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Ambulante psychotherapeutische Behandlung von Kindern und
Jugendlichen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen in der
Versorgung von psychisch kranken und psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen
Welche Möglichkeiten bietet die Psychotherapie-Richtlinie ?
Dipl.Psych. Benedikta Enste, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Überblick
• Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – nach den AWMF-Leitlinien ist bei den meisten Störungsbildern psychotherapeutische Behandlung das Mittel der Wahl
• Psychotherapie-Richtlinie – welche differenzierten Möglichkeiten einer „gestuften“ und von Psychotherapeuten/innen „gesteuerten“ Versorgung gibt es ?
• Transition: Gestaltung des Übergangs vom Jugendlichen- ins Erwachsenenalter – Kontinuität in der Versorgung durch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen
• Perspektiven in der Versorgung – Neue Versorgungsmodelle – was ist sinnvoll?
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Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
• Circa 20 % der Kinder und Jugendlichen zeigen psychische Auffälligkeiten ; 10 % gelten als psychisch krank ( Petermann, 2005; Ihle & Esser 2002; Lehmkuhl, Köster & Schubert 2009,KiGGS, Welle 1,2014)
• Bei einer angenommenen Prävalenzrate von jährlich 17,3 % leiden bei circa 13 Millionen in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren rund 2,2 Millionen unter einer psychischen Störung oder Erkrankung. (Metaanalysen (Barkmann &Schulte-Markwort, 2014)
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Häufigkeit von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen • Am häufigsten sind : Angststörungen (ca. 10 %), Störungen des
Sozialverhaltens (rund 7%), depressive Störungen (ca. 4%), hyperkinetische Störungen (ca. 4%) (Ihle & Esser, 2002) sowie Anpassungsstörungen, psychosomatische Erkrankungen u.a..
• Etwa die Hälfte der Störungen bleibt über mehrere Jahre bestehen. • Besonders bei emotionalen Störungen ab dem Jugendalter gibt es ein
deutlich erhöhtes Chronifizierungsrisiko (Ihle, Schmidt & Blanz, 2000). Bei vielen psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter (Ihle & Esser, 2002) finden sich bereits Vorläufer in psychischen Störungen in Kindheit und Jugend.
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Psychotherapeutische Behandlung als Mittel der Wahl • Bei der Behandlung der meisten psychischen Erkrankungen ist eine
psychotherapeutische Behandlung indiziert. • Nach der S3-Leitlinie (AWMF 2013, DGKJP) wird Psychotherapie zum
Beispiel bei depressiven Störungen als „Behandlung der ersten Wahl“ empfohlen. Pharmakotherapie führt möglicherweise zu einer „Verstärkung von Suizidgedanken und weiteren unerwünschten Nebenwirkungen“.
• Richtlinienpsychotherapie – in den Verfahren : Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie
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Wirksamkeit von psychotherapeutischen Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen
• Die Wirksamkeit von Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
wurde bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen. • Metaanalysen: über alle Therapieverfahren, Stichproben und
Erfolgskriterien gemittelt, ergeben sich dabei mittlere Effekte von d=0.54 (Beelmann & Schneider 2003) .
• „Umgerechnet bedeutet dieser Effekt, dass für eine Person eine um den Faktor 2.7 höhere Heilungsaussicht resultiert.“ (Beelmann & Schneider, 2003).
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Wirksamkeitsstudien: Tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen • Von der VAKJP geförderte Forschungsstudien (u.a.) • Hamburger Studie zur Wirksamkeit analytischer Therapie bei
Patienten mit depressiven Störungen Weitkamp, K., Daniels, J. K., Hofmann, H., Timmermann, H., Romer, G., & Wiegand-Grefe, S. (2014).
• Frankfurter ADHS-Wirksamkeitsstudie Laezer, KL. , Tischer, I., Gaertner, B., Leuzinger-Bohleber, M. (2014)
• Leipziger Studie zur psychoanalytischen Kurzzeittherapie bei Angststörungen Göttken, T., von Klitzing, K. (2015). Psychoanalytische Kurzzeittherapie mit Kindern (PaKT). Ein Behandlungsmanual, Stuttgart: Klett-Cotta
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Psychotherapieforschung
• Weitere Studien erforderlich – gerade auch im Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
• Langzeitpsychotherapien • Nachhaltigkeit von psychotherapeutischen Behandlungen
untersuchen • „Vielfalt an evidenzbasierter Psychotherapie“ erhalten (Prof. Dr. Leichsenring, Deutsches Ärzteblatt, 10/2018)
• Finanzierung?
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Tätigkeitsfelder von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen • niedergelassen in eigener Praxis (GKV / Privat) • Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie
(stationär/teilstationär/ambulant) • Kliniken/Kinderkrankenhäuser – Abteilungen für Psychosomatik und
Psychotherapie • Beratungsstellen (Erziehungsberatung, Kindernotdienst,
Krisendienste, Suchtberatungsstellen u.v.a.) • Stationäre und teilstationäre Einrichtungen der Jugendhilfe (SGB VIII)
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Psychologische Psychotherapeuten/innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen Niedergelassen in Deutschland: • 19.752 Psychologische Psychotherapeuten/innen • 5.545 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen (KBV)
• Regional sehr unterschiedlich verteilt: • Auf 100.000 Einwohner kommen 55 PP/KJP in Großstädten • Nur 12-20 PP/KJP je 100.000 Einwohner in ländlichen Gebieten und
im Ruhrgebiet • 20 %-Quote für KJP • (KBV, BPtK, 2018)
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Ambulante Versorgung in der GKV durch KJP
• Fast drei Viertel der psychisch kranken Kinder und Jugendlichen, die 2010 eine Richtlinien-Psychotherapie begonnen haben, wurden von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen behandelt. In geringerem Ausmaß waren Psychologische Psychotherapeuten/innen (14,5%) beteiligt. (Lehndorfer, 2016)
• Circa 45 Fälle sieht / behandelt ein KJP pro Quartal • Hochrechnung: etwa 250.000 Kinder und Jugendliche werden pro
Quartal von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen in der Praxis versorgt – d.h. sie erhalten Leistungen in der Sprechstunde, Diagnostik und/oder Richtlinienpsychotherapie
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Versorgung ausreichend?
• „Experten gehen davon aus, dass die Hälfte derjenigen, die wegen psychischer Beschwerden Hilfe im Gesundheitssystem sucht, eine spezifische Behandlung benötigt, während die andere Hälfte mit einer qualifizierten Diagnostik und Beratung ausreichend versorgt ist.“ (Barkmann & Schulte-Markwort, 2010)
• Wartezeit auf einen ersten Sprechstundentermin: knapp 5 Wochen • Wartezeiten auf eine Richtlinienbehandlung von Kindern und
Jugendlichen: im Durchschnitt: 17,8 Wochen nach der ersten Anfrage. (BPtK, 2018)
• Regionale Unterschiede aufgrund der unzureichenden Bedarfsplanung (BPtK, 2018)
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Psychotherapie-Richtlinie (geändert April 2017)
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen „steuern“ die Versorgung
• Verbesserte persönliche telefonische Erreichbarkeit ( mindestens
3-4 Stunden pro Woche) • Mindestens zwei psychotherapeutische Sprechstunden
wöchentlich (4 x je 25 Minuten) zur zeitnahen „orientierenden Abklärung“
• Befugniserweiterung – Verschreibung von Soziotherapie, Rehabilitationsmaßnahmen; Einweisung in Kliniken
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Psychotherapeutische Sprechstunde Erstuntersuchung und Anamnese zur orientierenden Abklärung Indikationsstellung Verweis bzw. Überweisung zu einem bedarfsgerechten Versorgungsangebot (koordinative Leistungen) - Psychosoziale Hilfsangebote (Erziehungsberatungsstellen, Jugendhilfe, Selbsthilfegruppen, Schulpsychologischer Dienst) - Andere Behandlungsmaßnahmen: Kinder- und Jugendpsychiatrie; Ergotherapie; Krankenhausbehandlung etc. BPtK 2018: Patienten/innen in der Psychotherapeutischen Sprechstunde: 9,3 % keine krankheitswertige Störung, ca. 20% Empfehlung für andere psychosoziale Hilfsangebote (keine Unterscheidung zwischen Erwachsenen/Kindern, Jugendlichen)
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KJP als Experten für „gestufte“ Versorgung
• Probatorische Sitzungen – vertiefte Diagnostik, Präzisierung der Indikation • Psychotherapeutische Akutbehandlung für Kinder und Jugendliche in
einer akuten Krise- oder Ausnahmesituation (24 Gesprächseinheiten je 25 Min.)
• Richtlinienpsychotherapie Kurzzeittherapie (24 Sitzungen je 50 Min.), Langzeittherapie (VT: 60/80; TP/AT: 70/150 (Ki), 90/180 (Ju), begleitende Bezugspersonenbehandlung; Gruppentherapie (VT: 80; TP/AT: 90)
• Rezidivprophylaxe • Psychotherapeutisches Gespräch
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Evaluierung der Psychotherapie-Richtlinie (BPtK , 2018) – Erste Ergebnisse
• Fazit: „Mit der Einführung der psychotherapeutischen Sprechstunde sind Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen nun eine noch leichter und schneller als bisher erreichbare direkte und zentrale Anlaufstelle für Patienten“. (BPtK, 2018)
• Aber: Es wurden keine neuen Kapazitäten für die Durchführung von Richtlinientherapie geschaffen.
• Forderung: Anpassung der Bedarfsplanung; weitere Praxen vor allem für KJP in ländlichen Gebieten und im Ruhrgebiet erforderlich
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„Gestufte und gesteuerte Versorgung“? Neue geplante Regelungen im Terminservice- und Versorgungsgesetz
• Kabinettsentwurf zum TSVG: Vorschlag Nr. 51 b § 92 SGB V Abs. 6a • „Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt in den Richtlinien Regelungen für
eine gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung einschließlich der Anforderungen an die Qualifikation der für die Behandlungssteuerung verantwortlichen Vertragsärzte und psychologischen Psychotherapeuten.“
• Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen kommen nicht vor • Zusätzliche bürokratische Hindernisse beim Zugang zu
psychotherapeutischen Leistungen für psychisch kranke Kinder und Jugendliche werden geschaffen
• Eingriff in die leiliniengerechte psychotherapeutische Behandlung durch unnötiges Stufen-Modell
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• Durch die Einführung von psychotherapeutischer Sprechstunde, Akutbehandlung und Befugniserweiterung gerade erreichte Verbesserungen in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung werden konterkariert.
• Stufenmodelle und Konzepte für eine differenzierte Versorgung wurden bereits von der Profession entwickelt (BPtK-Modell) und in der Psychotherapierichtlinie umgesetzt.
• Kooperation von Kinder- und Jugendärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Jugendhilfeträgern findet bereits statt.
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Forderungen
• KEINE neuen bürokratischen Hindernisse schaffen durch unnötige Regulierungen
• KEINE Einschränkung der freien Arzt- und Psychotherapeutenwahl! • KEINE Diskriminierung von Patienten mit psychischen Erkrankungen! Stattdessen: • Weitere Ergebnisse der zurzeit laufenden Evaluation der
Psychotherapierichtlinie durch die BPtK abwarten (Ende 2019) • G-BA – geplante Evaluation nach 5 Jahren (Ergebnisse 2022)
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Transition– Übergang vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen
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• Psychotherapeutengesetz § 1 Berufsausübung • (2) Die Berechtigung zur Ausübung des Berufs des Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten erstreckt sich auf Patienten, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Ausnahmen von Satz 1 sind zulässig, wenn zur Sicherung des Therapieerfolgs eine gemeinsame psychotherapeutische Behandlung von Kindern oder Jugendlichen mit Erwachsenen erforderlich ist oder bei Jugendlichen eine vorher mit Mitteln der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie begonnene psychotherapeutische Behandlung erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres abgeschlossen werden kann.
Fallbeispiel
• 17 Jährige Patientin : Depressive Episode, selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität
• Kinderarzt, stationäre Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Suizidversuch, Institutsambulanz
• Ambulante Psychotherapie bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin • 18. Geburtstag – Wechsel • Hausarzt /MVZ; bei erneuter suizidaler Krise: stationäre Behandlung in der
Akutstation der Erwachsenen-Psychiatrie • Fortführung der ambulanten Psychotherapie bei Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin
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• Kontinuität der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen - gewährleistet bis zum 21. Lebensjahr (und darüber hinaus bis zum Abschluss der Behandlung)
• Kooperation mit Ärzten, Koordination der Helfer in Familie, Einbeziehung der Eltern und weiterer Bezugspersonen möglich
• Erforderlich: Transitionsmodelle auch im pädiatrischen/hausärztlichen, kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Bereich
• z.B. Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, psychiatrische Station für Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischen Erkrankungen (17 bis 20 Jahre), Suchtstationen für Jugendliche und junge Erwachsene
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Perspektiven
Prävention • Psychotherapeutische Angebote für Kinder schwer erkrankter
Eltern (Bsp.: AOK Bayern, TK-Modell Baden-Württemberg) • Psychotherapeutische Angebote für Kinder suchtkranker Eltern • Psychotherapeutische Sprechstunden • In Klinken, auf Palliativ- Stationen, in Hospizen • in Familienzentren, sozialen Brennpunkten, Unterkünften für
Geflüchtete Psychotherapeutische Beteiligung in Ambulanten Palliativ-Teams (Home-Treatment)
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Neue Versorgungsmodelle sinnvoll?
• Neue Versorgungsmodelle in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung (Studie , veröffentlicht im PTJ 2/2018, S. 114-121)
• 240 verschiedene Modelle- bisher unzureichend evaluiert, mangelnde Transparenz, meistens Selektivverträge
• Tatsächliche Verbesserungen für die Patienten? Oder Hindernisse z.B. Bevormundung bei der freien Arztwahl?
• Weitere Forschung erforderlich • Versorgung von Patienten mit schweren komplexen psychischen
Erkrankungen – neue Versorgungsmodelle erproben 27
Zusammenfassung • Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen stellen weitestgehend
die ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen sicher
• Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen sind eine erste gut erreichbare Anlaufstelle für Patienten in der psychotherapeutischen Sprechstunde
• KJP koordinieren und steuern die notwendige, an den individuellen Erfordernissen des Patienten ausgerichtete und entsprechend gestufte Versorgung in Kooperation mit anderen Ärzten und Helfern und unter Einbezug der Eltern und sonstiger Bezugspersonen
• KJP behandeln Patienten in psychotherapeutischer Akutbehandlung, Kurz- und Langzeitpsychotherapien, in Einzel- und Gruppensetting
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Forderungen
• Wartezeiten verkürzen durch Anpassung der Bedarfsplanung - mehr Praxissitze im ländlichen Raum und im Ruhrgebiet
• Ergebnisse der Evaluation zur 2017 geänderten Psychotherapierichtlinie abwarten (BPtK Evaluation: Ende 2019; G-BA - 5 Jahreszeitraum , 2022)
• Keine neuen Hindernisse für Patienten schaffen durch Einführung von unnötigen verpflichtenden Steuerungs- und Stufungselementen (TSVG)
• Verbesserte Evaluation bestehender Versorgungsmodelle • Förderung der Psychotherapieforschung - gerade im Bereich Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie • Sinnvolle Verbesserungen der Versorgung z.B. durch Prävention bei
identifizierten Risikogruppen (z.B. Kinder schwer erkrankter Eltern)
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