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psychiatrie Ambulante Rehabilitation bei Zwangsstörungen Das Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau bietet seit September 2010 neben der schwerpunktmäßigen Behandlung von affektiven Störungen, Angststörungen, somatoformen Störungen und Psychosen ein evidenzbasiertes, störungsspezifisches Programm für Menschen mit Zwangsstörungen an. A. Pangerl 1 , G. Reschauer 1 , B. Zimprich 1 Im September 2010 wurde mit dem Zen- trum für seelische Gesundheit LEO- poldau die erste ambulante Klinik zur medizinisch-psychiatrischen Rehabilita- tion eröffnet. Die Institution soll Men- schen mit psychischer Beeinträchtigung, die entweder noch beruflich tätig, ar- beitslos, oder im Langzeitkrankenstand sind sowie erkrankten Personen, die be- reits um Berufsunfähigkeits- bzw. Invali- ditätspension angesucht haben, dabei helfen, wieder in den Arbeitsprozess ein- steigen zu können. Zusammenfassung: In Österreich gibt es momentan noch immer eine Unterversor- gung für eine adäquate Behandlung von Menschen mit Zwangsstörungen. Das Zentrum für seelische Gesundheit LEO- poldau bietet seit September 2010 neben der schwerpunktmäßigen Behandlung von affektiven Störungen, Angststörun- gen, somatoformen Störungen und Psy- chosen ein evidenzbasiertes, störungsspe- zifisches Programm für Menschen mit Zwangsstörungen an. Im folgenden Artikel wird die spezifi- sche Behandlung von Zwangsstörungen skizziert und anhand einer Fallvignette verdeutlicht. Summary: In Austria there is still a lack of adequate treatment programs for patients with obsessive-compulsive disorder. Since September 2010 the centre for mental health LEOpoldau offers an evidence- based, disorder-specific treatment for ob- sessive-compulsive disorder program be- sides other programs for patients with affective disorder, anxiety disorder, soma- toform disorder and psychosis. Within the following article the treat- ment and rehabilitation of obsessive-com- pulsive disorder is drafted and illustrated by a case example In Österreich kam es in den letzten Jahren zu einem rasanten Anstieg der Kranken- standstage wegen psychischer Erkrankun- gen. Zusätzlich wurde auch von Seiten der Sozialversicherungsträger ein drastischer Anstieg von Früh- und Invaliditätspensio- nen, aufgrund psychischer Beeinträchti- gung verzeichnet. Das vorhandene Reha- Angebot für Menschen mit psychischer Erkrankung beschränkte sich bis dato auf die Möglichkeit, eine stationäre medizini- sche Rehabilitation in Anspruch zu neh- men. Dies bedeutet jedoch für die betrof- fenen Patienten oft ein „Herausreißen“ aus dem gewohnten Umfeld und Alltag, sowie einen gewissen Verlust des gewohn- ten Tagesrhythmus. Um diesem negativen Entwicklungs- trend entgegen zu wirken und alternative Behandlungsmöglichkeiten zur stationä- ren Rehabilitation zu bieten, wurde im September 2010 das Zentrum für seelische Gesundheit, als erste ambulante Klinik zur medizinisch-psychiatrischen Rehabilita- tion eröffnet. Die Institution soll Men- schen mit psychischer Beeinträchtigung, die entweder noch beruflich tätig, arbeits- los, oder im Langzeitkrankenstand sind sowie erkrankten Personen, die bereits um Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspen- sion angesucht haben, dabei helfen, wie- der in den Arbeitsprozess einsteigen zu können. Als Vorteile der ambulanten medizini- schen Rehabilitation für Personen mit psychischer Beeinträchtigung gelten die Wohnortnähe und die dadurch ermög- lichte Aufrechthaltung von Versorgungs- verpflichtungen und sozialen Kontakten und die Möglichkeit des Trainings im All- tag. Insbesondere kann auch dem Naht- stellenmanagement vor Ort vermehrte Aufmerksamkeit entgegengebracht und die Vernetzung mit weiterführenden Maß- Das Team der Reha-Klinik Leopoldau besteht aus ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, Psycho- logInnen, Ergo- u. PhysiotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegepersonal, SportwissenschaftlerInnen und DiätassistentInnen. Foto: Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau, BBRZ Med 1 Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau, BBRZ Med Eine rasche Symptomreduktion führt zur deutlichen Verbes- serung der Lebensqualität der Betroffenen, vermittelt erste Erfolge im Sinne von Selbstmanagement und kann oftmals erst weitere erapien (Ursachentherapie) ermöglichen. 2/2012 psychopraxis 16 © Springer-Verlag

Ambulante Rehabilitation bei Zwangsstörungen

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Ambulante Rehabilitation bei Zwangsstörungen Das Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau bietet seit September 2010 neben der schwerpunktmäßigen Behandlung von affektiven Störungen, Angststörungen, somatoformen Störungen und Psychosen ein evidenzbasiertes, störungsspezifisches Programm für Menschen mit Zwangsstörungen an.

A. Pangerl1, G. Reschauer1, B. Zimprich1

Im September 2010 wurde mit dem Zen-trum für seelische Gesundheit LEO-poldau die erste ambulante Klinik zur medizinisch-psychiatrischen Rehabilita-tion eröffnet. Die Institution soll Men-schen mit psychischer Beeinträchtigung, die entweder noch beruflich tätig, ar-beitslos, oder im Langzeitkrankenstand sind sowie erkrankten Personen, die be-reits um Berufsunfähigkeits- bzw. Invali-ditätspension angesucht haben, dabei helfen, wieder in den Arbeitsprozess ein-steigen zu können.

Zusammenfassung: In Österreich gibt es momentan noch immer eine Unterversor-gung für eine adäquate Behandlung von Menschen mit Zwangsstörungen. Das Zentrum für seelische Gesundheit LEO-poldau bietet seit September 2010 neben der schwerpunktmäßigen Behandlung von affektiven Störungen, Angststörun-gen, somatoformen Störungen und Psy-chosen ein evidenzbasiertes, störungsspe-zifisches Programm für Menschen mit Zwangsstörungen an.

Im folgenden Artikel wird die spezifi-sche Behandlung von Zwangsstörungen skizziert und anhand einer Fallvignette verdeutlicht.

Summary: In Austria there is still a lack of adequate treatment programs for patients with obsessive-compulsive disorder. Since September 2010 the centre for mental health LEOpoldau offers an evidence-based, disorder-specific treatment for ob-sessive-compulsive disorder program be-sides other programs for patients with affective disorder, anxiety disorder, soma-toform disorder and psychosis.

Within the following article the treat-ment and rehabilitation of obsessive-com-pulsive disorder is drafted and illustrated by a case example

In Österreich kam es in den letzten Jahren zu einem rasanten Anstieg der Kranken-standstage wegen psychischer Erkrankun-gen. Zusätzlich wurde auch von Seiten der Sozialversicherungsträger ein drastischer Anstieg von Früh- und Invaliditätspensio-nen, aufgrund psychischer Beeinträchti-gung verzeichnet. Das vorhandene Reha- Angebot für Menschen mit psychischer Erkrankung beschränkte sich bis dato auf die Möglichkeit, eine stationäre medizini-

sche Rehabilitation in Anspruch zu neh-men. Dies bedeutet jedoch für die betrof-fenen Patienten oft ein „Herausreißen“ aus dem gewohnten Umfeld und Alltag, sowie einen gewissen Verlust des gewohn-ten Tagesrhythmus.

Um diesem negativen Entwicklungs-trend entgegen zu wirken und alternative Behandlungsmöglichkeiten zur stationä-ren Rehabilitation zu bieten, wurde im September 2010 das Zentrum für seelische

Gesundheit, als erste ambulante Klinik zur medizinisch-psychiatrischen Rehabilita-tion eröffnet. Die Institution soll Men-schen mit psychischer Beeinträchtigung, die entweder noch beruflich tätig, arbeits-los, oder im Langzeitkrankenstand sind sowie erkrankten Personen, die bereits um Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspen-sion angesucht haben, dabei helfen, wie-der in den Arbeitsprozess einsteigen zu können.

Als Vorteile der ambulanten medizini-schen Rehabilitation für Personen mit psychischer Beeinträchtigung gelten die Wohnortnähe und die dadurch ermög-lichte Aufrechthaltung von Versorgungs-verpflichtungen und sozialen Kontakten und die Möglichkeit des Trainings im All-tag. Insbesondere kann auch dem Naht-stellenmanagement vor Ort vermehrte Aufmerksamkeit entgegengebracht und die Vernetzung mit weiterführenden Maß-

Das Team der Reha-Klinik Leopoldau besteht aus ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, Psycho- logInnen, Ergo- u. PhysiotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegepersonal, SportwissenschaftlerInnen und DiätassistentInnen.

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1 Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau, BBRZ Med

Eine rasche Symptomreduktion führt zur deutlichen Verbes-serung der Lebensqualität der Betroffenen, vermittelt erste Erfolge im Sinne von Selbstmanagement und kann oftmals erst weitere Therapien (Ursachentherapie) ermöglichen.

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nahmen, wie beispielsweise dem Arbeits-platz, weiterführenden Therapien oder In-stitutionen angebahnt werden.

Das Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau bietet einen sechswöchigen Turnus an, der von Montag bis Freitag im Zeitraum von 08:00 bis 18:00 stattfindet. Im Grundpaket werden störungsspezifi-sche Gruppen- und Einzelpsychotherapie, Ergo- und Bewegungstherapie, medika-mentöse Therapie, Entspannungsthera-pie, psychologische Diagnostik, Sozialar-beit oder psychiatrische Pflege angeboten. Dieses Rahmenprogramm wird durch in-dividuell auf die Patienten abgestimmte Angebote mit störungsübergreifenden Therapien wie Skills-, TEK, Genuss- und soziales Kompetenztraining, kognitives Training, verschiedenste Bewegungsan-gebote, sowie verschiedene Kunst- und Gestaltungsangebote ergänzt.

Der Schwerpunkt der Diagnosen er-streckt sich über ein großes Gebiet, von Depressionen und Angststörungen über Anpassungsstörungen, Zwangsstörungen, somatoforme Störungen bis hin zu Schi-zophrenie. Basierend auf dem bio-psycho-sozialen Modell liegt der Schwerpunkt der im Zentrum für seelische Gesundheit an-gebotenen Psychotherapie auf der kogni-tiven Verhaltenstherapie, welche nach-weislich als besonders effizient bei einem breiten Spektrum psychischer Erkrankun-gen, speziell bei Ängsten, Zwängen und Depressionen gilt.

Ende Jänner konnte das Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau bereits den tausendsten zugewiesenen Patienten begrüßen. Die positiven Rückmeldungen und die steigende Anzahl der Zuweisun-gen geben großen Anlass, sehr motiviert und optimistisch in die Zukunft zu bli-cken.

1. Behandlung von Zwangsstörungen

Die Behandlung von Zwangsstörungen in unserer Institution erfolgt im multi-pro-fessionellen Team mit individuellem Be-handlungsplan. Die Vorbehandlungen der

Patienten unterscheiden sich sehr stark und reichen von fehlender psychothera-peutischer und medikamentöser Therapie bis zu bereits länger bestehenden, gut funktionierenden Behandlungen, die während der Rehabilitation unterbrochen werden. Gelegentlich wird auch die Zwangserkrankung erst während der Re-habilitation diagnostiziert.

1.1 Kontraindikation für eine teilstationäre Behandlung bei Zwangserkrankungen

■■ Schwere Zwänge, die es unmöglich machen täglich pünktlich zu den The-rapien zu gelangen

■■ Zwangserkrankungen mit starker fami-liärer Konfliktbelastung

■■ Suchterkrankungen als Komorbidität■■ Hirnorganische Erkrankungen■■ Schwere im Vordergrund stehende

psychiatrische und/oder somatische Komorbiditäten

Häufige Komorbiditäten sind affektive Er-krankungen, Suchterkrankungen, Angster-krankungen, Essstörungen und Persönlich-keitsstörungen, insbesondere Cluster C.

1.2 Therapieprinzipien

Die deutschsprachigen Leitlinien zur The-rapie von Zwangsstörungen werden der-zeit von der AWMF neu erstellt und im September 2012 präsentiert werden. Die American Psychiatric Organisation emp-fiehlt eine Kombination aus kognitiv be-havioraler und medikamentöser Therapie.

Aufgrund der oft relativ rasch erreich-baren Symptomreduktion der Zwänge ist es sinnvoll, mit diesem Symptom zu be-ginnen und in den nachfolgenden Thera-pien weitere Therapieschritte in Angriff zu nehmen (Symptom- versus Ursachenthe-rapie).

Eine rasche Symptomreduktion führt zur deutlichen Verbesserung der Lebens-qualität der Betroffenen, vermittelt erste Erfolge im Sinne von Selbstmanagement und kann oftmals erst weitere Therapien

(Ursachentherapie) ermöglichen. Auf-grund der 6-wöchigen Dauer kann selbst-verständlich nicht eine vollständige The-rapie stattfinden, und die weitere Behandlung ist wesentlich für einen an-haltenden Therapieerfolg.

Die teilstationäre Behandlung mit ver-haltenstherapeutischem Schwerpunkt bietet folgende Möglichkeiten:■■ Diagnostik■■ Psychotherapie■■ psychiatrische Behandlung■■ Unterstützung bei psychosozialen Pro-

blemen■■ Etablierung einer nachfolgenden Be-

handlung, falls notwendig

1.3 Phasen der Therapie:1.3.1 Diagnostisch-therapeutische Phase 1. Aufbau einer therapeutischen Bezie-

hung2. Motivationsklärung / Motivationsauf-

bau 3. Problem- und Verhaltensanalyse 4. Zielanalyse5. Behandlungsplanung

1.3.2 Phasen der therapeutischen Intervention (siehe Tabelle)Die Behandlung unterteilt sich in eine dia-gnostische und eine therapeutische Phase, die immer auch parallel laufen. In-haltlich gibt es starke Berührungspunkte zwischen Einzel- und Gruppentherapie.

1.4 Therapiebausteine1.4.1 EinzeltherapieDie Entwicklung einer tragfähigen thera-peutischen Beziehung steht wie bei jeder Therapie hier im Vordergrund. Dies ist notwendig, damit der Patient offen über die oft schambesetzten Symptome spre-chen und sich auf die Expositionsübungen mit den ausgelösten aversiven Gefühlen einlassen kann.

Weitere Ziele sind die Motivationsklä-rung, Verhaltensanalysen und das Erar-beiten von kurz-, mittel-, sowie langfristi-gen Zielen. Zugrunde liegende Konflikte und die intra- und/oder interpersonellen Funktionen des Zwanges müssen erkannt werden und in die Therapieplanung ein-fließen.

1.4.2 GruppentherapieIn 11 Stunden Gruppenpsychotherapie á 75 min liegen die Schwerpunkte auf■■ Psychoedukation■■ Vor- und Nachbereitung von Expositi-

onsübungen mit Reaktionsverhinde-rung

■■ kognitiven Interventionen

TABELLE Phasen der therapeutischen Intervention

Symptombezogene Interventionen Interventionen im weiteren Problembereich

1. Vorbereitung Expositionstrainings 1. Soziotherapeutische Unterstützung

2. Zwangshandlungen 2. Förderung sozialer Fertigkeiten

3. Zwangsgedanken 3. Klärung psychosozialer / intraindividueller Problembereiche

4. Angehörigenarbeit 4. Partnerschafts- / Familiengespräche

2/2012 psychopraxis18 © Springer-Verlag

psychiatrie

In der anfänglichen Psychoedukation er-folgt eine Information über Zwangsgedan-ken und Zwangshandlungen, deren Zu-sammenhänge, Inhalte und Erscheinungs-formen, sowie Vermeidungsverhalten.

Biologische und psychologische Erklä-rungsmodelle sollen die Erarbeitung des eigenen Krankheitsmodells ermöglichen. Mittels Selbstbeobachtungsbögen werden individuelle Symptome für die Erstellung konkreter Therapieschritte erhoben. Da-bei werden zumeist anhand eines Tages-protokolls Auslöser der Zwänge, einherge-hende katastrophisierende Kognitionen, Rituale, vermiedene Situationen und Dinge, etc. schriftlich notiert. Damit wer-den erste Vorbereitungen für nachfol-gende Expositionsübungen getroffen und dadurch auch erste Erfahrungen in Selbst-management gewonnen.

Mittels detaillierten Verhaltensanaly-sen werden auslösende Situationen, auto-matische Gedanken und Emotionen ana-lysiert. Nach Vermittlung eines kognitiv-behavioralen Krankheitsmodells wird mit kognitiven Techniken zur Umstrukturie-rung der automatischen Gedanken begon-nen. Dabei sollen unrealistische katastro-phisierende Fehlbewertungen, die Über-

schätzung von Gefahr und persönlicher Verantwortung, sowie die Umstrukturie-rung von dysfunktionalen Gedanken er-reicht werden.

Für die Expositionsübungen werden Angstkurven der zwangsauslösenden Situ-ationen erstellt und Hierarchien gebildet. Expositionsübungen werden massiert (Be-ginn mit maximal belastender Situation) oder graduiert (ansteigendes Angstniveau der einzelnen Situationen), therapeuten-geleitet (im Beisein des Therapeuten, der auch aktiv in der Situation hilft, Angst und Spannung wahrzunehmen und an der ko-gnitiven Umstrukturierung arbeitet) oder selbst-kontrolliert, in vivo oder in sensu durchgeführt. Da die massierte Konfronta-tion für den Patienten belastender und deshalb auch mit höheren Abbruchraten zu rechnen ist, erfolgt zumeist ein gradu-iertes Vorgehen aufgrund der gemeinsa-men Entscheidung mit dem Patienten. Al-lerdings muss ein ausreichendes Niveau der Angst von Anfang an erlebt werden, um ein Vermeiden der Angst in der Expo-sitionsübung zu verhindern. Diese Übun-gen werden in Form von therapeutischen Übungen zumeist alleine oder in Beglei-tung des Einzeltherapeuten absolviert. Re-

gelmäßiges Besprechen der Übungen in der Gruppe ist wesentlich, um Erfolge zu verstärken, Probleme zu analysieren und auftretende Gedanken kognitiv zu bear-beiten.

1.4.3 Weitere therapeutische AngeboteMangelnde Selbstwirksamkeit, einge-schränkte Flexibilität und Spontanität, so-wie die reduzierte Selbstwirksamkeit sol-len verbessert werden. Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit werden anhand körperorientierter und gestalterischer Me-thoden gefördert. In der Genussgruppe werden euthyme Techniken und Emoti-onswahrnehmung mittels Achtsamkeit vermittelt. Dies ist auch wesentlich für die Expositionsübungen, um die erlebten Emotionen wahrnehmen zu können.

1.5 Allgemeine Wirkfaktoren in der Behandlung von ZwangspatientInnen

Im Sinne der allgemeinen Wirkfaktoren in der Psychotherapie nach Grawe■■ Ressourcenperspektive■■ Beziehungsperspektive■■ Konfliktperpektive■■ Störungsperspektive

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wird versucht diese, durch die Kombina-tion der verschiedenen Therapieangebote, anzusprechen. Vorrangig werden Stö-rungs- und Ressourcenperspektive beach-tet. Mittels kognitiv-behavioraler Therapie in Einzel- und Gruppensettings wird die Störungsperspektive behandelt. Zusätzli-che Therapieangebote fokussieren mehr auf die anderen Perspektiven, wobei es auch hier Überschneidungen gibt.

Ziel von Ressourcenaktivierung ist das Wiedererkennen von Fähigkeiten und In-teressen. Dies ist wesentlich für die Ent-wicklung von alternativen Zielen im Le-ben und für die Motivation das Zwangsverhalten aufgeben zu wollen und sich den anstrengenden Expositions-übungen zu stellen. Mangelnde Ziele wir-ken ansonsten als aufrechterhaltender Faktor für die Symptomatik und behin-dern die Therapie.

Auf die Beziehungsperspektive wird ei-nerseits durch die therapeutischen Bezie-hungen fokussiert, aber auch durch die Beziehungen zu den Mitpatienten ange-sprochen. Durch das Verhalten innerhalb der Gruppe können wertvolle Informatio-nen über das Beziehungsverhalten ge-wonnen werden. Die Patienten verbringen fast alle Gruppentherapien innerhalb der gleichen Gruppe und viele Patienten sind aufgrund der Symptomatik sehr isoliert.

Die Gruppe stellt eine wichtige Mög-lichkeit dar, wieder Sicherheit in sozialen Beziehungen zu gewinnen und soziale Kompetenzen zu reaktivieren. Davon pro-fitieren nicht nur Patienten bei denen das Zwangsverhalten ein Bewältigungsver-such für interpersonelle Schwierigkeiten aufgrund von Unsicherheiten darstellt. Al-ternative Verhaltensmuster können un-mittelbar umgesetzt und erprobt werden.

Konfliktperspektive: Zwänge sind Sym-ptome, die einen Bewältigungsversuch bisher nicht lösbarer Konflikte darstellen und das Symptom gibt oft keinen direkten Hinweis auf den zugrunde liegenden Kon-flikt. Die in den Expositionsübungen auf-tretenden Emotionen können Hinweise auf diesen Konflikt geben. Das Erkennen und die Bearbeitung dieses Konflikts sind wesentlich für eine anhaltende Symptom-reduktion. Die Bearbeitung der Konflikt-perspektive erfolgt parallel in der Einzel-therapie, allerdings aufgrund der Kürze der Rehabilitation nur in eingeschränktem Maß.

Zusammenfassend kann durch die Kombination der intensiven interdiszipli-nären Therapieangebote mit der täglichen Rückkehr in das gewohnte soziale Umfeld eine sofortige Umsetzung von Therapiein-

halten in den Alltag ermöglicht werden und auftretende Probleme sofort reflek-tiert, bzw. Erfolge verstärkt und ausgebaut werden.

2. Fallvignette: Zwangsstörung

2.1 Anamnese

Frau N., 29 Jahre alt, kam nach einer 10-tä-gigen stationären Behandlung auf einer Akutpsychiatrie aufgrund einer postparta-len Depression, zur weiteren psychiatri-schen Rehabilitation an unsere Institution und absolvierte den 6-wöchigen Turnus er-folgreich. Grund der Rehabilitation war eine bereits psychotherapeutisch und me-dikamentös lange vorbehandelte Zwangs-störung mit Zwangshandlungen und Zwangsgedanken, unter der sie in fluktuie-rendem Ausmaß seit ihrem 15. Lebensjahr litt. Dies resultierte bereits zu Schulzeiten in erheblichem Vermeidungsverhalten, so erwirkte sie z. B. eine dauerhafte Befreiung vom Turnunterricht. Eine damalige Psy-

chotherapie in der jugendpsychiatrischen Abteilung des AKH-Wien im Einzel- und Gruppensetting wurde wahrgenommen und half ihr, ihr Leben und ihre Ausbildung ohne allzu große Einschränkungen zu ge-stalten. Abgesehen von Exazerbationen in Belastungssituationen, war Frau N. im Um-gang mit ihrer Zwangsstörung seit ihrem 18. Lebensjahr stabil. Vor einem Jahr kam es allerdings im Rahmen ihrer ersten, kom-pliziert verlaufenden Schwangerschaft mit postpartaler Depression und begleitenden Beziehungsproblemen zu einem Aufflam-men der Zwangssymptomatik mit zuneh-mender Heftigkeit.

2.2 Symptome

Die Zwangsgedanken und –handlungen drehen sich um die Sorge vor Ansteckung durch Keime über Körperflüssigkeiten von Mensch und Tier und deren Übertragung auf Andere, vor allem auf ihre sechs Mo-nate alte Tochter. Nach Situationen, in de-nen sie eine Verunreinigung befürchtete, entwickelte sie panikähnliche Zustände mit Herzrasen, hoher innerer Anspan-nung, Schwitzen und Kurzatmigkeit. Diese suchte sie über Zwangshandlungen wie

wiederholtes Händewaschen bzw. Hände-desinfektion und Kleiderwechsel, wenn sie von potenziell unreinen Bereichen nach Hause kommt, zu begrenzen. Auch schloss sie Angehörige wie ihren Partner und ihre Mutter in diese Angst reduzieren-den Kontrollhandlungen mit ein und ver-langte häufige Rückversicherungen. Zu-sätzlich litt sie unter einer leichten depressiven Symptomatik, die sich in An-triebslosigkeit, gedrückter Stimmung, Grübelneigung, Freudlosigkeit und Schlafstörungen äußerte.

2.3 Verlauf

Im Rahmen der Therapie wurde ihr in einer störungsspezifischen, psychoedukativen Gruppentherapie Wissen über den Um-gang mit Ängsten vermittelt. Weiters wurde sie über die Zusammenhänge zwischen Grundanspannung und Symptomentwick-lung, über Vermeidungsverhalten und des-sen Folgen, über Ressourcenentwicklung und Aktivierung, unterrichtet.

In einer parallelen intensiven Einzel-therapie wurde gezielter an der Entste-hung und Entwicklung ihrer Zwänge gear-beitet. In ihrem Fall wurde Lernen am Modell (über den Vater) und mangelnde korrigierende Erfahrung als relevant er-achtet. Weiters wurde die Funktion der Zwänge (generelle Angstreduktion bei er-höhtem Anspannungsniveau und Kon-trollgewinn) vermittelt. Frau N. hat sehr hohe Ansprüche an sich und befürchtet, diesen vor allem in ihrer neuen Rolle als Mutter nicht gerecht zu werden. Aktuell führte besonders diese Diskrepanz zu ei-nem erhöhten Anspannungsniveau. Mit der Patientin konnte erfolgreich erarbeitet werden, dass sie über ihre Zwänge ver-sucht, Kontrolle auszuüben, die sie durch ihr älter werdendes Kind zu verlieren fürchtete. In diesem Zusammenhang kann auch die Verschlechterung der Zwänge im Rahmen der Schwangerschaft und Geburt im Sinne eines Bedingungs-modelles gesehen werden.

Eine Grundlage der Therapie war eine genaue Beobachtung der jeweiligen Zwang-auslösenden Situationen mit einer Situationsanalyse und einem Gedanken-protokoll.

Ziel von Ressourcenaktivierung ist das Wiedererkennen von Fähigkeiten und Interessen. Dies ist wesentlich für die Ent-wicklung von alternativen Zielen im Leben und für die Moti-vation, das Zwangsverhalten aufgeben zu wollen.

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psychiatrie

Zur Verdeutlichung sei hier ein konkre-tes Beispiel geschildert:■■ Situation: Sie sah vor ihrer Haustür ei-

nen Hund defäkieren, von dem sie überzeugt war, dass er Würmer hatte.

■■ Aufdringlicher Gedanke gekoppelt mit fälschlichem Bewertungsprozess: Ihre Befürchtungen gingen dahin, dass über den Kot die Eier über Beschmut-zung der Schuhe und Kleider in die Wohnung gelangen könnten und die Tochter in Folge sicher an parasitären Hirnzysten erkranken würde.

■■ Gefühlsreaktion: Frau N entwickelte Angst, Beklemmung, Schweißausbrü-che und ein heftiges Zittern.

■■ Neutralisieren der Angst durch Zwangshandlungen: Diese Symptome wurden über den Wechsel der Straßen-kleidung in Wohnungsgewand, über häufiges Händewaschen und Desinfi-zieren abgeschwächt.

So wurde situationsgebunden kognitiv über das Erkennen und Erarbeiten von au-tomatischen Gedanken, typischen Denk-fehlern (z. B. Katastrophisieren, fälschlich hohe Wahrscheinlichkeitsannahmen von Gefahrenquellen und „Horrorszenarien“) und Denkinhalten sowie deren Umstruk-turierung gearbeitet.

Auf der Verhaltensebene wurden Expo-sitionsübungen durchgeführt, die letztlich eine Korrektur der Gefahrenabschätzung durch Kontamination und somit eine Re-duktion der Angst über Erfahrungen be-wirken sollten. Hier wurden mit der Pati-entin in den Einzelstunden genau geplante, bewältigbare, in Schwierigkeits-grad gestaffelte Situationen erarbeitet, die normalerweise Zwangshandlungen pro-vozieren würden. Das konnte anfänglich z. B. nur der Gang durch eine Unterfüh-rung mit verschiedenen Verunreinigun-gen (Kot, Urin, Erbrochenes) sein. Der be-treuende Therapeut begleitete die Patientin und ließ sie mit „Liebe zum De-

tail“ die möglichen Gefahren und Konse-quenzen beschreiben. Hierdurch wurde das Angstniveau gesteigert, was die Pati-entin dann ohne angstneutralisierende Zwangshandlungen aushalten musste, bis dieses auf ein niedrigeres Niveau absank ( Habituation). Gegen Ende gelang ihr im Rahmen einer Expositionsübung (Hausübung) alleine das Einsammeln von Kot fremder Hunde im „Sackerl“, ohne dass sie Angstzustände erlitt oder danach Zwangshandlungen ausführen musste. Sie konnte die Erfahrung machen, dass keine reelle Gefahr in den befürchteten Situatio-nen bestand. Ferner konnte Frau N. in die-sen Situationen Strategien anwenden und üben lernen, die zu einer Reduktion der Angst und Anspannung führen, was wie-derum die Zwangshandlungen reduzierte.

Ein Angehörigengespräch unterstütze sowohl Frau N. als auch ihren Partner im Umgang mit der Zwangsstörung und half

zusätzlich, belastende Beziehungspro-bleme zu klären. Es konnte jedoch bestätigt werden, dass eine Funktionalität des Zwan-ges auf Beziehungsniveau nicht vorlag.

Ärztlich konnte bei Frau N., nachdem sie im Verlauf des Turnus abstillte, auch eine suffiziente medikamentöse Behand-lung in Form von Paroxetin 40 mg täglich begonnen werden, mit dem sie bereits in der Vergangenheit gute Ergebnisse hat er-zielen können.

Zusätzlich nahm Frau N. an der Ergo-therapie teil, in der sie über ihre bereits vorhandene Kreativität hinaus Möglich-keiten zur Entspannung, eine Förderung der Selbstwahrnehmung und eine Verbes-serung von Aufmerksamkeit und Konzent-rationsfähigkeit erwirkte. Ergänzt wurde dies durch die Mal- und Gestaltungsthera-pie, auf die sich Frau N. sehr reflektiert ein-lassen konnte. Das Entspannungstraining (Progressive Muskelrelaxation nach Jacob-sen) sowie die Bewegungstherapie runde-ten das Angebot auf körperlicher Ebene ab.

2.4 Ergebnisse

Zum Zeitpunkt der Entlassung war Frau N. bezüglich ihrer Zwangsgedanken und -handlungen erheblich gebessert. Sie konnte es ihrem Partner überlassen, die ihm sinnvoll erscheinenden Hygienemaß-nahmen vor der Betreuung der gemeinsa-men Tochter durchzuführen. Sie selbst konnte sich an die in der Therapie als ver-nünftig erarbeiteten Hygienestandards halten. Vor allem aber fürchtete sie sich nicht mehr vor dem Älterwerden ihrer Tochter und dem damit verbundenen Kontrollverlust und der größeren Gefahr einer Kontamination. Sie konnte sich vor-stellen, dass ihre Tochter im Gras krabbelt, womöglich etwas in den Mund nimmt, ohne in Angst auszubrechen oder Zwangs- und Reinigungshandlungen durchführen zu müssen.

Auch die depressive Symptomatik hatte sich gegeben, nicht zuletzt weil Frau N. einen besseren Selbstwert über eine Er-höhung ihrer Selbstwirksamkeit entwi-ckeln konnte. Sie hatte wieder Lebens-freude, Vertrauen in sich auch als Mutter und Zuversicht, dass sie Probleme in der Zukunft erfolgreich bewältigen können würde. So hat sie auch generelle Inhalte und Strategien zur Problembewältigung z. B. in ihrer Paarbeziehung und Zukunfts-planung und Tagesstrukturierung mitneh-men können, was insgesamt zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Lebens-qualität und Belastbarkeit führte. Eine Fortsetzung der bereits vor Aufnahme be-standenen Psychotherapie war zum Erhalt des Therapieerfolgs jedoch notwendig. n

Literatur bei den Verfasserinnen

Korrespondenz: Dr. Astrid Pangerl, Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision, [email protected] Gerda Reschauer, wirtschaftliche Leitung, Dipl. Sozialarbeiterin, [email protected]. Barbara Zimprich, Ärztin für Psychiatrie und Psychothera-peutische Medizin, [email protected]

Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau, BBRZ Med1210 Wien, Schererstraße 30, Tel. 01/2571948, www.bbrz-med.at(Ärztlicher Leiter Univ. Prof. Dr. Gerhard Lenz)

Die Gruppe stellt eine wichtige Möglichkeit dar, wieder Si-cherheit in sozialen Beziehungen zu gewinnen und soziale Kompetenzen zu reaktivieren.

2/2012psychopraxis 21© Springer-Verlag