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BEITRAG AUS: SAECULUM 64.2/2014 ISBN 978-3-412-22479-0, ISSN 0080-5319 © 2014 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, WIEN KÖLN WEIMAR Als die Säulen des Herakles umstürzten Wissen, Wissenschaft und Herrschaft in der portugiesischen Expansion (15. und 16. Jahrhundert) Jorun Poettering Anfang der 1480er Jahre wurde dem portugiesischen Seefahrer Diogo Cão ein Wappen für seine Verdienste bei den Entdeckungsfahrten verliehen. 1 (Abb. 1) Im Hauptfeld des Wappens sind zwei fest im Erdboden verankerte und mit Kreuzen versehene Säulen abgebildet, sogenannte padrões, mit denen die Portu- giesen die jeweils äußersten Stellen kennzeichneten, die sie auf ihren Entde- ckungsreisen erreichten. Diogo Cão hatte den ersten solchen padrão aus Mar- mor errichtet, als er auf seinen Fahrten entlang des afrikanischen Kontinents zur Mündung des Kongo-Flusses vorgestoßen war. Die sich kontinuierlich ausdeh- nende Folge von padrões markierte zugleich mit der sich immer weiter vorschie- benden Grenze des den Europäern Bekannten auch den wachsenden Herr- schaftsanspruch der portugiesischen Krone. Über dem Hauptfeld des Wappens sind noch zwei weitere, umgestürzte Säulen zu sehen, denen die christlichen Attribute fehlen und die auf einem deutlich schwächeren Fundament ruhen. Es handelt sich um die Säulen des Herakles, die der portugiesischen Deutung zu- folge durch die padrões abgelöst wurden. 2 Der Chronist João de Barros erläu- terte das Motiv 1555 folgendermaßen: Ich werde nicht von den Säulen des Herakles sprechen, die auf der Insel von Cádiz aufgestellt wurden, […] um die äußerste Grenze der Erde zu markieren. Sie sind in unse- rer Zeit aus dem menschlichen Gedächtnis gelöscht worden und gerieten in Schweigen und Vergessenheit, denn die Portugiesen errichteten andere, höhere und für den christli- chen Glauben förderlichere Säulen […] an ihrer Stelle in den entferntesten östlichen Tei- len der Welt […]. 3 Auch auf dem Wappen der kastilischen Könige waren seit Karl V. die Säulen des Herakles zu sehen, dort allerdings in der traditionellen stehenden Variante. In jenem Wappen sieht Arndt Brendecke eine mögliche Vorlage für das berühmte Frontispiz von Francis Bacons Instauratio Magna, das nach seiner Interpreta- tion nicht nur für die Überwindung der überkommenen Grenzen der Wissen- 1 George D. Winius, The Enterprise Focused on India. The Work of D. João II, in: ders. (Hg.), Portugal, the Pathfinder. Journeys from the Medieval toward the Modern World, 1300 – ca. 1600, Madison 1995, 89–120, hier 94–101. 2 William G. L. Randles, The Atlantic in European Cartography and Culture from the Middle Ages to the Renaissance, in: ders. (Hg.), Geography, Cartography and Nautical Science in the Renais- sance. The Impact of the Great Discoveries, Aldershot 2000 (ursprüngl. 1992), 1–28, hier 15 f. 3 João de Barros, Panegírico da Infanta D. Maria, in: ders., Panegíricos, hg. v. M. Rodrigues Lapa, Lissabon 2 1943, 173 (eigene Übersetzung). Saeculum 64/II (2014) 257

Als die Säulen des Herakles umstürzten Wissen ... 2014...und Kolonialherrschaft.4 Setzt man diese Metaphorik fort, ließe sich aus dem portugiesischen Bild – mit den umgestürzten

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Als die Säulen des Herakles umstürztenWissen, Wissenschaft und Herrschaft in der portugiesischen

Expansion (15. und 16. Jahrhundert)

Jorun Poettering

Anfang der 1480er Jahre wurde dem portugiesischen Seefahrer Diogo Cão einWappen für seine Verdienste bei den Entdeckungsfahrten verliehen.1 (Abb. 1)Im Hauptfeld des Wappens sind zwei fest im Erdboden verankerte und mitKreuzen versehene Säulen abgebildet, sogenannte padrões, mit denen die Portu-giesen die jeweils äußersten Stellen kennzeichneten, die sie auf ihren Entde-ckungsreisen erreichten. Diogo Cão hatte den ersten solchen padrão aus Mar-mor errichtet, als er auf seinen Fahrten entlang des afrikanischen Kontinents zurMündung des Kongo-Flusses vorgestoßen war. Die sich kontinuierlich ausdeh-nende Folge von padrõesmarkierte zugleich mit der sich immer weiter vorschie-benden Grenze des den Europäern Bekannten auch den wachsenden Herr-schaftsanspruch der portugiesischen Krone. Über dem Hauptfeld des Wappenssind noch zwei weitere, umgestürzte Säulen zu sehen, denen die christlichenAttribute fehlen und die auf einem deutlich schwächeren Fundament ruhen. Eshandelt sich um die Säulen des Herakles, die der portugiesischen Deutung zu-folge durch die padrões abgelöst wurden.2 Der Chronist João de Barros erläu-terte das Motiv 1555 folgendermaßen:Ich werde nicht von den Säulen des Herakles sprechen, die auf der Insel von Cádizaufgestellt wurden, […] um die äußerste Grenze der Erde zu markieren. Sie sind in unse-rer Zeit aus dem menschlichen Gedächtnis gelöscht worden und gerieten in Schweigenund Vergessenheit, denn die Portugiesen errichteten andere, höhere und für den christli-chen Glauben förderlichere Säulen […] an ihrer Stelle in den entferntesten östlichen Tei-len der Welt […].3

Auch auf demWappen der kastilischen Könige waren seit Karl V. die Säulen desHerakles zu sehen, dort allerdings in der traditionellen stehenden Variante. Injenem Wappen sieht Arndt Brendecke eine mögliche Vorlage für das berühmteFrontispiz von Francis Bacons Instauratio Magna, das nach seiner Interpreta-tion nicht nur für die Überwindung der überkommenen Grenzen der Wissen-

1 George D. Winius, The Enterprise Focused on India. The Work of D. João II, in: ders. (Hg.),Portugal, the Pathfinder. Journeys from the Medieval toward the Modern World, 1300 – ca. 1600,Madison 1995, 89–120, hier 94–101.2 William G. L. Randles, The Atlantic in European Cartography and Culture from theMiddle Agesto the Renaissance, in: ders. (Hg.), Geography, Cartography and Nautical Science in the Renais-sance. The Impact of the Great Discoveries, Aldershot 2000 (ursprüngl. 1992), 1–28, hier 15f.3 João de Barros, Panegírico da Infanta D. Maria, in: ders., Panegíricos, hg. v. M. Rodrigues Lapa,Lissabon 21943, 173 (eigene Übersetzung).

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schaft steht, sondern auch für den Aufbruch in die Neue Welt und die damitverbundene Produktion und Verarbeitung vonWissen zumNutzen der Seefahrtund Kolonialherrschaft.4 Setzt man diese Metaphorik fort, ließe sich aus demportugiesischen Bild – mit den umgestürzten Säulen des Herakles und derenErsetzung durch die padrões – folgern, dass die Portugiesen den Anspruch erho-ben, mit ihren Entdeckungen die Welt und das Wissen über sie noch viel radika-ler verändert zu haben als die (ihnen zeitlich nachfolgenden) Spanier und dervon diesen inspirierte Bacon.Die Portugiesen waren die ersten Europäer, die aufbrachen, um systematisch

die Welt zu erkunden. Das umfangreiche Wissen, das sie erwarben, wurde vonvielen Zeitgenossen gefeiert. Portugiesische Karten, Routenbücher und Navi-gationsinstrumente wurden bald in vielen europäischen Ländern verwendet,

Jorun Poettering

Abb. 1: Ausschnitt aus Francisco Coelho, Tombo das armas dos reis e titulares e de todasas famílias nobres do reino de Portugal intitulado com o nome de tesouro

de nobreza (ca. 1675),Casa Real, Cartório da Nobreza, liv. 21, fl. 52, PT/TT/CR/D-A/001/21.

Imagem cedida pelo ANTT (Arquivo Nacional da Torre do Tombo, Lissabon).

4 Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonial-herrschaft, Köln / Weimar / Wien 2009, 11f.

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portugiesische Experten wurden zu gefragten Ratgebern an Höfen mit Über-seeambitionen. Selbstbewusst schrieb der portugiesische Chronist Duarte Pa-checo Pereira im Jahr 1506: „Wir, die Portugiesen, haben die Alten wie auchdie Modernen hinter uns gelassen, so sehr, dass wir mit Recht behaupten kön-nen: Im Vergleich zu uns wussten sie nichts“.5 Dennoch ist in der Forschungerstaunlich wenig über die portugiesische Wissensproduktion im Zusammen-hang mit der europäischen Expansion bekannt. Von ausländischen Historikernwird dies oft mit der angeblich schlechten Quellenlage in Portugal begründet,wobei unter anderem auf die durch das Erdbeben von 1755 bedingten Verlustehingewiesen wird.6 In Portugal gehört die Erforschung des Expansionswissensdagegen von jeher zu den zentralen historiographischen Themen. Aufgrund dervon 1926 bis 1974 währenden Diktatur fand die Forschung allerdings lange Zeitunter schwierigen Bedingungen statt und war oft von relativ geringer Qualität.Noch 1990 konstatierte Luís de Albuquerque, dass die Glaubwürdigkeit derportugiesischen Historiographie kontinuierlich abgenommen habe, was wiede-rum die geringe internationale Wahrnehmung der portugiesischen Geschichteerkläre.7Dennoch hat die portugiesische Forschung des 20. Jahrhunderts einige wich-

tige Beiträge vorzuweisen.8 Da politische, wirtschaftliche und gesellschaftlicheFragestellungen unter den Bedingungen der Diktatur kaum zu bearbeiten wa-ren, erfolgte die seriöse Forschung vor allem auf dem weitgehend ‚unverdächti-gen‘ Gebiet der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Dabei ging es insbeson-dere um die Spannungen zwischen und das Ineinandergreifen von Theorie undPraxis. Problematisch war jedoch die kontinuierliche Beibehaltung der nationa-len Perspektive, die sich unter anderem darin äußerte, die portugiesische Präze-denz bei bedeutenden Ereignissen belegen zu wollen, und oft zu Darstellungen

Als die Säulen des Herakles umstürzten

5 Duarte Pacheco Pereira, Esmeraldo de Situ Orbis, hg. v. Damião Peres, Lissabon 1954, Buch 3,Kap. 1, 132 (eigene Übersetzung).6 Während des Erdbebens gingen vor allem die Dokumente der Casa da Guiné e Índia und derZollbehörde verloren, die den Schiffsverkehr und den Warenhandel betrafen, nicht aber die derArmazéns da Mina e Índias, wo die Dokumente zur Navigation aufbewahrt wurden. Einen wichti-gen und bislang unzureichend untersuchtenQuellenbestand bilden etwa dieGavetas imNationalar-chiv der Torre do Tombo, von denen ein Teil in den 1960er- und 1970er-Jahren ediert wurde undinzwischen als CD vorliegt: António da Silva Rêgo (Hg.), As Gavetas da Torre do Tombo, 12 Bde.,Lissabon 1960–1977; Miguel Jasmins Rodrigues (Hg.), As Gavetas da Torre do Tombo. Ediçãodigital [CD], Lissabon 2009.7 Luís de Albuquerque, Dúvidas e certezas na história dos descobrimentos portugueses, 1. Teil,Lissabon 21990, 7. Vgl. auch Palmira Fontes da Costa / Henrique Leitão, Portuguese ImperialScience, 1450–1800. A Historiographical Review, in: Daniela Bleichmar / Paula de Vos / KristinHuffine (Hg.), Science in the Spanish and Portuguese Empires, 1500–1800, Stanford 2009, 35–53.8 Vgl. zur Historiographie Vitorino Magalhães Godinho, Portugal e os descobrimentos, in: Revistade História Económica e Social 22 (1988), 21–50; ders., Redescobrir os Descobrimentos e a expansãoultramarina, in: ders., Mito e mercadoria, utopia e prática de navegar, séculos XIII–XVIII, Lissabon1990, 12–22; Alfredo Pinheiro Marques, L’historiographie des découvertes portugaises, in: Jean Au-bin (Hg.), La Découverte, le Portugal et l’Europe. Actes du Colloque, Paris 1990, 1–11.

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führte, die von der Enttäuschung oder zumindest dem Bewusstsein geprägt wa-ren, dass die anderen Nationen Portugal irgendwann überflügeln sollten.Der vorliegende Aufsatz ist ein Plädoyer für die Überwindung der nationalen

Perspektive und die Integration der portugiesischen Expansionsforschung indie internationale Wissens- und Wissenschaftsgeschichte.9 Zunächst wird einÜberblick über die portugiesischen Forschungsbedingungen und die wichtigs-ten historiographischen Kontroversen des 20. Jahrhunderts gegeben, um zu er-läutern, wie es zu dem verengten Blick kam. Dabei werden insbesondere dieMythen um die Figur Heinrichs des Seefahrers und die Politik der Geheimhal-tung vorgestellt und dekonstruiert. Anschließend wird der Forschungsstand zurEntwicklung des Wissens in der Frühzeit der portugiesischen Expansion skiz-ziert, wobei es zum einen um die Frage nach der Umsetzung theoretischenWissens beziehungsweise vertraglich festgesetzter Bestimmungen in der naviga-torischen Praxis geht, zum anderen um die internationale Bedingtheit der be-handelten Probleme. Nach der Erläuterung der Rolle der Krone und der vonihr eingerichteten Institutionen der Wissensverwaltung werden vier klassischeForschungsthemen behandelt, bei denen die Spannungen zwischen Theorie undPraxis sowie die Beschränktheit nationaler Herangehensweisen besonders deut-lich zu Tage treten: Kolumbus’ Auftritte beim portugiesischen König, die Aus-handlung des Vertrags von Tordesillas, die Molukkenfrage und schließlich dieaus der Expansion erwachsene wissenschaftliche Tätigkeit.

Historische Forschung jenseits des Salazarismus

Einen ersten Anstoß auf dem Gebiet der Expansionsforschung gaben Ende des19. Jahrhunderts die Vierhundertjahrfeiern der Entdeckungen Amerikas, desSeewegs nach Indien und Brasiliens. Es entstanden mehrere zum Teil hochwer-tige Quelleneditionen, die weitere grundlegende Studien nach sich zogen.10Rund 25 Jahre lang waren die Arbeitsmöglichkeiten relativ gut, herausragendeHistoriker wie Duarte Leite und Jaime Cortesão erhielten zu dieser Zeit ihre

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9 Der Aufsatz entstand am Lehrstuhl von Arndt Brendecke im Rahmen des aus Mitteln der FritzThyssen Stiftung (Initiative Pro Geisteswissenschaften) finanzierten Forschungsprojekts „Impe-rium und Empirie“ und versteht sich als Ergänzung zu Brendeckes in Anm. 4 genannten Buch. Ichdanke Arndt Brendecke und Susanne Friedrich für die sorgfältige Durchsicht und hilfreiche Kom-mentierung dieses Aufsatzes.10 Etwa José Ramos Coelho (Hg.), Alguns documentos do Archivo Nacional da Torre do Tomboácerca das navegações e conquistas portuguezas publicados por ordem do governo de sua majestadefidelissima ao celebrar-se a commemoração quadricentenaria do descobrimento da America, Lissa-bon 1892; die Quelleneditionen in der von 1903 bis 1916 erschienen Zeitschrift Archivo HistoricoPortuguêz; sowie von besonderem Interesse für die Wissenschaftsgeschichte: Joaquim Bensaúde(Hg.), Histoire de la science nautique portugaise à l’époque des grandes découvertes. Collection dedocuments, 7 Bde., München 1914–1915.

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Ausbildung. Mit dem Beginn und im Verlauf der Salazar-Diktatur verlor diewissenschaftliche Geschichtsschreibung jedoch zunehmend an Boden. Histori-sche Institute wurden geschlossen und kritisch denkende Professoren margina-lisiert, einige erhielten Lehrverbote, andere gingen freiwillig ins Exil. Die wis-senschaftliche Forschung wurde systematisch diskreditiert und durch eineoffizielle, faschistisch und kolonialistisch geprägte Geschichtsinterpretationenersetzt, die an längst widerlegten Mythen festhielt. Das Regime führte aufwen-dig inszenierte historische Gedenkveranstaltungen durch, zu deren Agenda un-ter anderem die Austragung ‚wissenschaftlicher‘ Konferenzen gehörte.11 Im Juli1937 fand der „Erste Kongress der Geschichte der portugiesischen Expansion indie Welt“ statt, der die Entdeckungen als Teil der portugiesischen Identitätfeierte. Anlässlich der „Ausstellung der portugiesischenWelt“ von 1940 wurdenerneut Hunderte von Historikern zu einem Kongress eingeladen, bei dem Por-tugal zum zentralen Akteur der Ausbreitung westlicher Zivilisation stilisiertwurde. Dennoch entstanden bis in die 1950er Jahre hinein einzelne Arbeitenzur portugiesischen Expansionsgeschichte von hoher Qualität, die oft unterwidrigen Bedingungen verfasst und in kleinen Privatverlagen veröffentlichtwurden. Hierzu gehören etwa die Werke von Duarte Leite und Jaime Cortesãosowie das von João Martins da Silva Marques herausgegebene QuellenkorpusDescobrimentos Portugueses.12 Außerdem kündigten sich bereits die Arbeitender nachfolgenden Generation hervorragender Wissenschaftler an, insbeson-dere von Vitorino Magalhães Godinho, Avelino Teixeira da Mota und Luís deAlbuquerque.1960 fanden ein weiteres Mal pompöse Feierlichkeiten statt, diesmal aus An-

lass des 500. Todesjahrs Heinrichs des Seefahrers. Es entstanden die 15 BändeumfassendenMonumenta Henricina, eine wichtige Quellenedition, die wissen-schaftlichen Ansprüchen jedoch leider nicht vollständig genügt.13 Anders ver-hält sich dies bei den sechsbändigen Portugaliae Monumenta Cartographica,die Abbildungen und Beschreibungen aller bekannten portugiesischen Kartendes 15., 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts umfassen. Sie wurden ebenfallsim Auftrag der wissenschaftlichen Kommission für die Feierlichkeiten zum500. Todesjahr des Infanten herausgegeben, sind aber dank der sachkundigenLeitung von Armando Cortesão und Avelino Teixeira da Mota von hervorra-

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11 David Corkill / José Carlos Pina Almeida, Commemoration and Propaganda in Salazar’s Portu-gal. The Mundo Português Exposition of 1940, in: Journal of Contemporary History 44, 3 (2009),381–399.12 Duarte Leite, História dos Descobrimentos. Colectânea de esparsos, 2 Bde., Lissabon 1958–1960;Jaime Cortesão, Os descobrimentos Portugueses, 2 Bde., Lissabon 1960–1962; JoãoMartins da SilvaMarques (Hg.), Descobrimentos portugueses. Documentos para a sua história, 3 Bde., Lissabon1944–1971.13 Manuel Lopes de Almeida / António Joaquim Dias Dinis (Hg.), Monumenta Henricina, 15 Bde.,Coimbra 1960–1974.

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gender Qualität.14 Die im Zusammenhang mit den Gedenkveranstaltungenentstandenen Monographien beugten sich dagegen ohne Ausnahme der durchdas Regime vorgegebenen Interpretationslinie. Bezeichnend ist in diesem Zu-sammenhang der Umgang des Regimes mit Vitorino Magalhães Godinho, demmit Abstand bedeutendsten portugiesischen Historiker des 20. Jahrhunderts.Nachdem Anfang der 1940er Jahre sein Arbeitsvertrag an der Universität vonLissabon nicht verlängert worden war, hatte Lucien Febvre ihn nach Paris ge-holt, wo er Fernand Braudel kennen lernte und bald zu einem wichtigen Mit-glied des Annales-Kreises wurde. Die Kommission für den 500. Todestag batihn, aus Anlass der Feierlichkeiten eine Wirtschaftsgeschichte der Entdeckun-gen zur Zeit Heinrichs des Seefahrers zu schreiben. Nach der Fertigstellung desManuskripts lehnte sie jedoch die Veröffentlichung ab, da der Beitrag „zu wirt-schaftsorientiert“ sei, womit wohl marxistisch gemeint war.15Abgesehen von denWerkenGodinhos beschränken sich die ernst zu nehmen-

den Arbeiten, die in der Folge in Portugal entstanden, auf den ideologisch relativunproblematischen Bereich der historischen Nautik.16 Viele der Historiker, diesich hier hervortaten, verfügten über ausgeprägte mathematisch-technischeKenntnisse: Duarte Leite war Professor für Mathematik, Jaime Cortesão warursprünglich Arzt, sein Bruder ArmandoAgrarwissenschaftler, Avelino Teixeirada Mota Marineoffizier und Luís de Albuquerque war ebenfalls Professor fürMathematik.17 DieseWissenschaftler machten die Geschichte derNautik in Por-tugal zu einem eigenständigen Fachgebiet. Während außerhalb Portugals dieExpansionsgeschichte meist aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive unter-sucht wurde, entwickelten die Portugiesen eine mathematische, kartographischeund navigationstheoretische Herangehensweise. Einen Austausch zwischen denportugiesischen Historikern und den Wissenschaftlern anderer Länder gab es

Jorun Poettering

14 Armando Cortesão / Avelino Teixeira da Mota (Hg.), Portugaliae Monumenta Cartographica,6 Bde., Lissabon 1960 (ND in einfacherer Gestaltung 1987). Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Fran-cisco Contente Domingues, Cartografia portuguesa. Dos primórdios à representação do Índico, in:Mariano Cuesta Domingo / Alfredo Surroca Carrascosa (Hg.), Cartografía Hispánica. Imagen deun Mundo en Crecimiento, 1503–1810, Madrid 2010, 277–297, hier 281–288.15 Das Buch erschien 1962 unter dem TitelAEconomia dos Descobrimentos Henriquinos und erhieltinternational hohe Anerkennung, eine erweiterte Neuauflage erfolgte als: Vitorino Magalhães Go-dinho, A expansão quatrocentista portuguesa, Lissabon 22008.16 Eine wichtige Etappe stellte die erste International Conference on the History of Nautical Sciencedar, die 1968 in Coimbra durchgeführt wurde; vgl. Francisco Contente Domingues, InternationalCommission for the History of Nautical Science and Hydrography, in: e-Journal of PortugueseHistory 2, 1 (2004).17 Zu den wichtigsten Werken dieses für den vorliegenden Aufsatz zentralen Forschers gehören:Luís de Albuquerque, Para a História da Ciência em Portugal, Lissabon 1973; ders., Estudos deHistória, 5 Bde., Coimbra 1974–1977; ders., Ciência e experiência nos Descobrimentos Portugueses,Lissabon 1983; ders., As Navegações e a sua projecção na Ciência e na Cultura, Lissabon 1987; ders.,Dúvidas e certezas na História dos Descobrimentos Portugueses, 2 Bde., Lissabon 1991; sowie seinzusammen mit Francisco Contente Domingues herausgegebenes Dicionário de história dos desco-brimentos portugueses, 2 Bde., [Lissabon] 1994.

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kaum. Autoren wie Charles R. Boxer, Frédéric Mauro, Stuart Schwartz, Antho-ny J. R. Russell-Wood, Dauril Alden, Francis Dutra, KennethMaxwell und Kir-ti Chaudhuri wurden in Portugal nur am Rande rezipiert. Dafür wurden dieportugiesischen Arbeiten im Bereich der Wissenschaftsgeschichte im Auslandso gut wie nicht gelesen und selbst die entsprechenden portugiesischen Quellenwerden von den internationalen Wissenschaftshistorikern bis heute nicht wahr-genommen.18Obwohl das autoritäre Regime 1974 sein Ende fand, hielt sich die nationalisti-

sche Perspektive in der portugiesischenGeschichtsschreibung noch bis Ende der1980er Jahre. Wie Magalhães Godinho bemerkte, führte das in jeder Hinsichtschlechte Gewissen in der Phase der Dekolonisierung zu einer Lethargie, in derdie alte Abneigung gegenüber einer wissenschaftlich betriebenen Geschichts-schreibung beibehalten blieb.19 Erst seit Beginn der 1990er Jahre professionali-sierte sich die portugiesische Forschung, erreichte relativ schnell internationaleStandards und wird allmählich auch vom internationalen Wissenschaftsbetriebwahrgenommen. Einewichtige Rolle spielte hierbei erneut eine Jahrhunderfeier-Kommission, die von 1986 bis 2002 bestehende Comissão Nacional para as Co-memorações dos Descobrimentos Portugueses zur 500-jährigen EntdeckungAmerikas, des Seewegs nach Indien und Brasiliens, die Einzelstudien, Quellen-editionen, Neuauflagen, Übersetzungen, Konferenzen und Vorträge initiierteund finanzierte. In den letzten beiden Jahrzehnten erfolgten zudem zunehmendBemühungen um eine Internationalisierung der portugiesischen Geschichtswis-senschaft, die sich insbesondere in Kooperationen mit Spanien und Brasilienniedergeschlagen haben.20

Der Heinrich-Mythos und die arte de navegar

Die bekannteste und zugleich von den meisten Legenden umrankte Figur in derportugiesischen Expansion ist zweifellos die Heinrichs der Seefahrers.21 Er wird

Als die Säulen des Herakles umstürzten

18 Vgl. Onésimo T. Almeida, Portugal and the Dawn of Modern Science, in: Winius (s. Anm. 1),341–361. Selbst die Kolumbus-Forschung verzichtet in der Regel auf die Heranziehung portugiesi-scher Quellen, obwohl die Expeditionen des Genuesen ohne die portugiesische Vorgeschichte kaumzu verstehen sind.19 Godinho, Portugal e os descobrimentos (s. Anm. 8), 30.20 Mafalda Soares da Cunha / Pedro Cardim, From Periphery to Centre. The Internationalisation ofthe Historiography of Portugal, in: Historisk Tidskrift 127, 4 (2007), 643–658. Der zentrale Bege-gnungsort ist das an der Faculdade de Ciências Sociais e Humanas derUniversidade Nova de Lisboaund derUniversidade dos Açores angesiedelteCentro deHistória d’Aquém e d’Além-Mar (CHAM).21 Neuere Biographien sind: Peter Russell, Prince Henry „the Navigator“. A Life, New Haven2000; João Paulo Oliveira e Costa, Henrique, o Infante, Lissabon 2009. Vgl. zu den Mythen: Albu-querque, Dúvidas e certezas (s. Anm. 17), 1. Teil, 15–27; William G. L. Randles, The Alleged Naut-ical School Founded in the Fifteenth Century at Sagres by Prince Henry of Portugal, Called the‚Navigator‘, in: ders. (s. Anm. 2), 1–14.

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häufig als Förderer, wenn nicht als Begründer der modernen Wissenschaftengehandelt. Zum Teil wurden ihm sogar selbst die Eigenschaften eines Wissen-schaftlers zugesprochen. Sein zeitgenössischer Chronist Gomes Eanes de Zura-ra wusste von Heinrichs wissenschaftlicher Neigung allerdings noch nichts zuberichten. Ein Gelehrter, den Heinrich angeblich ins Land rief, damit dieser denPortugiesen sein technischesWissen vermittle, tauchte mit Jacóme vonMallorcaerstmals in dem knapp 50 Jahre nach Heinrichs Tod entstandenen Bericht vonDuarte Pacheco Pereira auf.22 Ein weiteres halbes Jahrhundert später, in derChronik von João de Barros, kamen weitere Gelehrte hinzu.23 Diese bildetendie nach einem Ort an der äußersten Spitze Portugals benannte „Schule vonSagres“, wo es unter anderem eine Sternwarte gegeben haben soll, für die esjedoch keinerlei konkrete Belege gibt. Im 19. Jahrhundert fand die zunehmendromantisierte Darstellung von Heinrichs Wissenschaftsbetrieb auch im deut-schen Raum Verbreitung, zunächst durch die 1839 veröffentlichte Geschichtevon Portugal des Historikers Heinrich Schäfer und wenig später durch die1842 erschienene Biographie des Geographen Johann Eduard Wappäus, derdem Prinzen erstmals den Beinamen „der Seefahrer“ verlieh.24 Noch breitereAufmerksamkeit erhielt Heinrich schließlich durch zwei englische Biographienvon Richard H. Major und Charles R. Beazley, die 1868 bzw. 1895 erschienen.25Duarte Leite gebührt das Verdienst, die Figur Heinrichs in den 1940er Jahren

von allen romantisierenden Erfindungen wieder befreit und die Heinrich-For-schung auf eine wissenschaftlich fundierte Basis gestellt zu haben.26 Doch seineArbeiten fanden lange Zeit wenig Widerhall. So räumte Armando Cortesão inseiner 1971 erschienenen und weit verbreiteten History of Portuguese Cartog-raphy zwar ein, dass Heinrich kein Mathematiker, Astronom oder Kosmographgewesen sei, behauptete aber weiterhin, dass er in den genannten Disziplinenüber genügend Wissen verfügt habe, um alles Nötige für die Vollendung seinesvon Beginn an wissenschaftlich durchgeführten Vorhabens machen zu kön-

Jorun Poettering

22 Pereira (s. Anm. 5), Kap. 33, 120; vgl. zur Forschungsdiskussion Armando Cortesão, History ofPortuguese Cartography, 2 Bde., Coimbra 1969–1971, hier Bd. 2, 93–97; Maria Fernanda Alegriau. a., Portuguese Cartography in the Renaissance, in: David Woodward (Hg.), The History ofCartography, Bd. 3 (Cartography in the European Renaissance), Teil 1, Chicago 2007, 975–1068,hier 979.23 João de Barros, Ásia. Dos feitos que os portugueses fizeram no descobrimento e conquista dosmares e terras do oriente. Primeira década, hg. v. António Baião, Coimbra 1932, Buch 1, Kap. 16, 62.24 Heinrich Schäfer, Geschichte von Portugal, Bd. 2, Hamburg 1839; Johann Eduard Wappäus, Un-tersuchungen über die geographischen Entdeckungen der Portugiesen unter Heinrich dem Seefah-rer, Göttingen 1842.25 Richard Henry Major, The Life of Prince Henry of Portugal, Surnamed the Navigator, and itsResults, London 1868; Charles Raymond Beazley, Prince Henry the Navigator, the Hero of Portu-gal and of Modern Discovery 1394–1460 A.D., New York 1895.26 Vitorino Magalhães Godinho veröffentlichte die entsprechenden Artikel mit Kommentaren, Er-gänzungen und Korrekturen in: Leite (s. Anm. 12).

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nen.27 Insbesondere habe er Jacóme und viele weitere Kosmographen, Kartogra-phen und Instrumentenmacher sowie Arzt-Astrologen um sich geschart. Zu-sammenfassend stellte Cortesão fest:For me, the gigantic stature of the Infante dominates not only the XV century but alsothe whole history of Portugal to this very day, and it is one of the greatest in worldhistory. It was this Prince […] who more than any other man helped Europe to moveinto the Renaissance, the antechamber of modern times.28

Obwohl Cortesão zeitweise in Konflikt mit dem Regime stand und zwanzigJahre im Exil lebte, ergänzt diese Auffassung nur zu gut das Heinrichbild desSalazar-Regimes, das in Heinrich seine alles überragende Heldenfigur entdeckthatte: weise, zäh und keusch und von dem Willen beseelt, mit den Entdeckun-gen und Eroberungen die Ungläubigen zu vernichten und für die Ausbreitungdes christlichen Glaubens zu kämpfen.29Heute steht außer Frage, dass die ersten portugiesischen Seefahrer keinem

groß angelegten Plan folgten und ihr Vorgehen nicht auf einer theoretischenGrundlage beruhte, sondern dass sie unmittelbar aus der Praxis der Navigationheraus handelten.30 Generationen von Schiffsführern und Seeleuten reichten ei-nander ihr Know-how weiter, probierten Neues aus, lernten aus den Erfahrun-gen und erweiterten so Stück für Stück ihre Fähigkeiten. Dies erfolgte lange Zeitunabhängig von königlichen Aufträgen und akademischen Ratgebern, auf denSchiffen und in den Häfen und Werften, durch Menschen, die oft nur über einerudimentäre formale Bildung verfügten. Ihre arte de navegar war eine Kunst-fertigkeit, keine Wissenschaft.Auf drei Gebieten erfolgten auf diese Weise Fortschritte, die die Schifffahrt

über große Entfernungen und damit die Überseeexpansion möglich machten:Es wurden entsprechend geeignete Schiffstypen entwickelt, es entstandendetaillierte Routenbücher und es wurden immer bessere Karten angefertigt.Während der Schiffbau immer wieder zum Gegenstand technikhistorischerForschungen wurde,31 weisen die Routenbücher (roteiros) gerade in epistemo-logischer Hinsicht noch ein erhebliches Forschungspotential auf.32 Sie umfassen

Als die Säulen des Herakles umstürzten

27 Cortesão (s. Anm 22), Bd. 2, 84 f.28 Ebd., 88.29 Godinho, Portugal e os descobrimentos (s. Anm. 8), 48; Godinho (s. Anm. 15), 28.30 Amélia Polónia, Arte, técnica e ciência náutica no Portugal Moderno. Contributos da „sabedoriados descobrimentos“ para a ciência Europeia, in: Revista da Faculdade de Letras. História, Folge 3,Bd. 6 (2005), 9–20.31 Vgl. etwa Francisco Contente Domingues, Os Navios do Mar Oceano. Teoria e empiria na arqui-tectura naval portuguesa dos séculos XVI e XVII, Lissabon 2004.32 Abel Fontoura da Costa, A marinharia dos descobrimentos, Lissabon 1933; Avelino Teixeira daMota, Evolução dos roteiros portugueses durante o século XVI, in: Revista da Universidade deCoimbra 24 (1971), 201–228; Suzanne Daveau, La géographie dans les roteiros portugais du XVèmeet XVIème siècles, Lissabon 1988; Francisco Bethencourt, Les instruments de connaissance dansl’empire portugais (XVe–XVIIIe siècles), in: Charlotte de Castelnau-L’Estoile / François Regourd

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ausführliche Darstellungen der Seewege vom jeweiligen Ausgangshafen bis zumZielhafen, enthalten Skizzen der Küstenlandschaft und Beschreibungen der Hä-fen und Ankerplätze, der Meeresuntiefen und anderer Gefahrenstellen. Sie führ-ten zudem die insbesondere für die Hochseefahrt nötigen Positionsangaben an.Diese wurden mit Navigationsinstrumenten bestimmt, die zumGroßteil bereitsim Mittelalter bekannt waren, nun aber konsequente Anwendung fanden.33Weit größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit als die Routenbeschreibun-

gen erhielt die kartographische Produktion.34 Zwischen 1434, dem Jahr der Um-segelung des Kap Bojador, das man als den Beginn der Überseefahrten betrach-ten kann, und 1559, dem Jahr der Fertigstellung einer wichtigen Weltkarte vonAndré Homem, erfassten die Portugiesen über 27.000 km afrikanischer Küsteund 21.000 km in Asien, kartierten mehr als 5.000 km der Küste des Malayi-schen Archipels und mehr als 7.000 km brasilianischer Küste. Insgesamt ver-zeichneten sie mehr als 60.000 km Küste in 124 Jahren, was einen jährlichenSchnitt von knapp 500 km bedeutet.35 Insgesamt sind weit über 200 in Portugalangefertigte Karten und Atlanten aus dem 16. Jahrhundert erhalten.

Politik der Geheimhaltung

Aus dem 15. Jahrhundert gibt es dagegen so gut wie keine portugiesischen See-karten.36 Dies gab in der Vergangenheit Anlass zu vielfältigen Spekulationen.Armando Cortesão schrieb in seiner Geschichte der portugiesischen Kartogra-phie:

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(Hg.), Connaissances et Pouvoirs. Les espaces imériaux (XVIe–XVIIIe siècles). France, Espagne,Portugal, Bordeaux 2005, 85–100.33 Grundlegend war der 1476 verfasste und erstmals 1496 in Leiria gedruckte Almanach Perpetuumvon Abraão Zacuto, hg. v. Luís de Albuquerque, Lissabon 1986 (vgl. Anm. 76); die größte Verbrei-tung fanden die Tabellen desGuia Náutico de Évora, ca. 1516, ebenfalls hg. v. Luís de Albuquerque,Lissabon 1991. Vgl. Armando Cortesão, Contribution of the Portuguese to Scientific Navigationand Cartography, in: ders. (Hg.), Esparsos, Bd. 2, Coimbra 1974, 43–70; Luís de Albuquerque, Tá-buas astronómicas, in: ders. / Domingues (s. Anm. 17), Bd. 2, 1011 f.; ders., Tábuas do sol, in: ebd.,1012 f.; ders., Sobre a observação das estrelas na náutica dos descobrimentos, in: ders. /Marília EmíliaMadeira Santos (Hg.), Estudos de História da Ciência Náutica, Lissabon 1994 (ursprüngl. 1965),169–213; ders., A determinação da declinação solar na náutica dos descobrimentos, in: ebd., 215–245; Víctor Navarro-Brotons, Astronomy and Cosmography, 1561–1625. Different Aspects of theActivities of Spanish and Portuguese Mathematicians and Cosmographers, in: Luís Saraiva / Hen-rique Leitão (Hg.), The Practice of Mathematics in Portugal, Coimbra 2004, 225–274.34 Armando Cortesão, Cartografia e Cartógrafos Portugueses dos Séculos XV e XVI, 2 Bde., Lissa-bon 1935; ders., História da Cartografia Portuguesa, 2 Bde., Lissabon 1969–1970; ders. (s. Anm. 22);Alegria u. a. (s. Anm. 22); Domingues (s. Anm. 14).35 Alegria u. a. (s. Anm. 22), 994f.36 Für die erhaltenen Karten vgl. ebd., 983–987.

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One of the most extraordinary accidents in the history of Portuguese cartography, andeven of all cartography, is that, although there are numerous references to Portuguesecharts drawn in the XV century, and to globes (pomas)made mainly in the XVI century,none of the latter has survived, while of the former only four charts and a fragment ofanother, dating from the last quarter of the XV century, have reached us.37

Von verschiedenen Forschern wurde das Fehlen von Seekarten damit begrün-det, dass die portugiesische Krone ihre Entdeckungen gegenüber anderen Na-tionen geheim halten wollte und daher die Karten unter Verschluss gehaltenund anschließend vernichtet hätte. Sollte eine solche Politik je existiert haben,war sie nicht sehr erfolgreich, denn das entsprechende Wissen breitete sichschnell außerhalb Portugals aus: Bereits 1489, weniger als ein Jahr nach derRückkehr des Bartolomeu Dias von seiner Umrundung des Kaps der GutenHoffnung, veröffentlichte der deutsche Kartograph Henricus Martellus eineWeltkarte mit einer fast perfekten Verzeichnung von Dias’ Reise. Eine andereKarte, die in Portugal gefertigte Cantino-Planisphäre, die nicht nur durch ihregroße Aktualität und Genauigkeit, sondern auch durch ihre Ästhetik beein-druckt, wurde noch im Jahr ihrer Fertigstellung, 1502, von einem Agenten desHerzogs von Ferrara nach Italien gebracht. Sie enthält die Ergebnisse von Vas-co da Gamas erster Reise nach Indien (1497–1499), Cabrals Reise nach Brasilien(1500) sowie Gaspar Corte Reals Reise nach Neufundland (1500). Alle Namen,die die Portugiesen den Merkmalen an den Küsten gegeben hatten, sind imDetail verzeichnet.38De facto befinden sich viele der bis heute erhaltenen Karten in ausländischen

Sammlungen.39 In der Regel handelt es sich um aufwendig gestaltete Prachte-xemplare, die nie für die Verwendung auf See bestimmt waren, sondern als Ge-schenke an fremde Herrscher dienten, Paläste schmückten oder die Wissbe-gierde der Gelehrten befriedigen sollten. Man kann davon ausgehen, dass esdurchaus im Interesse der Krone lag, die von den Portugiesen entdeckten Ge-biete durch die Verbreitung entsprechender Karten bekannt zu machen, statt siegeheim zu halten, denn dies mehrte nicht nur den Ruhm des portugiesischenKönigs, sondern trug auch zur Festschreibung seiner Besitzansprüche bei. Dieauf den Seefahrten verwendeten Karten überlebten dagegen nicht. Sie verschlis-

Als die Säulen des Herakles umstürzten

37 Cortesão (s. Anm. 22), Bd. 2, 116.38 Maria Fernanda Alegria / João Carlos Garcia / Francesc Relaño, Cartografia e viagens, in: Fran-cisco Bethencourt / Kirti Narayan Chaudhuri (Hg.), História da Expansão Portuguesa, Bd. 1 (AFormação do Império, 1415–1570), o.O. 1998, 26–61.39 Alegria u. a. (s. Anm. 22), 991 f. Die Bayerische Staatsbibliothek verfügt zum Beispiel über einewertvolle Sammlung, die unter anderem die Ende des 15. Jahrhunderts entstandene älteste erhalteneKarte mit einemMaßstab für die Breitengrade enthält; vgl. Cortesão / Mota (s. Anm. 14), Bd. 1, 23 f.

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sen und wurden irgendwann entsorgt, was erklärt, warum insbesondere ausdem 15. Jahrhundert so wenig Karten erhalten sind.40Nicht nur bezüglich der Karten gibt es jedoch für das 15. Jahrhundert größere

Überlieferungslücken. Über dieses Jahrhundert, in dem zu Beginn Ceuta inNordafrika erobert und am Ende erstmals die Wege nach Indien und Amerikabefahren wurden, liegen generell wenig Informationen vor, auf jeden Fall weni-ger, als vielen Historikern in Anbetracht der wahrgenommenen Bedeutung die-ser Zeit lieb war. Jaime Cortesão, der ältere Bruder Armando Cortesãos, ver-focht daher seit Beginn der 1920er Jahre die These von der Existenz einer„Politik der Geheimhaltung“ (política do sigilo).41 Er versuchte zu zeigen, dasssowohl unter Heinrich dem Seefahrer (bis 1460) als auch unter König João II.(1481–1495) eine systematische Erkundung des Atlantiks erfolgte, über die je-doch selbst die Archivare und Chronisten des Königreiches nicht informiertwurden. Fremde Seefahrer und insbesondere die katholischen Könige Ferdi-nand und Isabella hätten auf diese Weise daran gehindert werden sollen, vonden portugiesischen Erkenntnissen zu profitieren und der portugiesischenKrone bei den Eroberungen und im Handel zuvorzukommen.Als Belege führte Cortesão eine Reihe königlicher Dekrete an, die Auslän-

dern die Teilnahme an den Fahrten zu den neu entdeckten Gebieten an derafrikanischen Küste untersagten und den Besitz oder die Weitergabe von Kar-ten, in denen die Gebiete verzeichnet waren, verboten. Tatsächlich gab es immerwieder Bemühungen, die Verbreitung entsprechender Informationen zu kon-trollieren. Ein markantes, wenn auch zeitlich deutlich später liegendes Beispielstellt eine Beratung des Indienrates aus dem Jahr 1611 dar, als die meisten See-wege längst bekannt waren: Es ging um die Frage, ob ein Routenbuch des be-kannten Schiffsführers Gaspar Ferreira Reimão gedruckt oder handschriftlichkopiert werden sollte. Zwar wurde argumentiert, dass das Buch gedruckt leich-ter in die Hände von Ausländern gelangen könne, dennoch empfahlen die Mit-glieder des Indienrats den Druck, da die Exemplare dann weniger fehleranfälligseien. Allerdings sollten gewisse Bedingungen eingehalten werden: Um sicher-zustellen, dass der Drucker nur die in Auftrag gegebenen Exemplare druckte,sollte er während seiner Arbeit in ein Haus eingesperrt werden. Die Routenbü-cher sollten anschließend entweder vom Indienrat oder in den Armazéns daMina e Índias aufbewahrt werden und die Schiffsführer, denen sie für die Ver-

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40 Vgl. etwa Plínio Freire Gomes, Volta ao mundo por ouvir dizer. Redes de informação e a culturageográfica do Renascimento, in: Anais do Museu Paulista NF 17, 1 (2009), 113–135.41 Jaime Cortesão, A Política de Sigilo nos Descobrimentos, Lissabon 1996. Der prominentesteKritiker dieser These war Duarte Leite (s. Anm. 12), Bd. 2; vgl. zur Debatte auch Albuquerque,Dúvidas e certezas (s. Anm. 17), Bd. 1; Francisco Contente Domingues, A política de sigilo e asnavegações portuguesas no Atlântico, in: Boletim do Instituto Histórico da Ilha Terceira 45 (1987),189–220; Alegria u. a. (s. Anm. 22), 1005–1007.

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wendung auf ihren Reisen ausgehändigt würden, müssten schwören, keine Ko-pie anzufertigen. Wer dies dennoch täte, sollte zum Tode verurteilt werden.42Auch wenn immer wieder eine Beschränkung der Informationsverbreitung

angestrebt wurde, vermag Cortesãos These von der (erfolgreichen) Geheimhal-tung nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, dass sich die Informationen überdie neu entdeckten Erdteile, wie erwähnt, sehr schnell durch dieWeitergabe vonKarten verbreiteten, beauftragte João II., unter dessen Herrschaft die Geheim-haltung angeblich besonders konsequent durchgeführt wurde, wiederholt Aus-länder mit Entdeckungsfahrten. Zudem wurden innovative Überlegungen zu-mindest einer Fachöffentlichkeit explizit zugänglich gemacht. So schrieb etwaPaolo Toscanelli in seinem berühmten Brief von 1474, auf den noch ausführ-licher eingegangen wird, dass er auf Wunsch von Afonso V. die Durchführbar-keit der Westfahrt nach Indien „vor den Augen aller“ darlegen werde.43Obwohl Jaime Cortesão ebenso wenig wie sein Bruder zu den regimetreuen

Historikern gehörte, vielmehr aktiv an einem Umsturzversuch der Diktatur be-teiligt war und anschließend rund dreißig Jahre im Exil verbrachte, war die mitder These von der Geheimhaltung verbundene Argumentation nationalistischgefärbt und konnte von seinen weniger seriösen Anhängern leicht instrumenta-lisiert werden. Jede nicht erwiesene Leistung der Portugiesen konnte so als ab-sichtlich verschwiegen gedeutet werden. Statt die vorhandenen Quellen auszu-werten, wurde nach Gründen gesucht, warum bestimmte Quellen fehlen,wurden Schlüsse aus der Nichtexistenz gezogen und darauf aufbauende Vermu-tungen formuliert.44 Oft handelte es sich um Fragen, die im 20. Jahrhundert füräußerst relevant gehalten wurden, die aber möglicherweise im 15. und 16. Jahr-hundert von geringerer Bedeutung waren. Eine der Kernfragen der Debatte war,ob es bereits vor Kolumbus portugiesische Fahrten nach Amerika gegeben habe,die Portugiesen also die eigentlichen Entdecker des Kontinents gewesen seien.45Nach einer Phase der kontinuierlichen Vorstöße entlang der afrikanischenKüste gab es im Anschluss an die 1488 erfolgte Umrundung des Kaps der GutenHoffnung eine überraschend lange Pause, bis die portugiesischen Erkundungs-fahrten mit Vasco da Gamas (1497–1499) und Pedro Álvares Cabrals (1500)Reisen wieder aufgenommen wurden. Nach der Meinung von Jaime Cortesão

Als die Säulen des Herakles umstürzten

42 Francisco Mendes da Luz, O Conselho da Índia, Lissabon 1952, 146f.43 Henry Vignaud, Toscanelli and Columbus. The Letter and Chart of Toscanelli on the Route tothe Indies by Way of the West, Sent in 1474 to the Portuguese Fernam Martins, and Later on toChristopher Columbus, London 1902, 278. Vignauds Behauptung, dass der Brief gefälscht sei,wurde widerlegt.44 Tatsächlich gingen durch den Brand der Casa da Guiné e Índia und der Zollbehörde nach demErdbeben von 1755 wichtige Quellen verloren, die jedoch vor allem den Warenhandel und denSchiffsverkehr betrafen (vgl. Anm. 57).45 Vgl. etwa Max Justo Guedes, O Descobrimento do Brasil, Lissabon 21989; Max Justo Guedes, Aviagem de Pedro Álvares Cabral e o descobrimento do Brasil, 1500–1501, Lissabon 2003; Oceanos39 (1999).

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und anderer Historiker fuhren die Portugiesen während dieser Pause ebensosystematisch nach Westen, wie sie bis dahin nach Süden gefahren waren, bis sieschließlich den amerikanischen Kontinent sichteten. Tatsächlich spricht einigesdafür, dass die Portugiesen schon vor der ‚offiziellen‘ Entdeckung Brasiliensdurch Cabral (1500) Amerika gesichtet hatten. So schrieb der Chronist DuartePacheco Pereira in seinem Werk Esmeraldo de Situ Orbis, dass König Manuelbereits 1498 die Seefahrer beauftragt habe, den „westlichen Teil, jenseits desgroßen Ozeans“ zu erkunden, der von großer Ausdehnung, stark bevölkertund mit viel Brasilholz versehen sei.46 Ein weiteres Indiz bietet ein Brief desArztes João, der 1500 mit der Flotte von Pedro Álvares Cabral in Brasilien ein-traf und in seinem aus diesem Anlass angefertigten Bericht auf eine in Portugalvorhandene Karte verwies, in der Brasilien bereits verzeichnet sei.47 Die insge-samt dürftige Berichterstattung über die Westfahrten wird heute damit erklärt,dass die ‚Entdeckung Brasiliens‘ oder gar die ‚Entdeckung Amerikas‘ von derportugiesischen Krone weder angestrebt worden war noch als besonders fol-genreich angesehen wurde, da das portugiesische Interesse fast vollständig aufdie Erschließung des Seewegs nach Indien ausgerichtet gewesen sei. Nur dortgab es die gefragten Gewürze und Luxusobjekte, während das, was man im15. Jahrhundert von Brasilien erahnen konnte, wenig verlockend gewesen sei.Selbst die afrikanische Küste, die immerhin über Gold, Sklaven, Elfenbein undeinzelne weitere Handelsgüter verfügte, sei noch für längere Zeit erheblich at-traktiver gewesen als der amerikanische Kontinent. Es wäre also ein Zeitverlustgewesen, Brasilien auf dem Weg nach Indien weiter zu erkunden.48 Sollten diePortugiesen Brasilien tatsächlich bereits vor 1500 oder sogar vor 1492 erreichthaben, erstaunt dennoch, dass sie das Gebiet nicht sofort für sich beanspruch-ten und diese Tatsache in den folgenden Verhandlungen mit Spanien nie er-wähnten.Das Desinteresse der Portugiesen am amerikanischen Kontinent endete auch

nicht mit der offiziellen Entdeckung durch Cabral. Es ist kaum etwas über die inden folgenden Jahrzehnten durchgeführten Erkundungsfahrten bekannt. DasUngleichgewicht des Interesses an den Kontinenten spiegelt sich in vielen Kar-ten wider, in denen Afrika und Asien erheblich detailreicher gestaltet sind als dieNeueWelt. Den Portugiesen war klar, dass es sich bei Asien um einen Kontinentmit mächtigen Zivilisationen und einem stark ausgeprägten städtischen Lebenhandelte, das ihnen vielfältige wirtschaftliche Möglichkeiten bot.49 Ganz andersder amerikanische Kontinent: Ohne Tradition, ohne Gold und ohne die ge-

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46 Pereira (s. Anm. 5), Buch 1, Kap. 2, 20.47 Joaquim Romero Magalhães / Susana Münch Miranda (Hg.), Os primeiros 14 documentos rela-tivos à armada de Pedro Álvares Cabral, Lissabon 1999, Nr. 13, 91–93, hier 91 f.48 JoaquimRomeroMagalhães,O reconhecimento doBrasil, in: Bethencourt /Narayan (s. Anm. 38),Bd. 1, 192–216, hier 194–199.49 Alegria / Garcia / Relaño (s. Anm. 38).

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winnträchtigen Gewürze war er für den portugiesischen Handel von geringerBedeutung. Brasilien wurde zwar bald zu einer wichtigen Farbholzquelle fürPortugal, doch eine intensivere Erschließung des Landes schien noch lange nichtgewinnbringend.

Staat, Hof und Wissen

DieThese vonder „Politik derGeheimhaltung“beruhte auf derVorstellung, dassdieKrone eine klare, strategische und koordinierte Expansions- und Imperialpo-litik verfolgte. Diese habe sich im so genannten „Indienplan“ (Plano da Índia)konkretisiert, der das Erreichen des Orients über den Seeweg zum Ziel hatte,um einen direkten Zugriff auf die Gewürze und andere wertvolle Handelswarenzu erhalten. In den seit den 1990er Jahren erschienenenArbeiten ist dieseAuffas-sung nur noch rudimentär zu finden, allerdings ist die Erforschung der Rolle desStaates und der Fürsten in der Frühzeit der Expansion insgesamt stark zurückge-gangen. Die Auffassung, dass das navigatorische Wissen auf den Planken derBoote und durch die Erfahrungen der Seeleute im Alltag entstand, verdrängtedie Beschäftigung mit dem imHerrschaftszusammenhang produziertenWissen.Sobetont etwaAmélia Polonia in bewussterAbgrenzungzu früherenAuffassun-gen, dass die nautische und empirische Wissenskultur der Expansion außerhalbder traditionellen Machtkreisläufe angesiedelt gewesen sei.50 Diese historiogra-phische Wende scheint jedoch übertrieben. Spätestens seit dem 16. Jahrhundertbeschäftigte sich die Krone intensiv mit dem expansionsbedingten Wissen, sieförderte seine Erzeugung und bediente sich seiner, um die Expansion voranzu-treiben und ihreHerrschaftsansprüche durchzusetzen. Sie griff inwichtigen Fra-gen auf Experten und die von ihnen beanspruchte Expertise zurück. Im Folgen-den soll zunächst auf die Institutionen eingegangen werden, die mit derVerwaltung und Weiterentwicklung des mit der Expansion erzeugten Wissensbetraut waren. Anschließend werden konkrete Ereignisse vorgestellt, bei denenes umFragen desWissens imHerrschaftszusammenhang ging und die in derGe-schichtsschreibung zum Gegenstand zahlreicher Debatten und Publikationenwurden.Auch wenn Heinrich der Seefahrer sicherlich noch keinen „Indienplan“ ver-

folgte, existierte doch bereits zu seiner Zeit eine Sensibilität für den zielgerich-teten Wissenserwerb während der Erkundungsfahrten. So hob der ChronistGomes Eanes de Zurara in seinerChronik der Entdeckung und Eroberung Gui-neas (1453) die Wissbegierde Heinrichs als eines von fünf Motiven für die Ent-deckungsfahrten hervor: Heinrich habe wissen wollen, was hinter den Kanari-schen Inseln und dem Kap Bojador liege. Denn bis zu diesem Zeitpunkt habe

Als die Säulen des Herakles umstürzten

50 Polónia (s. Anm. 30), 15.

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man weder aus Schriften erfahren noch aus der Erinnerung mit Bestimmtheitsagen können, von welcher Beschaffenheit das Land dort sei, Heinrich aberhabe Gewissheit hierüber erhalten wollen. Er sei der Überzeugung gewesen,dass, wenn er oder ein anderer Fürst es nicht erkunden lasse, kein Seefahrerund Kaufmann je dorthin führe, denn diese unternähmen nur Fahrten, bei de-nen sie mit sicheren Erträgen rechnen könnten.51 Hinter dem WissensdrangHeinrichs stand also die Absicht, die Seefahrer und Kaufleute zu unterstützen,für die das Risiko einer solchen Expedition allein zu groß gewesen wäre. Da dieUntertanen nicht von sich aus aktiv wurden, ergriff der Prinz die Initiative zurSchaffung neuen Wissens als Basis für die Erweiterung der wirtschaftlichenMöglichkeiten. Ein Privilegienbrief aus dem Jahr 1443 berichtet Ähnliches:Heinrich habe Schiffe ausgesandt, um die Gebiete jenseits des Kaps Bojador zuerkunden, die bislang weder in Seekarten noch in Weltkarten korrekt verzeich-net seien. Zugleich habe er die Anfertigung einer Seekarte angeordnet, um seineSchiffe noch weiter schicken zu können, damit sie noch mehr Land entdeck-ten.52 Die Kartographie wurde zur Grundlage für die Ausweitung der Seefahrtund des Handels. Dabei betonte Zurara in seiner Chronik die besondere Bedeu-tung der Augenzeugenschaft für die Kartierung: Was auf den alten Weltkartenvon der afrikanischen Küste verzeichnet gewesen sei, sei nicht wahr, denn dieAutoren hätten es aufs Geratewohl eingetragen, aber das, was nun in die Karteneingezeichnet werde, hätten sie mit eigenen Augen gesehen.53Die Karten dienten jedoch nicht nur den Seefahrern zur Orientierung, sie

erfüllten bereits zu Zeiten Heinrichs auch eine politische Funktion. Dies wirdetwa an dem seit langem schwelenden Streit um die Kanaren deutlich. Auf demKonzil von Basel im Jahr 1435 verwendeten die Portugiesen eine Seekarte, umzu zeigen, dass die Kanaren näher an der portugiesischen als an der kastilischenKüste lägen.54 Schon 1345 hatte König Afonso IV. seinen Anspruch auf die In-selgruppe mit ihrer Nähe zum portugiesischen Königreich begründet.55 In Baselversuchten die Portugiesen offenbar, dem Argument durch die Heranziehungeiner entsprechenden Karte zusätzliche Überzeugungskraft zu verleihen. Wahr-scheinlich ging man davon aus, dass die in der Karte enthaltene Informationdurch den Akt der Kartierung Bestätigung und Gewicht bekommen hatte, dadas über Karten vermittelte Wissen einen Konsens der Seefahrer (unabhängigvon ihrer Herkunft) bildete und für das wertvolle Gut der Sicherheit auf See

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51 Gomes Eannes de Azurara, Chrónica do descobrimento e conquista de Guiné, hg. v. Luiz Antó-nio Abreu e Lima Visconde da Carreira / Manuel Francesco Visconde de Santarém, Paris 1841,Kap. 5, 44–46.52 Cortesão (s. Anm. 22), Bd. 2, 118.53 Azurara (s. Anm. 51), Kap. 78, 372.54 Silva Marques (s. Anm. 12), Bd. 1, Nr. 281, 291–320.55 Außerdem hatte er zwei weitere Gründe angegeben: die ursprüngliche Entdeckung durch diePortugiesen sowie die Entsendung einer Erkundungsexpedition; vgl. Mariana Lagarto, Canárias,ilhas, in: Albuquerque / Domingues (s. Anm. 17), Bd. 1, 187–189, hier 187.

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stand. Die Gegenseite auf dem Konzil von Basel zeigte sich jedoch wenig beein-druckt: Auf die Widerlegung der Behauptung mit technischen Mitteln braucheman sich nicht einzulassen, da die bereits bestehenden rechtlichen Lösungenausreichten.56 1448 kaufte Heinrich der Seefahrer die Insel Lanzarote ihremGouverneur Maciot de Bettencourt mit Wissen der kastilischen Krone ab. DerAnspruch wurde letztlich nicht auf der Basis des kartographisch unterstütztenArguments, sondern aufgrund einer Geldzahlung durchgesetzt.Seit Ende des 15. Jahrhunderts waren für die Bündelung und Organisation

des mit der portugiesischen Seefahrt verbundenen technischen Wissens die Ar-mazéns da Guiné e Índias zuständig.57 Ihre Amtsleute koordinierten und prüf-ten die Anfertigung der Seekarten, die Fortschreibung der Routenbücher unddie Entwicklung und Bereitstellung der Instrumente für die astronomische Na-vigation. Seit 1529 war der cosmógrafo, beziehungsweise später der cosmógrafo-mor, der oberste Kosmograph, für die Authentifizierung der Karten, Bücherund Instrumente sowie für die Lösung technischer Probleme zuständig, die sichauf den Seefahrten ergaben.58 Der erste und zugleich berühmteste Inhaber diesesPostens war der Mathematiker Pedro Nunes, der das Amt bis zu seinem Tod imJahr 1578 ausfüllte. Auf seinWerk wird weiter unten noch ausführlich eingegan-gen.In den Armazéns wurde insbesondere die königliche carta padrão verwahrt,

die Musterkarte, in die alle neu entdeckten Gebiete eingetragen wurden und vonder alle Schiffsführer vor ihrer Abfahrt eine Kopie erhielten. Ein Dokument ausdem Jahr 1504, das vorschrieb, dass niemand ohne Erlaubnis Karten anfertigendürfe, die über die Inseln São Tomé e Príncipe beziehungsweise den Kongo-Fluss hinausgingen, und alle neuen Karten zunächst dem Vorsteher der Arma-zéns vorgelegt werden müssten, wird oft als Beleg für das Streben nach der

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56 Silva Marques (s. Anm. 12), Bd. 1, 297 f. u. 317.57 Auch Armazéns, Armazéns da Guiné oder Armazéns da Guiné, Mina e Índias etc. genannt. Invielen Darstellungen werden die Funktionen und die Geschichte der Armazéns da Guiné e Índiasmit denen der Casa da Guiné e Índia verwechselt. Die Armazéns waren für die Navigation zustän-dig, die Casa dagegen für den Handel. In letzterer, auf die in diesem Artikel nicht weiter eingegan-gen wird, wurden nicht nurWaren gelagert, sondern auch die Kronkontrakte verwaltet und ausführ-liche Verzeichnisse über den Handel und die Schifffahrten einschließlich aller Mitfahrer angelegt.Ihr umfassendes Archiv brannte beim Erdbeben von 1755 fast vollständig ab; Luz (s. Anm. 42),35–66; ders., Dois organismos da administração ultramarina no século XVI. A Casa da Índia e osArmazéns da Guiné, Mina e Índias, in: Avelino Teixeira da Mota (Hg.), A viagem de Fernão deMagalhães e a questão das Molucas. Actas do II Colóquio luso-espanhol de história ultramarina,Lissabon 1975, 91–105.58 Avelino Teixeira da Mota, Os Regimentos do Cosmógrafo-Mor de 1559 e 1592 e as Origens doEnsino Náutico em Portugal, in: Memórias da Academia das Ciências de Lisboa 13 (1969), 227–291;Luz (s. Anm. 42), 65; Francisco Contente Domingues, Pedro Nunes e a arte de navegar, in: Aires A.Nascimento (Hg.), Pedro Nunes e Damião de Góis. Dois rostos do Humanismo Português. Actasde Colóquio no V Centenário do Nascimento, Lissabon 2002, 95–106, hier 103; Navarro-Brotons(s. Anm. 33), 228–230.

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Geheimhaltung des padrão gedeutet. Doch wie Leonor Freire Costa anmerkte,war mit der Kontrolle der kartographischen Produktion vor allem die Absichtverbunden, die auf den Schiffen verwendeten Karten zu normieren.59 In diesemSinne ist auch die später erfolgte Organisation der Kartenmacher in einer Zunftunter königlicher Aufsicht zu deuten: Die Zunftordnung verpflichtete die Kar-tographen, sich nach den von den Armazéns herausgegebenen cartas padrão zurichten, und die Ordnung des obersten Kosmographen von 1559 schrieb vor,dass die Karten aus privaten Werkstätten ebenso wie die aus den staatlichenZentren nur verkauft und ausgeliefert werden dürften, nachdem der obersteKosmograph sie geprüft und signiert hätte.Trotz dieser Bemühungen um Vereinheitlichung stimmten die Karten, die im

Umlauf waren, keineswegs überein. So beauftragte König João III. 1533 denVorsteher derArmazéns, in einem Fall zu ermitteln, in dem auf einem Schiff dreiunterschiedliche Karten verwendet wurden, die teilweise größere Informations-lücken gegenüber dem padrão aufwiesen, obwohl sie alle in Lissabon produziertworden waren.60 Auch war es nicht so, dass ausschließlich die jeweiligen Schiffs-führer die Positionen auf der zurückgelegten Strecke bestimmten. Wie João deCastro berichtete, maßen während seiner Fahrt nach Goa im Jahr 1538 mehrerePassagiere und Mitglieder der Mannschaft am Mittag die Höhe der Sonne undschätzten die Strecke ab, die das Schiff täglich zurücklegte, um den Routenver-lauf in ihren eigenen Karten verzeichnen zu können.61Abgesehen davon, dass die Normierung der Karten in der Praxis schon aus

organisatorischen Gründen kaum möglich war, enthielt auch der padrão selbstFehler, die auf technische Schwierigkeiten zurückzuführen sind, insbesonderedarauf, dass die geographische Länge auf See jeweils nur näherungsweise bes-timmbar war. Solche Fehler konnten sich im Verlauf der Fahrt immer weiteraddieren, so dass die Längenangaben in den nautischen Karten oft entwederdeutlich zu groß oder deutlich zu klein waren. Dem obersten Kosmographen,Pedro Nunes, war dieses Problem durchaus bewusst.62 Er bemühte sich darum,die Fehler durch geeignete mathematische Methoden grundsätzlich zu korrigie-ren. Doch sein Vorgehen löste Widerstand aus. Lopo Homem, einer der renom-miertesten Kartenmacher des 16. Jahrhunderts, übte scharfe Kritik an dem nachNunes Vorstellungen erstellten padrão: Er sei weit entfernt von jeder Wahrheitund Wissenschaft der Navigation und habe bereits zu vielen Problemen auf den

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59 Leonor Freire Costa, Acerca da produção cartográfica no século XVI, in: Revista de HistóriaEconómica e Social 24 (1988), 1–26, hier 20.60 Ebd., 19.61 Suzanne Daveau / Júlia Galego, Difusão e ensino da Cartografia em Portugal, in: Maria HelenaDias (Hg.), OsMapas em Portugal. Da tradição aos novos rumos da Cartografia, Lissabon 1995, 85–123, hier 88.62 Costa (s. Anm. 59), 11.

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Fahrten nach Indien geführt.63 Homem war empört, dass die Entfernungen inden traditionellen Karten, welche die in der Kunst der Seefahrt kundigen Män-ner mit viel Erfahrung, Fleiß und Sorgfalt über lange Jahre vermessen hätten,falsch sein sollten.64 Vielmehr seien die in den Armazéns verwalteten Kartenunverständlich und nicht nutzbar, sodass die Schiffsführer ihre Karten inzwi-schen in Kastilien anfertigen ließen, wo man sie noch wie früher herstelle. Ähn-lich positionierte sich der Kosmograph der spanischen Casa de Contratación,Alonso de Santa Cruz, als er nach Portugal kam, um dort Informationen überden Magnetismus einzuholen: Er bevorzugte die älteren Routenbücher gegen-über den neueren Seekarten, da diese fehlerhaft seien, seit Pedro Nunes darineinige Golfe auf der Route nach Indien habe zusammenziehen lassen.65 In vielenFällen setzte sich das von den Praktikern generierte Wissen gegenüber dem desWissenschaftlers durch. Ungenauigkeiten in den Karten wurden beibehalten,nicht weil die technischen Hilfsmittel fehlten, sie zu korrigieren, sondern wegender Routine, die die Seefahrer mit den fehlerhaften Seekarten bereits erworbenhatten. Wie der Herzog von Bragança in einemGutachten bemerkte, vermitteltedie Verwendung der fehlerhaften Karten den Seefahrern paradoxerweise ein Ge-fühl der Sicherheit.66 Für die wissenschaftliche Innovation bedeutete dies jedocheine Blockade.

Institutionen der Wissensvermittlung

Die theoretische Ausbildung der Steuerleute (pilotos) hätte eigentlich zu denAufgaben des obersten Kosmographen gehört, sodass sie auf diesem Wege fürdie Aufnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse hätten sensibilisiert werdenkönnen. Doch der langjährige Inhaber dieses Amtes, Pedro Nunes, war diesbe-züglich offenbar nicht sehr engagiert.67 Er scheint nur drei Steuerleute je per-sönlich geprüft zu haben, auch war er immer wieder über längere Zeit abwe-send, ohne dass er einen Stellvertreter gehabt hätte.68

Als die Säulen des Herakles umstürzten

63 Luís de Albuquerque, A náutica e a ciência em Portugal. Notas sobre as navegações, Lissabon1989, 153.64 Costa (s. Anm. 59), 13.65 Ebd., 24.66 Ebd., 12.67 Zu Beginn überschnitten sich die Ausbildungen in der Schifffahrtskunst (arte de navegar) undder Kartographie, viele Kartographen waren selbst Seefahrer gewesen. An den Prüfungen der Zunftder Schiffsführer der Stadt Lissabon waren Kartographen wie Lopo Homem und Jorge Reinel be-teiligt. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden die beiden Ausbildungen getrenntund mit jeweils eigenen Examen abgeschlossen; ebd., 18 f.68 Domingues (s. Anm. 58), 106.

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Nicht viel größer scheint sein Einsatz in der universitären Lehre gewesen zusein.69 Nunes war von 1529 bis 1532 an der Universität von Lissabon tätig undwurde 1544 zum Professor in Coimbra berufen, doch scheint er weder vieleVorlesungen gehalten noch viele Schüler gefunden zu haben. In der älteren His-toriographie wird gerne darauf verwiesen, dass bereits Heinrich der Seefahrer inseiner Funktion als Förderer der wissenschaftlichen Seefahrt 1431 die Lehr-stühle für Arithmetik und Geometrie der Universität von Lissabon unter seinPatronat gestellt habe, doch ist über ihre wissenschaftliche Produktion ebenfallsnichts bekannt.70 Leonor Freire Costa zufolge nahm die Entwicklung mathema-tischer Prinzipien in Kartographie undNautik ihren Ursprung auch nicht in derArtistenfakultät, sondern in der medizinischen Fakultät.71 Mit Ärzten wurdezunächst auch der 1518 von König Manuel geschaffene Lehrstuhl für Astrono-mie besetzt, unter anderem mit dem Leibarzt des Königs, Tomás Torres, derspäter bei der Junta von Elvas-Badajoz eine wichtige Funktion einnehmensollte. Obwohl die Universität spätestens seit der Verlegung nach Coimbra imJahr 1537 ein hochrangiges internationales Wissenschaftszentrum war, blieb sieauf demGebiet der exaktenWissenschaften relativ konservativ ausgerichtet undscheint für die Expansion keine wesentliche Rolle gespielt zu haben.72 Von weitgrößerer Bedeutung war Henrique Leitão zufolge die 1574 von den Jesuitengegründete Aula da Esfera im Colégio de Santo Antão in Lissabon. In dieserInstitution verband sich in einer einmaligen Konstellation das jesuitische Bil-dungssystem mit der königlichen Expansionspolitik. Abgesehen davon, dassdie Aula da Esfera auf den expliziten Wunsch des Königs gegründet wurde,folgte sie im Gegensatz zu den mathematischen Studien anderer Jesuitenkollegsauch nicht der Ratio Studiorum, dem zentralen Lehrplan der Jesuiten, sondernwar unmittelbar an den Bedürfnissen der portugiesischen Überseeexpansionausgerichtet.73

Jorun Poettering

69 Ebd., 68–70, 75–78.70 Cortesão (s. Anm. 22), Bd. 2, 86.71 Costa (s. Anm. 59), 16 f.72 Dort trafen sich Humanisten aus ganz Europa, etwa Élie Vinet, George Buchanan, Nicolas deGrouchy, Fabio Arca, Sebastian Stockhammer und Nicolaes Cleynaerts; vgl. Maria Berbara / KarlA. E. Enenkel, Introduction. Transatlantic Crossroads – Portuguese Humanism and the Republic ofLetters, in: dies. (Hg.), Portuguese Humanism and the Republic of Letters, Leiden 2012, 1–15.73 Henrique Leitão, A Periphery between Two Centres? Portugal on the Cientific Route from Eu-rope to China (Sixteenth and Seventeenth Centuries), in: Ana Simões / Ana Carneiro / Maria PaulaDiogo (Hg.), Travels of Learning. A Geography of Science in Europe, Dordrecht 2003, 19–46, hier24, 28, 40; vgl. auch Luís de Albuquerque, A „Aula da Esfera“ do Colégio de Santo Antão no séculoXVII, in: Estudos de História da Ciência Náutica. Homenagem do Instituto de Investigação Cien-tífica Tropical, Lissabon 1994, 533–579. In Santo Antão lehrten gegen Ende des 16. Jahrhundertsviele renommierte Wissenschaftler aus ganz Europa, bevor sie zur Mission nach China weiterreis-ten. Unter ihnen befand sich etwa Christoph Grienberger, der später die mathematische Akademiedes Jesuitenkollegs in Rom leiten sollte und der vielleicht wichtigste jesuitische Vertreter in denkosmologischen Debatten mit Galileo in den 1620er-Jahren wurde; Leitão (diese Anm.), 32 f.

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Den zentralen Schauplatz, an dem das akademische Wissen mit dem prakti-schen Know-how der Expansion zusammengeführt wurde, bildete jedoch so-wohl nach Leonor Freire Costa als auch nach Henrique Leitão der Hof. Dorttrafen die Hofärzte, deren astrologische Kenntnisse für Staatsangelegenheiteneingesetzt wurden, auf die Schiffsführer und erfuhren aus erster Hand von derenErfahrungen. Sie analysierten und interpretierten ihre Beobachtungen undmachten sie in nautischer, aber auch politischer Hinsicht produktiv. Sie stelltenden Schiffsführern ihr astronomisches Wissen zur Verfügung und standen demKönig als Ratgeber zur Seite.74 Zur Zeit König Joãos II. (1481–1495) waren diebeiden jüdischen Ärzte Rodrigo und Joseph gemeinsam mit Martin Behaim mitentsprechenden Angelegenheiten betraut, eine Gruppe, aus der romantisierendeHistoriker des 19. Jahrhunderts die sagenumwobene Junta dos Matemáticoskonstruierten.75 Auch wenn eine solche Junta nie in Form einer institutionali-sierten wissenschaftlichen Gesellschaft existierte, spielten ihre Mitglieder docheine wichtige Rolle für die Überseeexpansion. So wurden Joseph und Rodrigobeispielsweise 1485 vom König nach Guinea geschickt, um Beobachtungendurchzuführen, die es den Seefahrern erlauben sollten, die auf der Nordhalbku-gel übliche astronomische Navigation auch auf der Südhalbkugel fortzusetzen,denn nach der Überquerung des Äquators war der Polarstern nicht mehr zusehen, an dem sich die Seefahrer auf derNordhalbkugel orientierten. Das Ergeb-nis ihrer Reise war die Entwicklung der Navigation nach dem Sonnenstand. AufJoseph und dessen Lehrer Abraão Zacuto, einen weiteren bedeutenden jüdi-schen Arzt und Astrologen, geht zudem die Anfertigung astronomischer Trak-tate und Tabellenwerke für die Anwendung von Astrolabium und Quadrant aufSee zurück.76

Als die Säulen des Herakles umstürzten

74 Costa (s. Anm. 59), 17.75 Barros (s. Anm. 23), Buch 4, Kap. 2, 126 f. Meiser Joseph ist auch als José Vizinho bekannt. Luísde Albuquerque, Junta de Matemáticos, in: ders. / Domingues (s. Anm. 17), Bd. 1, 561f.76 Das in der astronomischen Nautik wichtigste Werk war Zacutos zunächst auf Hebräisch ges-chriebener Almanach Perpetuum, den Joseph übersetzte und der 1496 erstmals gedruckt wurde(vgl. Anm. 33). Abraão Zacuto hatte zunächst in Salamanca gelehrt und war nach Lissabon geflohen,als die katholischen Könige Ferdinand und Isabella 1492 die Juden in ihren Reichen zur Annahmedes Christentums oder zum Verlassen des Landes zwangen. Bereits ein Jahr später arbeitete er imDienst des portugiesischen Königs, konnte aber nur sechs Jahre in Portugal bleiben, bevor er wie-derum das Land verlassen musste, als auch dort keine Juden mehr geduldet wurden. Er ging zu-nächst nach Nordafrika und starb nach 1522 in Damaskus; Luís de Albuquerque, Zacuto, Abraão,in: ders. / Domingues (s. Anm. 17), Bd. 2, 1091 f. – Martin Behaim, der ebenfalls zum erwähntenKreis am Hof gehörte, war ein deutscher Kaufmann, der sich seit den 1480er Jahren in Portugalaufhielt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde er zum Gegenstand heftiger Polemiken, in derenVerlauf unter anderem nachgewiesen wurde, dass er nicht, wie zunächst behauptet, die in der See-fahrt verwendeten astronomischen Tabellenwerke aus Deutschland nach Portugal eingeführt hatte,sondern dass vielmehr die deutschen Arbeiten auf denen von Zacuto beruhten. Die zentrale Streit-schrift ist: Joaquim Bensaúde, Les Légendes allemandes sur l’histoire des découvertes maritimesportugaises. Réponse à Hermann Wagner, Genf 1917–1920.

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Im 16. Jahrhundert wurden viele der Aufgaben, welche die Ärzte ausübten, inden Armazéns da Guiné e Índias institutionalisiert, doch der Hof blieb auchweiter der wichtigste Ort des wissenschaftlich-praktischen Austauschs. Dortkonnte auch Pedro Nunes, der von der Ausbildung her ebenfalls Arzt war, seinmathematisches Ausnahmetalent entfalten.77 Er unterrichtete am Hof eineGruppe aufgeschlossener junger Prinzen, Adeliger und Intellektueller, zu denenunter anderem drei Brüder von König João III. zählten: der Infant Luís, dermathematisch offenbar sehr begabt war, und die Infanten Duarte undHenrique.Doch auch außerhalb des Unterrichts hatte Nunes amHof viele Gesprächspart-ner, mit denen er seine Ideen besprechen konnte, abgesehen davon, dass er dortviel Unterstützung für die Vorbereitung und Durchführung seiner astronomi-schen Beobachtungen erhielt. Die Könige nutzten die Anwesenheit vonWissen-schaftlern und Gelehrten am Hof aber auch für Konsultationen in politischenAngelegenheiten. Drei in der Geschichtsschreibung klassische Beispiele hierfürwerden im Folgenden vorgestellt.78

Kolumbus beim portugiesischen König

Bevor Kolumbus sein Projekt, Indien mittels einer Fahrt nach Westen stattdurch die Umsegelung Afrikas zu erreichen, den spanischen Königen präsen-tierte, war er damit beim portugiesischen König João II. vorstellig geworden.Warum hatte sich dieser nicht von ihm überzeugen lassen und damit letztlichden Spaniern die Entdeckung des amerikanischen Kontinents überlassen? Wieder Chronist João de Barros berichtete, begegnete der portugiesische KönigKolumbus mit großer Skepsis, da er ihn für einen eingebildeten Schwätzer ge-halten habe, der Wahnvorstellungen verfolge.79 Dennoch beauftragte João II.ein Expertengremium mit der Prüfung von Kolumbus’ Plan, das sich zusam-mensetzte aus Diogo Ortiz, dem Bischof von Ceuta, einem Kosmographenund wichtigen Vertrauensmann des Königs, sowie den beiden bereits erwähntenÄrzten Rodrigo und Joseph, „denen [der König] solche Angelegenheiten derKosmographie und seiner Entdeckungen anzuvertrauen pflegte“, wie es beiBarros heißt.80 Das Ergebnis der Prüfung ist nicht bekannt.

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77 Henrique Leitão, Para uma biografia de Pedro Nunes. O surgimento de um matemático, 1502–1542, in: Cadernos de Estudos Sefarditas 3 (2003), 45–82.78 Für einen Überblick zur umfangreichen Literaturlage vgl. Luís Adão da Fonseca, O Tratado deTordesilhas e a diplomacia luso-astelhana no século XV, Lissabon 1991, 61–77.79 Barros (s. Anm. 23), Buch 3, Kap. 11, 112 f. Vgl. auch William G. L. Randles, The Evaluation ofColumbus’ „India“ Project by Portuguese and Spanish Cosmographers in the Light of the Geogra-phical Science of the Period, in: Imago Mundi 42 (1990), 50–64.80 Barros (s. Anm. 23), Buch 3, Kap. 11, 113 (eigene Übersetzung).

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Bereits 1474 oder kurz zuvor hatte die portugiesische Krone ein Gutachtenüber die kürzeste Route nach Indien bei dem florentinischen KosmographenPaolo dal Pozzo Toscanelli angefordert.81 Dieser hatte geantwortet, dass jeneRoute über den Atlantik führe und nicht um Afrika herum, und dies mit ent-sprechenden Berechnungen belegt. Er benutzte zwar Werte für die Größe desErdumfangs, die nicht mit den heute bekannten (deutlich größeren) überein-stimmten, doch handelte es sich um die von den portugiesischen Schiffsführernder Zeit verwendeten Daten, also eine empirisch solide Grundlage. Toscanellischickte die Karte später auch Kolumbus, der sich durch die Ausführungenwahrscheinlich in seinem Unternehmen bestärken ließ, auch wenn der von Ko-lumbus angenommene Erdumfang etwas größer war als der von Toscanelli ver-anschlagte. Was die Portugiesen vor diesemHintergrund davon abhielt, Kolum-bus loszuschicken, ist unklar.1488, vier Jahre nach der Beratung der portugiesischen Experten über den

Vorschlag von Kolumbus, erreichte der Portugiese Bartolomeu Dias das Kapder Guten Hoffnung. Kolumbus war in der Zwischenzeit aufgrund seiner„Energie und Intelligenz“, wie es im Einladungsschreiben hieß, erneut an denportugiesischen Hof gerufen worden.82 In einem seiner Bücher vermerkte er,dass er anwesend war, als Bartolomeu Dias dem König die Einzelheiten vonseiner Reise berichtete und die Küste vor dessen Augen in einer Seekarte ver-zeichnete.83 Offenbar wohnte Kolumbus der Übertragung der neu vermessenenLandesteile in die angeblich so geheim gehaltene carta padrão bei. Da mit derReise von Bartolomeu Dias die Nord-Süd-Ausdehnung Afrikas bekannt unddamit die Strecke bis Indien kalkulierbar wurde, hatte sich für die Portugiesendie Fahrt über den Atlantik weitgehend erübrigt. Kolumbus scheint Portugalwenig später endgültig verlassen zu haben. Vier Jahre danach stach er imNamender spanischen Krone in See und erreichte Amerika, nach weiteren sechs Jahrengelangten die Portugiesen erstmals über den Seeweg nach Indien.84

Der Vertrag von Tordesillas

Als Kolumbus von seiner ersten Reise über den Atlantik zurückkehrte, landeteer zunächst in Lissabon und berichtete dem portugiesischen König von seinemErfolg. João de Barros zufolge war João II. der Überzeugung, dass das Land,

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81 Randles (s. Anm. 79), 54–56; Alfredo Pinheiro Marques, Toscanelli, Paolo, in: Albuquerque /Domingues (s. Anm. 17), Bd. 2, 1044 f.82 Randles (s. Anm. 79), 57.83 George E. Nunn, The Geographical Conceptions of Columbus. A Critical Consideration ofFour Problems, Milwaukee 1992 (ND der Ausg. New York 1924), 7 f.84 In Spanien scheiterte Kolumbus mit seinem Vorschlag ebenfalls zweimal an einem Expertengre-mium, bevor seine Reise schließlich finanziert wurde; Randles (s. Anm. 79), 50.

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das Kolumbus betreten hatte, ihm gehöre, was ihm auch seine in der Geographiebewanderten Ratgeber (officiáes deste mistér da geographia) versichert hätten.85Als Begründung hätten sie die geringe Entfernung zwischen den Azoren undden von Kolumbus entdeckten Inseln angeführt. Wie Kolumbus in seinem Ta-gebuch berichtete, hatte der portugiesische König ihm in jenem ersten Gesprächnach seiner Rückkehr jedoch auch die Frage gestellt, ob er auf seiner Fahrt denim Vertrag von Alcáçovas festgelegten Breitenkreis überfahren habe. Dieser1479 geschlossene Vertrag sah vor, dass alle neuentdeckten Länder, die nördlicheiner auf der Höhe der Kanaren gezogenen Linie liegen, Kastilien gehören soll-ten, alle südlich davon gelegenen Portugal.86 Angeblich entzog sich Kolumbusder Antwort, indem er behauptete, den Vertrag nicht zu kennen. Die HerrscherKastiliens hätten lediglich angeordnet, dass niemand nach Mina oder an irgend-einen anderen Ort in Guinea fahren dürfe, was den Bestimmungen des Vertragsvon Alcáçovas entsprach, solange die Schiffsführer dem Verlauf der afrikani-schen Küste folgten.87 Tatsächlich war Kolumbus fast die gesamte Strecke knappnördlich der Linie von Alcáçovas gesegelt, hatte die Schiffe aber schließlich nachSüden gelenkt und war wenig später bei den Karibikinseln angelangt. Dem Ver-trag zufolge gehörten die von Kolumbus erreichten Gebiete tatsächlich den Por-tugiesen. Dennoch wurden sie 1494 im Vertrag von Tordesillas den Spaniernzugesprochen.88Warum verzichteten die Portugiesen auf die ihnen zustehenden Gebiete?

Stellvertretend für die Antworten auf diese Frage sei eine Arbeit des HistorikersLuís Adão da Fonseca angeführt. Ihr zufolge war João II. nicht an den von Ko-lumbus entdeckten Gebieten interessiert, viel wichtiger sei ihm die Beibehaltungder im Vertrag von Alcáçovas vorgesehenen räumlichen Aufteilung gewesen.Anders als die kastilische Seite, die noch in mittelalterlicher Weise in konkretenOrten gedacht habe, habe sich nämlich die portugiesische Seite die Welt in abs-trakten, allein mit den Mitteln der astronomischen Navigation strukturiertenRäumen vorgestellt.89 Die Kanaren, Mina oder Guinea hätten aus Sicht der Por-tugiesen für die Zuordnung von Gebieten nicht mehr im Vordergrund gestan-den, sie hätten lediglich Orientierungspunkte für die Demarkation gedachter

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85 Barros (s. Anm. 23), Buch 3, Kap. 11, 114. Der Chronist Rui de Pina berichtete in seiner Crónicade D. João II (Kap. 66) bereits vorher über die Episode.86 Carmen M. Radulet, Os descobrimentos portugueses e o Tratado de Alcáçovas, in: Luís de Albu-querque (Hg.), Portugal no Mundo, Bd. 2, Lissabon 1989, 13–26.87 Oliver Dunn / James E. Kelley, Jr. (Hg.), The Diario of Christopher Columbus’s First Voyage toAmerica, 1492–1493, abstracted by Fray Bartolomé de las Casas, Norman 1989, 396.88 Luís Adão da Fonseca / José Manuel Ruiz Asencio (Hg.), Corpus documental del Tratado deTordesillas, Valladolid 1995; Silva Marques (s. Anm. 12), Bd. 3, Nr. 292, 432–440. Vgl. zu dem Ver-trag auch: Universidad de Valladolid, Seminario de Historia de América (Hg.), El Tratado de Torde-sillas y su proyección (Segundas Jornadas Americanistas; Primer Coloquio Luso-Español de Histo-ria Ultramarina), 2 Bde., Valladolid 1973.89 Fonseca (s. Anm. 78), 44 f.

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Linien gebildet. Dementsprechend seien im Vertrag von Alcáçovas Kastilien dieseit langem bekannten Kanaren zugesprochen worden, während Portugal vorallem Gebiete verliehen bekommen habe, die es erst noch zu entdecken galt.Zwar führt Fonseca Belege für die Existenz der beiden unterschiedlichen kos-mographischen Konzepte an, doch macht er es sich mit der Zuordnung der‚fortschrittlichen‘ Weltsicht bei den Portugiesen und der ‚traditionellen‘ Welt-sicht bei den Kastiliern zu leicht. Denn wie erwähnt, führte zum Beispiel derPortugiese João de Barros die geringe Entfernung der Karibikinseln zu denAzo-ren als das wesentliche Argument für den portugiesischen Herrschaftsanspruchüber die von Kolumbus entdeckten Gebiete an. Weiter argumentiert Fonseca,dass mit der Ersetzung des Breitengrades im Vertrag von Alcáçovas durch einenLängengrad im Vertrag von Tordesillas die Idee der Trennungslinie beibehaltenwerden konnte, ohne dass Kastilien auf die von Kolumbus entdeckten Gebieteverzichten musste.90 Seit Bartolomeu Dias 1487/1488 gezeigt hatte, dass Afrikaumfahren werden konnte und Indien tatsächlich auf der Nord-Süd-Route zuerreichen war, sei für die portugiesische Schifffahrt der Raum im Westen nichtmehr relevant gewesen.Die Breite, auf der der Semimeridian verlaufen sollte, blieb jedoch umstritten,

bis es Portugal schließlich gelang, ihn von den ursprünglich vorgesehenen 100Meilen auf 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln zu verschieben. Andieser Position wurde er als Linie von Tordesillas bekannt. Die Verschiebunggab Anlass zu mannigfachen Kontroversen in der Geschichtsschreibung. Insbe-sondere ging es um die bereits erwähnte Frage, ob die Portugiesen bereits vor1500, dem Jahr der offiziellen Entdeckung des heutigen Brasilien, von dessenExistenz wussten. Denn der 100-Meilen-Meridian wäre östlich Brasiliens ver-laufen, während mit dem 370-Meilen-Meridian ein Großteil des heutigen Brasi-lien in den portugiesischen Herrschaftsbereich fiel. Einige Historiker führen alsMotiv der Portugiesen für die Verschiebung der Linie an, dass die portugiesi-schen Schiffe im Süden von Afrika wegen der herrschenden Strömungen undWinde weit nach Westen ausholen mussten, um das Kap der Guten Hoffnungumrunden zu können. Nur durch die Verschiebung desMeridians hätten sie dendazu nötigen Platz gehabt. Dieses Argument ist jedoch wenig überzeugend, daein Durchfahrtsrecht hierfür ausreichend gewesen wäre, entsprechend demDurchfahrtsrecht, das die spanischen Schiffe im portugiesischen Bereich genos-sen. Wie bereits angedeutet, geht die Mehrheit der Historiker heute davon aus,dass die Portugiesen Brasilien bereits vor 1500 erreicht hatten.Eine weitere vielfach diskutierte Frage bezog sich auf die Umsetzbarkeit des

Vertrages in die Praxis: denn während die für die Einhaltung des Vertrags vonAlcáçovas nötige Bestimmung der geographischen Breite eines Ortes keinegrößeren Probleme bereitete, wurde die Bestimmung der exakten Länge eines

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90 Ebd., 55.

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Ortes erst Ende des 18. Jahrhunderts mit der Erfindung präziser Schiffschrono-meter möglich.91 Der Vertrag von Tordesillas sah daher vor, dass eine paritätischaus Portugiesen und Kastiliern zusammengesetzte Delegation von Astronomen,Schiffsführern und Seeleuten im Rahmen einer gemeinsamen Expedition dengenauen Verlauf der Linie bestimmen sollte. Es wurde vorgeschlagen, dass dieTeilnehmer von den Kapverdischen Inseln ausgehend „das Meer und die Rich-tungen und Winde und Grade der Sonne und des Nordens erkennen und dieMeilen über diese verzeichnen“ sollten.92 Wie Luís de Albuquerque erläutert,war damit die Vermessung der Position mit Hilfe des regimento das léguas (Mei-lenordnung) gemeint, einer trigonometrischen Tabelle, mit deren Hilfe aus demeingeschlagenen Kurs und der jeweiligen mit Hilfe der Sonne beziehungsweisedes Polarsterns bestimmten geographischen Breite die Zahl der zurückgelegtenMeilen errechnet werden konnte.93 Es handelte sich um eine gebräuchliche Me-thode für die näherungsweise Längenbestimmung. Der Vertrag stellte den Ex-peditionsteilnehmern jedoch frei, die jeweilige Position in einer anderen Weisefestzulegen, nämlich so, „wie sie sich am besten einigen könnten“.Die Expedition fand nie statt. Kurz nach dem Abschluss des Vertrages ver-

fasste der katalanische Kosmograph Jaime Ferrer zwei Schriften, in denen ersich mit der Vermessung der Linie auseinandersetzte.94 Leonor Freire Costawies darauf hin, dass nach Ferrers Einschätzung das Problem nicht in dergrundsätzlichen Bestimmbarkeit der Linie lag, sondern in dem Abweichen deswissenschaftlichen Vorgehens von der nautischen Praxis. Er lehnte es explizitab, für seine eigenen Ausführungen Schifffahrtskarten zu verwenden, da dieseanderen Prinzipien gehorchten als die auf rein wissenschaftlicher Basis erstell-ten. Die Bedeutung der Expedition hätte demzufolge in der Vereinheitlichungder Wissensgrundlage von Theoretikern und Praktikern gelegen, was sich nichtzuletzt an der geplanten Zusammensetzung der Delegation aus Astronomen,Schiffsführern und einfachen Seeleuten zeigt.

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91 Luís de Albuquerque, O Tratado de Tordesilhas e as dificuldades técnicas da sua aplicação rigo-rosa, in: Revista da Universidade de Coimbra 23 (1973), 373–391; Costa (s. Anm. 59); AntónioEstácio dos Reis, O problema da determinação da longitude no Tratado de Tordesilhas, in: MareLiberum 8 (1994), 19–32; José Joaquim Dionísio, O problema da longitude posto pelas navegações,o tratado de Tordesilhas e as negociações de Elvas-Badajoz, in: Andrea Cardoso (Hg.), História dasciências matemáticas. Portugal e o Oriente, Lissabon 2000, 131–145.92 Albuquerque (s. Anm. 91), 375 (eigene Übersetzung).93 Ebd., 378–381. Das Ergebnis hing von der Zahl von Meilen ab, die als Abstand von zwei Längen-graden angenommen wurde, wobei mitWerten zwischen 16 2/3 und 21 5/8Meilen gearbeitet wurde.94 Silva Marques (s. Anm. 12), Bd. 3, 464.

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Die Lage der Molukken

Akut wurde die Auseinandersetzung um die praktische Bestimmung der Linievon Tordesillas erst mit der ‚Molukkenfrage‘. Seit 1510 gab es Berichte, dassSeefahrer im kastilischen Auftrag in portugiesisches Gebiet in Asien eindrangenund insbesondere die an Gewürznelken reiche Inselgruppe der Molukken an-fuhren. 1522 reklamierte João III. in einem königlichen Schreiben ihre Zugehö-rigkeit zu seinem Herrschaftsbereich, wobei er erstmalig die Verlängerung desHalbmeridians von Tordesillas zu einem vollen Meridian einforderte. Karl V.zeigte sich damit offenbar zunächst einverstanden. Dennoch folgten weitere Ex-peditionen von Spaniern zu den Molukken. Schließlich wurde im Jahr 1524 eineKonferenz einberufen, um das Problem dauerhaft zu lösen. Diese auf einerBrücke zwischen den beiden Grenzstädten Elvas und Badajoz begonnene Kon-ferenz wird oft als Gelehrtentreffen bezeichnet, bei dem sich spanische undportugiesische Experten um den genauen Verlauf des Meridians stritten. Tat-sächlich spiegelt diese Interpretation wohl vor allem das dominierende For-schungsinteresse an der Wissensgeschichte wider, während die Konferenz selbsteher von politischen Verhandlungen geprägt war.95 Um seinen Besitzanspruchzu legitimieren, griff Portugal primär auf das alte Argument zurück, dass dieportugiesischen Seefahrer zuerst dort gelandet seien und bereits seit längererZeit einen intensiven Handelsaustausch mit der Insel gepflegt hätten. Nur er-gänzend behaupteten die portugiesischen Delegierten, dass die Karten und Glo-ben, auf denen die Molukken in spanischem Gebiet lagen, fehlerhaft seien, wes-wegen sie die Entwicklung einer Methode zur Bestimmung der ‚wirklichen‘geographischen Länge forderten.96 Die Gelehrten führten die üblichen Vor-schläge für eine solche Methode an, kamen jedoch zu keinem konkreten Ergeb-nis.97 Hinzu kam noch eine weitere Schwierigkeit: Es war unklar, von welchemPunkt aus die Lage des Meridians gemessen werden sollte, denn im Vertrag vonTordesillas waren als Ausgangspunkt der Messung lediglich die KapverdischenInseln angegeben. Die Inselgruppe erstreckt sich jedoch über rund 50Meilen, sodass die Molukken in Abhängigkeit vom gewählten Ausgangspunkt sowohl imspanischen als auch im portugiesischen Bereich liegen konnten.98 Die Moluk-kenfrage wurde schließlich mit dem Vertrag von Saragossa im Jahr 1529 been-det: João III. kaufte Spanien die Rechte an der Inselgruppe für die Summe von

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95 Das umfangreich vorliegende Quellenmaterial wurde bislang offenbar nur oberflächlich bearbei-tet. Viele der Dokumente sind in António da Silva Rêgo (Hg.), As Gavetas da Torre do Tombo,Bd. 8, Lissabon 1970, abgedruckt, allerdings oft mit falscher Datierung; vgl. Albuquerque (s. Anm.91), 383 f.; Costa (s. Anm. 59), 24.96 Albuquerque (s. Anm. 91), 384. In einem Text über die Sitzungen Ende Mai 1524 werden viermögliche Vorgehensweisen vorgeschlagen.97 Reis (s. Anm. 91).98 Albuquerque (s. Anm. 91), 376 f., 385 f.

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350.000 Golddukaten ab. Erneut hatten sich die Finanzmittel den wissenschaft-lichen Argumenten überlegen gezeigt.

Wissenschaftliche Erkenntnis

Aus der Perspektive vieler Historiker versagte Portugal langfristig, weil es ihmnicht gelang, das in der Expansion erworbene Wissen zu einer anwendungsfähi-gen Wissenschaft auszubauen.99 So stellte etwa der Historiker Magalhães Go-dinho zwar das Aufkommen eines „praktischen Humanismus“ in Portugal fest,womit er die Priorisierung der Erfahrung gegenüber Tradition und Autoritätmeinte, und er erkannte an, dass es einzelne kritische Denker gegeben habe, diesich durch das Streben nach Wahrheit, kühne Ideen und die Bereitschaft zuderen praktischer Überprüfung auszeichneten, dennoch habe sich die Nautikauch weiterhin der traditionellen Astronomie bedient. Weder seien neue Wis-senschaftsgebiete eröffnet, noch neue Theorien und Methoden entwickelt wor-den. Seiner marxistisch gefärbten Deutung zufolge war die portugiesische Ex-pansion allein durch den auf unmittelbare Resultate abzielenden Blick derKaufleute und nicht durch den zweckfreien Blick wahrer Wissenschaftler bes-timmt gewesen.100Eine in diesem Sinne für die portugiesische Wissenschaftswelt paradigmati-

sche Figur sah der niederländischeHistoriker ReijerHooykaas in João deCastro(1500–1548), einem gelehrten Adeligen und Vize-König von Indien. In An-lehnung an den entsprechenden Architekturstil bezeichnete Hooykaas dessenTätigkeit als „manuelinisch“: Die sorgfältigen Beobachtungen der Natur, dieCastro in seinen Routenbüchern festhielt, seien zukunftsweisend, experimen-tierfreudig und von keiner vorgefundenenWeltsicht determiniert gewesen, dochhätten sie, wie der naturalistische Schmuck der manuelinischen Architektur, diemittelalterlichen Strukturen nur vordergründig erweitert. Das Gerüst hättenspekulative theoretische Konzepte gebildet, wie etwa seine kosmographischeAbhandlung Tratado da Sphaera (wahrscheinlich vor 1538 verfasst), die vom

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99 Wie Leitão zeigte, stellten weder die periphere geographische Lage Portugals noch ideologischeoder religiöse Zwänge ein „epistemologisches Hindernis“ dar. Vielmehr habe es in Portugal einenbemerkenswerten Austausch an Ideen, Büchern, Instrumenten undMenschen mit den übrigen Zen-tren der europäischenWissenschaft gegeben. Er habe allerdings nicht für die langfristige Etablierungeiner wissenschaftlichen Tradition in Portugal ausgereicht. Leitão (s. Anm. 73).100 Godinho (s. Anm. 8), 48 f. Vgl. zu diesem Abschnitt auch: Luís de Albuquerque, As Navegaçõese a sua Projecção na Ciência e na Cultura, Lissabon 1987; Luís Filipe Barreto, Descobrimentos eRenascimento. Formas de ser e pensar nos séculos XV e XVI, Lissabon 1983; Onésimo T. Almeida,Experiência a madre das cousas. On the „Revolution of Experience“ in Sixteenth-Century Portu-guese Maritime Discoveries and their Foundational Role in the Emergence of the Scientific World-view, in: Maria Berbara / Karl A. E. Enenkel (Hg.), Portuguese Humanism and the Republic ofLetters, Leiden 2012, 377–394.

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aristotelischen Geozentrismus, von der Lehre der vier Elemente und dem meta-physischenDualismus von Form undMaterie geprägt gewesen seien. Diese seienmit dem gotischen Unterbau der manuelinischen Gebäude vergleichbar.101Doch das Werk und der Einfluss der herausragendsten Persönlichkeit der

portugiesischenWissenschaftsgeschichte, des bereits mehrfach genannten PedroNunes (1502–1578), wurde bislang kaum untersucht, auch wenn Henrique Lei-tão in den letzten Jahren mehrfach mit entsprechenden Ansätzen die Aufmerk-samkeit auf ihn zu lenken versuchte.102 Im Gegensatz zu der Aussage von Go-dinho, dass die Portugiesen nicht zu einer mathematisch-experimentellenTheoretisierung gelangt seien, sieht Leitão in Pedro Nunes den Erfinder der„theoretischen Navigation“.103 Nunes stellte Überlegungen zu kartographi-schen Projektionen an und erfand nautische Instrumente zur Messung des Son-nenstandes und der magnetischen Deklination. Zu seinen bekanntesten Ergeb-nissen gehört die Erforschung der später Loxodrome genannten Kurve, dieentsteht, wenn ein Schiff einen konstanten Kurs fährt, und die die Grundlageder Mercator-Projektion bildet.104 Nunes’ Bücher waren schnell überall in Eu-ropa verbreitet. Von den Werken, die nicht auf Latein geschrieben waren, wur-den Übersetzungen angefertigt.105 Unter den ausländischen Verfassern nauti-scher Traktate genoss Nunes hohe Anerkennung, zugleich unterhielt er selbstKontakte zu vielen europäischen Gelehrten seiner Zeit.106 Die Freundschaft

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101 Entsprechend der Titel seines Aufsatzes: Reijer Hooykaas, Science in Manueline Style. The His-torical Context of D. João de Castro’s Works, in: Armando Cortesão / Luís de Albuquerque (Hg.),Obras Completas de D. João de Castro, 4 Bde., Coimbra 1968–1982, Bd. 4 (1982), 231–426, zurDefinition des Begriffs insbes. 420 f.; João de Castro, Tratado da Sphaera, in: ebd., Bd. 1.102 Leitão (s. Anm. 77), 45–82; Navarro-Brotons (s. Anm. 33). Aus Anlass des 500. Geburtstagesvon Pedro Nunes im Jahr 2002 erhielt die Forschung neue Impulse: Die Nationalbibliothek organi-sierte eine bibliographische Ausstellung und gab einen entsprechenden Katalog heraus: Henrique deSousa Leitão (Hg.), Pedro Nunes, 1502–1578. Novas terras, novos mares e o que mays he novo ceo enovas estrellas, Lissabon 2002. Die Edition seines Gesamtwerkes wurde erneut in Angriff ge-nommen, beginnend mit einer Aktualisierung und Vervollständigung der 1940 begonnenenAusgabe durch die Akademie der Wissenschaften: Pedro Nunes, Obras, derzeit 6 Bde., Lissabon2002–2010. Außerdem erschienen: Luís Trabucho de Campos / Henrique Leitão / João FilipeQueirós (Hg.), International Conference Petri Nonii Salaciensis Opera. Proceedings, Lissabon2003; Oceanos 49 (2002).103 Henrique Leitão, Sobre a difusão europeia da obra de Pedro Nunes, in: Oceanos 49 (2002), 110–128.104 Die klassische Definition der Loxodrome ist in Nunes’ Tratado em defensam da carta de marear(1537) enthalten, ausführlicher geht er darauf in De arte atque ratione navigandi (1566) ein. Vgl.ausführlich zur ersten Schrift: Luís Jorge Semedo de Matos, Em defensam da carta de marear, in:Oceanos 49 (2002), 36–52. Zu Mercators Kenntnissen von Nunes’ Arbeiten: Leitão (s. Anm. 103),112; Cortesão (s. Anm. 22), Bd. 2, 108.105 So schickte beispielsweise der französische Botschafter ein Exemplar von Nunes’ Tratado daSphaera nach Frankreich, damit es dort zum Nutzen der Schiffsführer seines Landes übersetzt undgedruckt werde. Berühmt ist auch die Übersetzung seines Libro de Algebra ins Lateinische durchJohannes Praetorius; vgl. Leitão (s. Anm. 103).106 Insbesondere in Spanien (Martín Cortés, Simón de Tovar, Andrés García de Céspedes, Juan

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mit dem englischen Mathematiker und Kosmographen John Dee war so eng,dass dieser ihn als Testamentsvollstrecker einsetzte. Auch Tycho Brahe undGiovanni Battista Benedetti beschäftigten sich eingehend mit Nunes’ Werken.Der Jesuit Christoph Clavius kannte alle seine Schriften und zitierte sie immerwieder in seinen eigenen Arbeiten. Als einflussreicher Lehrer am Collegio Ro-mano in Rom sorgte er für die Verbreitung von Nunes’ Schriften in den rund600 Jesuitenkollegs auf der ganzen Welt.107Von portugiesischer Seite wird oft bemängelt, dass Pedro Nunes den Schritt

von der Theorie zur Praxis nicht vollzogen habe, so wie er bezeichnenderweiseGerhard Mercator die graphische Umsetzung der Loxodrome überlassen habe.Die Seefahrer hätten seine Erkenntnisse nicht nutzen können. Diese Wahrneh-mung ist jedoch vor allem dem weit verbreiteten Bedauern über das Ende derportugiesischen Größe geschuldet. Wie Onésimo Almeida zeigte, arbeitete Pe-dro Nunes bei der Gewinnung seiner Erkenntnisse außergewöhnlich eng mitPraktikern zusammen, abgesehen davon, dass seine Überlegungen ihren Ur-sprung in der Regel in konkreten Problemen der Navigation hatten.108 So be-richtete Nunes in seinem Tratado em defensam da carta de marear (1537), dassMartim Afonso de Sousa ihm nach der Rückkehr von seiner BrasilienexpeditionFragen gestellt habe, aus deren Beantwortung der vorliegende Traktat entstan-den sei.109 Besonders eng kooperierte Pedro Nunes mit João de Castro, derebenso wie Martim Afonso de Sousa dem von Nunes unterrichteten Gelehrten-kreis am Hof angehörte. Viele der hydrografischen und magnetischen Experi-mente, die João de Castro auf seinen Seereisen durchführte, waren von PedroNunes angeleitet worden. In seinen Routenbüchern (1538 bis 1541) berichteteCastro, dass Nunes ihm vor seinen Reiseantritten mit speziell dafür entwickel-ten Instrumenten ausgestattetet und ihm genau erklärt hatte, was er messensolle. Castro notierte die Ergebnisse, diskutierte mögliche Fehlerquellen, ver-suchte sie durch leicht variierende Messbedingungen auszuschließen, hielt rät-selhafte Beobachtungen fest, stellte Hypothesen auf und lieferte Nunes die ent-sprechenden Daten.110 Onésimo Almeida macht in diesem Zusammenhangnicht nur auf die außerordentlich produktive Kooperation zwischen einem

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Cedillo Díaz, Pérez de Mesa, Alonso de Santa Cruz), England (Edward Wright, Robert Hues, JohnDavies, Thomas Harriot) und den Niederlanden (Michel Coignet, Adrian Metius, vor allem aberSimon Stevin und Willebrord Snell).107 Leitão (s. Anm. 103).108 Onésimo T. Almeida, „… fique a dúvida para Pedro Nunes“. Sobre a cooperação entre cientistase navegadores, in: Oceanos 49 (2002), 9–17; Onésimo T. Almeida, Science During the PortugueseMaritime Discoveries, in: Daniela Bleichmar / Paula de Vos / Kristin Huffine (Hg.), Science in theSpanish and Portuguese Empires, 1500–1800, Stanford 2009, 78–92.109 Pedro Nunes, Tratado em defensam da carta de marear, in: ders. (s. Anm. 102), Bd. 1, 175–242,hier 175.110 João de Castro, Roteiro de Lisboa a Goa, in: Cortesão / Albuquerque (s. Anm. 101), Bd. 1; Joãode Castro, Roteiro do Mar Roxo, in: ebd., Bd. 2.

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Theoretiker und einem eher praktisch ausgerichteten Gelehrten aufmerksam,sondern auch auf die konsequente Anwendung der Methode des trial and er-ror.111 Sowohl Pedro Nunes als auch João de Castro hatten seiner Einschätzungnach eine außergewöhnlich zukunftsweisende wissenschaftliche Haltung, da sieder Beobachtung so viel Bedeutung beimaßen, dass sie sich selbst mit jenen Er-scheinungen befassten, die ihren Theorien widersprachen. Experiment, Zweifelund das kritische Bewusstsein ihrer eigenen Unwissenheit hätten ihre gemein-same Arbeit geprägt.Nunes schrieb die meisten seiner Bücher auf Latein, einige waren jedoch in

Spanisch oder Portugiesisch verfasst, mit dem Ziel, sie auch den lesekundigenSeeleuten zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck übersetzte er sogar einigeBücher.112 João de Castro schrieb alle seine Arbeiten auf Portugiesisch und batseine Leser explizit um Rückmeldung: Wer durch die Länder fahre, die er inseinen Routenbüchern beschreibe, solle seine Arbeit korrigieren.113 SolchenHoffnungen war jedoch meist wenig Erfolg beschieden. Sowohl João de Castroals auch Pedro Nunes beschwerten sich über die Ignoranz und Arroganz vielerSeeleute. João de Castro zog im Prolog des Roteiro de Goa a Suez über denEgoismus der Seefahrer her, die nicht bereit waren, ihrWissen weiterzugeben.114Nunes stellte verbittert fest, dass die Steuerleute über Theorie nur lachten.115Auch klagte er, dass die Seeleute niemandem, der nicht selbst zur See gefahrensei, zugestanden, sich in der Navigation auszukennen.116 Doch Nunes, der nieeine längere Schiffsreise unternommen hatte, hatte allerdings offenbar auch dievon den Seefahrer verwendete praktische Literatur, die livros de marinharia,nicht gelesen, so dass er sich einer anderen Sprache und anderer Parameter be-diente als den in der portugiesischen Seefahrerpraxis üblichen.117 Hinzu kam,dass seine Vorschläge nicht immer umsetzbar und gelegentlich überflüssig wa-ren.118 Die Reserviertheit der Seeleute war also nicht nur ihrer Verschlossenheitgegenüber neuen Entwicklungen geschuldet, sondern auch durch ein Kommu-nikationsproblem bedingt.

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111 Almeida, „… fique a dúvida“ (s. Anm. 108); Almeida, Science During (s. Anm. 108).112 Reijer Hooykaas, Humanism and the Voyages of Discovery in 16th Century Portuguese Scienceand Letters, Amsterdam 1979, 140 f.113 Hooykaas (s. Anm. 101), 404.114 Ebd., 402.115 Nunes (s. Anm. 109), 175.116 Ebd., 184.117 Henrique Leitão, Pedro Nunes. Leitor de textos antigos e modernos, in: Aires A. Nascimento(Hg.), Pedro Nunes e Damião de Góis. Dois rostos do Humanismo Português. Actas de Colóquiono V Centenário do Nascimento, Lissabon 2002, 31–58, hier 48.118 Hooykaas (s. Anm. 101), 402; Leitão (s. Anm. 103).

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Fazit

Pedro Nunes ist eine Figur, deren Bedeutung weit über die nationalen Grenzenhinausreicht. Doch auch sonst sind die Geschichte des expansionsbedingtenWissens sowie die Geschichte der Expansion selbst Themen, deren Erforschungunbefriedigend ist, solange sie auf eine nationale Ebene beschränkt bleiben. Inder Frühzeit der europäischen Expansion waren viele Entdecker, Kartographenund Gelehrte in beiden iberischen Königreichen tätig, abgesehen davon, dasszwischen ihnen, aber auch mit Wissenschaftlern anderer Länder ein intensiverAustausch stattfand. Politisch lassen sich die Expansionen der beiden iberischenMächte ebenfalls kaum trennen. So beziehen sich insbesondere die Entsendungund Rückkehr des Kolumbus, der Vertrag von Tordesillas und die Junta vonElvas-Badajoz auf den Abgrenzungsprozess zwischen den Herrschaftsberei-chen der beiden Kronen, der sich gerade deswegen so schwierig gestaltete, weiler vor dem Hintergrund einer gemeinsamen und kaum differenzierbaren Er-kundungs-, Erfahrungs- und wissenschaftlichen Verarbeitungspraxis stattfand.Um zu neuen und umfassenderen Interpretationen zu gelangen, ist es nicht

nur notwendig, die portugiesische Forschung international weit mehr zu rezi-pieren, als dies bis jetzt der Fall ist, sondern auch verstärkt mit portugiesischenQuellen zu arbeiten. Dass dies bislang nicht geschah, liegt vor allem an demErbe der Diktatur, welche die Forschung in Portugal lange Zeit außerordentlicherschwerte und ihrer Wahrnehmung im Ausland sehr abträglich war. Seit den1990er Jahren traten zudem viele klassische Themen der Expansion aufgrundder Neuausrichtung der portugiesischen Forschungslandschaft in den Hinter-grund. Wichtige Grundlagenarbeiten, wie die seriöse Erforschung der an derExpansion beteiligten Institutionen, insbesondere der Armazéns da Mina e Ín-dias, stehen noch aus. Die erneute Öffnung für politik-, wirtschafts- und sozial-geschichtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Ex-pansionswissen wäre begrüßenswert. Gerade in der internationalen Forschunggilt es, die Säulen umzustürzen, die Portugal aus dem Sichtfeld des wissenschaft-lichen Interesses drängten, und sie durch neue Pfeiler der Erkenntnis zu erset-zen.

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