   der   großen   Bären   undbrummte ängstlich: „Huh! Zwei Ungeheuer, Mama! Ich fürchte mich!“

Die   anderen   Bären   lachten.   Daran,   daß   Harpo   den   kleinen   Rotpelzverstanden hatte, konnte man erkennen, daß der Translator die ganze Nachtüber  bereits  genügend Vokabeln der  neuen Sprache aufgenommen    hatte,um mühelos zu übersetzen. Die Bären beachteten den Translator nicht wei­ter. Vermutlich hatten sie sich an das Gerät bereits gewöhnt. Harpo mußte imLaufe der Nacht ungewollt den Einstellknopf betätigt haben, denn er war si­cher, daß er das Gerät vor dem Schlafengehen abgeschaltet hatte. Vermutlichhatte das plötzlich einsetzende Quaken aus dem Sack – so mußte den Rot­pelzen die Tätigkeit des mechanischen Übersetzers vorgekommen sein – so­gar zur Entdeckung der blinden Passagiere geführt.

Auch Fantasia  krabbelte  jetzt  mit  strubbligem Haar aus  ihrem Sack undmusterte mit verstörten Blicken die Umgebung.

Die Rotpelze – in der Mehrzahl waren sie gut zwei Meter groß – hatten einweiches,   rötlichbraunes   Fell   am   ganzen   Körper,   auch   im   Gesicht,   sowiekleine,   runde   Ohren   und   überhaupt   sehr   viel   Ähnlichkeit   mit   irdischenBraunbären. Sie klopften sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Jemand faßteHarpo wie eine Katze am Kragen und hob ihn mühelos hoch. Eine laute Baß­stimme grunzte: „Habt ihr so etwas schon gesehen, Kumpels? Ich wette, ihrhabt es noch nicht gesehen! Das ist der größte Zwerg unter der Sonne!“

„Der erste Raufbold ohne Bart!“ rief ein anderer.„Er  ist  wahrhaftig  größer als  jeder  Raufbold,  den  ich kenne“,  meinte ein

dritter.„Wie viele kennst du denn?“„Zwei.“So ging es weiter,  bis der Rotpelz Harpo sanft zu Boden gleiten ließ und

brummte:   „Was   wollt   ihr   bei   uns,   ihr   Winzlinge?   Wollt   ihr   etwa   unserenSchneemann stehlen?“

Die Umstehenden gaben wieder ein brummelndes Gelächter von sich, daseigentlich ganz gemütlich klang. Fantasia rutschte auf den Knien auf Harpozu und klammerte sich an ihn. Mehrere Rotpelzkinder umkreisten die beidenzögernd und zupften zaghaft an ihren Haaren.

„Die   kleine   Raufboldfrau   könnte   fast   eine   von  uns   sein“,   sagte   jemand.Feingliedrige Finger strichen über Fantasias rote Haarpracht, die wie Kupferin der  Sonne  leuchtete.  Aber  sonst  hatte  Fantasia  eigentlich  wenig  Bären­haftes an sich ...

„Harpo, ich ... fürchte mich“, gestand sie leise.„Ich mich auch“, gab Harpo zu.„He“, rief an Rotpelz aus, „habt ihr das gehört? Die Raufbolde fürchten sich

vor uns!“„Ahem“,   räusperte   sich   Harpo.   „Wir   sind   gar   keine   Raufbolde,   sondern

Menschen.“

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„Menschen?“ Erstaunt sahen Harpo und Fantasia mit an, wie die Rotpelzesich reihenweise auf die Bäuche warfen und prustend vor Lachen mit denFäusten auf den Boden trommelten. „Welch ein komisches Wort! Hahaha!“

Ihr Gelächter schwoll zu einem wahren Orkan an.Kaum hatten sie sich etwas beruhigt, fing einer wieder an, brummte: „Men­

schen!“,  und schon lagen wieder alle vor Lachen am Boden. Weitere Lach­anfälle   folgten,   als   Harpo   und   Fantasia   ihre   Namen   nannten.   Offenbarerzeugte die Lautkombination in den Rotpelzen Heiterkeit, denn das Lachenbegann immer schon, bevor der Translator sich an einer Übersetzung ver­suchte.

Ein dicker Rotpelz, der sich die Lachtränen mit einer Pfote aus den Augenwischte, sagte glucksend: „Ich heiße Fettwanst! Und dies hier“ – dabei deute­te er auf zwei ihm ziemlich ähnliche Bären – „sind meine Brüder Vielfraß undHeringsbändiger. Das sind doch Namen, die etwas bedeuten! Aber eure? Pah,die sind einfach nur witzig.“

Nun  lachten   die   Kinder.   Die   Rotpelze   sahen  sich   erstaunt  an.   Nicht   imTraum wären sie darauf gekommen, daß ihre Namen für fremde Ohren eben­falls lustig klangen. Murmelnd umstanden sie Harpo und Fantasia und kratz­ten sich verlegen hinter den Ohren.

Beinahe   alle   Mitglieder   des   Clans   hatten   inzwischen   den   Iglu   im   Hin­tergrund verlassen und die unfreiwilligen Gäste bestaunt.  Harpo faßte sichein Herz, stand mutig auf und entschuldigte sich für die heimliche Schwarz­fahrerei.

„Macht nichts“, brummte Fettwanst leutselig. „Seht euch unseren Iglu anund seid für ein paar Wochen unsere Gäste. Wir fressen niemanden – es seidenn Fische. Und da ihr ja keine Raufbolde seid, werdet ihr uns sicherlichauch   nicht  mit   Quengeleien  auf   den   Wecker   fallen.“  So   übersetzte   es   zu­mindest der Translator, obwohl die Bären wahrscheinlich gar keinen Weckerkannten.

Im Innern des Iglus rannten Rotpelze geschäftig hin und her und wirktenüberhaupt nicht so faul, wie das nach Flunkis Erzählungen geklungen hatte.Fettwanst   führte  seine Gäste  herum,  zeigte   ihnen die  Vorräte  an eingefro­renen Fischen und erklärte, daß die geheimnisvolle Fracht des Schlittens ausDingen bestand, die man in der Eile des Umzugs hatte zurücklassen müssen.Ein   Schatz   war   der   Inhalt   der   Säcke   nicht   gerade,   für  die  Bären   aber   an­scheinend doch: verpackte Felle, Decken, Kochgeschirr, Gewürze, Angelzeugund Netze.

Nachdem die wichtigsten Sehenswürdigkeiten betrachtet waren, lud Fett­wanst die Kinder in seine Familienecke ein. Sie lernten seinen kleinen Sohnkennen. Er hieß Räucherfischvertilger, aber Harpo und Fantasia nannten ihnAlexander. Fettwansts Frau, eine gemütliche rundliche Bärin, lud sie freund­lich zu einer wohlschmeckenden und stark gewürzten Fischsuppe ein, die ge­rade über einem offenen Feuer kochte. Anschließend zeigte Alexander stolzseine Angelhakensammlung.

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Obwohl Harpo und Fantasia unbepelzt waren, froren sie in ihren warmenAnzügen kein bißchen.

Nachdem sich die  erste Aufregung gelegt  hatte,  ging das Leben der Rot­pelze schnell wieder den gewohnten Gang. Harpo und Fantasia besichtigtendie Arbeitsplätze der Bären, sahen ihnen beim Flicken beschädigter Netze zuund bestaunten eine kleine Schreinerei, in der ein schon graufelliger Rotpelzgemeinsam mit zwei Lehrlingen einen Schlitten herstellte. Da Schlitten dieeinzigen Transportmittel für die Bären waren, war diese Arbeit sehr wichtigund wurde deshalb auch von Jüngeren im Clan interessiert beobachtet.

Es stellte sich heraus, daß es keine ausgesprochenen Spezialisten unter denRotpelzen gab. Auch der graue Schreiner ging sonst fischen wie die anderen.Jeder   konnte   jeden   ersetzen,   und   niemand   bildete   sich   etwas   darauf   ein,wenn ihm die eine oder  andere Arbeit  besser  von  der Hand ging als  demNachbarn.

„Ihr   lebt   ziemlich   einfach“,   sagte   Harpo   zu   Alexander.   „Wie   kommt   ihrdann zu dem Motorschlitten?“ Die Frage war berechtigt, denn die anderenSchlitten der Rotpelze waren simple Holzschlitten ohne Antrieb.

„Oh“,  erwiderte  Alexander.  „Wir   fanden  ihn  unter  einer  Schneewehe.  Erwar wohl steckengeblieben und dann festgefroren. Wir haben ihn aus demEis herausgetaut und wieder aufgemöbelt. Es ist unser einziger, weshalb wirauch sehr sorgsam mit ihm umgehen.  Alle anderen Fahrzeuge müssen wirleider selbst ziehen.“

Später feierten die Rotpelze zu Ehren ihrer Gäste ein Fest. Fässer wurdenherangerollt   und   hölzerne   Becher   herumgereicht.   Es   roch   nach   Tran.   EinDutzend Rotpelze stellte sich in zwei Reihen auf und begann mit einem lus­tigen, watschelnden Tanz, bei dem sie jedesmal, wenn sie sich den Rückenzukehrten, die Hinterteile gegeneinanderknallten und dabei laut jauchzten.Harpo und Fantasia sahen lachend zu, bis  Fettwansts  Bruder Vielfraß her­beigerannt kam, einige Bären beiseite schob und rief: „Ein Schlitten nähertsich!   Am   Steuer   habe   ich   einen   Raufbold   und   einen   komischen   Kerl   miteinem Eisenkopf und Schlangenarmen erkannt!“

„Das ist  Lonzo!“ Bisher  hatten sich die Rotpelze nicht sonderlich für dieHerkunft   der   beiden   Menschen   interessiert,   und   deshalb  war  auch  Lonzonoch nicht im Gespräch gewesen. Harpo und Fantasia fiel jetzt siedendheißein, daß sie über all dem Neuen nicht mehr an die Freunde gedacht hatten.Schnell erklärten sie ihren Gastgebern, daß dort Freunde nahten, von denennichts zu befürchten war.

Daraufhin   strömten   brummelnde   Rotpelze   vor   dem   Iglu   zusammen,drängten aus allen Familienecken heran und steckten neugierig ihre wittern­den Nasen den Neuankömmlingen entgegen.

Flunkis Motorschlitten umkreiste donnernd das Schneegebäude und hieltschließlich genau vor dem Eingang. Der Motor spuckte noch einmal, dannfuhr die Glaskuppel zurück, und Lonzo tauchte auf. Die Bänder seiner See­mannsmütze flatterten im Wind. Harpo stand mit gesträubtem Bart nebenihm und reckte drohen die Fäuste.

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„Beim   Barte   des   Propheten!“   quäkte   Lonzos   blechernes   Organ   über   dieEbene. „Rückt sofort die entführten Matrosen heraus, sonst setzt es Hiebe!Habt ihr verstanden? Die sieben Plagen schicke ich euch auf den Hals! Hierspricht der bekannte und allseits  gefürchtete  Admiral  von Schleifstein undTuttlingen und rasselt mit dem Tentakel  ... äh, mit dem Säbel!“

„Har, har“, grunzte Fettwanst belustigt und sichtlich unbeeindruckt.„Captain Kidd, feuern Sie eine Breitseite gegen den Dicken ab, der eben ge­

lacht hat!“ schnauzte Lonzo.„Was will der Eisenkerl, Papi?“ fragte ein kleiner Rotpelz.Lonzo wirbelte mit  seinen schlangengleichen Tentakeln, während Flunki

wutschnaubend   Schattenboxen   übte   und   danach   seine   Schnurrbartendenzwirbelte. Von Lori Powitz konnte man kaum mehr als die Nasenspitze se­hen, weil die Bordwand ziemlich hoch war.

„Lonzo flunkert wider, daß die Heide wackelt“, kicherte Fantasia.„Wir haben eure Spur im Schnee verfolgt!“ wetterte Lonzo weiter. „Ausre­

den   sind   absolut   zwecklos!   Wenn   Harpo   und   Fantasia   nicht   sofort   ihreGesichter zeigen, werfe ich mit Schneebällen! Oder ich reibe den Dicken, dervorhin gelacht hat, mit Schnee ein!“ Er drehte sich zu Flunki um und kläffte:„Captain Kidd, machen Sie die Schneebälle klar!“

Flunki streckte den Rotpelzen die Zunge heraus und legte die Handflächenhinter die Ohren.

Lachend rannten Harpo und Fantasia auf den wartenden Schlitten zu.„Lonzo!“ schrie  Harpo und winkte.  „Du kannst  aufhören,  wir  sind putz­

munter. Niemand hat uns etwas getan!“ Rasch erklärten die beiden, wie sie indieses Abenteuer geschlittert waren.

Lonzo nahm seine Mütze ab und lispelte: „Nix für ungut, meine Bärinnenund Bären.  Ich bitte um Entschuldigung,  Herr  Bärenmeister!  Vergeben Sieeinem alternden Rocker seine bösen Worte, dann werde ich Ihnen auch malmein Motorrad leihen!“

Die Rotpelze brüllten und brummten vor Lachen. Viele stürmten nun aufLonzo los und wollten ihn unbedingt betasten. Im Triumphzug wurde er inden Iglu getragen.

Flunki, der die Rotpelze sichtlich ignorierte, stiefelte mißtrauisch über denmit Tierhäuten ausgelegten Boden, rümpfte die Nase und meckerte, weil nie­mand einen roten Teppich für ihn ausgerollt hatte. „Immerhin“, knurrte er,„kommt es nicht alle Tage vor, daß einer der bekannten und beliebten Rauf­bolde in einem Faulpelz­Lager erscheint.“

Das hatte ein Rotpelz namens Alleswisser gehört. Er baute sich grunzendvor Flunki auf. „Hast du Faulpelz­Lager gesagt?“ schimpfte er los. „Ich möch­te dir altem Quengelbruder einmal sagen, daß, als es vor sechshundert Jahrendarum ging, den Krabbler Jupp, der sich überfressen hatte, aus einem Erd­loch zu ziehen ... also, daß damals wir Rotpelze ihn mit vereinten Kräften ...“

„Ha!“   rief  Flunki   mit   hochrotem   Kopf.   „Jawoll,  vor   sechshundert   Jahrenhabt ihr zuletzt richtig gearbeitet und seitdem auf der faulen Haut gelegen!

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Und selbst damals habt ihr die gesamten Wintervorräte der Raufbolde auf­gefressen, so daß Jupp beinahe verhungert wäre!“

„Habt ihr uns damals zu einem Imbiß eingeladen oder nicht?“ entgegneteAlleswisser. „He?“

„Imbiß!“ röhrte Flunki. „Sagtest du Imbiß? Dieser Imbiß hätte für meinenClan ein Jahrzehnt gereicht! Wenn damals der einzige Rotpelz, den selbst wirRaufbolde ehren und achten, euch nicht davon abgehalten hätte ...“

„Hühnerschreck?“ höhnte Alleswisser mit gefletschten Zähnen. „Der war janicht einmal richtig rot! Eher hatte er ein rotbraunes Fell ...“

„Willst du mich etwa der Lüge bezichtigen?“ kreischte Flunki und machteseinen   bekannten   Luftsprung,   wobei   er   sich   fast   überschlug.   Der   Helmrutschte   ihm   über   die   Augen.   „Frostwanzen   und   Schneekakerlaken!   Eis­nattern und Graupelwürmer! Haltet mich fest, damit ich diesen Wicht nichtanfalle!“

Die Rotpelze, die beide Streithähne in einer dichten Traube umlauerten,klatschten bei diesem Ausbruch spontan Beifall. Offensichtlich führten Flun­ki und Alleswisser hier eine Art Theaterstück auf. Harpo manipulierte an sei­nem   Translator,   während   Flunki   und   der   Rotpelz   weiterhin   aufeinandereinhackten. Die Kinder bekamen eine „gereinigte“ Fassung der Schimpfkano­naden zu hören und hielten sich dabei den Bauch vor lachen.

Flunki schrie: „Du schnatternder Eisvogel!  Du wagst, meine Worte durchden Dreck zu ziehen? Zieh blank, Halunke, und kämpfe wie ein Mann! Nie­mals in meinem Leben lief mir ein solcher Frechling über den Weg! Mein be­leidigtes Blut schreit nach Raaache!“

Der Translator übersetzte jedoch diplomatisch: „Herr Kommerzienrat, si­cherlich   haben   sie   meine   Worte   mißverstanden.   Ich   bitte   Sie   freundlich,lassen   Sie   uns  darüber   nicht  streiten.   Ich   bin   sicher,  daß  alles  nur  meineSchuld ist. Ich verzeihe Ihnen großmütig und bitte Sie, mir huldvoll die glei­che Ehre zu erweisen! Lieber Herr Professor!“

Alleswisser höhnte: „Giftzwerg! Schrapphals! Der Lindwurm möge dich inden Hintern beißen! Dieser Winzling wagt es, mir in einem solchen Gossen­jargon   seine   vor   Unbildung   strotzenden   Beleidigungen   an   die   Rübe   zuwerfen! Ich schnappe über! Ich werde verrückt! Wo ist mein Knüppel? Bringtmir sofort meinen dicksten Knüppel!“

Der Translator übersetzte brav: „Verehrter Herr Generaldirektor, verzeihenSie  die  Unbeherrschtheit  meiner  Ausführungen.  Zweifellos  war   ich  es,  derihre Worte falsch auslegte. Jetzt  verstehe ich alles  viel besser. Vielen Dank!Darf   ich   Sie   zu   einem   Umtrunk   in   meine   bescheidene   Familienecke   ein­laden?“

„Nun ist es aber genug“, keuchte Harpo lachend. Aber der letzte Satz schienecht gewesen zu sein, denn Flunki und Alleswisser marschierten Arm in Armdavon, was ziemlich komisch aussah, weil der große Rotpelz sich dabei aufalle viere hinablassen mußte.

„Jetzt   wird   ein   Fläschle   Wein   gesoffen   und   ein   lustig   Lied   gepfoffen“,vermutete Lonzo.

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Und Fettwanst fügte hinzu: „In Wahrheit sind die beiden seit Jahren dickeFreunde. Sie tun immer nur so, als könnten sie sich nicht ausstehen, hihi!“

Die Reise ins Sommerland

Am   nächsten   Tag   fragte   Lori   den   erstaunten   Fettwanst:   „Sag   mal,   Fett­wanst, wer ist der Häuptling dieses Iglus?“

Der Rotpelz kratzte verständnislos seine Nase. „Häuptling?“ meinte er ent­geistert. „Was ist das denn? Kenn’ ich gar nicht, das Wort.“

„Na, jemand, der den anderen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben“,erwiderte Lori.

„Was die anderen tun und lassen sollen, wissen sie doch selbst am besten“,sagte Fettwanst. „Wie soll das ein einzelner wissen? Wie sollte ich zum Bei­spiel wissen, was Vielfraß tun will?“

Dann grinste er plötzlich und fügte hinzu: „Na also, wenn ich ganz ehrlichbin: Wir haben tatsächlich so was. Bloß ...“

„Wie heißt denn der Häuptling?“ fragte Harpo.„Oh“, machte Fettwanst. „Er heißt Schnellschwimmer ...“„Schnellschwimmer?“ echote Lori.„... und Vielfraß ...“„Vielfraß auch? Ja, habt ihr denn zwei Häuptlinge?“„Und Fettwanst, Schlafmütze, Regenmacher, Netzflicker“Fettwanst begann mit den Armen zu rudern und zählte alle Clanmitglieder

auf, die ihm gerade einfielen, auch die Frauen und Kinder. Als er fertig war,weil er ziemlich oft nachdenken mußte, keuchte er erschöpft. „Wie ihr seht,ist bei uns jeder Häuptling. Jeder bestimmt über sich selbst.  Früher hattenwir   tatsächlich   mal   einen,   der   alles   allein   bestimmte:   wann   wir   fischengingen, wann Schlafenszeit war, was die Kleinen tun und was sie nicht tundurften“ Fettwanst grinste. „Das haben wir alles abgeschafft. He, he ... kommtmal mit!“

Er nahm Lori und Fantasia bei den Händen und stapfte mit ihnen – Lonzo,Harpo, Flunki und Alexander im Schlepptau – in eine Ecke des Iglus, wo of­fensichtlich gerade eine Versammlung stattfand.

Zehn oder mehr Rotpelze saßen auf Bänken aus Schnee und hörten einemweiteren Rotpelz zu. Er stand auf einem Podest, ebenfalls aus Schnee, wir­belte   mit   den   Armen   und   brüllte   mit   Donnerstimme:   „Wählt   mich   zumHäuptling, Leute, dann wird hier alles anders werden! Ich verspreche euch:besser, viel besser. Ich werde Tag und Nacht auf der faulen Haut liegen, grun­zen und futtern – und es wird mir eine helle Freude sein, euch beim Arbeitenzuzusehen. Alle werdet ihr großen Respekt vor mir haben, mich untertänigstgrüßen und meine Pantoffeln bereitstellen! Wählt mich zum Häuptling, Leu­te, dann habe ich ein feines Leben!“

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Die   Versammelten   brachen   in   frenetisches   Gelächter   aus.   Mehrere  Rot­pelze schrien laut: „Buh! Buh!“

Harpo schüttelte den Kopf. „Also, den möchte ich auch nicht zum Häupt­ling haben, wenn er gar nichts tun will, als auf anderer Leute Kosten leben“

„Wartet ab“, flüsterte Fettwanst amüsiert. „Gleich kommt der nächste Red­ner.“

Ein anderer Rotpelz kletterte auf das Podest, räusperte sich und begann mitvornehm gesetzten Worten: „Liebe Mitbürger! Ihr kennt mich alle als einenehrenwerten Rotpelz aus eurer Mitte. Ich bin volksverbunden und stets füreuch da. Ich kenne eure Probleme bestens, weil ich mich draußen im Landeumgeschaut habe, und will mich für deren Lösung einsetzen. Deshalb gebtmir eure Stimme!“

„Der ist gut“, sagte Harpo.„Pscht“, machte Alexander lächelnd. „Warte ab!“Einer   der   zuhörenden   Rotpelze   erhob   sich   von   seiner   Schneebank   und

fragte: „Sehr gut gesprochen, wirklich! Aber wie stellen Sie sich zum Beispieldie Arbeitsverteilung vor? Möchten Sie lieber Netze flicken oder unter Wasserfischen?“

„Ahem“,   meinte   der   Redner,   „ich   hatte   eigentlich   daran   gedacht,   meinKönnen anders einzusetzen.“

„Wie zum Beispiel?“ rief Fettwanst von hinten.„Nun ... indem ich für euch denke und plane“„An richtige Arbeit haben Sie dabei nicht gedacht?“ fragte Fettwanst weiter.„Nun  ...  ehrlich  gesagt“  Der  Redner fummelte an seinem Kragenfell  und

schüttelte den Kopf.„Und daran“, sagte Fettwanst  zu Harpo, Fantasia und Lori,  „erkennt ihr,

daß beide Redner  dasselbe wollen,  wenn sie  es  auch mit  anderen  Wortensagen. Und wißt ihr einen Grund, weshalb wir uns diese Schneeflöhe in denPelz setzen sollten?“

„Mensch“,   sagte   Harpo,   „das   stimmt   ja!   Die   hätten   euch   alle   beideverschaukelt.   Bei   dem   zweiten   hätte   ich   es   nicht   einmal   gemerkt,   so   ge­schickt, wie der geredet hat.“

„Die beiden Redner heißen Schwätzer und Sabbler“, erklärte Fettwanst hei­ter. „Sie halten mehrmals im Monat solche Wahlreden.“

„Ja, aber“, meinte Fantasia erstaunt, „wenn sie solche Dinge erzählen, wirdsie doch niemand wählen! Wer will schon einen Häuptling, der nichts tut undvon den anderen dafür auch noch mit Respekt gegrüßt werden soll?“

Ein älterer Rotpelz,  der den Einwand gehört  hatte,  drehte sich um. „Wirwollen ja gar keinen Häuptling. Und Schwätzer wie auch Sabbler wären dieletzten, die einen solchen Beruf ergreifen möchten. Sie halten ihre Reden nur,um uns daran zu erinnern, wie gut es uns geht, seitdem wir die Herrschaftvon Rotpelzen über andere Rotpelze abgeschafft haben.“

Bald darauf kam eine Gruppe von Rotpelzen vom Fischfang zurück.  DieKinder halfen eifrig mit, die in den Säcken verstaute Beute zum Vorratslager

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zu schleppen, wo bereits andere Rotpelze warteten, um die Nahrung zu ver­teilen.

„Bekommen   auch   die   etwas,   die   nicht   beim   Fang   mitgeholfen   haben?“fragte Fantasia neugierig.

„Sicher.   Dafür   haben   sie   ja   andere   Arbeit   geleistet.   Zum   Beispiel   Netzegeflickt oder Fässer gebaut. Und morgen gehen sie vielleicht fischen.“

„Ja, und wenn nun einmal jemand weniger tut als die anderen? Bekommter dann auch weniger Fische?“

„Jeder von uns bekommt so viel, wie er essen kann“, brummte Fettwanst.„Sieh mich an! Ich futtere sehr gern Fisch, mag aber dafür keinen Tran.“ Erzog die schwarze Nase ganz kraus. „Tran trinkt aber Vielfraß ungeheuer gern,der wiederum bestimmten Fisch überhaupt nicht mag. Es pendelt sich allesirgendwie ein. Und wer mal weniger arbeitet, weil er gerade keine Lust hat,sich nicht gut fühlt oder weil ihm die Arbeit einfach nicht recht gelingen will,der macht das am nächsten Tag mit einer anderen Arbeit wieder wett.“

„Hmm...“   Fantasia   waren   solche   Gedankengänge   ungewohnt.   „Was   istaber,  wenn einer einfach soviel nimmt, wie er will,  obwohl er es gar nichtbraucht? Haben dann nicht andere zu wenig zu essen?“

„Wieso?“ Fettwanst runzelte die Brauen. „Niemand ißt mehr, als er in sei­nen Bauch hineinstopfen kann. Warum sollte er zu viel nehmen? Es würdedoch verderben.“

„Wenn du die Menschen näher kennen würdest“, warf Harpo lächelnd ein,„würdest du diese Frage schon verstehen. Bei uns gibt’s das nämlich ziemlichoft, daß einer mehr an sich rafft, als er brauchen kann.“

Fettwanst nickte und sagte: „Früher versuchte auch jeder Rotpelz, größerzu sein und mehr zu besitzen als die anderen. Dabei gingen Freundschaftenzu Bruch, und die Leute sprachen nicht  mehr miteinander.  Wenn sie sichtrafen, hatten sie nichts Besseres zu tun, als gegenseitig anzugeben, daß sichdie  Igluwände bogen.  Und eines Tages ging das nicht  mehr so weiter.  DieRotpelze setzten sich zusammen und verjagten diejenigen, die ihnen diesenSchneefloh ins Ohr gesetzt hatten, warfen alle ihre Güter in einen Topf undleben seither in Frieden.“

Harpo erklärte, daß die Kinder es auf der EUKALYPTUS genauso machten.Was sie in der Kindheit auf der Erde erlebt hatten, war ihnen allen eine Lehre.Auf der Jagd nach dem besseren Leben hatte man die Erde nahezu vernichtet.Es gab dort keine Wälder mehr und fast nur noch künstliche Nahrung. Wennes im Winter einmal schneite, dann war der Schnee nicht weiß wie hier aufNordpol, sondern schmutziggrau und roch nach Chemikalien. Die wenigenNaturlebensmittel, die es noch gab, wurden in abgedichteten Treibhäusernherangezogen und waren so teuer, daß nur wenige sie sich leisten konnten.Der Raubbau an der irdischen Natur hatte dazu geführt, daß die Menschennicht   mehr   im   Einklang   mit   ihrer   Umwelt   leben   konnten.   Sie   wurdenaggressiv   und  gemütskrank.   Allergien   tauchten  schneller  auf   als   wirksameMedikamente dagegen zu produzieren waren. Viele Ungeborene erkranktenbereits im Mutterleib an neuen, unbekannten Krankheiten.

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Wegen solcher Krankheiten waren die meisten Kinder an Bord der EUKA­LYPTUS gekommen, die als eine Art Sanatorium die Erde umkreiste, bis einenoch immer ungeklärte Katastrophe das Schiff in den Kosmos entführte unddie   Mannschaft   flüchten   ließ.   Aus   eigener   Kraft   und   mit   Hilfe   der   Welt­raumärzte hatten die Kinder die auftauchenden Probleme gemeistert und dasSchiff schließlich in Besitz genommen.

Fantasia war es, die von den Weltraumärzten erzählte. Als sie zu Ende gere­det hatte, platzte Alexander heraus: „Hinter der Schneegrenze, dort wo dieBlumen blühen und die Erde überall grün ist, steht ein Iglu aus Eisen. Da lebtein   Wesen,  das   haargenau  so aussieht,  wie   du  uns  die  Weltraumärzte   be­schrieben hast.  Mit  einem  birnenförmigen Kopf.  Und ein anderes   lebt  beiihm. Es ist so winzig, daß es auf meiner Handfläche Platz hätte.“

„Mit einer gaaanz langen Nase?“ trompetete Lonzo. Harpo und die anderenhorchten auf.

„Ja“, rief Alexander. „Mit einer gaaanz langen Nase und Schlappohren. Esist sehr niedlich und sehr nett. Wir haben zusammen gespielt, als mein Vatermich in den Eiseniglu brachte, weil meine Zähne wackelten.“

„Ein Weltraumarzt auf diesem Planeten?“ Die Kinder staunten und steck­ten die Köpfe zusammen. In der gleichen Sekunde wurde ein neuer Plan ge­boren. „Den müssen wir unbedingt besuchen!“

Sie rannten alle zusammen zu Flunki, der sich gerade wieder mit seinemheimlichen Freund Alleswisser in den Haaren lag.

Der blinde Passagier

Flunki war sofort Feuer und Flamme, als er von dem Plan der Kinder er­fuhr. Selbstverständlich war er gern bereit, die Freunde in seinem Schlittenzum Sommerland zu fahren.  Der Schlitten war  ja ein Mehrzweckfahrzeug,das sich genauso gut auch außerhalb von Schneezonen auf einem Luftpolsterbewegen konnte.

„Beim Schneebesen!“ knurrte er, als Harpo seine Bitte vorbrachte. „Habeich euch nicht tausendmal erklärt,  daß alles, was mir gehört,  auch meinenFreunden gehört?“

Schüchtern meinte Harpo: „Nun, vielleicht hast du etwas anderes vor ...“„Papperlapapp! Klar  fahren wir  zu dem Zahnklempner hinaus!  Der kann

sich bei  der  Gelegenheit  direkt  mal  die Reste meiner Beißerchen ansehen.Worauf warten wir noch? Alles aufsteigen, und ab geht es!“

Ganz so eilig hatten es die Freunde nun noch nicht. Schließlich mußte mansich erst  einmal  ausgiebig  von den Rotpelzen verabschieden.  Und die  Zu­rückgebliebenen,   sowohl   die   Besatzungsmitglieder   der   EUKALYPTUS   wieauch die Raufbolde des Borro­Clans und ihre Gäste, mußten über den neuenOrtswechsel informiert werden. Das war aber schnell getan. Micel Fopp, der

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gerade in der Funkzentrale des Beibootes A­9 saß, freute sich, die Freunde zuhören.   Inzwischen hatte  ein richtiger  Pendelverkehr zwischen  dem Raum­schiff und den Raufbolden eingesetzt. Die Boote kamen kaum zur Ruhe. Sieschafften die EUKALYPTUS­Leute zum Nordpol und die neugierigen Rauf­bolde auf das Sternenschiff.

Der Abschied von den freundlichen und gar nicht so faulen Rotpelzen fielallen schwer. Selbst Flunki, der vor Verlegenheit freundlich und grob zugleichwurde  und sich von Alleswisser  mit  einigen Knüffen  verabschiedete.  Alex­ander  gab allen  einen sanften Schmatz auf  die Nase,  worauf  seine Muttermeinte:  „Wir beschmatzen uns immer auf die Nase oder reiben die Nasengegeneinander, wenn wir uns mögen. Unser Sohn scheint euch sehr gern zuhaben.“ Bei diesen Worten lächelte sie geheimnisvoll.

Fettwanst winkte mit einem rotgepunkteten Taschentuch, das ihm Lori ge­schenkt   hatte.   Die   Rotpelze   brummten   ein   Lied,   das   mit   Abschied   undWiedersehen zu tun hatte, außerdem von einem Raufbold handelte, der ewignörgelte.  Es hörte  sich sehr lustig an.  Merkwürdig  war eigentlich  nur,  daßsich Alexander verdrückt hatte, als sich der Motorschlitten dröhnend in Be­wegung setzte.

Das Gefährt glitt knirschend über die Schneedecke und ließ das Lager derRotpelze schnell hinter sich. Der Raufbold stand hinter dem Steuer, ließ abergelegentlich auch Harpo und Fantasia die Bedienung übernehmen, nachdemer ihnen alles genau erklärt hatte. Lonzo schaukelte mit seinen Greiftentakelndie kleine Lori in den Schlaf und sang mit leiser, knarrender Stimme: „Wirfahren durch bis morgen früh und singen bumsfallera ...“

Stunden später, als der Rieseniglu der Rotpelze weit hinter ihnen lag unddie   Sonne   Archimedes   sich   anschickte,   hinter   dem   Horizont   zuverschwinden, begann Flunki plötzlich an den Armaturen herumzufummeln.

„Sack Zement!“ schimpfte er in sich hinein. Und dann: „Der Eierdieb sollmich holen!“ Harpo sah, daß Flunkis Gnomengesicht sich in tausend Faltenlegte und der Bart sich wie der Stachelpanzer eines Igels sträubte.

„Ist was?“ erkundigte er sich.„Bei allen Rutschbahnen des Universums!“ fauchte der Raufbold. „Mit dem

Treibstoff ist etwas faul! Lonzo!“„Zu Befehl, Herr Admiral!“„Sei ehrlich!“ Flunki hob einen Zeigefinger und stieß ihn gegen Lonzos di­

cken Metallbauch. „Hast du dich etwa erdreistet, von unserem Kraftstoff zutrinken?“

„Iiiiich?“ krächzte der Roboter empört. „Warum werde ich bei solchen Ge­legenheiten immer verdächtigt? Bei meiner kalten Seele! Nie würde ich dastun. Nie und nimmerlich!“ Zum Eid hob er zwei Tentakel in die Luft, woraufLori erwachte und sich die Augen rieb.

Der Raufbold setzte seinen Helm ab, wischte sich mit einem riesigen ka­rierten Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn, bleckte die Zähne undknurrte:  „Also wenn ich den erwische,  der uns die 43.212,6  Schambuddels

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Treibstoff geklaut hat! Die fehlen nämlich. Na ja, könnte auch sein, daß wirein Leck ...“

„Wieviel   sind   denn   43.000   Schambuddels,  Flunki?“   fragte   Lori   gähnend.„Sicherlich sehr viel, oder?“

„Das will ich meinen“, erwiderte der Raufbold. „Mindestens ein Fingerhutvoll. Ein Skandal!“

Flunki überließ Harpo das Steuer und rieb sich die Hände. Noch immerraste der Motorschlitten über die weite, weiße Landschaft dahin. Dann schobder kleine Raufbold Fantasia  beiseite  und drängte sich an Lonzo und Lorivorbei zu einem kleinen, nur mit einem Fellvorhang bedeckten Durchgang,der zum Laderaum führte. Blitzschnell riß er den Vorhang zur Seite.

„Ha!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Dachte ich mir’s doch!“„Ich habe euren Kraftsaft nicht getrunken, Herr Raufbold!“ rief der kleine

Rotpelz, der dort stand und sich nun ängstlich die Hände vor die Augen hielt.„Ich war es nicht, ganz gewiß nicht!“

„Ja, ist denn das ...“ Flunki machte wieder Anstalten, auf der Stelle zu explo­dieren. Er wirbelte herum, stand plötzlich auf den Händen, strampelte mitden Beinen und biß schließlich wütend in den Fellteppich, der den Boden derKabine bedeckte.

„Alexander!“ dröhnte Lonzo blechern.„Wo kommst du denn her?“ fragten Lori und Fantasia freudig überrascht

wie aus einem Munde. Harpo entglitt fast das Steuer. Rasch drosselte er dasTempo. „Bist du etwa von zu Hause abgehauen?“ fragte er.

Der  kleine  Rotpelz,  der   jetzt   schüchtern  die  Fahrerkabine  betrat,   schiendem Weinen ernsthaft nahe zu sein. „Wenn’s gestattet ist, edle Damen undHerren,   edle   Eisenmaschine,   edler   Oberraufbold:   Mein   Herz   dürstet   nachAbenteuern, die ich, so wag’  ich’s anzutragen, an eurer geschätzten Seite infernen Landen zu erleben hoffe. Meine Eltern huben zwar an, mich zu war­nen, weil alldorten in der weiten, schneelosen Welt sich reichlich viel Gefah­ren über den Häuptern kleiner Rotpelze zusammendräuen,    jedoch konntemich nichts zurückhalten, nicht länger mehr wollte ich fürderhin Angelhakensortieren ... Und so bin ich allhier.“

„Was spricht der denn auf einmal so komisch?“ fragte Lori kichernd.„Jemand  muß  den Translator  verstellt   haben“,  meinte  Harpo.  Flunki,   in

dessen Ohren alles viel normaler geklungen haben mußte, da er die Rotpelz­Sprache verstand, sah einen Moment verständnislos drein, lachte dann abermit, weil man schließlich Gründe zum Lachen niemals verpassen soll.

„So seid ihr am Ende gar nicht vergrätzt und gram?“ fragte Alexander noch,dann hatte Harpo den Translator wieder einjustiert. Bei dem Gelächter derFreunde hatte der kleine Bär Hoffnung geschöpft.

Harpo schüttelte den Kopf, daß die langen Haare nur so flogen. „Ich be­stimmt nicht. Wenn Flunki nichts dagegen hat ... kannst du sicherlich mit unsmitkommen.“

Flunki murmelte undeutlich etwas, das wie: „...Umpph, grrrumph ... Bären­bengel ... grrr ... aber nett ... soll mitkommen ...“ klang.

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Alexander atmete auf und meinte ziemlich selig: „Da bin ich aber beruhigt!Ich dachte schon, ich hätte euch gründlich verärgert.“

Lonzo   winkte   den   Ausreißer   zu   sich   heran:   „Du   hast   doch   wohl   eineErlaubnis von deinen Eltern für dieses Unternehmen?“ fragte er und tat sehrgrimmig.  Aber  in  dieser  Beziehung konnte  ihn Alexander beruhigen.   Jederjunge Rotpelz ging einmal im Leben auf Wanderschaft und ließ sich dann garnicht selten in einem anderen Clan nieder. Damit wurde nicht nur erreicht,daß die Bärenjungen und Bärenmädchen sich auf eigene Füße stellten unddie Welt kennenlernten, sondern gleichzeitig kam es auch dazu, daß man inanderen Clans Freunde und Verwandte hatte und immer tüchtig feiern konn­te, wenn man einander mal begegnete. Da sich Harpo an das geheimnisvolleLächeln  von  Alexanders   Mutter  beim  Abschied  erinnerte,   war   damit   wohlziemlich klar, daß der junge Rotpelz nicht flunkerte.  Zumindest die Mutterhatte von seinem Plan gewußt.

Als Flunki wieder das Steuer übernahm, erklärte er, daß er durch die Treib­stoffanzeige  darauf  gekommen war,  daß sich eine zusätzliche Person  oderandere  unbekannte Fracht an Bord befinden mußte. Die Instrumente warensehr empfindlich und zeigten bereits unerhebliche Differenzen an.

Kaum hatte er seine Erklärung abgegeben, als der Motor zu stottern be­gann. Sofort ging der Raufbold mit der Geschwindigkeit herunter.

„Da   haben   wir   den   Salat!“   brüllte   Flunki.   „Die   elende   Schneegurkeverweigert den Gehorsam! Das lasse ich mir nicht gefallen!“

„Tut doch etwas“, rief Harpo, dem der Gedanke, inmitten dieser Schnee­wüste zu stranden, gar nicht gefiel.

„Alle  Mann von Bord!“ quakte Lonzo. „Frauen und Roboter zuerst.  Odernoch besser: Sämtlichen Ballast abwerfen.“

„Ich springe ja schon hinaus“, meinte Alexander schuldbewußt, aber Loriund Fantasia hielten ihn an seinem glänzenden Fell zurück. „Aber du dochnicht!“

Spotz, spotz! machte der Motor, dann setzte er endgültig aus. Der Schlittenfegte noch einige Dutzend Meter weiter, schließlich fuhr er sich im lockerenSchnee fest. Am Horizont war ein Grünstreifen aufgetaucht, aber bis dorthinerstreckten sich noch viele Kilometer Schneeboden.

Flunki vertauschte fluchend seine Kleidung mit einer blauen Leinenmon­tur   und   zeigte   dabei   zum   erstenmal,   daß   er   dicke,   graue,   flauschige   Un­terhosen trug. In dem Monteuranzug bot er ein ganz ungewohntes Bild undwirkte eigentlich gar nicht mehr wie ein Raufbold, sondern wie ein viel zuklein geratener Monteur von der Erde. Er zerrte ein paar Bodenbleche hochund krabbelte in einen darunter sichtbar werdenden Tunnel. Nach wenigenMinuten kam er ölverschmiert zurück und ließ erst einmal einen schreckli­chen, meterlangen Dauerfluch los, bei dem sich Alexanders Pelz sträubte.

„Wir   haben   einen   Plastikbulbsel   verloren“,   erklärte   er   schließlich.   „Undausgerechnet einen, für den kein Ersatz an Bord ist!“

„Plastikbulbsel?“ fragte Lonzo. Ein lautes Klicken ertönte, dann öffnete sichauf   seiner   Brust   eine   Klappe,   und   ein   Kästchen   mit   allerlei   Schräubchen,

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Dübeln, Haken, Nieten und Pfropfen sprang heraus. „Was immer ein Plastik­bulbsel sein mag: Vielleicht habe ich einen!“ rief er. „Schon Captain Kidd lob­te stets mein Sortiment an Tauwerk, Rum und Kleinodien.“

„Ha!“ rief Flunki, stürzte auf den Kasten zu und fischte eine Schraubenmut­ter mit selbstsichernder Kunststoffauskleidung heraus. Genau einen solchenBulbsel brauche ich! Dieser Seemann ist ja ein wandelnder Ersatzteilkasten!“

„Nicht verzagen, Lonzo fragen“, sagte der Roboter gelassen und ließ seinKästchen und die Klappe verschwinden,  während Flunki  bereits  wieder   inden Tunnel hinabstieg.

Während noch repariert wurde, steckte Alexander seine Bärennase schnüf­felnd aus dem Schlitten hinaus und sog die Luft ein. „Herrlich riecht es hier“,meinte er. „Wie im Sommer bei uns zu Hause.“ Er deutete auf die Grashalme,die  vereinzelt  doch   schon  aus   der  nur  noch   dünnen   Schneedecke   ragten.„Bald sind wir im Grünen. Ich kann es kaum noch erwarten.“

Bis auf Flunki, der reparierte, und Lonzo, der überflüssige Ratschläge fürdie Reparatur gab, stiegen jetzt alle aus und liefen ein Stück dem Horizontentgegen. Hier war es längst nicht mehr so kalt wie im Lager der Rotpelze.Man schwitzte sogar ein bißchen in den dicken Anzügen. Fantasia entdecktein der Ferne einen ersten Baum, und Lori deutete verzückt  auf ein kleinesTier   mit   gelbem   Pelz   und   buschigem   Schwanz,   das   sie   aus   tiefschwarzenAugen neugierig anstarrte und dann davonhuschte.

Die Luft war herrlich – sie schmeckte noch besser als Eiskrem und war mitdem künstlichen Atemgemisch auf der EUKALYPTUS überhaupt nicht zu ver­gleichen. Und man konnte sich nach allen Seiten frei bewegen. Es gab keineMetallwand, keine Decke und keine Treppe. Erst jetzt erfaßten die Kinder vonder Erde so richtig,  was es hieß, einen ganzen Planeten vor sich zu haben.Fantasia umarmte ganz überraschend Harpo. In ihren Augen stand die stum­me Frage, ob sie nicht alle die EUKALYPTUS vergessen sollten, um sich hierirgendwo anzusiedeln. Bisher war ihnen allen dieser Planet als einzige Eis­wüste erschienen. Mit dem Grün erwachte ein neuer Unternehmungsgeist.

„He,   ihr   Träumer!“   bellte   Flunki   von   weitem   und   schwang   dabei   einenSchraubenschlüssel, der länger war als sein Unterarm. „Es geht weiter!“

Harpo zuckte zusammen. Er hatte tatsächlich für einen Moment lang einBild aus einer greifbar nahen Traumwelt vor Augen gehabt. Es gab dort einenIglu   am   Rande   des   Schnees,   in   dem   er   mit   Thunderclap,   Ollie,   seinerSchwester Anca, Lori, Lonzo und all  den anderen, vor allem aber mit Fan­tasia, lebte. Man tat, wozu man gerade Lust hatte: Schlitten fahren, fischen,Netze flicken ...

„Kommt, Freunde“, sagte er und nahm erst Lori, dann auch Fantasia beider Hand. „Unser Weg ist noch nicht zu Ende!“

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Die Station des Weltraumarztes

Als der Schlitten die Schneegrenze überquerte, gab es einen leichten Ruck,dann   schaltete   Flunki   den   Luftkissen­Antrieb   ein.   Es   wurde   ein   bißchenlauter, aber sonst bemerkte man keinen großen Unterschied. Das Fahrzeugschwebte   jetzt   dreißig   Zentimeter     über   dem   Boden   dahin,   getragen   voneinem   Polster   aus   zusammengepreßter   Luft.   Da   die   milde   Witterung   dieSchutzkuppel   überflüssig  machte,   drückte   der   Raufbold  kurzerhand   einenKnopf. Die durchsichtige Kuppel glitt zwischen die Blechverkleidung.

„Sollte mich gar nicht wundern, wenn sich diese Kiste auch noch in eineBadewanne verwandeln läßt“, äußerte Harpo anerkennend.

„Das   kannst   du   haben!“   rief   der   Raufbold   und   ließ   einen   dünnenWasserstrahl aus dem Armaturenbrett zielsicher in Harpos Gesicht schießen.Flunki lachte dröhnend, als sich Harpo wie ein nasser Pudel schüttelte, wäh­rend die anderen Passagiere sich schreiend in Sicherheit brachten.

„Meine Frisur, meine herrliche Frisur!“ zeterte Lonzo, der nicht ein einzigesHaar unter seiner Matrosenmütze hatte.

Fünfhundert  Kilometer  hatten   sie   bereits  zurückgelegt.   In   dieser  Regionwar von Schnee nicht mehr die geringste Spur zu bemerken. Vor ihnen öffne­te sich eine weite, grünblaue Ebene mit verstreuten Baumoasen. Die Blätterder Bäume wuchsen direkt aus den Stämmen und waren so groß, daß mansich dahinter verstecken konnte. Goldene Blütensporen trieben wie in Zeitlu­pentempo durch die Luft. Überall summte und zirpte es aus der hellblau­mil­chig­weißen Luft.

Flunki hatte nicht übertrieben, als er die Schönheit und Vielfalt des Plane­ten   pries:   Scharen   von   rotgefiederten   Vögeln   mit   Krummschnäbeln   undStelzfüßen sahen neugierig zu, als das Fahrzeug an ihnen vorbeizischte; einRudel pferdeähnlicher, aber nur hundegroßer Tiere mit schwarzweißgefleck­tem Fell und spitzen Hörnern auf den Nasen flitzte auseinander, als sie einenseichten Fluß durchquerten,  in dem die Tiere gerade badeten. Das Wasserspritzte und sprudelte, daß es eine wahre Pracht war. Aus dem Uferschilf ent­fernten   sich   aufgeschreckt   blaue  Eidechsen.   Im  Fluß   tummelten   sich  see­hundgroße   Fische,   die   man   durch   das   kristallklare   Wasser   gut   erkennenkonnte. Gelegentlich steckten sie ihre Köpfe über den Wasserspiegel, fuhrensich mit langen Flossen über ihre haarigen Schnurrbärte und schickten zor­nige Jaullaute hinter dem Fahrzeug her. Am Himmel segelte ein drohender,schwarzer  Schatten: ein langhalsiger  Vogel,  der wie ein Geier einen kahlenKopf und eine dichte, aufgeplusterte Halskrause hatte.

„Das ist ein Eierdieb!“ rief Flunki aufgeregt, als Lori ihn auf den Vogel auf­merksam machte.

„Warum hat er denn diesen komischen Namen?“ wollte Lori wissen.„Potzdonner, euer Wissensdurst gefällt mir“, sagte Flunki und zwirbelte die

Schnurrbartenden. „Der Kamerad heißt so, weil er seine eigenen Eier nichtausbrütet. Sie gefallen ihm nämlich nicht, weil sie rosa sind. Dafür klaut er

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sich dann die schönen, goldgesprenkelten Eier der Höhlensalamander undschleppt sie in sein Nest. Groß genug ist er ja dazu, und mit seinen Klauenmöchte ich lieber keine Bekanntschaft machen. Ich habe einmal beobachtet,wie ein kleiner Salamander in einem Eierdieb­Nest ausschlüpfte. Der Vogelhat vor lauter Schreck fast alle Federn abgeworfen. Hohoho! Eigentlich müß­ten die Eierdiebe ja mit der Zeit lernen, daß aus den Eiern, die sie ausbrüten,Salamander krabbeln, aber sie sind einfach zu dumm dazu. Jahr um Jahr ma­chen sie das gleiche!“

„Und wer brütet ihre eigenen Eier aus?“ wollte Harpo wissen.„Das schafft  die  Sonne  allein“,  antwortete  Flunki  zwinkernd.  „Vorausge­

setzt, sie fallen vorher nicht einem Eiersammler in die Hände.“„Und was ist das für ein Tier?“ fragte Lori, begierig darauf, ein neues, phan­

tastisches Wesen geschildert zu bekommen.„Oh“,  meinte  Flunki  grinsend.   „Das   sind  Wesen mit  großen  Bärten   und

Eisenhelmen. Man nennt sie auch Raufbolde.“Fettwanst hatte ihnen eine Landkarte mitgegeben, die aus einem Stück Le­

der mit eingeritzten Angaben bestand. Aber Flunki kannte den Weg so gut,daß er die Karte nicht benutzen mußte. Schließlich konnte er stolz auf einenPunkt am Horizont deuten, der schnell größer wurde und sich als die Stationdes   Weltraumarztes   entpuppte   –   denn   nach   allem,   was   sie   bisher   gehörthatten,   konnte   ja   kaum   ein   Zweifel   daran   bestehen,   daß   ein   Angehörigerdieser Rasse sich hier aufhielt.  Das Gebäude hatte eine gewisse Ähnlichkeitmit   einem   irdischen   Observatorium   und   trug   auch   tatsächlich   in   einemSchlitz der Rundung ein gewaltiges Fernrohr. Aber auch Alexanders Bezeich­nung „Eiseniglu“ konnte nicht von der Hand gewiesen werden. Das Gebäudeähnelte einem Iglu oder einer unten abgeflachten Riesenmurmel.

Die   Freunde   staunten,   als   ihnen   Trompo   entgegeneilte,   jener   Miniatur­elefant,   den   sie   auf   der   EUKALYPTUS   glaubten.   Aber   es   war   gar   nichtTrompo,  stellte  Lori   fest,  als   sie  nach  draußen  sprang  und  das  kuscheligeWesen   auf   den   Arm   nahm.   Natürlich:   Dies   war   Trompo   II,   jenes   andereWesen aus Trompos Rasse, von dem Alexander schon erzählt hatte. TromposArtgenossen halfen den Weltraumärzten mit  ihren besonderen Fähigkeitenbei der Arbeit. Kein Zweifel, hier hielt sich ein Weltraumarzt auf.

Da kam er auch schon aus dem Gebäude, blickte freundlich zu ihnen her­über und erwartete sie dann mit verschränkten Armen am Eingang. Er trugeinen enganliegenden, silbernen Anzug mit einem schwarzen, ziemlich ho­hen   Stehkragen.   Sein   Kopf   glich   einer   auf   die   Spitze   gestellten   Birne   mitwinzigen, spitzen Ohren und kugelrunden Augen.

„Ich habe euch schon erwartet“, sagte er zur Begrüßung und geleitete dieBesucher ins Innere.

„Ja, können sie denn Gedanken lesen?“ fragte Lori verblüfft.„Verrat!“   machte   sich   Lonzo   bemerkbar,   aber   jeder   wußte   ja,   daß   er   es

nicht ernst meinte. Es gab nur eine Erklärung: Der Arzt hatte Kontakt mit derEUKALYPTUS aufgenommen und erfahren, daß der Schlitten zu ihm unter­wegs war.

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„Na,   ganz   so   war   es   nicht“,   erklärte   der   Mediziner,   nachdem   er   zuvorallerlei  saftige Früchte aufgetischt hatte. „Ich erhielt  einen Funkspruch vonKollegen, die euch vor einigen Monaten im Weltall treibend gesehen haben.Sie hielten es für möglich, daß das Raumschiff vom Schwerefeld eines Plane­ten im Archimedes­System eingefangen würde. Schließlich konnte ich euchorten. Erst kürzlich gelang mir allerdings die Verbindung zu einem Burschennamens Vielsprechermund ...“

„Schwatzmaul!“   riefen   die   Kinder.   „Der   Translator   hat   den   Namen   jamächtig verballhornt.  Und außerdem hat die eitle Maschine verschwiegen,daß sie ein Computer ist!“

„Er verband mich dann mit einem gewissen Donnerwetter Übermensch ...“„Mit wem?“ schrie Harpo fasziniert, aber dann lachte er los, als ihm einfiel,

daß damit nur Thunderclap Genius gemeint sein konnte.„Na“,  meinte  Flunki,  „Thunderclap Genius  hört   sich  aber  auch komisch

an.“„Eigentlich heißt er ja auch ...“ begann Lonzo, aber dieses Mal war es Har­

po, der den vorwitzigen Roboter mit einem Knuff  in die Metallrippen zumSchweigen brachte.  Thunderclap hütete  seinen wahren Namen wie seinenAugapfel,   und   der   Grund   dafür   war,   daß   er   noch   komischer   war   als   derjetzige.

Nach   dem   Essen   besichtigten   sie   die   Station   des   Mediziners.   SeinenNamen hatte er mit einer Lautkombination angegeben, die selbst Lonzos fo­tografisches Gedächtnis kaum korrekt wiedergeben konnte. Er bestand auseiner Ansammlung von Zischtönen und Konsonanten.

Lori schlug vor, den Arzt Karl­Herbert zu nennen, was Harpo nicht gefiel,worauf Fantasia Walter vorschlug, was Lonzo auf die Palme brachte. Der vonFlunki erfundene Name Zahnklempner stieß bei Alexander auf Ablehnung,weshalb man sich schließlich und endlich auf „Hugo“ einigte. Flunki bedau­erte seinen Vorschlag nachträglich, als der hellhörig gewordene GalaktischeMediziner  sein Zahnarztbesteck heranschleppte  und auf den Raufbold  zu­ging.

Flunki   riß nicht  nur  so geschwind aus  wie  ein Wiesel,   sondern kletterteauch  noch  auf   einen  Baum   und  war   erst  nach  etlichen   heiligen  Eiden  zuüberreden, wieder in die Station zu kommen.

Hugo versäumte es nicht,  den Freunden seine Laboratorien zu zeigen, indenen   unübersehbare   Reihen   von   chromglänzenden   Maschinen   standen.Wie   er   erklärte,   bestand   der   Hauptzweck   der   Station   darin,   auf   Nordpolwichtige Rohstoffe für Medikamente zu gewinnen, die anderswo im Kosmosnur schwer aufzufinden waren. Da der Planet in seiner Sommerzone unge­wöhnlich   fruchtbar   war,   existierten   hier   derart   viele   Formen   pflanzlichenLebens, daß sich für die Medizin sehr günstige Essenzen gewinnen ließen.Aber   daneben   war   die   Station   natürlich   auch   dafür   eingerichtet,   diesenRaumsektor  medizinisch zu betreuen,  und enthielt  zahlreiche Diagnostik­,Heil­ und Operationsräume. Hugo und sein Begleiter, besser seine Begleite­rin, denn Trompo II hieß Neli und war ein Weibchen, lebten ganz allein hier.

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Erst   nach   einer   Dienstzeit   von   zehn   Nordpol­Jahren,   was   etwa   siebenirdischen Jahren entsprach, wurden sie abgelöst. Die Hälfte dieser Zeit hattendie beiden bereits abgeleistet. Täglich schwollen die Stöße von Karteikartenund Heftmappen an, und die Computer, von denen Hugo gleich mehrere be­saß, ratterten Tag und Nacht, um neue Testergebnisse zu verarbeiten. Hugoließ nämlich keine Gelegenheit  aus,  die teilweise noch unerforschte Faunanach weiteren Heilstoffen zu durchforsten und Testreihen zu beginnen.

Gelegentlich gab es auch Patienten aus den Reihen der Raufbolde oder Rot­pelze,   und   Hugo   freute   sich   immer   über   Abwechslung.   Glücklicherweisewurden die Nordpol­Bewohner äußerst selten krank, weil sie in einer glückli­chen Symbiose mit der Natur lebten und darauf verzichtet hatten, ihre Nah­rung   mit   künstlichen   Zusätzen   zu   vergiften.   Nur   die   Angewohnheit   desRauchens,   die   besonders   bei   den  Raufbolden  sehr   verbreitet   war,  gab  ge­legentlich Anlaß zu einem Krankenbesuch.

„Denkt  daran“,  brabbelte  Lonzo später,   „daß auch  Pommfritz  ungesundsind. Zu viel Fett dran und so!“

„Pommes frites heißt das“, verbesserte Lori kichernd.„Du hast gut reden“, meinte Harpo anzüglich. „Du kommst mit ein paar

Batterien das ganze Jahr über aus und trinkst höchstens mal ein KännchenÖl. Außerdem bestehen unsere Pommes frites sowieso aus Synthofood, sindalso künstlich gemacht, und auch das verwendete Fett ...“

Nach   den   Anstrengungen   der   langen   Fahrt   fiel   es   allen   leicht,   in   einentiefen Schlummer zu fallen, kaum daß sie es sich in einigen leerstehendenKrankenbetten bequem gemacht hatten.

Hugo ließ seine Gäste ausschlafen. Erst am späten Vormittag erwachte Har­po als erster durch das Gezwitscher unzähliger, etwa daumengroßer Vögel.Ein   Teil   der   Metallwand   war   zur   Seite   geglitten   und   zeigte   ein   großesPanoramafenster, durch das die Sonnenstrahlen auf die Betten fielen.

Alexander,   der   als   zweiter   erwachte,   kletterte   sofort   aus   dem   Bett   undmachte   mit   ausgestreckten   Armen   keuchend   und   schnaufend   einigeKniebeugen. „Ist gesund“, meinte er, als Harpo ihn fragend ansah.

„Ach   du   meine   Güte“,   jammerte   Harpo   und   versteckte   sein   Gesicht   imKissen.   „Jetzt   haben   wir   noch   einen   Gesundheitsapostel   am   Hals.   Na,   duwirst dich gewiß mit unserem kleinen Ollie anfreunden. Wenn der Taschenhätte, die groß genug wären, würde er die ganze Bordapotheke mit sich her­umschleppen.“

Wie hungrige Wölfe stürzte die Gruppe nach dem Duschen an den Früh­stückstisch,   wo   köstliche   Brote   und   Marmeladen   zum   Verzehr   einluden.Flunki   konnte   es   so   wenig   abwarten,   daß   er   sein   Beschleunigerfeld   ein­schaltete und dann wie ein Bagger die guten Sachen in sich hineinschaufelte.

„Nicht so schlingen“, riet Alexander und gab dem Raufbold einen freund­schaftlichen Klaps auf den Rücken, so daß dieser fast mit dem Gesicht in sei­nen   Teller   tauchte.   „Man   kriegt   Bauchgrimmen   und   Magengeschwüredavon!“

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Flunki schluckte  verzweifelt  und verdrehte die  Augen. Schließlich ließ ersich sogar dazu bewegen, sein Beschleunigerfeld abzuschalten, und aß dannfast gesittet, obwohl auch das natürlich nicht ohne Schmatzen und Schlürfennach echter Raufboldart vor sich ging.

Nach dem Essen gesellte sich Hugo zu den Gästen und meinte: „Als ich miteurem Freund Thunderclap sprach, erzählte er mir übrigens von einem Men­schen, der auf der EUKALYPTUS im Tiefschlaf liegt.“

„Das ist  Daniel  Locke“, sagte Fantasia und nickte,  nachdem sie sich ersteinmal den Mund abgewischt hatte. Harpo unterdrückte einen Rülpser, aberLonzo holte den für Harpo nach und warf ihm anschließend einen vorwurfs­vollen Blick zu. „Tut man denn so etwas?“

„Also Lonzo ...“ knirschte Harpo. Aber dann erzählte er Hugo von jenem ge­heimnisvollen Mann, der an Bord der EUKALYPTUS in einem gläsernen Sarglag und dennoch lebte.

Die beiden Weltraumärzte Robbie und Freddie hatten den Mann bereitsuntersucht, konnten aber keine Diagnose stellen. Fest stand nur, daß DanielLockes Leben von einer gefährlichen Krankheit bedroht wurde, gegen die zu­mindest die Ärzte auf der  Erde kein anderes Mittel  wußten,  als   ihn einzu­frieren, in der Hoffnung, ihn wieder aufzuwecken, wenn man entsprechendeHeilverfahren entwickelt  hatte.  Alle  Körperfunktionen waren außer Betriebgesetzt, so daß er in seinem Kühlbehälter nicht alterte.

Hugo interessierte sich sehr für den Fall. Er hatte gerade erst sein Studiumabgeschlossen und leistete auf Nordpol gewissermaßen sein Praktikum. Da erglaubte, mehr zu können, als Zähne zu ziehen und hier und dort einen Ver­band anzulegen, fühlte er sich von Daniel Lockes rätselhafter Krankheit her­ausgefordert.

„Wir kehren alle gemeinsam zur EUKALYPTUS zurück“, schlug Harpo vor.„Dann   kannst   du dir   den Patienten   ansehen.  Aber  zuvor  müssen wir  ver­anlassen, daß eine der Landefähren uns abholt.“

Als  sie  mit  der  EUKALYPTUS  Funkverbindung  aufnahmen,  meldete sichKarlie Müllerchen, der nicht schlecht staunte, als aus seinen Lautsprechernein halbes Dutzend Stimmen auf ihn einredeten, so durcheinander, daß ernicht ein einziges Wort verstand.

„Heilige Milchstraße!“ rief er aus. „Hör dir das bloß einmal an, Thunder­clap. Ein Hühnerhof mit gackernden Hennen ist dagegen ein Sanatorium!“

„Hallo,   Freunde,   hier   spricht   Logbuchführer   Harpo   Trumpff“,   sprudelteHarpo schließlich los, nachdem er sich mit mehrfachem „Pschtscht“ gegenalle anderen durchgesetzt hatte. „Ich habe eine tolle Nachricht für euch ...“

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Der Schläfer erwacht

Auch die Galaktischen Mediziner,  die bei den Kindern der EUKALYPTUSunter den Namen Robbie und Freddie bekannt waren, hatten dem geheim­nisvollen Mann im gläsernen Sarg nicht helfen können. Trotz der Perfektionihrer durch die Galaxis sausenden Hospitalschiffe – die vorwiegend bei Not­fällen eingesetzt wurden ­, waren ihnen Grenzen gesetzt, die es in den plane­taren Stationen, wie Hugo eine bediente, nicht gab.

Zwar   war   auch   der   Weltraumarzt   Hugo   nicht   in   der   Lage,   einen   Totenwieder zum Leben zu erwecken, aber Daniel Locke war ja nicht tot. Brim Bo­riam, der schwarze Krauskopf aus Afrika, der an Bord der EUKALYPTUS dieFunktion eines Schiffsarztes ausübte, wurde nicht müde, in seinem weißenKittel Hugo die einzelnen Stationen auf der EUKALYPTUS zu zeigen, ihm dieInstrumente zu erklären. Am meisten beeindruckten Hugo die riesigen Ope­rationsmaschinen,   mit   deren   Hilfe   ein   guter   Mediziner   auch   die   kom­plizierteste Operation am Kontrollschirm ausführen konnte. Dabei brauchteer nicht einmal selbst ein Skalpell in die Hand zu nehmen. Die Maschine warfähig, winzige Nervenbahnen miteinander zu verschweißen, und arbeitete sogenau, daß sie dem Auge längst nicht mehr sichtbare Fäden zusammenfügenkonnte.

Dennoch hatten Hugo und Brim fast zehn Tage lang alle Hände voll zu tun,um hinter das Geheimnis von Daniel Lockes Krankheit zu kommen. Als erstesließ   sich   Hugo   mit   dem   Beiboot   A­9   an   Bord   der   EUKALYPTUS   bringen,wobei ihn mehrere Kinder begleiteten. Der Rest – einschließlich Flunki undAlexander – kam mit der nächsten Maschine.

Hugo und Brim untersuchten den Schläfer in seinem gläsernen Sarg aufHerz und Nieren, wie man so schön sagt, wenn man eine gründliche Unter­suchung meint. Das war auch nötig, da niemand genau wußte, wie lange derunbekannte Mann bereits an Bord war und ob er sich durch das lange Liegennicht auch noch andere Schädigungen zugezogen hatte. Schließlich hatte esdamals,  als die erwachsene Besatzung fluchtartig die EUKALYPTUS verließund die Kinder die Zentrale noch nicht kannten, Energieausfälle gegeben.

Energie ist aber nötig, um Kälte zu erzeugen. Thunderclap Genius erklärtees seinen neugierigen Freunden, nachdem sie eine jubelnde Begrüßungsze­remonie   über   sich   hatten   ergehen   lassen,   folgendermaßen:   „ElektrischerStrom   treibt   eine  Art  Pumpe an.  Mit  der  wird  ein  Kühlmittel  verdichtet  –wobei es Wärme an die Umgebung abgibt – und anschließend wieder ent­spannt – wobei es Wärme aus dem Kühlbehälter aufnimmt.“

Das war schwer zu verstehen, und das wurde in diesem Moment all jenenerschreckend bewußt, die die Lösungen der Physikaufgaben schlichtweg beianderen abgeschrieben hatten. Aber alle behielten, daß beim Kühlen immerein   Temperaturunterschied   zwischen   einem   kleinen   Kühlraum  und   seinerUmgebung entsteht.  Die Wärme wird aus dem Kühlraum in den größerenRaum der Umgebung geleitet. Der kleine Ollie kam sogar ganz allein auf die

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Idee, daß es überhaupt keinen Zweck hat, die Kühlschranktür offenstehen zulassen, wenn es einem in der Küche zu heiß ist: Ein offener Kühlschrank kühltüberhaupt nicht mehr.

Da auch die beste Isolierung die Kälte nicht konstant halten kann, befürch­tete Hugo, daß bei einem Stromausfall der gläserne Sarg zu warm gewordensein könnte. Aber nach der Untersuchung hellte sich sein Gesicht auf: Es waralles in bester Ordnung.

Sechs reparierte Grüne trugen Daniel Locke mitsamt seinem Glasbehälterzunächst   in  die  A­9 und dann  in  Hugos  Hospitalstation auf  Nordpol.  Derkurze Transport war ungefährlich. Auf der Station angekommen, wurde dieKühlpumpe sofort wieder an das Stromnetz angeschlossen.

Jetzt konnten Hugo und seine elefantenartige Assistentin, unterstützt vonBrim   Boriam,   mit   den   Hilfsmitteln   der   Station   das   Problem   in   Angriffnehmen. Zunächst wollte es jedoch einfach nicht gelingen, herauszufinden,was Daniel Locke genau fehlte. Blut wurde abgezapft und untersucht. Nichts.

Der Körper wurde durchleuchtet.Nichts.Winzige Sonden glitten in jede Vene und jedes Organ, aber auch sie fanden

nichts. Erst eine Spezialuntersuchung einzelner Körperzellen brachte an denTag, daß eine krankhafte Zellkernwucherung das Leben des Unbekannten ge­fährdet hatte.

Ein wirklich schwieriges Problem. Aber Hugo und Brim gaben nicht auf.Tagelang vergruben sie sich inmitten ihrer Geräte und entwickelten schließ­lich,   mit   Unterstützung   des   Archiv­Computers,   in   dem   die   Daten   vonMillionen Krankheiten sowie Mittel zu deren Bekämpfung gespeichert waren,eine kombinierte Heilbehandlung. Sie bestand aus einem gespritzten Medi­kament und einer besonderen Strahlungsart.  Während Daniel  Locke seinerGesundung  entgegenschlief,  drückten  Hugo  und  Brim  sich  glücklich,  aberzum Umfallen müde, die Hände und nahmen eine Mütze voll Schlaf.

Am nächsten Tag spritzte Hugo dem gleichmäßig atmenden Schläfer einbelebendes Mittel ein. Fast alle Kinder der EUKALYPTUS befanden sich nunauf  dem Planeten Nordpol.  Auch eine  große Anzahl  von Raufbolden hattesich neugierig eingefunden.

Zufällig hatte sich an der Grenze zur Sommerzone auch ein Rotpelz­Clanbefunden, der von der Aktion gehört hatte und dabeisein wollte.

So   gab  es   in   Hugos   Hospitalstation  ein   ständiges   Kommen  und  Gehen.Menschen, Rotpelze und Raufbolde drängten durch die Räume oder liefertensich an der Schneegrenze Schneeballschlachten. Die Rotpelze erwiesen sichwegen  ihrer   größeren  Erfahrung  als   fast  unschlagbar,   ließen aber  hin undwieder – gutmütig wie sie waren – auch mal die Kleinen gewinnen. Und eswar eine Seltenheit, wenn man keinen Motorschlitten aus Flunkis Clan zwi­schen den Hügeln dahinflitzen sah.

„Jemineh“, stöhnte Hugo, als er den Andrang wahrnahm. „Jetzt merke icherst einmal, wie schön Einsamkeit sein kann!“

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Als sie das Lager Daniel Lockes umstanden, fragte Fidel leise: „Was machenwir, wenn der Alte versucht, uns Befehle zu erteilen?“ Er hatte nicht aufgege­ben, alle Erwachsenen als Alte zu bezeichnen und machte lediglich bei Babseine Ausnahme. Er war mißtrauisch gegenüber jedem, der älter als zwanzigwar.

Insgeheim mußte auch Harpo zugeben, daß er darüber schon nachgedachthatte. Weder wußte man, wer Daniel Locke war, noch was er auf der Erde ge­macht hatte. Vielleicht war er es gewöhnt, andere Leute herumzukomman­dieren, und sah die junge Mannschaft des Raumschiffes als eine Kinderscharan, die eine starke Hand benötigte?

„Wir lassen uns das einfach nicht gefallen“, gab Harpo ebenso leise zurück.Er wußte, daß alle so dachten. Und das war kein Wunder. Schließlich hattedie ehemalige Besatzung die EUKALYPTUS in heller Panik verlassen und siealle  einem   ungewissen   Schicksal   ausgesetzt.  Sie  hatten  nichts   dazu beige­tragen, daß die Kinder den Planeten Nordpol erreicht hatten. Nein, das warallein ihr Werk – und sie waren stolz auf das, was sie geleistet hatten. Es gabkeinen Grund, sich jemanden vor die Nase setzen zu lassen.

In diesem Moment schlug Daniel  Locke die Augen auf. Er machte: „Hat­schi!“ und blickte in Hugos blaues, birnenförmiges Gesicht, weil dieser sichgerade über seinen Patienten beugte. Dann drehte er leicht den Kopf, starrteauf   Brims   schwarzes   Gesicht,   verharrte   einen   Augenblick   auf   Alexanderszotteligem Bärenpelz  und blieb dann an den freundlich grinsenden ZügenFlunkis hängen, dessen listige Äuglein ihm entgegenblinzelten, während erdie Zähne fletschte und seinen Schnurrbart zwirbelte.

Verwirrt schloß der Mann die Augen und murmelte: „Ganz klar. Ich bin ver­rückt geworden. Kann gar nicht anders sein.“

„Daniel!“   rief   Harpo.   Er   hatte   sich   nun   tapfer   entschlossen,   den   Manngleich   mit  seinem  Vornamen   anzusprechen,   denn   „Herr   Locke“   klang  garnicht gut – und wäre schon eine Art Unterordnung gewesen. „Es ist alles inOrdnung. Wir haben dich im Tiefschlaf gefunden. Du warst sehr krank, aberWeltraumarzt Hugo und Brim haben dich geheilt!“

Daniel hielt krampfhaft die Augen geschlossen. Seine Zunge leckte nervösüber die Unterlippe. Dann sagte er: „Ein Alptraum. In Breitwand und Farbe!“Seine Stimme krächzte etwas, als seien seine Stimmbänder nach all den Jah­ren eingerostet. „Ich muß einfach spinnen!“

„He, er kann ja tatsächlich etwas sagen“, ulkte Flunki mit gespielter Über­raschung.

„Bären und Zwerge“, sagte Daniel. Offenbar blinzelte er doch ein wenig un­ter seinen Lidern hervor. „Jungejunge – das wird mir zu Hause keiner glau­ben!“

„Beim Vater  aller  Frostbeulen!“  schrie  der  Raufbold  so  laut,  daß HarposTranslator zu wackeln begann. Er sprang aus dem Stand in die Luft und gifte­te:   „Diese   Portion   Tiefkühlkost   wagt   es,   mich   einen   Zwerg   zu   nennen!Schniefnase und Keuchhusten, dabei bin ich fast einen ganzen Meter groß!“

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Damit  war der Bann gebrochen, denn Flunkis Lachfältchen, die deutlichunter seinem struppigen Bart zu erkennen waren, sprachen eine ganze ande­re Sprache. Es gelang ihm überhaupt nicht, sie durch ein gewollt grimmigesAugenfunkeln zu verbergen.

Alle jubelten und fielen sich in die Arme.„Unter Captain Kidd gab es einen Piraten, der zwar nicht größer als Flunki

Raufbold war“, gab Lonzo zum besten, „aber dafür hatte er andere Talente: Erwußte immer, wo der Captain seine Schnapsbuddeln versteckt hielt!“

Jetzt  schlug auch Daniel  Locke wieder die Augen auf.  Nachdem sich dieerste Verwirrung gelegt hatte, guckte er eigentlich recht freundlich. Und einbreites,   glückliches   Lächeln   auf   seinem   Gesicht   signalisierte:   Er   hatteverstanden,  daß sein Leben, das vor  seinem Einfrieren an einem seidenenFaden gehangen hatte, gerettet war.

„Ich scheine also doch nicht zu spinnen. Na, egal, jetzt könnt ihr euch si­cher vorstellen, daß ich darauf brenne, herauszukriegen, wo ich bin, was dasalles zu bedeuten hat, was das hier für ulkige Leutchen sind, und ... und ...Ach, ihr wißt schon, ich habe tausend Fragen auf Lager.“

Damit ging es erst richtig los. Alle wollten schnellstens ihre Erlebnisse los­werden und dem Schläfer möglichst detailgetreu die Abenteuer der EUKA­LYPTUS­Besatzung   mitteilen.   Selbst   Fidel   ertappte   sich   dabei,   wie   er   mitleuchtenden   Augen  den  Schneekrabbler  Borro  schilderte.   Es  herrschte  einkleines Chaos, so daß Daniel sich schließlich aufsetzte und stöhnend an denKopf griff, während Flunki und Lonzo in wilde Entzückensschreie ausbrachenund ein Tänzchen im Sechsneunteltakt improvisierten.

Der   Lärm   lockte   selbst   Trompo   und   Neli   an.   Trompo,   das   kleine,   rosa­farbene Elefantenwesen, hatte die Kinder in den letzten beiden Wochen nurselten   gesehen.   Der   Anblick  der   beiden   kätzchengroßen   Intelligenzen   ließDaniel erneut schlucken, aber er fing sich rasch wieder. Später erklärte er, indiesen   ersten   Minuten   des   Erwachens   geglaubt   zu   haben,   sich   in   einerwundersamen Traumwelt mit allerlei Phantasiegeschöpfen zu befinden.

Schließlich   verschaffte   sich   Thunderclap   Genius   Gehör   und   schildertesachlich, ohne viel auszulassen – aber auch ohne sich groß in Erzählungeneinzelner  Abenteuer  zu verfransen – die  bisherige Fahrt  der  EUKALYPTUSund die Verhältnisse auf dem Planeten Nordpol.

„Das“, sagte Daniel nach einer Pause, „muß ich erst einmal verdauen.“ Erhatte sich bemüht, den Bericht des Jungen im Rollstuhl nicht durch Fragenzu unterbrechen und fühlte sich jetzt so überfordert, daß ihm alle vorläufigzurückgestellten Fragen wieder entfallen waren.

„Jetzt bis du an der Reihe, zu erzählen, wie du an Bord des Schiffes gekom­men bist“, platzte Harpos Schwester Anca heraus. Sie war als eine der letztenvon der EUKALYPTUS nach Nordpol gekommen und beneidete die beidenersten  Landungsgruppen   um   die   schon   erlebten  Abenteuer   bei  den   Rauf­bolden und Rotpelzen.

„Immer langsam“, meldete sich Doktor Brim. „Daniel ist sicher unheimlichmüde und möchte erst mal schlafen.“

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„Schlafen?“ lachte Daniel. „Ich habe wahrhaftig lange genug geschlafen inden letzten sechs Jahren.“ Aber er mußte durch ein heftiges Gähnen unfrei­willig zugeben, daß gerade der  lange Schlaf ihn erschöpft hatte.  „Ich fühlemich ziemlich geplättet“, sagte er, als die Kinder sein raubtierhaftes Gähnenmit einer Lachsalve beantworteten, „ungefähr so, als hätte mich eine Dampf­walze überfahren.“

Hugo fragte erst gar nicht lange, sondern verpaßte ihm eine Spritze.„Autsch!“ quittierte Daniel verdutzt. „He, ich will nicht wieder eingefroren

werden, Hugo!“„Keine Sorge, diesmal dauert es keine sechs Jahre, sondern höchstens sechs

Stunden“, versicherte der blauhäutige Mediziner.„Ich bin aber  wirklich  ...  uuuaahh   ...  gar  nicht  müde uuaaahh...“  Daniel

gähnte noch einmal herzhaft, dann fielen ihm die Augen zu. Das kantige Kinnmit den winzigen Bartstoppeln sackte auf seine Brust. Tiefe und regelmäßigeAtemzüge verrieten, daß er eingeschlafen war.

„Scheint gar kein übler Typ zu sein“, meinte Harpo und sah dabei Fidel an.Der nickte zögernd.

„Sieht so aus.“ Fidel zuckte mit den Schultern. „Hmm – ich glaube, ich mußmal über etwas nachdenken, Harpo.“

„Nachdenken?“ fragte Anca. „Worüber denn?“„Über Vorurteile“, erwiderte Fidel, während er hinausging.„Ich wette, er hat einen gewaltigen Kohldampf, wenn er wieder aufwacht“,

meinte Karlie Müllerchen. „Ob er Kartoffelpuffer mag?“Harpo verzog das  Gesicht  und sagte  griesgrämig:  „Wie kannst   du daran

zweifeln, Karlie, he?“Der  über  zwei  Meter   große   Junge  grinste  von  einem Ohr  zum anderen.

„Dann   werde   ich   ihm   vorsichtshalber   mal   achtzig   Stück   in   die   Pfannehauen ...“

Die lockenden Sterne

Daniel  Locke kehrte nach einem opulenten Mahl zusammen mit  Harpo,Thunderclap, Fantasia,  Lonzo und Karlie auf die EUKALYPTUS zurück undsah zum ersten Mal das Schiff, auf dem er so viele Jahre verbracht hatte, ausder Nähe.

Er   konnte   nicht   verbergen,   daß   dieser   Koloß   großen   Eindruck   auf   ihnmachte.  Zwar war  er  selbst  Techniker  auf einer  Werft   für  Raumschiffe ge­wesen – und hatte sogar am Bau der EUKALYPTUS mitgewirkt  ­, aber  dasfertige   Ergebnis   seiner   Arbeiten   hatte   er   nur   auf   dem   Bildschirm   seinesFernsehers betrachten können.

Und das war gar nicht so erstaunlich, wie es sich anhörte. Im allgemeinenbaute man Teile der großen Raumschiffe auf der Erde zusammen und brach­

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te sie mit Lastraketen ins All hinaus, wo sie montiert wurden. So hatte Danielimmer nur einzelne Teile zu Gesicht bekommen und deshalb keinen beson­ders großen Spaß an seiner Tätigkeit gehabt. Die Montagearbeit im All wurdewieder von anderen Technikern ausgeführt,  die auch nicht recht zufriedenwaren,   weil   sie   mit   den   Vorarbeiten   nichts   zu   tun   gehabt   hatten.   Ihnenwurden einzelne Fertigteile übergeben, die sie stur nach einem bestimmtenKonstruktionsplan zusammensetzten. Die Fließbandarbeit hatte man auf derErde längst abgeschafft, weil die Leute sie als unmenschlich empfanden undablehnten, aber dafür griff das Spezialistentum immer mehr um sich.

„Seht ihr?“ meinte der Rotpelz Alexander.  „Bei uns haben wir das schonlange rausgefunden,  daß es  nicht  eben das  Selbstbewußtsein  stärkt,  wennman stur immer wieder dasselbe machen muß. Erst  wenn man eine Sacheganz entstehen sieht, vom Anfang bis zum Ende – dann macht es Spaß!“

„Warum   tun   die   Monteure   denn   diese   Arbeit?“   fragte   Karlie  ernüchtert.„Ich meine, wenn sie ihnen doch keine Freude macht ...“

Daniel zuckte die Schultern. „Sie müssen doch irgendwie Geld verdienen,um Nahrung und Kleidung zu kaufen und eine Wohnung zu mieten“, erklärteer. „Die meisten Jobs sind so beschaffen. Man kann sich die Arbeit einfachnicht danach aussuchen, ob sie einem Spaß macht oder nicht.“

„Das ist aber wirklich fies“, meinte Harpo. „Die Leute auf Nordpol tun nurdas, was ihnen Spaß macht. Jeder kann alles. Wir haben es auf der EUKALYP­TUS ebenso gehalten. Und es klappt – wenigstens meistens.“

Daniel Locke kratzte sich hinter dem Ohr und nickte dann. „Ich staune so­wieso, daß ihr grünen Jungs mit Eierschalen hinter den Ohren dieses Riesen­schiff wieder in Schwung gebracht habt, nachdem ein Haufen hochkarätigerSpezialisten die Flucht ergriffen hat.“

„Eierschalen?“ quakte Lonzo.„Grüne Jungs?“Lonzo machte: „Naaaa!“ und drohte Daniel mit allen vier Tentakeln gleich­

zeitig.„Oh, ‘tschuldigung“, erwiderte Daniel hastig. „Ich falle doch immer wieder

in diese alten Redensarten zurück. Ich bin halt zu erzogen worden. Tut mirleid. Es dauert eine Weile, bis ich umdenke.“

Er  wußte   inzwischen,  daß  die  Kinder  Bezeichnungen   wie   „grüne Jungs“überhaupt nicht hören mochten, und hatte sich auch schon gebessert, abergelegentlich rutschte ihm halt noch so etwas raus. Zwar wußten die anderengenau, daß er es eigentlich gar nicht böse meinte und daß sogar ein gehörigesStück Bewunderung hinter seinen Worten steckte. Aber trotzdem ...

„Und wenn schon ‚grüne Jungs‘“ schimpfte Fantasia Einstein, „dann auch‚grüne Mädchen‘. Wir haben nämlich auch allerhand getan.“

Daniel   lachte verlegen. „Verzeihung Fantasia.  Auch daran muß ich micherst noch gewöhnen. Als ich klein war, hat man mir den Blödsinn erzählt, daßMädchen nicht logisch denken können und deshalb auch nichts von Technikverstehen.“ Er legte einen Arm entschuldigend um Fantasias Schultern.

„Na, wieder gut?“ Daniel blinzelte.

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Fantasia nickte lächelnd. Sie fühlte sich sehr zu Daniel hingezogen, weil ersie an ihren Vater erinnerte, obwohl er viel jünger war. Ihr Vater hatte auchimmer so ein angenehmes, breites Lächeln gehabt. Viele Kinder auf der EU­KALYPTUS waren Waisen – wie Harpo und Anca ­, aber  Fantasia litt  nochimmer   darunter,   daß   sie   ihre   Eltern   wahrscheinlich   niemals   wiedersehenwürde.

„Ich dachte mir das schon“, sagte Daniel, nachdem er die Atomreaktorenund Antriebselemente der EUKALYPTUS besichtigt hatte.

„Was?“ fragten Harpo und Thunderclap wie aus einem Munde.„Daß etwas faul ist an diesem Raumschiff. Damals auf der Werft wurde von

einem neuartigen Antrieb gemunkelt. Genaues erfuhr man nicht, weil allesvon den Sicherheitsheinis abgeschirmt wurde. Aber zweifellos wurde dieserneue Antrieb in das Schiff eingebaut.“

„Und was ist daran faul? Hat das vielleicht etwas mit der Katastrophe zutun, die die EUKALYPTUS aus ihrer Kreisbahn um die Erde riß?“

„Vielleicht.  Es ist auf jeden Fall  ziemlich merkwürdig, daß ein Schiff, daseigentlich   nur   die   Erde   umkreisen  und   nicht  das  Sonnensystem  verlassensoll, überhaupt einen Antrieb erhält! Was soll es denn damit? Eine normaleRaumstation hätte es für die offiziellen Zwecke auch getan. Und mehr noch:Das Schiff bekommt einen gänzlich unerprobten Antrieb, mit dem die Men­schen zum ersten Mal größere  interstellare Entfernungen überwinden undmit dem die Schranke der Lichtgeschwindigkeit fällt.“

„Hm“,   meinte   Karlie.   Da   er   sich   stark   für   Astronavigation   interessierte,wußte er inzwischen, daß das Licht 300 000 Kilometer pro Sekunde zurück­legt und trotzdem einige Jahre benötigt, bis es von Stern zu Stern dringt. Werschneller reisen wollte,  mußte also flinker als ein Lichtstrahl  sein. Das galtlange als unmöglich, weil der geniale Physiker Albert Einstein (der übrigensnicht  mit  Fantasia  verwandt   ist)  eine Theorie entwickelt  hat,  nach der  dieLichtgeschwindigkeit die höchstmögliche Geschwindigkeit im Universum ist.„Stimmt eigentlich. Aber was steckt dahinter? Was ist der Sinn?“

„Keine Ahnung“, gab Daniel zu. „Vielleicht bleibt das immer ein Geheim­nis, denn nicht mal Schwatzmaul ist darüber informiert.“

„Der“,   kicherte   Harpo,  „weiß   von   manchen   anderen  Dingen   auch   nichtviel.“

„Einspruch“,   sagte   Schwatzmaul   über   sein   Lautsprechersystem.   „Ichprotestiere!“ Sein Gerede ging in Daniels weiterer Erklärung völlig unter.

„Ich bin davon überzeugt, daß die EUKALYPTUS nicht in erster Linie alsSanatoriumsschiff für kranke Kinder gedacht war! Da wurde ein nagelneuesSchiff  mit   fast   zweihundert  Decks  gebaut.   Ein  gewaltiger  Kasten,  auf  demzwanzigtausend Menschen sich verlaufen können. Versehen mit einem Supe­rantrieb. Jeder bei uns auf der Werft glaubte, an einem Sternenschiff zu arbei­ten. Die Konzeption ist einfach großzügig und ungewöhnlich. Für ein neuesSanatorium“, fügte er hinzu.

Er schwieg, denn trotz seiner vollständigen Gesundung war sein Tiefschlaf,auf   den   Daniels   Anwesenheit   überhaupt   zurückzuführen   war,   ein   wunder

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Punkt.  „Ich  bin   jedenfalls   nicht  davon  ausgegangen,  daß  dieses   Schiff  dieErde auf ewig umkreist, als ich mich einfrieren ließ.“ Daniel hatte es, wie erberichtete, nur einem Verwandten zu verdanken, daß man sich bereiterklärthatte, sich seiner auf dem Hospitalschiff anzunehmen. „Wenn ein Mann inmeiner Lage so schwer krank wird“, sagte er einmal, „dann muß er sterben.Nur die  Prominenten können da noch hoffen,  weil  sie  die   teuersten  Heil­verfahren bezahlen können.“

Die Methode, Menschen einzufrieren, um sie erst  dann wieder aufzuwe­cken, wenn ein Mittel gegen ihre Krankheit entdeckt wurde, war kostspielig.Auf der Erde existierten private Tiefschlafdepots,  aber wenn man da eineneinfachen Krankenschein vorlegte, kam man nicht einmal am Pförtner vor­bei. Daniel hatte deshalb schon beinahe resigniert, als ihm sein Arzt mitteilte,daß er nur noch wenige Monate zu leben hatte.

Ein Verwandter  machte  ihn darauf aufmerksam, daß man Freiwillige fürein Weltraumexperiment suchte, die eingefroren werden sollten. Was genaudieses   geheimnisumwitterte   Experiment  beinhaltete,  war  Daniel   bis   heuteunklar geblieben – und vermutlich war es auch gar nicht mehr zu rekonstru­ieren.   Daß   man   seinen   gläsernen   Sarg   jedoch   an   Bord   der   EUKALYPTUSbrachte,  unterstützte seine Vermutung,  daß dieses Schiff  keineswegs alleinzur Erholung irdischer Kinder gedacht war.

„Sagt mal“, meinte er, nachdem er beinahe jeden Quadratzentimeter derMaschinenräume inspiziert  hatte,  „ihr  habt  zwar  tolle  Arbeit  geleistet  undviele Schäden beseitigt – aber ich verstehe nicht ganz, weshalb ihr den An­trieb nicht zu voller Manövrierfähigkeit gebracht habt. Es ist doch alles an Er­satzteilen vorhanden, was nötig ist.“

„Waaas?“ fragte Karlie entsetzt. „Das kann doch nicht wahr sein. Es stimmtzwar, daß alle großen und komplizierten Teile in Reserve genommen wurden,aber so manches kleine und lebenswichtige Detail fehlte, angefangen bei be­stimmten Schraubenarten und Werkzeugen.“

Daniel   lachte.  „Da habt   ihr  euch  foppen lassen“,  sagte  er  grinsend.  „Ihrhabt bloß nicht erkannt, was zusammengehört! Habt ihr denn die Werkzeug­maschinen   nicht   gesehen?   Wenn   wirklich   ein   paar   Verbindungselementefehlen, könnt ihr die doch mit Leichtigkeit auf den Dreh­, Bohr­, Fräs­, undHobelmaschinen selbst anfertigen.“

Karlie und die anderen waren jetzt tatsächlich an der Reihe, rot zu werden.„Wir haben keine Ahnung, wie man diese Maschinen bedient. Und – ehrlichgesagt  – wir haben nicht das geringste verstanden, wenn wir Schwatzmauldanach fragten!“

„Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf“, schaltete sich das GroßeGehirn in die Unterhaltung ein, „so muß ich dazu bemerken, daß ich es un­seren verehrten Damen und Herren Ingenieuren immer wieder ganz präzisebeschrieben hatte. Und trotzdem haben sie behauptet, meine Worte seien fürsie unverständlich. Dabei bin ich seit dem ersten Stromstoß, der durch meineSpeicherzellen fuhr, dafür bekannt, daß ich äußerst knapp, exakt, ohne über­

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flüssige   Worte   meinen   Aufgaben   genüge.   Wie   schon   weiland   der   Kom­mandant in seinen Mußestunden zu sagen beliebte ...“

„Was hast du Karlie und den anderen denn gesagt?“ unterbrach Daniel denWortschwall des Elektronengehirns.

„Nun ja, ich erklärte ihnen kurz und knapp, was sie beachten müssen, be­vor sie eine Drehmaschine einschalten, nämlich ein bißchen Werkstofftech­nologie, ein wenig Elektrotechnik und eine Prise Zerspannungstechnik. Also:Fe hat drei Modikatoren, nämlich kubisch­raumzentrierte  Gitter,  stabil  beiTemperaturen bis 911 Grad Celsius, kubisch­flächenzentrierte Gitter von 911Grad bis 1392 Grad Celsius. Die Umwandlung geschieht bei steigender Tem­peratur endotherm, bei fallender Temperatur exotherm, wobei Modifikationinstabil   existenzfähig   infolge   Umwandlungsträgheit   bei   überhärtetem   le­gierten ...“

Karlie verdrehte die Augen.„Nein“, stöhnte Daniel. „Das hast du ihnen erklärt?“„Ja“,   erwiderte   Schwatzmaul.   „Endlich   mal   jemand,   der   meine   Ausfüh­

rungen zu schätzen weiß! Es ist doch wirklich einfach, logisch und absolutnotwendig   für  das   Verständnis,  weshalb   ich  mich  nicht   scheue,   an   dieserStelle einmal auszusprechen, meine Damen und Herren – und das muß ein­mal gesagt werden ­, daß wir zu dieser Stunde im Bewußtsein unserer Verant­wortung, wie jeder zugeben muß ...“

„Halt!“ donnerte Daniel dazwischen. „Schwatzmaul, du bist ... du bist einSchwatzmaul, jawoll! Und ein Hornochse dazu!“

„Vielen Dank“, entgegnete Schwatzmaul. „Ich mag diese großen Tiere, dieGras kauen und dabei eine Reaktionswärme von ...“

„Schwatzmaul!“ drohte Daniel.Karlie keuchte: „Hilfe!“„Aber darf ich wenigstens ...“„Nein“, entschied Daniel. „Du darfst nicht.“„Och, wie schade!“„Durch   solche   Vorträge   werdet   ihr   niemals   lernen,   wie   man   aus   einem

Stück   Metall   eine   Schraube   anfertigt   und   sie   härten   kann.   Oder  wie   manschweißt   und   schmiedet.   Oder   ganz   einfach   Schrauben   nicht   zu   fest   undnicht   zu   locker   anzieht.   Kommt  mit,   ich   werde   euch   zuerst   mal   richtigesElektroschweißen beibringen.“

„Das können wir schon“, sagte Fantasia stolz. „Sonst wären wir nicht weitgekommen bei unseren Reparaturarbeiten. Die Weltraumärzte haben uns dasgezeigt.“

Daniel   biß   sich   verlegen   auf   die   Unterlippe.   „Beißt   mich   jetzt   nicht“,meinte er, „aber ich habe mir die Schweißnähte, die ihr gelegt habt, schonangesehen.   Also:   Erstaunlicherweise   hält   das   irgendwie,   aber   glaubt   mir,meinem  alten Lehrmeister  wären auf  einen Schlag alle  grauen Haare  aus­gefallen, wenn er das gesehen hätte. Die Galaktischen Mediziner mögen zwarGenies auf ihrem Gebiet sein, aber vom Schweißen haben sie nun mal keineAhnung.“

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„Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf“, mischte sich Schwatzmaulwieder ein,  „achtet  darauf,  daß die kristalline Struktur  der Metallenden soverändert wird, daß ein gleichartiges Ganzes ...“

Lachend flüchtete Daniel mit den Kindern. Unten in den Maschinenräu­men und Antriebskammern gab es nur ganz wenige Lautsprecher, aus denender redselige Computer seine Kommentare abgeben konnte. Ganz verzichtenwollten   sie   natürlich   nicht   auf   ihn,   und   später   erwies   sich,   daß   sogarSchwatzmaul   sich   mit   einiger   Mühe  so   ausdrücken   konnte,   daß   man   ihnohne Fachstudium verstand. Er zeigte ihnen genau, wo noch unterbrocheneLeitungen geschweißt, verlötet oder neu verlegt werden mußten und wo tau­be Teile gegen Ersatz auszutauschen waren.

Harpo, Thunderclap und die anderen kamen aus dem Staunen nicht mehrheraus, als sie sahen, mit welcher Geschicklichkeit ihr neuer Freund Danieldie  Werkzeuge zu handhaben verstand. Er zeigte ihnen mit großer Geduldnicht nur, wie geschweißt, gelötet oder an den Werkzeugmaschinen gearbei­tet wurde, sondern wußte überall Rat, wo es Schwierigkeiten gab.

Wenn ein Schraubenschlüssel zu kurz war, verlängerte er ihn kurzerhandmit   einem   Rohr;   wo   sich   festgebrannte   Schraubenmuttern   nicht   bewegenließen,  hämmerte  er  sie  mit  einem Meißel  auf.  Und lässig  bewegte er  mitwenigen, geschickt angebrachten Hubzügen und Hydraulikpumpen hausho­he   Antriebsaggregate,   von   denen   die   Kinder   geglaubt   hatten,   daß   auchtausend Olympiasieger   im Gewichtheben sie nicht  von der Stelle  bewegenkönnten.

Was eigentlich  mit  dem Antrieb  passiert   war,   konnte  auch  Daniel  nichtfeststellen. Er war ein guter Monteur, aber kein Wissenschaftler. Sicher war,daß aus unvorhergesehenen Gründen eine Überlastung erfolgt war, bei derein Teil der Anlagen ausgefallen und das Raumschiff in einen Raumsektor ka­tapultiert worden war, der so weit von der Erde entfernt lag, daß der Sternen­himmel fremd erschien.

Wo immer die heimatliche Sonne als einer von vielen blitzenden Punktenam Himmel leuchten mochte: Wenn sie in der halbdunklen Zentrale standenund durch die gläserne Kuppel hinaufsahen zu den Sternen, spürte jeder derFreunde ein erregendes Gefühl der Abenteuerlust. Welche seltsamen Weltenund Wesen mochten dort im All auf sie warten?

Zu neuen Abenteuern

Sie hatten sich in der Hauptzentrale der EUKALYPTUS versammelt.  Dieswar vielleicht die letzte Versammlung, an der sie alle teilnahmen. Alle, die mitdem Raumschiff  zum Planeten Nordpol gekommen waren. Und schon vorBeginn der Versammlung wurde deutlich, daß es zwei   verschiedene Lagergab:   Die   einen   wollten   auf  Nordpol  bleiben,   während   die  anderen   darauf

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brannten, mit dem Schiff zu neuen Planeten vorzudringen. Vergessen war dieZeit,   als   sie  diesen  Planeten  erreichten,   manövrierunfähig   und  einzig   undallein darauf bedacht, eine neue Heimat zu finden.

Ein  bißchen  Schuld  dabei   trug  Daniel   Locke,  denn  er  hatte  maßgebenddabei  geholfen,  daß die restlichen Schäden an der  EUKALYPTUS  behobenwaren. Alle halfen bei der Reparatur, auch diejenigen, die nicht daran dach­ten, den Schneeplaneten wieder zu verlassen. Aber die Abenteuerlustigen un­ter den Kindern hatten keine ruhige Minute mehr, seit Schwatzmaul bestätigthatte, daß das Raumschiff nicht nur in jeder Beziehung startklar war, sondernauch über so große Reaktorvorräte verfügte, daß man damit ein paar hundertJahre lang durch das All schippern konnte.

„Riskant   ist  es   trotzdem“,  äußerte  sich  Daniel.  „Wir  wissen   immer nochnicht, wie der Antrieb funktioniert und welche Tücken und Kinderkrankhei­ten   damit   verbunden   sind.   Wer   sagt   uns,   daß   sich   die   Katastrophe   nichtwiederholt, die das Schiff aus dem Orbit der Erde gerissen hat?“

„Pah“, machte Lonzo wegwerfend. „Wenn Captain Kidd so gedacht hätte,wäre er niemals Pirat geworden, sondern höchstens Heringsfänger auf demBodensee!“

„Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden“, meinte auch ThunderclapGenius. „Wenn wir uns auf Nordpol einigeln, erfahren wir niemals, was im Allvorgeht.“

„Ja, müssen wir das denn?“ fragte Fantasia. „Warum genügt es euch nicht,bei unseren Freunden, den Raufbolden und Rotpelzen zu bleiben? Hier ist esdoch prima!“

Sie hatte eigentlich recht, und Thunderclap wußte selbst ganz gut, daß esihm und vielen anderen nur darum ging, neue Abenteuer zu erleben.

„Beim Schneegockel und seinen vierzig Zitterhühnern!“ schimpfte Flunkilos, der neben Alexander, Hugo und einigen weiteren Raufbolden und Rot­pelzen als Ehrengast an der Versammlung teilnahm. „Warum könnt ihr euchnicht darauf einigen, daß Nordpol eure neue Heimat wird, daß ihr aber ge­legentlich Kap... äh ...“

„Kaperfahrten!“ half Lonzo aus.„...  Kaperfahrten zu anderen Planeten macht?   Ihr  kehrt  natürlich   immer

wieder   in  den  Heimathafen zurück  und  bringt  euren   Freunden  Andenkenmit!“

„Respekt, Raufbold“, schmetterte Lonzo los. „Das ist ein wahrhaftig pira­tiger Einfall! Eine Ehrensalve mit Tusch für den Admiral der Landpiraten vonNordpol!“

„Rärärärääää!“ brüllte Oliver aus Leibeskräften. „Operationsbasis Nordpol!“„Wie weit ist es bis zum nächsten Fixstern?“ wollte Harpo wissen.„Exakt  11,365789456   Lichtjahre“,   meldete   sich   Schwatzmaul,  „wobei   ich

allerdings voraussetzte, daß sich kein Protest erhebt, als ich die letzte  Kom­mastelle stillschweigend aufrundete ...“

„Und wie lange benötigen wir für die Hin­ und Rückreise?“ fragte Thunder­clap.

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„Die   reine   Fahrzeit:   drei   Monate,   zwei   Wochen,   vier   Tage,   dreizehnStunden, siebenundzwanzig Minuten, vier Sekunden, zwölf Mikrosekunden,acht ...“

„Also können wir bereits in einem halben Jahr zurück sein, wenn wir unsnicht länger als drei Monate in dem fremden Sonnensystem aufhalten“, un­terbrach   dieses   Mal  Harpo   den   Computer.  „Ich   finde,   daß   Flunkis   Einfallwirklich großartig ist. Es ist demnach gar nicht nötig, daß wir uns trennen –weil wir einfach immer wieder zurückkehren.“

Ganz so einfach war es natürlich nicht, denn für die weiter entfernten Ster­ne   würde   man   eine   entsprechend   längere   Fahrzeit   benötigen.   Aber   dieKinder waren erleichtert, daß es kein Abschied für immer sein würde, wenneine Gruppe auf Nordpol zurückblieb und die andere sich auf den Weg zuden Sternen machte. Das hatte sie nämlich alle sehr bedrückt. Sie waren inden vergangenen Monaten zusammengewachsen.

„Dann stellen wir jetzt die neue Besatzung der EUKALYPTUS zusammen!“rief Micel Fopp begeistert. Daß der Gedankenleser mit den kurzen Ärmchendie nächste Reise mitmachen würde,  war von Anfang an so klar wie dickeTinte.

„Wer bleibt also auf Nordpol zurück?“ fragte Thunderclap.„Ich!“ schrie Flunki, und seine Raufboldfreunde fielen auf der Stelle mit ein.

„Tausend Eierdiebe mögen mir ihre Brut auf den Kopf werfen, wenn es ineinem   Schneekrabbler   nicht   doch   gemütlicher   ist,   als   in   dieser   Sardinen­büchse!“

„Und wer noch?“ fragte Thunderclap lachend.Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich Tom Schlitz und ein gutes

Dutzend seiner Freunde. Sie hatten sich in den letzten zwei oder drei Wo­chen stark mit dem Rotpelz­Clan, aus dem Alexander stammte, angefreundetund wollten zurück in den Iglu, wo Fettwanst und seine Verwandtschaft sichihrer angenommen hatten.

Auch Daniel Locke wollte auf dem Planeten bleiben. Er genoß es, endlichfrei zu sein von einengenden Wänden. Er liebte es, stundenlang durch denSchnee zu stapfen, die frische, ozonreiche Luft in die Lungen zu pumpen undden kühlen Wind auf der Haut zu spüren. All das hatte er auf der Erde nie ge­kannt,   und   nun   wollte   er   es   gehörig   auskosten.   Das   war   verständlich.Außerdem wollte Hugo ihn noch eine Weile unter Beobachtung haben, umganz sicher zu gehen, daß die Krankheit ausgeheilt war.

Es gab noch drei Menschen, für die Hugo sich stark interessierte, weil erhoffte,  etwas   für sie   tun zu  können:  Thunderclap,  Lucky  Cicero und BabsMonroe. Thunderclap weigerte sich jedoch Stein und Bein, auf dem Planetenzu bleiben.  So gern er seinen Rollstuhl   in die Ecke stellen wollte,  war ihmdoch das Zusammenbleiben mit seinen engsten Freunden wichtiger – jeden­falls   im   Moment.   Außerdem   wußte   er,   daß   selbst   mit   den   medizinischenKünsten  der   Galaktischen  Mediziner  eine Hilfe   für   ihn   –  wenn  überhauptmöglich   –   sehr,   sehr   langwierig   war.   Er   hoffte,   daß   er   später   auf   HugosAngebot zurückkommen konnte.

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Babs und Lucky ließ Hugo sich aber nicht entreißen. Babs war organischgesund, brauchte aber dringend eine eingehende psychische Behandlung.

Wie er Lucky helfen konnte, wußte er noch nicht, aber er war überzeugt,daß ihm etwas einfallen würde. Einigen Freunden war es nicht so recht, daßsie auf die Gesellschaft des immer fröhlichen Spielkameraden verzichten soll­ten, und sie meinten sogar,  daß Lucky lieber so bleiben sollte,  wie er war.Aber schließlich sahen sie doch ein, daß sie sehr egoistisch dachten.

Sicherlich würde er etwas ernster werden, wenn es gelang, seinen Geist ausdiesem Kokon zu befreien, der ihn gegen die Umwelt abschirmte, weil dannviele   Probleme   und   Konflikte   auf   ihn   warteten   wie   auf   jeden   Menschen.Andererseits würde Lucky jedoch eine andere Art von Lebensfreude kennen­lernen, uns sein rätselhaftes Talent würde sich dann vielleicht voll entfalten.

Weil der kleine Mongoloide Lucky auf Nordpol blieb, wollte auch Fantasiadie nächste Reise nicht mitmachen. Ihr kleiner Liebling sollte nicht allein zu­rückbleiben. Es fiel ihr natürlich schwer, Micel und Ollie, ihre beiden anderen„Pflegekinder“ ohne sie abreisen zu sehen, aber was sollte sie machen?

Die Freunde verloren mit Fantasia auch ihre allerbeste Ingenieurin, aberman konnte sie ja schließlich nicht dazu zwingen, auf der EUKALYPTUS zubleiben. Und sie gönnten ihrem Freund Lucky, daß wenigstens einer aus demengsten Freundeskreis vom ehemaligen Deck 27 bei ihm blieb.

Noch jemand zog es zu Lucky, den Raufbolden und Rotpelzen. Das war zurallgemeinen Überraschung Fidel Flottbek. Er wollte nicht so richtig mit derSprache   herausrücken,   weshalb   gerade   er,   der   die   Erwachsenen   doch   garnicht leiden mochte, in nächster Nähe von Daniel und Babs bleiben wollte.

„Das sind keine richtigen Alten“, sagte er, als man ihn darauf ansprach, undgenauso meinte er es auch.

Wenn wir Flunki glauben dürfen, der bei aller Poltrigkeit eine Spürnase da­für   hatte,   blieb   Fidel   vor   allem   deshalb,   weil   eine   gewisse   rothaarige   In­genieurin, die er gut leiden mochte, nicht mitfuhr, na ja, wer weiß, vielleichthatte Flunki auch nur geflunkert ...

Harpo guckte ein bißchen enttäuscht, als er hörte, daß Fantasia noch ande­re Verehrer hatte, nahm es aber hin.

Der kleine Trompo mochte ähnliche Probleme haben, denn der Abschiedvon  seiner   neuen   Gefährtin   Neli   fiel   ihm   ebenfalls  nicht   leicht.   Aber   Neliwurde auf Hugos Hospitalstation gebraucht – und wenn etwas Trompo überdie Liebe ging, dann war es die Abenteuerlust.

Eine  andere   Entscheidung  wäre   auch   deshalb  schwer   möglich   gewesen,weil der ganze Planet Nordpol mit allen Schneeiglus und Krabblern und Ve­getationsgürteln unter dem Schnee gar nicht ausgereicht hätte, um ein Ver­steck   zu   bieten   vor   dem   kleinen   Ollie.   Der   Krauskopf   mit   derfransenverzierten Lederhose hätte es niemals geduldet, daß sein Spielkame­rad Fahnenflucht beging. Aber das wollte er ja auch gar nicht.

Lori Powitz fühlte sich hin­ und hergerissen zwischen den alten Freundenan Bord und den neuen unter den Raufbolden, aber schließlich siegten Flun­ki und Borro.

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Flunki versprach hoch und heilig, aus Lori eine gute Raufbold­Frau zu ma­chen,   auf   sie   aufzupassen,   sie   zu   beschützen   und   ihr   nicht   allzu   vieleschlimme Flüche beizubringen.

Mit Alexander, dem rotbepelzten Bärenjungen, wurde ein neues Mitglied indie  Mannschaft  aufgenommen. Fast ohne Unterbrechung erzählte er  tage­lang vor der Abfahrt jedem, egal, ob er es hören wollte oder nicht, daß er sichaufmachte, die allerschönste und allerlängste Entdeckerfahrt  aller  Rotpelzezu unternehmen. Aber schließlich hatte er ja auch recht damit.

Endlich war der Starttag gekommen.Alle   hatten   sich   auf   Nordpol   versammelt.   Die   Raufbolde   und   Rotpelze

hatten   sogleich   ein   großes   Fest   daraus   gemacht   und   verabschiedeten   dieRaumfahrer   zu   Hunderten.   Und   natürlich   fehlte   auch   keiner   der   Zurück­bleibenden, auch Hugo und Neli nicht, als die letzten Kinder in die Beibootekrochen, um auf das Raumschiff, das den Planeten umkreiste, zurückzukeh­ren.

Es gab ein paar Tränen, aber dann winkten und jubelten alle und freutensich schon jetzt auf das Wiedersehen.

Die nächste Weltraumexpedition der EUKALYPTUS konnte beginnen!Schwatzmaul richtete seine elektronischen Lauscherohren wieder in den

Kosmos hinaus, in Richtung des neuen Kurses.Dann begannen die Antriebsaggregate kaum merklich zu summen. Die EU­

KALYPTUS drückte sich sanft aus der Umlaufbahn um Nordpol.  Unter dergleichmäßigen Beschleunigung wurde die Geschwindigkeit immer größer.

Für die Zurückbleibenden schrumpfte der Lichtfleck am Himmel zu einemwinzigen Stern zusammen und verging.

Niemand an Bord wußte, was sie in den nächsten Wochen und Monatenerwarten mochte.

Aber irgendwo im weiten All, genau auf dem vorprogrammierten Kurs desRaumschiffes, trieb ein uralter, eiserner Koloß.

Noch   war   er   viele   Millionen   Kilometer   von   der   EUKALYPTUS   entfernt.Doch das Raumschiff näherte sich ihm unaufhaltsam.

Irgendwann würden die Sensoren des Computers Alarm geben ...

Ende

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Die Besatzung der EUKALYPTUS

Harpo Trumpff:Sechzehn. Blondes,  schulterlanges Haar.  Hat gelegentlich Angst vor dem

Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums­schiff:   Schwindelanfälle,   Gedächtnisstörungen   nach  Stürzen.  Chronist  undLogbuchführer der EUKALYPTUS.

Anca Trumpff:Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.

Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehreng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harposich nicht allein fühlt.

Brim Boriam:Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.

Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf­geregt   ist.   Hat   medizinisches   Talent.   Wurde   von   den   Galaktischen   Medi­zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.

Thunderclap Genius:Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten

Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. AlleswissendeLeseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge­hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.

Lucky Cicero:Zehn.   Kann   nur   wenige   Worte   sprechen.   Mongoloide.   Sehr   verspielt.

Freundlich.   Verfügt   über   geheimnisvolle   parapsychologische   Geisteskräfte.Ist   sich   ihrer   nicht   bewußt.   Kann   sie   nicht   steuern.   „Telekinet“   und„Teleporter“   (Kann Gegenstände  mit   reiner  Geisteskraft  bewegen).  Verfügtüber die Gabe, seinen Körper aufzulösen und an anderer Stelle wieder kom­plett   zusammenzufügen.   Verbringt   seine   Zeit   hauptsächlich   damit,   zu­sammen   mit   Lonzo   nach   nicht   existierenden   Schätzen   zu   suchen.   BesteFreundin: Fantasia Einstein.  Kümmert  sich um ihn,  als wäre er  ihr  kleinerBruder.

Lonzo:Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer

teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei­dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema­liger   Seeräuber   zu   sein.   Ist   zweifellos   defekt.   Steht   voll   auf   der   Seite   derKinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je­des Buch über  Piraten gelesen.   Ist   in  der  Lage,  kleinere  Verletzungen und

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Krankheiten   mit   einem  eingebauten   medizinischen  System  zu   behandeln.Besitzt   aus   Metallringen   zusammengesetzte  Beine   und  einen   kugelrundenKopf.

Fantasia Einstein:Fünfzehn.   Rothaarig.   Sensibel.   Blaß.   Wirkt   nervös.   Sehr   still.   Lerneifrig.

Kümmert sich rührend um Lucky Cicero.  Möchte eines Tages Raumschiff­bauingenieurin werden.

Fidel Flottbek:Dunkelblond. Hat Pickel. Neben Harpo und Thunderclap der älteste Junge

an Bord der EUKALYPTUS. Hatte eine schlimme Jugend. Wuchs in Waisen­häusern auf. Ist daher den Erwachsenen gegenüber nicht besonders positiveingestellt. Hält sie alle für schlecht. Kann aggressiv sein. Ist aber nicht ver­stockt, sondern kann einsichtig sein, wenn man ihm eine andere Meinung inden richtigen Worten nahebringt.

Micel Fopp:Vierzehn.   Schwarzhaarig.   Dunkle   Augen.   Wurde   durch   falsche   Medi­

kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver­kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direktan seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt.  „Tele­path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).

Karlie Müllerchen:Fünfzehn.   2,20   Meter   groß.   Niemand   weiß,   wann   er   aufhören   wird   zu

wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt siejedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundertVariationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro­navigation.

Tom Schlitz:Genannt   „Big   Tom“.   Fünfzehn.   Kaut   ständig   an   den   Fingernägeln.   Hat

puppenhaftes, weißes Gesicht und einen muskulösen Körper für seine Größe.Anfangs ein ziemlich ruppiger Bursche. Wird später den anderen mehr undmehr zum Partner. Freundet sich mit Fidel Flottbek an, der in seiner Kindheiteine ähnliche Entwicklung durchmachte.

Ollie:Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter

„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständigein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald ereinen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsenzu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.

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Moritz: Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wirdvon   Ollie   immer   wieder   eingeschmuggelt.   Hat   es   auf   Lonzos   Metallbeineabgesehen. Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.

Trompo:   Außerirdisches   Wesen   von   Katzengröße.   Sieht   wie   ein   rosa­farbener Elefant aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist keinTier,   sondern ein  intelligentes   Lebewesen von einem  Planeten  mit  unaus­sprechlichem Namen. Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Ga­laktischen Medizinern, bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.

Babs Monroe:  Geheimnisvolles,  achtzehnjähriges  Mädchen.  Anwesenheitauf der EUKALYPTUS bislang unerklärlich. Große blaue Augen. Mittellanges,hellblondes Haar.

Daniel Locke: Mehr ein Mythos als eine Person. Ein Mann in einem gläser­nen Sarg. Die Kinder können mit ihm keine Verbindung aufnehmen, weil erim Tiefschlaf liegt.

Schwatzmaul:  Elektronengehirn   der   EUKALYPTUS.   Umfaßt   alleelektronischen   Teile,   Steuer­   und   Kontrollelemente   des   Schiffes.   Und   dieSpeicherbänke.   Die   Bordbibliothek.   Ist   nicht   perfekt.   Muß   manchmalzugeben,   daß   er   Wissenslücken   hat.   Redet   mit   menschlicher   Stimme   viel,gern und geschwollen. Auch über Sachen, die keinen interessieren. Das hatihm seinen Namen eingetragen.

EUKALYPTUS: Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohles ja eigentlich eher wie eine riesige Hantel  aussieht.  Zwei  Kugeln, ein zy­lindrisches Verbindungsstück. Besteht aus einer Vielzahl von Decks, jedes ki­lometergroß, viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.

Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff  fürinterstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa­che Lichtgeschwindigkeit  zuläßt.  Es umkreiste als Hospitalschiff  für krankeund umweltgestörte Kinder die Erde ­ bis es sich aus noch ungeklärter Ursa­che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiffund die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.Oder steuern zu lassen, denn die meiste Arbeit  nimmt ihnen der allgegen­wärtige Computer  Schwatzmaul  ab. Daß sich die EUKALYPTUS überhauptwieder   manövrieren   läßt,   verdanken   die   Kinder  vor   allem  den   hilfreichen„Weltraumärzten“,   einer   extraterrestrischen   Rasse.   Die   EUKALYPTUS   hatmehrere Beiboote, Fabrikationsstätten für alles, was an Bord benötigt wird,Wartungsroboter – und natürlich eine sehr tüchtige, aber auch fröhliche Be­satzung.

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