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Universität Karlsruhe (TH) 23.06.2008 Fakultät für Geistes- und Sozielwissenschaften Abteilung Mediävistik / Interkulturelle Germanistik HS: Die Anfänge deutscher Literaturgeschichte: Karolingische Kultur und Literarisierung der Volkssprache im 8./9. Jahrhundert Dr. Mathias Herweg Sommersemester 2008 Althochdeutsche Bibeldichtung I. Voraussetzungen und Entwicklungen: 311 erlässt Kaiser Galerius ein Toleranzedikt, welches 313 durch Kaiser Konstantin durch das Edikt von Mailand erneuert und präzisiert wird. Die christlichen Gemeinden werden aus ihrer bisherigen Illegalität erlöst und die Zeit der Christenverfolgung ist vorüber. Die Christen erringen gesellschaftliche Anerkennung und bilden mit Vertretern aller Schichten den sog. Amtsadel. Zeit gesellschaftlicher Umschichtung: Vertreter der Unterschichten gelangen in Führungspositionen, der alte Senatoren-Adel wird zunehmend isoliert (schließt sich gegenüber den christlichen Emporkömmlingen ab.). Die Religion der kleinen Leute wird gesellschaftsfähig, bekommt sogar staatstragende Funktion und löst damit den alten römischen Kultus ab. Dieser Aufstieg des christlichen Glaubens zieht notwendig das Bedürfnis nach sich, diesen Triumph auch äußerlich zu manifestieren. Es entstehen erste christliche Monumentalbauten, die der Repräsentation des neuen Glaubens in der Öffentlichkeit diente und die offizielle Wendung zum Christentum dokumentierte. Mit gleicher Notwendigkeit vollzieht sich der Durchbruch des Christentums in dem durch die literarische Überlieferung formulierten Bildungsanspruch der bislang herrschenden Klasse. Die antike Literatur ist in fast all ihren Erscheinungsformen untrennbar verbunden mit dem heidnischen Mythos, der nicht unverändert rezipiert werden kann. Dies gilt insbesondere für die antike Poesie und das Epos, das in Vergils „Aeneis“ seine musterhafte Erfüllung gefunden hatte und als offizieller Reichsgründungsmythos und allgemeiner Bildungsbesitz nicht einfach annuliert werden durfte. Die Sicherung der Offenbarung im Wort führte zur christlichen Theologie, die Rettung des antiken Bildungserbes zu seiner allegorischen Verchristlichung. So galt es bald als Aufgabe, den Hintersinn aller Formulierungen und Verse von Werken beispielsweise Vergils auf ihren geheimen Verkündigungsinhalt hin zu erkunden. Von dieser rezeptiven Rechtfertigung der heidnischen Überlieferung bis zu ihrer produktiven Fortsetzung in Dichtungen gleichen Kunstanspruchs aber christlichen Interesses ist es nur noch ein Schritt. II. Spätantike Bibeldichtung: 1. Gaius Vetticus Aquilinius Juvencus: lebte zur Zeit Konstantin des Großen (306-337), war ein hispanischer Presbyter aus vornehmem Geschlecht. Verfasser zweier christlicher Epen: „Ordo sacramentorum“ (verloren) „Evangeliorum libri quattuor“ (erhalten) zum „Evangeliorum libri quattuor“: (wohl nach dem Toleranzedikt von 313 entstanden) Diese Paraphrase des Matthäusevangeliums ist das erste überlieferte christliche Kunstepos; Juvencus gilt als der Begründer der christlichen Kunstdichtung überhaupt. Juvencus folgt in 4 Büchern möglichst wörtlich dem Matth.-Evangelium, macht nur meist metrisch bedingte Zusätze; texttreue Umsetzung des biblischen Wortlauts in Hexameter. In seinem Epilog preist J. die Friedenszeit unter Konstantin; im Prolog stellt sich J. im Vertrauen auf die Überlegenheit der christlichen Offenbarung über den heidnischen Mythos und auf sein dichterisches Können in eine Reihe mit Homer und Vergil. 2. Sedulius: lebte im 5. Jahrhundert, stammt aus Südgallien oder Italien bekehrte sich nach dem Philosophiestudium und trat in den geistlichen Stand ein Hauptwerk: „Carmen paschale“ (Ostergedicht), dem eine Prosaauflösung folgt („Opus paschale“=Osterwerk).

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Universität Karlsruhe (TH) 23.06.2008Fakultät für Geistes- und SozielwissenschaftenAbteilung Mediävistik / Interkulturelle GermanistikHS: Die Anfänge deutscher Literaturgeschichte: Karolingische Kulturund Literarisierung der Volkssprache im 8./9. Jahrhundert Dr. Mathias HerwegSommersemester 2008

Althochdeutsche Bibeldichtung

I. Voraussetzungen und Entwicklungen:

• 311 erlässt Kaiser Galerius ein Toleranzedikt, welches 313 durch Kaiser Konstantin durch das Edikt vonMailand erneuert und präzisiert wird.

• Die christlichen Gemeinden werden aus ihrer bisherigen Illegalität erlöst und die Zeit der Christenverfolgungist vorüber. Die Christen erringen gesellschaftliche Anerkennung und bilden mit Vertretern aller Schichten densog. Amtsadel.

• Zeit gesellschaftlicher Umschichtung: Vertreter der Unterschichten gelangen in Führungspositionen, der alteSenatoren-Adel wird zunehmend isoliert (schließt sich gegenüber den christlichen Emporkömmlingen ab.).Die Religion der kleinen Leute wird gesellschaftsfähig, bekommt sogar staatstragende Funktion und löst damitden alten römischen Kultus ab. Dieser Aufstieg des christlichen Glaubens zieht notwendig das Bedürfnis nachsich, diesen Triumph auch äußerlich zu manifestieren. Es entstehen erste christliche Monumentalbauten, dieder Repräsentation des neuen Glaubens in der Öffentlichkeit diente und die offizielle Wendung zumChristentum dokumentierte.

• Mit gleicher Notwendigkeit vollzieht sich der Durchbruch des Christentums in dem durch die literarischeÜberlieferung formulierten Bildungsanspruch der bislang herrschenden Klasse. Die antike Literatur ist in fastall ihren Erscheinungsformen untrennbar verbunden mit dem heidnischen Mythos, der nicht unverändertrezipiert werden kann. Dies gilt insbesondere für die antike Poesie und das Epos, das in Vergils „Aeneis“ seinemusterhafte Erfüllung gefunden hatte und als offizieller Reichsgründungsmythos und allgemeinerBildungsbesitz nicht einfach annuliert werden durfte.

• Die Sicherung der Offenbarung im Wort führte zur christlichen Theologie, die Rettung des antikenBildungserbes zu seiner allegorischen Verchristlichung. So galt es bald als Aufgabe, den Hintersinn allerFormulierungen und Verse von Werken beispielsweise Vergils auf ihren geheimen Verkündigungsinhalt hinzu erkunden. Von dieser rezeptiven Rechtfertigung der heidnischen Überlieferung bis zu ihrer produktivenFortsetzung in Dichtungen gleichen Kunstanspruchs aber christlichen Interesses ist es nur noch ein Schritt.

II. Spätantike Bibeldichtung:

1. Gaius Vetticus Aquilinius Juvencus:– lebte zur Zeit Konstantin des Großen (306-337), war ein hispanischer Presbyter aus vornehmem Geschlecht.– Verfasser zweier christlicher Epen:

„Ordo sacramentorum“ (verloren)„Evangeliorum libri quattuor“ (erhalten)

zum „Evangeliorum libri quattuor“:(wohl nach dem Toleranzedikt von 313 entstanden)– Diese Paraphrase des Matthäusevangeliums ist das erste überlieferte christliche Kunstepos; Juvencus gilt als

der Begründer der christlichen Kunstdichtung überhaupt.– Juvencus folgt in 4 Büchern möglichst wörtlich dem Matth.-Evangelium, macht nur meist metrisch bedingte

Zusätze; texttreue Umsetzung des biblischen Wortlauts in Hexameter.– In seinem Epilog preist J. die Friedenszeit unter Konstantin; im Prolog stellt sich J. im Vertrauen auf die

Überlegenheit der christlichen Offenbarung über den heidnischen Mythos und auf sein dichterisches Könnenin eine Reihe mit Homer und Vergil.

2. Sedulius:– lebte im 5. Jahrhundert, stammt aus Südgallien oder Italien– bekehrte sich nach dem Philosophiestudium und trat in den geistlichen Stand ein – Hauptwerk: „Carmen paschale“ (Ostergedicht), dem eine Prosaauflösung folgt („Opus paschale“=Osterwerk).

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In 5 Büchern werden die Wunder Gottes im Alten Testament und der Opferweg Christi dargestellt. WieJuvencus folgt auch S. dem Matth.-Evangelium.„Carmen paschale“ zählte zur im Mittelalter approbierten Schullektüre.

3. Blossius Aemilius Dractonius:– lebte im späten 5. Jahrhundert, senatorischer Herkunft, war Advokat in Karthago– 484 verfasst er einen (nicht erhaltenen) poetischen Festgesang auf einen fremden Kaiser (vermutlich den

Byzantiner Zenon) und kommt dafür in Sippenhaft unter dem Vandalenkönig Gunthamund (484-496); wirdunter dessen Nachfolger Thrasamund freigelassen.

– vor und nach der Haft verfasst er 10 hexametrische Gedichte: „Romulea“ (teilweise verloren).– zwei später überlieferte Gedichte: „De mensibus“ und „De rosis nascentibus“– in seiner Haftzeit entstehen seine wesentlichen Werke: ein Bußgedicht an Gunthamund („Satisfactio“) und

sein Hauptwerk „De laudibus Dei“, in dem er Gottes Wohltaten an den Menschen behandelt.

4. Alcimus Ecdicius Avitus:– geb. 460, gest. 5. Febr. 518 in Vienne– spätantiker Bischof; entstammt einer angesehenen gallo-römischen Familie, fern verwandt mit dem

weströmischen Kaiser Avitus (gest. 457)– bekehrt 497 Sigismund, den Sohn des Burgundenkönigs Gundobald (gest. 524) zum Katholizismus und tauft

ihn– Werke:

„De spiritalis historiae gestis“: Nacherzählung der Urgeschichte in 5 Büchern; erstmals die Person Luzifers indas Epos eingeführt86 Briefe sind ferner noch erhalten, die eine wichtige Quelle für die Geschichte zwischen 499 und 518darstellen. In einem dieser Briefe beglückwunscht er den Frankenknig Chlodwig I. (466-511) zu seiner Taufe.

5. Arator:– lebte im 6. Jahrhundert, stammt aus Ligurien, Sohn eines früh verstorbenen Rhetors– Karriere als Advokat und Beamter am Hof der Ostgotenkönige in Ravenna– um 540 trat er als „subdiaconus“ in den stadtrömischen Klerus ein – Werk: „Historia Apostolica“ oder „De actibus apostolorum“ (Titel nicht genau überliefert), eine

Apostelgeschichte basierend auf Lukas, die sich sprachlich an Vergil, Lucan und Statius orientiert, inhaltlichfinden sich viele Elemente der spätantiken Volkspredigt.

III. Volkssprachige Bibeldichtung:

Mit den Stürmen der Völkerwanderung geht die antike Bildungskultur endgültig unter. DerÜbergang der lateinischen versmäßigen Bibelparaphrase in die Volkssprachen fällt zusammen mitder Entstehung einer volkssprachigen Dichtung literarischen Zuschnitts und christlichen Interesses.

Beda Venerabilis:– geb. 673, gest. 26. Mai 735; angelsächsischer Benediktinermönch und Bischof im Kloster Whitby in

Nordhumbrien; daneben Theologe und Geschichtsschreiber– verfasste Lehrbücher für den Schulgebrauch, theologische Arbeiten, Hagiographien, auch Gedichte

(„Totenlied“) und Geschichtswerke.– Werk: „Historia ecclesiastica gentis Anglorum“ („Kirchengeschichte des englischen Volkes“):

- schildert die Geschichte des vorchristlichen Britannien und beschäftigt sich ausführlich mit der Bekehrungder Angelsachsen zum Christentum- gilt als eine der bedeutendsten Quellen zur angelsächsischen Geschichte; bis heute mehr als 160Handschriften bekannt.

Darin enthalten ist die Caedmonlegende, aus dem ersten Drittel des 8. Jahrhunderts:

– der sangeskundige Hirte Caedmon hat eine nächtliche Erscheinung und singt einen Hymnus, der uns außer inBedas lateinischer Übersetzung in westfränkisch und nordhumbrischen Fassungen überliefert ist.

– Caedmons Gesänge sind im Kloster und für die Klosterbrüder entstanden und wurden dort gelegentlichaufgezeichnet. Sie haben allerdings keinen liturgischen oder lehrmäßigen Zwecken gedient. Es istMönchsdichtung, deren Tradition die literarische Entwicklung der deutschen Sprache bis ins 12. Jahrhundertbestimmt.

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Die volkssprachige bzw. althochdeutsche Bibeldichtung gliedert sich in zwei Gruppen: dieEvangelienharmonien und die Episodendichtung.Kernmotiv karolingischer Missionstheologie ist die unabdingbare, immerwährende Pflicht zurHeidenpredigt und zur Mission der Völker und zur katechischen Unterweisung der Bekehrten durchspirituelle Exegese.

III. 1. Evangelienharmonien:

1) „Heliand“:

– altsächsische Paraphrase des Neuen Testaments, aus der Mitte des 9. Jahrhunderts– Datierungsproblem: umstritten, ob Ludwig der Fromme (814-840) oder Ludwig der Deutsche

(833-876) die Initiative gab– entstand im Zuge der Missionierung der Sachsen– vier Textzeugen, aber keine den Heliand vollständig überliefernde Handschrift:

C = Codex Cottorianus CaligulaM = Codex germanicus monacensisP = Prager Fragment (23 Zeilen)V = Vatikanische Handschrift (Cod. pal. lat. 1447)

– auf der Grundlage der lateinischen Übersetzung der Evangelienharmonie des Tatian entstanden(daher auch „Ahd. Tatian“ genannt).

– Inhaltlich umfasst der Heliand die Geburtsgeschichten Johannes´ des Täufers und Jesu über dieJugend, Lehrtätigkeit und Leidensgeschichte Christi bis zur Auferstehung des Heilands (wo auchTatians Werk endete). Zur Abrundung des epischen Bogens hat jedoch der Autor nochmindestens die Himmelfahrt Christi und die Rückkehr des Herrn zum Sitz der Gottheitgeschildert.

– Vorangestellt ist eine lateinische „Vorrede auf ein altes, in sächsischer Sprache geschriebenesBuch“ („Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica Conscriptum“, ca. 847-852), der einenProsateil und einen poetischen Teil („Versus de Poeta“) enthält. Der Verfasser istmöglicherweise Hrabanus Maurus.Die Praefatio ist 1562 im „Catalogus testium veritatis“ („Verzeichnis der Zeugen der Wahrheit“)des Apolegeten M. Flacius Illyricus überliefert, im Original aber verloren.

– Demnach entstand das Werk aus einer Berufungsgeschichte nach dem Muster derCaedmonlegende: Ein Engel ermahnt den Dichter im Traum, die erhabenen Lehren der göttlichenSchriften in die eigene Sprache zu übertragen und der Liedkunst der heimischen Sprache inangemessenem metrischem und musikalischem bau anzupassen.

– Die genuin frühmittelalterliche Prosa bettet die Übersetzung in konkrete und plausiblehistorische Zusammenhänge ein. Die Intention des Autors ist die Adaption des evangelischenStoffes auf die Stil- und Denkformen der ererbten Standesdichtung; dabei setzt er manchebiblische Strukturen und Begriffe in die Terminologie und Muster des heimischen Epos um.Erkennbar wird dies an:- dem Dekor der heroischen Lieder- variationsfreudige Breite des Erzählens- Übernahme von Wertevorstellungen des adligen Publikums (bspw. des Standesethos, derGefolgsschaftstreue, Herrschaftsdenken, Repräsentation, Ostentation mit sich bringt).

– Heroische Kulisse in der „Gethsemane“-Szene: die Jünger Jesu erscheinen als Gefolgsleute;Petrus erfüllt durch seinen kämpferischen Einsatz die Pflicht eines Gefolgsmannes. Dies soll dieSelbstopferbereitschaft Christi (= Heldentod) beim heimischen Publikum verständlich machen.Die Kampfkulisse ist jedoch nur aufgebaut worden, um die Botschaft Christi von derGewaltlosigkeit hervortreten zu lassen.

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2) Altsächsische Genesis:

– altsächsische Paraphrase des Alten Testaments, überliefert in 3 vatikanischen Fragmenten, wohlaus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts.

– Neben dem „Heliand“ einzige Großdichtung des 9. Jahrhunderts in altsächsischer Sprache.– Die altenglische Genesis stellt in Teilen eine getreue Übersetzung der altsächsischen Genesis dar.– inhaltlich 3 Szenen: Empörung und Sturz Satans, Erhebung der Menschen zum zehnten

Engelchor an Stelle der abtrünnigen Engel, Rache Satans durch Verführung desMenschengeschlechts und Triumph der Hölle.

– Auffallend im Genesis ist, dass insbesondere die Teufelsszenen zu imponierenderEigenständigkeit wachsen. Es geht dem unbekannten Autor hierbei um eine Akzentuierung derstets aktuellen menschlichen Gefährdung und Versuchung durch die Mächte des Bösen.

– Sündenfall (Reclam-Ausgabe S. 126): das heimische Epos erklärt (über die rein faktischeDarstellung des biblischen Stoffes hinaus) warum und wie die Verführung von Adam und Evastattgefunden hat. 3 erzählerisch isolierte Schlüsselszenen:Adam widersteht zunächst den Einreden des als Engel auftretenden Teufels. So überzeugt derTeufel Eva, sie müsse Adam zum Essen der bösen Frucht überreden, damit er vor den Folgen desangeblichen Ungehorsams geschützt sei. Eine Vision bestärkt sie darin.Besonderheit: Aus guten Motiven wird Böses geboren. Neid, Gotteshass und Racheabsicht desSatans bewegen die Geschichte, nicht der Erkenntniswille des Menschen.

– Das Thema des Ungehorsams und der Superbia (die Luzifer zu Fall gebracht hat) ist dasLeitthema der erhaltenen Stücke der Genesis-Dichtung. Diese Akzentuierung des Abfallens vonGott soll als Negativbeispiel für den Rezipienten dienen.Im zeitgenössischen Lehns- und Vasallitätswesen waren Treue, Gehorsam und Unterordnungunabdingbar. Diese Schicht der Gefolgschaftsterminologie ist eine Akkomodation an dasheimische Publikum (wie auch schon beim Heliand). Im übertragenen Sinne soll der Rezipientan sein „Treueversprechen“ gegenüber Gott gemahnt werden.

3) Das Evangelienbuch von Otfrid von Weißenburg:

Zum Autor:

Otfrid wurde wohl um 800 geboren. Er war Priestermönch und erhielt wohl in den 830er Jahren eine mehrjährigeAusbildung im Kloster Fulda. Sein Lehrer war Hrabanus Maurus. In Weißenburg wirkte Otfrid als Klosterlehrer,Bibliothekar und Verfasser von lateinischen Bibelkommentaren. Er hatte großen Einfluss auf die Produktion desSkriptoriums und den Ausbau der Bibliothek. In zahlreichen Handschriften sind Nachträge, Korrekturen, ahd.Glossen und zudem Manuskripte von ihm erhalten.Otfrid ist ein ambitionierter Erzähler – er verbindet hoch gelehrte Exegese kunstvoll mit anschaulicher Erzählungund gestaltet so ein wirkungsvolles Lehrgedicht, das dem Lob Gottes dienen und Christi Leben und Wirken imHinblick auf das Heilsgeschehen darstellen und auslegen soll. Er versucht im Sinne der mittelalterlichen Lehrevom mehrfachen Schriftsinn, die biblischen Szenen so wiederzugeben, dass die in ihnen verborgene, geistig-mystische Bedeutung aufscheint.Erzählung und geistliche Deutung bilden so eine untrennbare Einheit: der Kommentar wird episch fundiert,während die Nacherzählung der Bibel durch den Kommentar spiritualisiert wird. Otfrid erscheint als ein Erzähler,der die biblische Vorlage im Sinne seiner didaktischen und poetischen Intentionen frei nachgestaltet.

Zum Evangelienbuch:

– Entstehungszeit zwischen 863 und 871; Überlieferung in 4 Handschriften:- V = Wiener Codex (von O. eigenhändig redigierte Handschrift)- P = Heidelberger CodexIn beiden ist der vollständige Text auf jeweils 194 Pergamentblättern überliefert; im 9.Jahrhundert angefertigt.- F = Münchner Codex: aus dem 10. Jahrhundert, überliefert auf 125 Blättern, die Widmungen

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fehlen hier.- D = Codex Discissus: aus dem späten 10. Jahrhundert, nur 30 Blätter umfassende Fragmente, inFulda geschrieben und in Wolfenbüttel, Bon und Krakau aufbewahrt.(Codex D und P gehen auf V zurück.)

– Gliederung in 5 Bücher: 1. Buch: Geburt Christi bis Taufe im Jordan; 2. Buch: Versuchung in de Wüste über Hochzeit zuKana bis zu den Seligpreisungen und Lehren der Bergpredigt; 3. Buch: Jesu Lehren und Wirkenin Galiläa und Auferweckung des Lazarus; 4. Buch: Passion mit Gefangennahme, Verurteilungund Kreuzigung; 5. Buch: Auferstehung, Wiedererscheinen, Himmelfahrt Christi und JüngstesGericht.

– Das ganze wird umrahmt von 4 literaturhistorisch und poetologisch bedeutsamen Widmungen anLudwig, Liutbert, Salomo und die St. Gallener Mönche Hartmut und Werinbert.

– Dieser Gliederung liegt ein zahlenmystischer Gedanke zugrunde: 5 unreine Sinne, die denMenschen zur Sünde anstiften werden durch die Vierzahl der Evangelisten begradigt und für dieHeilsbotschaft zugängig gemacht. Dies ermöglicht eine Harmonisierung und Reinigunggewissermaßen von innen heraus.

– Auffallend an Otfrids Erzählweise ist, wie er mit Blick auf sein Publikum wichtige Szenenimmer wieder lyrisch ausmalt, Figuren über die biblische Vorlage hinaus mit Emotionen undHandlungsmotiven versieht und Bilder und Vergleiche aus der Lebenswelt seiner Zeit wählt(Kriegswesen etc.). Er folgt dabei den Ausdrucksmöglichkeiten christlicher Frömmigkeit:- meditierende Wiederholung und Paraphrase des biblischen Wortlauts- Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn- Preis des göttlichen Schöpfungs- und Erlösungswerks- persönliche Gebetsformeln und Selbstaussagen.

– Er integriert verschiedene Textsorten (Erzählung, Exegese, Katechese, Predigt, Gebet), um diebelehrend-erbauliche Wirkung des Werkes zu verstärken.

III. 2. Episodendichtung:

1) „Christus und die Samariterin“ (Reclam-Ausgabe, S.136):

– wurde im 10. Jahrhundert auf eine zum größeren Teil leer gebliebene Seite der Lorscher Annalen(Codex 545, Wien) eingetragen; der ausgelassene Vers 5 steht auf dem unteren Rand von Blatt 4.Die Verse sind nicht abgesetzt und nur ganz unregelmäßig durch Reimpunkte geschieden. DerSchluss fehlt.

– Der Dialekt ist alemannisch mit fränkischem Einschlag; daher wird eine Aufzeichnung inReichenau vermutet.

– Der erhaltene Text besteht aus 31 Reimpaaren. Auf einen Erzähleingang folgt das Gesprächzwischen Christus und der Samariterin, mit zwei Ausnahmen in direkter Rede ohne Verbadicendi. Die Dialogform erinnert an das Heldenlied und das einleitende „lesen uuir“ anQuellenberufungen.

– „Christus und die Samariterin“ kennt keine theologische Exegese, sondern ist ganz Erzählungund Dialog, ist ganz Szene.

– Das Reimlied verwendet formelhafte Publikumsadressen, umgangssprachliche Wendungen(„wizze Christ“ = „weiß Gott“). Erkennbar ist eine Nähe zur mündlichen Dichtung, woher auchdie karge balladenartige Erzählweise stammt.

– Der anonyme Verfasser beschränkt sich hier auf die möglichst wörtliche Umschreibung desBibeltextes, jedoch ist die Wiedergabe der Geschichte hier gedrängter als im Wortlaut beiJohannes 4, 6-20.

Vergleich zu Otfrids Wiedergabe dieser Szene:– bei ihm wird der Dialog zu einer Selbstoffenbarung des Logos (Gottes Wort) als Quell des

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Lebens (Brunnen)– die Heidin aus Samaria wird von Christus bekehrt; ganz in der Konsequenz des universal-

missionarischen Gedankens– Otfrid arbeitet mit allen Mitteln der erweiternden Wiedergabe: Intervention des Autors,

Schriftberufung, Variation, motivierende und theologische Interpretation. Er beschränkt sichnicht auf die wörtliche Umschreibung des Bibeltextes.

– Dieser Vergleich zeigt die unterschiedlichen Möglichkeiten und Intentionen poetischerBibelparaphrase.

2) Psam 138 (Reclam-Ausgabe, S. 90):

– bairische Paraphrase, Anfang des 10. Jahrhunderts; auf dem ursprünglich leeren, zum Schutz desBuchblocks angenähten Blatt 69 eines Formel- und Briefbuches von Notker Balbulus überliefert.

– Abschrift sorgfältig und geplant. Im Gegensatz zu „Christus und die Samariterin“ sind dieStrophen des Liede abgesetzt, die Anfangsbuchstaben vorgerückt und als Majuskelnausgezeichnet, der Liedanfang ist sogar mit roter Initiale gekennzeichnet.

– Das ahd. Reimlied setzt eigene Akzente, folgt dem Gedankengang der biblischen Vorlage nichtwörtlich, sonder paraphrasiert eher frei, nimmt eigene Motive in den meditativen Text auf. Sowird der Psalm in ein kriegerisches Licht getaucht, Gott erscheint als kriegerisch, bezwingendund auch König David ist vor allem Krieger.

– Der Text hatte Gebetsfunktion: für den Fall, dass ein Beter nach überstandener Versuchung Gottdanken möchte.

– Der Text gliedert sich in 3 Abschnitte, die sich an 3 Gedanken, Einsichten und BekenntnissenDavids orientieren. Im 1. formuliert König David die hyperbolische Erkenntnis der eigenen Ausweglosigkeit vor derAllwissenheit, Allgegenwart und Allmacht Gottes.Dieser Passage entspricht spiegelbildlich der 3. Abschnitt, der das gleiche Thema erneut (aberwohl aus der Perspektive der Zukunft nach dem Tode) paraphrasiert.Der zentrale 2. Teil des Liedes offenbart völlig selbständig gestaltet, dass in der Bekehrung dasGeheimnis der Gedanken Davids liegt.

– Im zugrundeliegenden biblischen Motiv bittet David um die Tötung der Gottlosen und Erlösungvon den „viri sanguinum“ („blutgierigen Männern“); im ahd. Psalm kehrt sich der König selbstvon den Gottesfeinden ab. David schließt in seiner Bekehrung einen neuen Pakt mit Gott, der invollendetem Gehorsam seine Herrschaft unter das Gesetz Gottes stellt.

– Thema: gerechte Herrschaft (von Gott) und der ungerechten, von der sich ein vorbildlicher Königabzuwenden hat.

Literatur:– Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis

Otfrid von Weißenburg. München 1975.– Dieter Kartschoke: Altdeutsche Bibeldichtung. Stuttgart 1975.– Heiko Hartmann: Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Aus dem Althochdeutschen übertragen und mit

einer Einführung, Anmerkungen und einer Auswahlbibliographie versehen. Herne 2005. Bd. 1:Widmungsbriefe, Liber primus.

– Wolfgang Haubrichs: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg.von Joachim Heinzle, Bd. I, 1: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter(ca. 700-1050/60). Frankfurt am Main u.a. 1988.

– David R. McLintock: „Christus und die Samariterin“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh, Bd. 1. Berlin 1978. Sp. 1238-1241.

Einige Texte online zum Nachlesen: „Anthology of Medieval German Literature“http://www.nd.edu/~gantho/anth1-163/frames.html

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„Heliand“ - Gethsemane-Szene:(aus Haubrichs, S. 344-345)

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Juvencus „Evangeliorum libri quattuor“ - Prolog:(aus Haubrichs, S. 56-57)