Amy Chua – Die Welt in Flammen

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    Die Welt in Flammen

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    Amy Chua

    Die Welt in Flammen

    Wie Demokratie zu Rassismus und Unterdrückung

    führen kann

    Übersetzung aus dem Englischen von Silvia Kinkel

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    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deusche Naionalbibliohek verzeichne diese Publikaion in der Deuschen Naionalbibliografie;

    deailliere bibliografische Daen sind im Inerne über htp://d-nb.de abrufar.

     www.redline-verlag.deBeachten Sie auch unsere weiteren Imprints unter www.muenchner-verlagsgruppe.de

    Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter 

    Für Fragen und Anregungen:

    [email protected]

    1. Auflage 2011

    © 2011 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH, München,Nymphenburger Straße 86

    D-80636 MünchenTel.: 089 651285-0Fax: 089 652096

    © der Originalausgabe 2003, 2004 by Amy Chua

    Die englische Originalausgabe erschien 2004 bei Doubleday, an imprint of The KnopfDoubleday Group, a division of Random House, Inc. unter dem Titel World on Fire.

     Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Über-setzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mi-krofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reprodu-ziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigtoder verbreitet werden.

    Übersetzung: Silvia Kinkel

    Redaktion: Jordan T. A. WegbergLektorat: Ulrike Kroneck Umschlagabbildung: unter Verwendung von Bildern aus istockphoto.comSatz: Jürgen Echter, HJR, Landsberg am LechDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    ISBN Print 978-3-86881-317-3ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-299-4

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     Anmerkung des Verlags

    Das vorliegende Buch beleuchtet Demokratie und Globalisierung

    aus einer völlig neuen Perspektive und liefert Erklärungen für man-che Fehlentwicklungen in vielen Ländern.

    Da das Original jedoch aus dem Jahr 2004 ist, wurden spätere Vor-kommnisse nicht berücksichtigt. Einige Passagen und Inhalte sinddaher nicht auf dem aktuellsten Stand. So ist beispielsweise MichailChodorkowski inzwischen seit Jahren inhaftiert. Seit zehn Jahrenhat dieser Klassiker jedoch nichts an Bedeutung eingebüßt, ganz im

    Gegenteil belegen aktuelle Entwicklungen die Stimmigkeit der The-sen.

    Ihr Redline-Team

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    Inhalt

    Einleitung:

    Globalisierung und ethnischer Hass  ......................................... 7

    Teil eins:

    Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung  .... 29

    Kapitel 1:

    Rubine und Reisfelder

    Die Vorherrschaft der chinesischen Minderheit in Südostasien 34

    Kapitel 2:

    Lamaföten, Latifundios und »la Blue Chip numero uno«»Weißer« Reichtum in Lateinamerika ......................................... 66

    Kapitel 3:

    Der siebte Oligarch

     Jüdische Milliardäre des postkommunistischen Russland ........ 100

    Kapitel 4:

    Die »Ibos von Kamerun«

    Marktdominierende Minderheiten in Afrika ............................... 122

    Teil zwei:

    Die politischen Auswirkungen der Globalisierung  .............. 155

    Kapitel 5:

    Eine Gegenreaktion auf die MärkteGezielte ethnische Beschlagnahmungen und Verstaatlichungen 160

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    Inhalt

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    Kapitel 6:

    Eine Gegenreaktion auf die Demokratie

     Vetternwirtschaftskapitalismus und Minderheitenherrschaft.... 183

    Kapitel 7:

    Eine Gegenreaktion auf marktdominierende Minderheiten

     Vertreibung und Völkermord .......................................................... 203

    Kapitel 8:

    Das Vermischen von Blut

     Assimilation, Globalisierung und der Fall Thailand ................... 218

    Teil drei:

    Ethnonationalismus und der Westen  ........................................ 229

    Kapitel 9:

    Die Kehrseite der westlichen freien Marktwirtschaft

     Von Jim Crow zum Holocaust ......................................................... 233

    Kapitel 10:

    Der Hexenkessel im Nahen Osten

    Israelische Juden als regionale marktdominierende Minderheit 260

    Kapitel 11:

     Warum sie uns hassen

     Amerika als globale marktdominierende Minderheit ................ 281

    Kapitel 12:

    Die Zukunft der marktwirtschaftlichen Demokratie .................. 319

    Nachwort zur ursprünglichen Ausgabe  .................................... 357 Anmerkungen  ................................................................................... 365

    Danksagung   ....................................................................................... 425Index  .................................................................................................... 427

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    Einleitung

    Globalisierung und ethnischer Hass

     An einem strahlend schönen Morgen im September 1994 erhieltich einen Anruf von meiner Mutter aus Kalifornien. Mit gedämpf-

    ter Stimme teilte sie mir mit, dass meine Tante Leona, die Zwil-lingsschwester meines Vaters, in ihrem Haus auf den Philippinenermordet worden war − ihr Chauffeur hatte ihr die Kehle durch-geschnitten. Meine Mutter überbrachte mir die Nachricht in unse-rem chinesischen Heimatdialekt Hokkien. Aber »Mord« sagte sieauf Englisch, als wollte sie zwischen der Familie und der Tat einensprachlichen Schutzwall errichten.

    Die Ermordung eines Verwandten ist für jeden schrecklich. Mein Vater hat sich hinter seinem Kummer verschanzt; bis heute weigerter sich, darüber zu sprechen. Die übrige Familie aber kämpfte mitdem Moment der Schande. Für Chinesen ist Glück eine moralischeEigenschaft, und ein glücklicher Mensch würde niemals ermordet

     werden. Ermordet zu werden war genauso beschämend wie ein Ge- burtsfehler oder die Heirat mit einem Filipino.

    Meine drei jüngeren Schwestern und ich mochten Tante Leona sehr,sie war eine zierliche, schrullige Person und hatte nie geheiratet. Wie

     viele wohlhabende philippinische Chinesen hatte auch sie Bankkon-ten in Honolulu, San Francisco und Chicago. Sie besuchte uns re-gelmäßig in den Vereinigten Staaten. Sie und mein Vater − Leonaund Leon – standen sich so nahe, wie es nur Zwillinge können. Siehatte keine eigenen Kinder, war vernarrt in ihre Nichten und über-schüttete uns mit Nippes. Als wir heranwuchsen, wurden aus dem

    Tand Schätze. An meinem zehnten Geburtstag schenkte sie mir zehnkleine Diamanten, die in Toilettenpapier eingewickelt waren. Meine

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    Tante liebte Diamanten und kaufte sie gleich zu Dutzenden. Sie be- wahrte sie in leeren Cremedosen von Elizabeth Arden auf, mancheließ sie einfach auf der Ablage in ihrem Badezimmer stehen. Leo-

    na hortete alles, was kostenlos war. Wenn wir bei McDonald’s aßen,stopfte sie ihre Gucci-Handtasche mit Ketchuptüten voll.

    Laut Polizeibericht wurde meine Tante Leona, »eine alleinstehen-de Frau von 58 Jahren«, am 12. September 1994 gegen 20 Uhr inihrem Wohnzimmer mit einem Fleischermesser getötet. Zwei ihrerDienstmädchen wurden verhört und gestanden, dass Nilo Abique,der Chauffeur meiner Tante, den Mord mit ihrem Wissen und ihrer

    Unterstützung geplant und durchgeführt hatte. »Ein paar Stunden vor dem eigentlichen Verbrechen wurde der Beschuldigte gesehen, wie er das vermutlich beim Mord benutzte Messer schärfte.« Nachder Tat »gesellte sich der Verdächtige zu den beiden Zeuginnen undsagte ihnen, dass ihre Arbeitgeberin tot sei. Dabei trug er ein Paar

     blutbefleckte weiße Handschuhe und hielt ein Messer mit Blutspu-ren in der Hand.« Aber Abique, so fuhr der Bericht fort, sei trotzHaftbefehl »verschwunden«. Die beiden Dienstmädchen wurden

    auf freien Fuß gesetzt.

    Inzwischen organisierten meine Verwandten für meine Tante einBegräbnis im engsten Familienkreis auf dem renommierten chine-sischen Friedhof in Manila, wo viele meiner Vorfahren in einer gro-ßen Familiengrabstätte aus weißem Marmor liegen. Auf Anraten derFeng-Shui-Experten, die wegen der gewaltsamen Natur ihres Todes

     befragt wurden, konnte meine Tante nicht in der Familiengruft be-

    stattet werden, sonst würde ihre noch lebende Verwandtschaft wei-teres Pech erleiden. Also wurde sie daneben in ein eigenes kleinesGewölbe gelegt – das die Familiengrabstätte nicht berührte.

    Nach dem Begräbnis fragte ich einen meiner Onkel, ob es Fort-schritte bei den Ermittlungen gäbe. Er antwortete knapp, dass derMörder nicht gefunden worden sei. Und seine Frau fügte hinzu, diePolizei von Manila habe den Fall mehr oder weniger abgeschlossen.

    Ich konnte die fast schon gleichgültige Einstellung meiner Verwand-ten nicht verstehen. Warum erschütterte es sie nicht, dass meine

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    Tante kaltblütig von Menschen getötet worden war, die für sie ar- beiteten, mit ihr lebten und sie jeden Tag sahen? Warum waren sienicht empört über die Freilassung der Dienstmädchen? Ich bedräng-

    te meinen Onkel, mir Antworten zu geben, aber er blieb einsilbig.»So sind die Dinge hier eben«, sagte er. »Wir sind auf den Philippi-nen − nicht in Amerika.«

    Mein Onkel war nicht etwa herzlos. Wie sich herausstellte, ist derTod meiner Tante kein Einzelfall. Jedes Jahr werden auf den Philip-pinen Hunderte von Chinesen entführt, fast ausnahmslos von Fi-lipinos. Viele von ihnen, häufig Kinder, werden trotz der Zahlung

     von Lösegeld brutal ermordet. Andere Chinesen, wie meine Tante, werden Opfer von Raubmord. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dassder Mörder meiner Tante nie verhaftet wurde. Die Polizisten auf denPhilippinen, selber arme Filipinos, sind in solchen Fällen bekann-termaßen wenig motiviert. Auf die Frage eines westlichen Journa-listen, warum so oft die Chinesen ins Visier genommen werden, er-klärte ein grinsender philippinischer Polizist: »Weil sie mehr Geldhaben.«1

    Meine Familie gehört zu der kleinen, aber unternehmerisch und wirtschaftlich bedeutenden chinesischen Minderheit auf den Phi-lippinen. Sie machen gerade mal 1 Prozent der Bevölkerung aus,kontrollieren jedoch etwa 60 Prozent der privaten Wirtschaft, ein-schließlich der vier großen Luftfahrtgesellschaften, vieler Hotels,Einkaufszentren und großer Konzerne sowie fast aller Banken desLandes.2 Meine eigene Familie leitet in Manila eine Unternehmens-

    gruppe für Kunststoffprodukte. Anders als die Tai-Pans Lucio Tan,Henry Sy oder John Gokongwei sind meine Verwandten nur chi-nesische Industriemagnaten »dritten Ranges«. Und doch gehörenihnen ganze Landstriche mit erstklassigen Immobilien sowie etli-che Ferienhäuser. In ihren Bankschließfächern lagern Goldbarrenin der Größe von Schokoriegeln. Ich besitze selbst solch einen Bar-ren: Meine Tante Leona schickte ihn mir per Federal Express als Ge-schenk zu meinem Examen an der juristischen Fakultät − ein paar

     Jahre vor ihrem Tod.

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    Seit der Ermordung meiner Tante lässt mich eine Kindheitserinne-rung nicht mehr los. Ich war acht Jahre alt und zu Besuch auf demherrlichen Landsitz meiner Familie in Manila. Noch vor Anbruch

    der Morgendämmerung war ich bereits hellwach und beschloss,mir in der Küche etwas zu trinken zu holen. Ich muss ein anderesTreppenhaus benutzt haben, denn plötzlich stolperte ich über sechsmännliche Körper.

    Ich war in die Unterkunft der männlichen Dienstboten geraten. DieBoys, Gärtner und Chauffeure meiner Familie − manchmal stelle ichmir vor, dass Nilo Abique unter ihnen war – schliefen auf Matten auf

    dem dreckigen Boden. Es stank nach Schweiß und Urin. Ich war ent-setzt.

    Später an diesem Tag sprach ich Tante Leona darauf an. Sie lächel-te mich nachsichtig an und erklärte, dass sich die Diener − vielleichtzwanzig an der Zahl und alle Filipinos – glücklich schätzen konnten,für unsere Familie zu arbeiten. Ansonsten würden sie mit Ratten inder Kloake leben und hätten nicht einmal ein Dach über dem Kopf.

    In dem Moment kam ein philippinisches Dienstmädchen ins Zim-mer. Ich erinnere mich noch daran, dass sie eine Schüssel mit Futterfür den Pekinesen meiner Tante trug. Meine Tante nahm die Schüs-sel und redete unbeirrt weiter. Die Filipinos, fuhr sie auf Chinesischfort und kümmerte sich nicht darum, ob das Dienstmädchen sie ver-stehen konnte, seien faul und dumm. Wenn es ihnen bei uns nichtgefalle, könnten sie jederzeit gehen. Schließlich seien sie Angestellte

    und keine Sklaven, sagte meine Tante.Fast zwei Drittel der etwa 80 Million Filipinos auf den Philippinenleben von weniger als 2 Dollar pro Tag. Vierzig Prozent verbringenihr ganzes Leben in provisorischen Unterkünften. Siebzig Prozentder auf dem Land lebenden Filipinos besitzen kein Land. Fast einDrittel hat keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen.3

     Aber das ist nicht das Schlimmste. Armut allein lässt Menschen

    nicht zu Mördern werden. Zu der Armut müssen Entwürdigung,Hoffnungslosigkeit und Kränkung kommen.

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     Auf den Philippinen arbeiten Millionen von Filipinos für Chinesen;praktisch kein Chinese arbeitet für Filipinos. Die Chinesen beherr-schen Industrie und Handel auf jeder Ebene der Gesellschaft. Globa-

    le Märkte verstärken diese Dominanz: Wenn ausländische InvestorenGeschäfte auf den Philippinen tätigen, verhandeln sie fast ausschließ-lich mit Chinesen. Abgesehen von einer Handvoll korrupter Politikerund einigen aristokratischen spanischen Mestizen-Familien sind al-le philippinischen Milliardäre chinesischer Abstammung. Im Gegen-satz dazu werden alle minderwertigen Jobs auf den Philippinen vonFilipinos ausgeführt. Alle Landarbeiter sind Filipinos. Alle Hausan-gestellten und Bewohner von Hüttenvierteln sind Filipinos. In Ma-

    nila leben Tausende Filipinos nicht nur neben, sondern auch von derMüllkippe Payatas, einem zwölf Straßenblocks umfassenden Berg gä-render Abfälle, bekannt als das »Gelobte Land«. Die Slumbewoh-ner durchsuchen täglich das faulende Essen und die Tierkadaver nach

     wiederverwertbaren Materialien wie Glas, Plastik und Blechdosen.Mit dem Verkauf finanzieren sie ihr Leben. Im Juli 2000 implodierteder Müllberg aufgrund von Methangasansammlungen und geriet ins

    Rutschen. Mehr als 100 Menschen einschließlich vieler kleiner Kin-der wurden unter den Massen begraben und erstickten.

     Als ich einen meiner Onkel nach der Payatas-Explosion fragte, re-agierte er verärgert. »Warum will jeder darüber sprechen? Dasschreckt nur ausländische Investoren ab.« Ich war nicht überrascht.Meine Verwandten leben abgeschottet von den philippinischenMassen in einer piekfeinen, rein chinesischen Wohnenklave, deren

    Straßen nach Harvard, Yale, Stanford und Princeton benannt sind.Die Zufahrten werden von privaten bewaffneten Sicherheitskräften bewacht.

     Jedes Mal, wenn ich an Nilo Abique denke − er war fast 1,80 Metergroß und ein Riese gegenüber meiner Tante –, werde ich von sol-chem Hass und solcher Abscheu erfasst, dass es fast schon tröstlich

     wirkt. Im Laufe der Zeit habe ich jedoch auch einen Eindruck davongewonnen, wie die Chinesen auf die Mehrheit von Filipinos − und

     jemanden wie Abique − wirken müssen: Sie sind Ausbeuter; auslän-dische Eindringlinge, deren Reichtum nicht nachvollziehbar und de-

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    ren Überlegenheit unerträglich ist. Ich werde niemals den Eintragim Polizeibericht über das »Mordmotiv« von Abique vergessen.Das angegebene Motiv war nicht etwa Raub, obwohl der Chauffeur

    angeblich Juwelen und Geld an sich genommen hatte. Stattdessenstand dort nur ein Wort: »Rache«.

    In einer Welt, die gewaltsamer ist, als die meisten von uns sich vor-stellen können, hatte die Ermordung meiner Tante in etwa die Be-deutung eines Mückenstichs. In Amerika konnten wir lesen, dassMenschen massenhaft und auf grausamste Weise abgeschlachtet

     werden. Anfangs passierten diese Dinge an weit entfernten Orten,

    aber sie kommen ständig näher. Wir verstehen nicht, was diese Tatenmiteinander verbindet und inwiefern wir zu ihrer Entstehung beige-tragen haben.

    In den serbischen Konzentrationslagern Anfang der 1990er-Jahre wurden weibliche Gefangene immer wieder vergewaltigt, mehrmalsam Tag, oft mit zerbrochenen Flaschen und häufig zusammen mitihren Töchtern. Die Männer wurden, wenn sie Glück hatten, zu To-

    de geprügelt, während ihre serbischen Wächter die Nationalhymnesangen; wenn sie nicht so glücklich waren, wurden sie kastriert odermit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihre Mitgefangenen zu kastrie-ren − manchmal mit ihren eigenen Zähnen. Insgesamt wurden Tau-sende gefoltert und getötet.4

    In Ruanda töteten 1994 Hutu in einem Zeitraum von drei Monaten800.000 Tutsi, meistens indem sie sie mit Macheten zerstückelten.

    Kinder kamen nach Hause und fanden ihre Mütter, Väter, Schwes-tern und Brüder mit abgetrennten Köpfen und Gliedern auf dem Wohnzimmerboden.5

    Bei schweren Unruhen in Jakarta 1998 verwüsteten, plünderten und verbrannten indonesische Randalierer Hunderte von chinesischenGeschäften und Häusern und ließen mehr als 2.000 Tote zurück. Ei-ne Überlebende – ein 14-jähriges chinesisches Mädchen – begingspäter Selbstmord, indem sie Rattengift nahm. Sie war von einerBande vergewaltigt und vor den Augen ihrer Eltern im Genitalbe-reich verstümmelt worden.6

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    In Israel rammte 1998 ein Selbstmordattentäter mit seinem mitSprengstoff beladenen Auto einen Schulbus, in dem 34 jüdischeKinder im Alter zwischen sechs und acht Jahren saßen. Im Laufe der

    nächsten paar Jahre nahmen solche Ereignisse zu. Sie wurden zu täg-lichen Ereignissen und einem starken kollektiven Ausdruck des pa-lästinensischen Hasses. »Wir hassen euch«, drückte es ein führen-der offizieller Arafat-Anhänger im April 2002 aus. »Die Luft hassteuch, das Land hasst euch, die Bäume hassen euch, es hat keinenSinn, dass ihr länger in diesem Land bleibt.«7

     Am 11. September 2001 entführten Terroristen aus dem Nahen Os-

    ten vier amerikanische Flugzeuge. Sie zerstörten das World TradeCenter und den Südwestflügel des Pentagons. Etwa 3.000 Menschenkamen dabei ums Leben. »Amerikaner, denkt nach! Warum werdenihr überall auf der Welt gehasst?«, proklamierte ein von arabischenDemonstranten gehaltenes Spruchband öffentlich.8

     Abgesehen von der Brutalität, was ist die Verbindung zwischen die-sen Ereignissen? Die Antwort liegt in der Beziehung – der zuneh-

    mend explosiven Kollision − der drei stärksten Kräfte, die in derheutigen Welt wirken: Märkte, Demokratie und ethnischer Hass.

    Dieses Buch handelt von einem Phänomen, das außerhalb des Wes-tens um sich greift, aber selten zur Kenntnis genommen, ja sogar ta-

     buisiert wird und das die demokratische freie Marktwirtschaft inZündstoff für einen ethnischen Flächenbrand verwandelt. Gemeintist das Phänomen der marktdominierenden Minderheiten: ethnische

    Minderheiten, die aus ganz unterschiedlichen Gründen die »einge- borene« Mehrheit in einem häufig erschreckenden Ausmaß wirt-schaftlich beherrschen.

    Marktdominierende Minderheiten finden sich überall auf der Welt.Die Chinesen sind nicht nur auf den Philippinen eine marktdomi-nierende Minderheit, sondern überall in Südostasien. 1998 kontrol-lierten chinesische Indonesier, nur 3 Prozent der Bevölkerung, un-gefähr 70 Prozent von Indonesiens Privatwirtschaft, insbesonderealle großen Unternehmensgruppen des Landes. In jüngerer Zeit ha-

     ben chinesische Unternehmer in Birma die Volkswirtschaften von

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    Mandalay und Rangun regelrecht übernommen. Weiße sind einemarktdominierende Minderheit in Südafrika sowie − in einem we-sentlich komplexeren Zusammenhang − in Brasilien, Ecuador, Gu-

    atemala und weiten Teilen von Lateinamerika. Libanesen sind diemarktdominierende Minderheit in Westafrika. Die Ibo sind es inNigeria. Kroaten waren die marktdominierende Minderheit im frü-heren Jugoslawien. Und mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Ju-den eine marktdominierende Minderheit im postkommunistischenRussland.

    Marktdominierende Minderheiten sind die Achillesferse der de-

    mokratischen freien Marktwirtschaft. In Gesellschaften mit einermarktdominierenden ethnischen Minderheit fördern Märkte undDemokratie nicht nur verschiedene Menschen oder Klassen, son-dern ethnische Gruppen. Märkte konzentrieren Reichtum in oft-mals astronomischen Ausmaßen in den Händen der marktdominie-renden Minderheit, während die Demokratie die politische Machtder verarmten Mehrheit vergrößert. Unter diesen Bedingungen

     wird die demokratische freie Marktwirtschaft zur Triebkraft eines

    potenziell katastrophalen Ethnonationalismus. Sie spielt eine frus-trierte »eingeborene« Mehrheit, die leicht von opportunistischenPolitikern auf Stimmenjagd aufgebracht werden kann, gegen eineungeliebte, wohlhabende ethnische Minderheit aus. Zu dieser Kon-frontation kommt es jetzt in einem Land nach dem anderen, von In-donesien bis Sierra Leone, von Simbabwe bis Venezuela, von Russ-land bis zum Nahen Osten.

    Seit dem 11. September 2001 hat diese Konfrontation auch die Verei-nigten Staaten erreicht. Amerikaner sind keine ethnische Minderheit(wenn auch eine Minderheit im Sinne des nationalen Ursprungs).Es gibt auch keine weltweite Demokratie. Dennoch werden Ameri-kaner heute überall als die weltweit marktdominierende Minderheit

     wahrgenommen, die im Vergleich zu ihrer Größe und Anzahl eineinakzeptable unverhältnismäßige Wirtschaftsmacht ausübt. Infolge-dessen sind sie zum Ziel derselben Feindseligkeit und Antipathie ge-

     worden, die sich gegen so viele marktdominierende Minderheitenauf der ganzen Welt richtet.

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    Der weltweite Antiamerikanismus hat viele Ursachen. Eine davon istironischerweise die globale Ausbreitung von freier Marktwirtschaftund Demokratie. Überall werden globale Märkte verbittert als Ver-

    stärkung des amerikanischen Reichtums und amerikanischer Über-legenheit wahrgenommen. Gleichzeitig verleihen populistische unddemokratische Bewegungen den verarmten, frustrierten und ausge-schlossenen Massen der ganzen Welt Kraft, Legitimität und Stimme− also genau jenen Menschen, die am empfänglichsten für antiameri-kanische Demagogie sind. In mehr nichtwestlichen Ländern, als die Amerikaner zugeben möchten, würden freie und gerechte Wahlen an-timarktwirtschaftliche und antiamerikanische Führer an die Macht

     bringen. In den letzten Jahren haben Amerikaner sowohl die Auswei-tung der Märkte als auch die Demokratisierung weltweit gefördert.Mit diesem Prozess machten sie sich selbst zur Zielscheibe der Wut.9 

    Die Beziehungen zwischen demokratischer freier Marktwirtschaftund ethnischer Gewalt sind rund um die Welt untrennbar mit derGlobalisierung verbunden. Aber das Phänomen der marktdominie-renden Minderheiten führt zu Komplikationen, die sowohl von den

     Anhängern der Globalisierung als auch von ihren Kritikern überse-hen wurden.

    Globalisierung besteht nicht nur in hohem Maße aus der weltwei-ten Ausbreitung von Märkten und Demokratie, sondern wird auchdurch diese angetrieben. Die amerikanische Regierung hat die de-mokratische freie Marktwirtschaft in Entwicklungsländern undpostsozialistischen Ländern, gemeinsam mit amerikanischen Be-

    ratern, Unternehmern und Stiftungen, energisch gefördert. Zuwei-len grenzten diese Anstrengungen ans Absurde. So gibt es zum Bei-spiel die traurige Geschichte einer Delegation von amerikanischenBeratern für freie Marktwirtschaft in der Mongolei. Die Amerika-ner waren begeistert, als ein mongolischer Beamter sie kurz vor ihrer

     Abreise bat, ihm weitere einseitige Kopien der umfangreichen ame-rikanischen Wertpapiergesetze zu senden. Leider stellte sich heraus,dass der Mongole sich nicht für den Inhalt der Dokumente interes-sierte, sondern für die leere Rückseite jedes Blattes, die helfen sollte,die chronische Papierknappheit der Regierung zu mildern.10

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    Es gab auch eine Zeit, als die amerikanische Regierung die größ-te Public-Relations-Firma der Welt, Burson-Marsteller aus New

     York, zur Unterstützung engagierte, um den freien Marktkapitalis-

    mus an die Menschen in Kasachstan zu verkaufen. Neben anderenIdeen entwickelte Burson-Marsteller eine kleine Soap Opera für dieFernsehausstrahlung, welche die Privatisierung verherrlichte. In ei-ner Episode wünschen sich zwei glücklose Familien verzweifelt einneues Haus, wissen aber nicht, wie sie den Bau bewerkstelligen sol-len. Da schwebt ein Heißluftballon vom Himmel herab, auf dem inriesigen Buchstaben »Soros Foundation« steht. Amerikaner sprin-gen heraus, bauen die Häuser und schweben wieder davon, die ehr-

    furchtsvollen Kasachen in begeistertem Jubel zurücklassend.11

    Geschichten über die amerikanische Naivität und Unfähigkeit sind jedoch nur eine Begleiterscheinung. Tatsache ist, dass in den letz-ten Jahrzehnten die von Amerika angeführte globale Ausbreitung

     von Märkten und Demokratie die Welt radikal umgestaltet hat. So- wohl direkt als auch durch mächtige internationale Einrichtungen wie die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und

    die Welthandelsorganisation (WTO) brachte die US-RegierungMilliarden Menschen den Kapitalismus und demokratische Wah-len. Gleichzeitig fegten amerikanische multinationale Konzerne,Stiftungen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) überdie Welt hinweg und hinterließen Wahlurnen, Burger Kings, Hip-Hop und Hollywood sowie von Amerikanern entworfene Verfas-sungen.

    Die vorherrschende Ansicht bei den Unterstützern der Globalisie-rung ist, dass Märkte und Demokratie eine Allheilmittel gegen diezahlreichen Krankheiten der Unterentwicklung seien. Marktkapi-talismus ist das effizienteste Wirtschaftssystem, das die Welt je ge-kannt hat. Demokratie ist das gerechteste politische System, das die

     Welt bisher erlebt hat, und erweist der individuellen Freiheit dengrößten Respekt. Gemeinsam werden Märkte und Demokratie die

     Welt allmählich in eine Gemeinschaft von wohlhabenden, Krieg ver-meidenden Nationen verwandeln und die Menschen in liberale, so-lidarische Bürger und Verbraucher. Dabei werden ethnischer Hass,

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    religiöser Fanatismus und andere »rückwärtsgerichtete« Aspekteder Unterentwicklung beseitigt.

    Thomas Friedman, ein Vertreter dieser vorherrschenden Ansicht, zi-tierte in seinem Bestseller The Lexus and the Olive Tree eine Anzeige

     von Merrill Lynch: »Die Ausbreitung von freien Märkten und De-mokratie rund um die Welt erlaubt mehr Menschen, ihre Sehnsüch-te in Ergebnisse zu verwandeln«, und beseitigt »nicht nur geografi-sche Grenzen, sondern auch menschliche«. Globalisierung, so führtFriedman aus, »verwandelt Freunde und Feinde in ›Mitbewer-

     ber‹«. Friedman erklärt auch seine »Goldener-Bogen-Theorie der

    Konfliktverhinderung«, wonach »Länder, in denen es McDonald’sgibt, niemals in einem Krieg gegeneinander kämpften …«12  (Lei-der, so merkt Yale-Geschichtsprofessor John Gaddis an, »wähltendie Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten ausgerechnetden ungünstigen Moment, um mit dem Bombardement von Belgradzu beginnen, als es dort eine beschämende Anzahl goldener Bögengab«.)13

    Für die Anhänger der Globalisierung ist das Heilmittel gegen Grup-penhass und ethnische Gewalt rund um die Welt eindeutig: mehrMärkte und mehr Demokratie. Deshalb veröffentlichte Friedmannach dem 11. September eine Kolumne, die Indien und Bangladeschals »Vorbilder« für den Nahen Osten hinstellt und diese Lösung ge-gen Terrorismus und militanten Islamismus anbietet: »Hallo? Hal-lo? Hier kommt eine Botschaft. Wir haben Demokratie, Schluss,aus!« – »Multi-ethnischer, pluralistischer, demokratischer freier

    Markt.«14

    Im Gegensatz dazu steht die ernüchternde These dieses Buches,dass die globale Ausbreitung von Märkten und Demokratie eine dergrundlegenden Ursachen für Gruppenhass und ethnische Gewaltin der nichtwestlichen Welt ist. In den zahlreichen Gesellschaftenrund um den Globus, die eine marktdominierende Minderheit auf-

     weisen, verstärken sich Märkte und Demokratie nicht gegenseitig.

     Weil Märkte und Demokratie in solchen Gesellschaften verschiede-ne ethnische Gruppen begünstigen, bringt das Bestreben nach de-

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    mokratischen freien Märkten hochgradig instabile und explosive Be-dingungen hervor. Die Märkte konzentrieren enormen Reichtum inden Händen einer »Außenseiterminderheit« und entfachen ethni-

    schen Neid und Hass unter der häufig dauerhaft armen Mehrheit.In absoluten Zahlen kann es der Mehrheit besser gehen oder nicht− ein Streit, auf den sich die Globalisierungsdebatte stark fixiert −,aber jedes Gefühl der Verbesserung wird durch die chronische Ar-mut und den außergewöhnlichen Wirtschaftserfolg der verhasstenMinderheit überkompensiert. Noch demütigender ist zudem, dassdie marktdominierenden Minderheiten, zusammen mit ihren aus-ländischen Investorenpartnern, fast ausnahmslos die Kronjuwelen

    der Wirtschaft kontrollieren, die häufig symbolisch für National-stolz und Identität stehen, wie zum Beispiel Öl in Russland und Ve-nezuela, Diamanten in Südafrika, Silber und Zinn in Bolivien oder

     Jade, Teakholz und Rubine in Birma.

    Die Einführung der Demokratie unter diesen Umständen verwan-delt Wähler nicht in aufgeschlossene Mitbürger einer nationalen Ge-meinschaft. Eher fördert die Konkurrenz um Stimmen das Auftreten

     von Demagogen, welche die verhasste Minderheit zum Sündenbockstempeln und ethnonationalistische Bewegungen schüren, die for-dern, dass der Reichtum des Landes und die Identität den »wah-ren Eigentümern der Nation« zurückgegeben werden. Als Amerikain den 1990er-Jahren die globale Ausbreitung der Demokratie feier-te, kam es zu einer rasanten Zunahme ethnisch geprägter politischerSlogans: »Georgien den Georgiern«, »Eritreer raus aus Äthiopi-

    en«, »Kenia den Kenianern«, »Weiße sollen Bolivien verlassen«,»Kasachstan den Kasachen«, »Serbien für Serben«, »Kroatien denKroaten«, »Hutu an die Macht«, »Assam ist assamesisch«, »Ju-den raus aus Russland«. Vadim Tudor, der PräsidentschaftskandidatRumäniens von 2001, formulierte es etwas anschaulicher. »Ich bin

     Vlad der Pfähler«, verkündete er mit Blick auf die wirtschaftlich do-minierende ungarische Minderheit und versprach: »Wir werden siean ihren ungarischen Zungen aufhängen!« 15

     Wenn die demokratische freie Marktwirtschaft in Gegenwart einermarktdominierenden Minderheit betrieben wird, ist eine Gegenreak-

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    tion nahezu unvermeidlich. Diese Gegenbewegung nimmt normaler- weise eine von drei Formen an. Die erste ist eine Gegenreaktion aufMärkte und nimmt den Reichtum der marktdominierenden Minder-

    heit ins Visier. Die zweite ist eine Gegenreaktion auf die Demokratiedurch Kräfte, welche die marktdominierende Minderheit unterstüt-zen. Die dritte ist Gewalt, manchmal fast in Völkermorddimensio-nen, die sich gegen die marktdominierende Minderheit richtet.

    Das heutige Simbabwe ist ein lebendiges Beispiel für die erste Artder Gegenbewegung − ein ethnisch motivierter Widerstand gegenden Markt. Mehrere Jahren lang förderte Präsident Robert Muga-

     be die gewaltsame Beschlagnahmung von 10 Millionen Hektar ge-nutzten Ackerbodens, der bislang im Besitz von Weißen gewesen war. Wie ein Simbabwer es formuliert: »Das Land gehört uns. Die Ausländer dürfen hier kein Land besitzen. Es gibt keinen schwar-zen Simbabwer, der Land in England besitzt. Warum sollte ein Euro-päer hier Land besitzen?«16 Mugabe wird noch deutlicher: »WecktFurcht in den Herzen der Weißen, unserer wahren Feinde!«17 Diemeisten weißen »Ausländer« im Land sind in der dritten Genera-

    tion Simbabwer. Sie machen gerade mal 1 Prozent der Bevölkerungaus, kontrollieren jedoch seit Generationen 70 Prozent der bestenBodenflächen des Landes, größtenteils in Form hoch produktiver,3.000 Hektar großer Tabak- und Zuckerfarmen.

    Nach dem Absturz der Wirtschaft Simbabwes infolge des Land-raubs drängten die Vereinigten Staaten und Großbritannien zusam-men mit Dutzenden von Menschenrechtsgruppen Präsident Mu-

    gabe zum Rücktritt und forderten lautstark »freie und gerechte Wahlen«. Aber der Glaube, dass Demokratie die Antwort auf Sim- babwes Probleme wäre, ist absolut naiv. Vielleicht hätte Mugabe die Wahlen 2002 ohne Wahlbetrug verloren. Dennoch darf nicht ver-gessen werden, dass Mugabe selbst ein Produkt der Demokratie ist.Der Held der schwarzen Befreiungsbewegung Simbabwes und Meis-ter der Massenmanipulation errang seinen Sieg in den streng über-

     wachten Wahlen von 1980 mit dem Versprechen, »gestohlenes« weißes Land zu enteignen. Die Wiederholung dieses Versprechenshalf ihm auch danach, jede Wahl zu gewinnen. Außerdem war Mu-

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    gabes Kampagne der Landbeschlagnahmung ein weiteres Produktdes demokratischen Prozesses. Sie wurde zeitlich geschickt vor den

     Wahlen 2000 und 2002 durchgeführt und war darauf ausgerichtet,

    eine breite Unterstützung für das angeschlagene Regime Mugabeszu mobilisieren.18

    Im Wettstreit zwischen einer wirtschaftlich mächtigen ethnischenMinderheit und einer zahlenmäßig starken, verarmten Mehrheitsetzt sich nicht immer die Mehrheit durch. Statt eines Rückschlagsfür den Markt kann es durchaus auch zu einer Gegenreaktion aufdie Demokratie kommen, bei der die marktdominierende Minder-

    heit auf Kosten der Mehrheit begünstigt wird. Beispiele dieser Dy-namik sind äußerst zahlreich. Dieses Buch wird zeigen, dass an den weltweit berüchtigtsten Fälle von »Vetternwirtschaftskapitalis-mus« immer eine marktdominierende ethnische Minderheit betei-ligt war − von Ferdinand Marcos’ chinesenfreundlicher Diktatur aufden Philippinen über die Schattenallianz von Präsident Siaka Ste-

     vens mit fünf libanesischen Diamanthändlern in Sierra Leone bis zuden »Geschäftsverbindungen« von Präsident Daniel Arap Moi mit

    einer Handvoll indischer Industriemagnaten in Kenia.

    Die dritte und grausamste Art der Gegenreaktion ist von der Mehr-heit getragene Gewalt, die darauf abzielt, die marktdominierendeMinderheit auszulöschen. Zwei aktuelle Beispiele sind das Massen-schlachten von Tutsi in Ruanda und − in einem geringeren Aus-maß − die ethnische Säuberung von Kroaten im früheren Jugoslawi-en. In beiden Fällen wurde eine ungeliebte und unverhältnismäßig

     wohlhabende ethnische Minderheit von Mitgliedern der relativ ver-armten Mehrheit angegriffen, die von einer ethnonationalistischenRegierung aufgehetzt wurde. Mit anderen Worten: Märkte und De-mokratie gehörten zu den Ursachen sowohl für den ruandischen alsauch für den jugoslawischen Völkermord. Das ist eine schwerwie-gende Behauptung, die dieses Buch jedoch belegen will.

    Den Globalisierungskritikern muss zugutegehalten werden, dass sie

    die Aufmerksamkeit auf die grotesken Ungerechtigkeiten gelenkthaben, die freie Märkte erzeugen. In den 1990ern schrieb Thomas

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    Frank in One Market under God , dass globale Märkte »Unternehmenzur mächtigsten Einrichtung auf dieser Erde gemacht haben«, »dieGruppe der CEOs in eine der wohlhabendsten Eliten aller Zeiten«

     verwandelt haben und von Amerika bis Indonesien »die Armenmit einer Entschlossenheit ignorierten, wie wir sie seit den 1920ernnicht mehr erlebt haben«.19 Zahlreiche Gruppen unterstützen Frankin seiner Kritik »des allmächtigen Marktes«: amerikanische Bauernund Fabrikarbeiter, die der NAFTA ablehnend gegenüberstehen,Umweltexperten, die AFL-CIO, Menschenrechtsvertreter der Drit-ten Welt und diverse andere Gruppen, aus denen sich die Demons-tranten in Seattle, Davos, Genua und New York zusammensetzten.

    Die Verteidiger der Globalisierung rechtfertigen sich damit, dass die Armen dieser Welt ohne globale Marktorientierung noch schlech-ter dran wären. Mit einigen wichtigen Ausnahmen, insbesonderedes größten Teils von Afrika, zeigen neue Weltbank-Studien, dassdas »Durchsickern der Globalisierung nach unten« für die Armen

     wie für die Reichen in Entwicklungsländern Vorteile gebracht hat.20

     Viel wichtiger allerdings ist, dass westliche Globalisierungskritiker

    genauso wie ihre Gegenspieler die ethnische Dimension von Markt- verschiedenheiten übersehen. Sie neigen dazu, Wohlstand und Ar-mut als Klassenkonflikt und nicht als ethnischen Konflikt anzuse-hen. Diese Perspektive mag in den weit entwickelten westlichenGesellschaften sinnvoll sein, aber die ethnischen Realitäten der Ent-

     wicklungsländer unterscheiden sich gänzlich von denen des Wes-tens. Infolgedessen sind die von Kritikern der Globalisierung vorge-

    schlagenen Lösungen häufig kurzsichtig oder sogar gefährlich, wennsie auf nichtwestliche Gesellschaften angewandt werden.

    Im Wesentlichen fordert die Antiglobalisierungsbewegung eines:mehr Demokratie. So hat Noam Chomsky, einer der Hohepriesterder Bewegung, deutlich gemacht, dass es keinen Kampf gegen »dieGlobalisierung« als solche gibt, sondern einen Kampf gegen denglobalen »Neoliberalismus«, der von einigen »Masters of the Uni-

     verse« auf Kosten einer demokratischen Gemeinschaft betrieben wird. In ähnlicher Weise wies Lori Wallach von Public Citizen aufdem Weltsozialforum in Brasilien 2002 das Etikett »Antiglobalisie-

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    rung« zurück und erklärte, dass »unsere Bewegung in Wirklichkeitgenerell für Demokratie, Gleichheit, Vielfalt, Gerechtigkeit und Le-

     bensqualität steht«. Wallach warnte auch, dass sich die Welthandels-

    organisation entweder dem Willen der Menschen weltweit »beugenmuss oder zerbrechen wird«. Dutzende von NGOs schlagen einenähnlichen Ton an und verlangen eine »demokratische Stärkung derarmen Mehrheit dieser Welt«.21

    In Anbetracht der ethnischen Dynamik der Entwicklungsländer undinsbesondere des Phänomens der marktdominierenden Minderhei-ten reicht eine bloße »Stärkung der armen Mehrheit« nicht aus. Die

    Stärkung der Hutu-Mehrheit in Ruanda brachte keine wünschens- werten Resultate. Genauso wenig tat dies die Stärkung der serbi-schen Mehrheit in Serbien.

    Die Kritiker der Globalisierung haben recht mit der Forderung, denenormen Wohlstandsunterschieden, die durch globale Märkte ge-schaffen werden, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Aber es istgenauso gefährlich, Märkte als das Allheilmittel gegen Armut und

    Konflikte in der Welt anzusehen, wie die Demokratie für ein Wun-dermittel zu halten. Märkte und Demokratie können auf lange Sichteine wirtschaftliche und politische Hoffnung für Entwicklungslän-der und postkommunistische Gesellschaften darstellen. Kurzfristigsind sie jedoch Teil des Problems.

    »Märkte«, »Demokratie« und »Ethnizität« sind schwer zu defi-nierende Konzepte. Zum Teil deshalb, weil es nicht nur eine richti-

    ge Interpretation für jeden dieser Begriffe gibt. Tatsächlich hoffe ichin diesem Buch aufzuzeigen, dass die »Marktsysteme«, die derzeitden Entwicklungsländern und postkommunistischen Länder aufge-drängt werden, sich von jenen in den westlichen Nationen stark un-terscheiden; dass der in der nicht-westlichen Welt geförderte Pro-zess der Demokratisierung nicht derselbe ist, den die westlichenLänder selbst durchlaufen haben, und dass »Ethnizität« ein unge-naues, künstliches und gefährlich manipulierbares Konzept ist.

    Dennoch ist eine Klarstellung meines Gebrauchs dieser Begrifflich-keiten angebracht. Im Westen beziehen sich Begriffe wie »Markt-

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     wirtschaft« oder »Marktsystem« auf ein breites Spektrum an Wirtschaftssystemen, die in erster Linie auf Privateigentum und Wett- bewerb beruhen, mit einer Regulierung durch Regierungen und einer

    Neuverteilung, deren Bandbreite von maßgeblich (wie in den Verei-nigten Staaten) bis zu umfassend (wie in den skandinavischen Län-dern) reicht. Paradoxerweise haben die Vereinigten Staaten jedoch inden letzten Jahren überall in der nichtwestlichen Welt den ursprüng-lichen Kapitalismus in der Laisser-faire-Form gefördert – eine Markt-form, die der Westen schon vor langer Zeit aufgegeben hat. In die-sem Buch beziehen sich – wenn nicht anders vermerkt − Begriffe wie»Marktorientierung«, »Märkte« und »Marktreformen« auf diejeni-

    gen prokapitalistischen Maßnahmen, die außerhalb des Westens heu-te aktuell eingeführt werden. Diese Maßnahmen umfassen charakteris-tischerweise Privatisierung, Aufhebung von Staatssubventionen und-kontrolle sowie freien Handel und Initiativen zur Förderung von aus-ländischen Investitionen. Als konkrete Umsetzung beinhalten sie sel-ten, falls überhaupt, grundlegende Umverteilungsmaßnahmen.

    In vergleichbarer Art werde ich den Begriff »Demokratisierung«

    gebrauchen, wenn ich mich auf die politischen Reformen beziehe,die in der nichtwestlichen Welt heute gefördert und umgesetzt wer-den, auch wenn »Demokratie« viele Formen annehmen kann.22 So wird sich »Demokratisierung« hauptsächlich auf die − vor al-lem von den USA gesteuerten − konzertierten Anstrengungen bezie-hen, sofortige Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht durchzuführen.Selbstverständlich würde eine ideale demokratische Gesellschaft si-

    cher mehr bedeutende Grundsätze wie gesetzliche Gleichbehand-lung oder Minderheitenschutz einschließen, aber solche Grundsätzein die Definition der Demokratie einzubauen würde Anspruch mit

     Wirklichkeit verwechseln. Tatsächlich hat keine westliche Nation inihrer Geschichte jemals Laisser-faire-Kapitalismus und allgemeines

     Wahlrecht über Nacht gleichzeitig eingeführt – genau die Formelder freien Marktdemokratie, die zurzeit den Entwicklungsländernrund um die Welt aufgezwungen wird.

    Ethnizität ist ein weiteres umstrittenes Konzept, das eine breite De- batte ausgelöst hat. In diesem Buch gehe ich davon aus, dass »Eth-

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    nizität« kein wissenschaftlich bestimmbarer Zustand ist. Stattdes-sen bezieht sich »Ethnizität« auf eine Art Gruppenidentifikation,ein Zugehörigkeitsgefühl von Menschen, das »als erweiterte Form

    der Blutsverwandtschaft erfahren wird«.23

      Diese Definition vonEthnizität ist bewusst breit angelegt, um der Bedeutung der subjek-tiven Wahrnehmung Rechnung zu tragen. Sie umfasst Unterschie-de zwischen Rassengrenzen (zum Beispiel Schwarze und Weiße inden Vereinigten Staaten), Grenzen geografischen Ursprungs (zumBeispiel Malaysier, Chinesen und Inder in Malaysia) sowie sprachli-che, religiöse, Stammes- oder andere kulturelle Grenzen (zum Bei-spiel Kikuyu- und Kalenjin-Stämme in Kenia oder Juden und Mus-

    lime im Nahen Osten).

    Ethnische Identität ist nicht statisch, sondern veränderlich und starkformbar. In Ruanda zum Beispiel beherrschte die Tutsi-Minderheit

     von 14 Prozent als eine Art Vieh besitzende Aristokratie die Hutu-Mehrheit wirtschaftlich und politisch über vier Jahrhunderte. Aber

     während der meisten Zeit waren die Grenzen zwischen Hutu undTutsi durchlässig. Die beiden Gruppen sprachen dieselbe Sprache,

    Mischehen wurden geschlossen, und erfolgreiche Hutu konntenTutsi »werden«. Das galt nicht mehr, nachdem die Belgier mit trü-gerischen Theorien von Rassenüberlegenheit ins Land kamen undethnische Personalausweise auf der Grundlage von Nasenlänge undSchädelumfang ausgaben. Die daraus resultierenden viel schärferenethnischen Abgrenzungen wurden später von Hutu-Anführern aus-genutzt.24  Auf einer ähnlichen Basis wird heute überall in Latein-

    amerika − wo die Existenz »ethnischer Gruppen« häufig bestritten wird, weil jeder ein »Mischling« sei − einer Vielzahl verarmter Bo-livianer, Chilenen und Peruaner plötzlich gesagt, dass sie Aymaras,Inkas oder einfach Indios seien, je nachdem, welche Identität am bes-ten klingt und am meisten mobil macht. Diese Indigenisierungsbe-

     wegungen sind nicht zwangsläufig gut oder schlecht, aber sie sindhochansteckend.

    Gleichzeit wird eine ethnische Identität selten aus der Luft gegriffen.Subjektive Wahrnehmungen der Identität hängen häufig von »ob-

     jektiveren« Charakterzügen ab, die Menschen zugeschrieben wer-

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    den und beispielsweise auf vermeintlichen morphologischen Eigen-schaften, Sprachunterschieden oder Herkunft beruhen. VersuchenSie, schwarzen und weißen Simbabwern zu erzählen, dass sie sich ih-

    re ethnischen Unterschiede nur einbilden, dass Ethnizität eine sozia-le Konstruktion sei − und sie werden sich mindestens über eine Sacheeinig sein: dass Sie nicht gerade hilfreich sind. Viel relevanter ist dieTatsache, dass es in Simbabwe praktisch keine Mischehen zwischenSchwarzen und Weißen gibt, genauso wie es eigentlich keine Misch-ehen zwischen Chinesen und Malaysiern in Malaysia oder zwischen

     Arabern und Israelis im Nahen Osten gibt. Die Ethnizität kann einProdukt menschlicher Einbildungskraft und zugleich tief in der Ge-

    schichte verwurzelt sein – veränderlich und manipulierbar und den-noch wichtig genug, um dafür zu töten –, und das macht es so furcht-

     bar schwer, ethnische Konflikte zu verstehen und einzudämmen.

    Es gibt eine Reihe von Missverständnissen hinsichtlich meiner The-se, denen ich oft begegne. Ich werde mein Bestes tun, einige von ih-nen in diesem Buch zu beheben, indem ich erkläre, was ich nicht  ver-trete. Erstens propagiert dieses Buch keine universale Theorie, die

    auf jedes Entwicklungsland anwendbar ist. Es gibt sicher Entwick-lungsländer ohne eine marktdominierende Minderheit: China und

     Argentinien sind die besten Beispiele. Zweitens behaupte ich nicht,dass ein ethnischer Konflikt nur bei Vorhandensein einer marktdo-minierenden Minderheit entsteht. Es gibt unzählige Einzelfälle vonethnischem Hass auf wirtschaftlich unterdrückte Gruppen. Undschließlich versuche ich nicht, die Schuld für jeden einzelnen Fall

    ethnischer Gewalt − seien es die Massentötungen, die von allen Sei-ten im früheren Jugoslawien betrieben wurden, oder die Anschlägeauf Amerika − auf Wirtschaftsressentiments, Märkte, Demokratie,Globalisierung oder irgendeine andere einzelne Ursache zurück-zuführen. Zahlreiche einander überlagernde Faktoren und komple-

     xe Dynamiken wie Religion, historisch begründete Feindseligkeit,Landstreitigkeiten oder die Außenpolitik einer bestimmten Nationsind immer mit von der Partie.

    Der Punkt ist vielmehr folgender. In zahlreichen Ländern rund umdie Welt, in denen Armut und eine marktdominierende Minderheit

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     vorherrschen, können Demokratie und Märkte − zumindest in derForm, in der sie zurzeit gefördert werden – nur in einem Spannungs-

     verhältnis existieren. Unter solchen Umständen hat das gemeinsame

     Vorantreiben von freien Märkten und Demokratisierung wiederholtethnische Konflikte herbeigeführt − mit katastrophalen Folgen, ein-schließlich Völkermord und dem Umsturz von Märkten und Demo-kratie selbst. Das ist die ernüchternde Lehre der Globalisierung ausden letzten Jahrzehnten.

    Teil eins dieses Buches erörtert den wirtschaftlichen Einfluss derGlobalisierung. Im Gegensatz zu dem, was ihre Befürworter anneh-

    men, verteilen freie Märkte außerhalb des Westens Reichtum nichtgleichmäßig und sind kein Segen für sämtliche Entwicklungsländer.Stattdessen neigen sie dazu, extremen Reichtum in den Händen ei-ner »Außenseiterminderheit« zu konzentrieren, und erzeugen eth-nischen Neid und Hass bei der frustrierten, verarmten Mehrheit.

     Was geschieht, wenn Demokratie zu dieser volatilen Mischung hin-zugefügt wird? Teil zwei behandelt die politischen Folgen der Glo-

     balisierung. In Ländern mit einer marktdominierenden Minderheit verstärkt Demokratisierung nicht etwa die Leistungsfähigkeit desMarktes und die wohlstandsfördernden Effekte, sondern führt zustarkem Ethnonationalismus und Druck auf die Märkte. Sie läuft re-gelmäßig auf Beschlagnahmungen, Instabilität, Rückfall in den Tota-litarismus und Gewalt hinaus.

    Teil drei untersucht die Phänomene der marktdominierenden Min-

    derheiten und des Ethnonationalismus im Westen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Auch die Zukunft wird an-gesprochen: Wie sollte mit der explosiven Instabilität umgegangen

     werden, die marktdominierende Minderheiten zur demokratischen,freien Marktwirtschaft beitragen? Ich empfehle, dass die Vereinig-ten Staaten Märkte nicht in einer ungezügelten, wirtschaftsliberalenForm exportieren sollten, die der Westen selbst abgelehnt hat, ge-nauso wenig, wie über Nacht unkontrollierte Mehrheitsregierungen

    eingeführt werden sollten – eine Art der Demokratie, die der Wes-ten selber zurückgewiesen hat. Schlussendlich jedoch behaupte ich,

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    dass die größte Hoffnung für demokratischen Kapitalismus in dernichtwestlichen Welt auf den marktdominierenden Minderheitenselbst ruht.

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    Teil eins

    Die wirtschaftlichen Auswirkungen

    der Globalisierung

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    Seit der Entstehung von Microsoft hat die Softwareindustrie die bis-lang größte Anzahl an Milliardären und Multimilliardären in deramerikanischen Geschichte hervorgebracht. Stellen Sie sich einmal

     vor, alle diese Milliardäre wären ethnische Chinesen, und chinesi-sche Amerikaner würden, obwohl sie nur 2 Prozent der Bevölkerungausmachen, auch Time Warner, General Electric, Chase Manhattan,United Airlines, Exxon Mobil und alle anderen größten Unterneh-men und Banken Amerikas sowie das Rockefeller-Zentrum undzwei Drittel der wichtigsten Immobilien des Landes kontrollieren.Stellen Sie sich nun vor, dass die ungefähr 75 Prozent der US-Bevöl-kerung, die sich als »weiß« betrachten, arm wären, kein Land besä-

    ßen und − als Gruppe − keine Aufstiegsmöglichkeiten erfahren hät-ten, so weit sie sich zurückerinnern können.

     Wenn Sie sich das vorstellen können, sind Sie dem Kern der sozia-len Dynamik in der nichtwestlichen Welt nähergekommen. Überallim Süden und Südosten Asiens, in Afrika, der Karibik und auf den

     Westindischen Inseln, im größten Teil Lateinamerikas sowie in Tei-len Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion haben freie Märk-

    te zur schnellen Anhäufung eines gewaltigen, häufig erschreckendenReichtums durch »Außenseiter« oder Angehörige einer »nicht ein-geborenen« ethnischen Minderheit geführt.

     Amerikaner hassen Bill Gates nicht, obwohl er so viel besitzt wie 40Prozent der amerikanischen Bevölkerung insgesamt.1 Sie fühlen sichnicht von ihm betrogen oder ausgenutzt oder denken, dass er Ame-rikaner erniedrigt habe, indem er Milliarden »auf ihrem Grund und

    Boden« verdient hat. Anders in Gesellschaften mit einer marktdomi-nierenden Minderheit. In diesen Gesellschaften überlappen sich Klas-sen und Ethnizität auf gefährliche Weise. Die äußerst Wohlhabendenheben sich ab – sei es aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion,Sprache oder »Blutsbande« − von den verarmten Massen um sie he-rum. Sie werden von dieser Mehrheit als Mitglieder einer anderenEthnizität angesehen − als »Außenseiter«, die anders aussehen, an-ders sprechen oder, wie der nationalistische Anführer George Speightauf den Fidschiinseln kürzlich über die marktdominierende indischeMinderheit seines Landes sagte, »anders riechen«.2

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     Als das amerikanische Justizministerium Microsoft verklagte, weiles bei dem Versuch, seine Mitbewerber auszuschalten, monopolis-tische Methoden anwende, wollten Amerikaner nicht etwa Bill Ga-

    tes lynchen oder ihn seines Vermögens berauben. Im Gegenteil, lautMeinungsumfragen wollten die meisten Amerikaner, dass die Re-gierung Gates in Ruhe ließ, damit er sich wieder auf »das Geldver-dienen konzentrieren« könne.3 In den zahlreichen nichtwestlichenLändern mit einer marktdominierenden Minderheit sind die Pluto-kraten jedoch ethnische Außenseiter. Und während Bill Gates in den

     Vereinigten Staaten kein ethnisches Massenressentiment hervor-ruft, tun dies die indischen Industriemagnaten in Uganda, die eri-

    treischen Unternehmer in Äthiopien und die jüdischen Oligarchenin Russland sehr wohl.

    Die meisten Amerikaner − ob normale Bürger, Kommentatoren derGlobalisierung oder politische Entscheidungsträger – sind sich die-ses Problems nicht bewusst. Infolgedessen exportieren sie den Kapi-talismus des freien Markts munter in den Rest der Welt und blendenden ethnischen Hass sowie die Instabilität, die sie systematisch för-

    dern, dabei aus.

    Die heutige Weltwirtschaft hat sich nicht über Nacht entwickelt,sondern stellt zu einem großen Teil den Erfolg von sechs Jahrzehn-ten amerikanischer Außenpolitik dar. Nach dem Zweiten Weltkriegtrieb Amerika − um den Kapitalismus bewusst zu fördern und denKommunismus einzuschränken − die Entwicklung der Weltbank,des Internationalen Währungsfonds, der Organisation für Wirt-

    schaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit sowie der Freihan-delsorganisation GATT voran. In den 1960er-Jahren pumpten dieU.S. Agency for International Development und private Organisa-tionen wie die Ford-Stiftung Millionen in »Modernisierungspro-

     jekte«, die darauf abzielten, durch den Export kapitalistischer Ein-richtungen einen wirtschaftlichen und gesetzlichen Fortschritt indie Entwicklungsländer zu bringen. Mit dem Zusammenbruch derehemaligen Sowjetunion 1989 wurde der Kapitalismus weltweit alsüberlegen und unaufhaltsam angesehen. In den Entwicklungslän-dern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas setzten der IWF und die

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     Weltbank Privatisierungsprogramme und Auslandsinvestitionen so- wie eine Handelsliberalisierung durch, indem sie dringend erforder-liche Darlehen von diesen Marktreformen abhängig machten.

    Gegen Ende der 1990er-Jahre hatten mehr als 80 Entwicklungs- undpostsozialistische Länder Privatisierungen vorgenommen. Markt-freundliche Steuergesetze, Investitionsreglements und Wertpapier-

     vorschriften, häufig von amerikanischen Rechtsanwälten und Aka-demikern entworfen, wucherten von Peru über Bulgarien bis nach

     Vietnam. Bis 1996 hatte allein Kasachstan mehr als 130 markt-freundliche Gesetze verabschiedet. In Argentinien führte Präsident

    Carlos Menem eine Welle von Kapitalismusförderungsgesetzendurch »Notverordnungen« ein. Börsen – manche manuell betrie- ben – entstanden überall, sogar in Mosambik und in Swasiland.4

    Im neuen Jahrtausend setzen sich die Globalisierung und die welt- weite Ausbreitung von freien Märkten beschleunigt fort, mit Ame-rika am Ruder. Gleichzeitig können wir zurückblicken und ein-schätzen, wie sich der wirtschaftliche Einfluss der Globalisierung

    ausgewirkt hat, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auf derganzen Welt. Wie die folgenden vier Kapitel zeigen werden, bestehtdie bestürzende Wirklichkeit darin, dass globale Märkte − selbst

     wenn sie in einem geringen Maß allen nutzen − die wirtschaftlicheÜberlegenheit von »Außenseiterminderheiten« gestärkt und ex-plosiven Zündstoff für ethnischen Neid und Hass bei der verarmtenMehrheit geliefert haben.

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    Kapitel 1

    Rubine und Reisfelder –Die Vorherrschaft der chinesischen

    Minderheit in Südostasien

    In Birma* werden Tätowierungen traditionell gestochen, um vorSchlangenbissen zu schützen. 1930 und dann wieder 1938 ließensich aufgebrachte Birmanen diese Tätowierungen als Schutz gegenKugeln stechen und schlachteten in einer Orgie der Gewalt zahllo-se Inder ab. Angeblich beteiligten sich sogar Mönche daran. Zu derZeit waren Inder, zusammen mit britischen Kolonisten, eine wirt-schaftlich dominierende ethnische Minderheit in Birma und Zieldes kollektiven Hasses. Das Töten von Indern war gleichzeitig eineRacheaktion und Ausdruck des nationalistischen Stolzes lang un-terdrückter Menschen. Wie ein zeitgenössischer Beobachter sagte:»Der Birmane auf der Straße hatte das Gefühl, dass er wenigstensein Mal seine Überlegenheit gegenüber den Indern bewiesen hat-te.«1

    Heute ist nur noch eine kleine Gemeinschaft von Indern in Birmageblieben. Als Reaktion auf eine weitere Welle der ethnischen Ge-

     walt flohen in den 1960er-Jahren Hunderttausende. Aber eine neuemarktdominierende Minderheit hat ihren Platz eingenommen, dienoch viel reicher ist, als die Inder es jemals waren.

    * Mitglieder der ethnischen Mehrheitsgruppe in Birma werden Bamahs (in der gesprochenen Sprache) oderMyanmahs (in der geschriebenen Sprache) genannt. Der inzwischen unabhängige Staat, der nach demEnde der britischen Kolonialherrschaft 1948 entstand, wurde Burma genannt. 1989 änderte der SLORCden Namen des Landes in Myanmar. (Ebenfalls geändert wurden verschiedene Städtenamen: Rangun

    zum Beispiel heißt jetzt Yangon.) Aus Rücksicht auf die demokratische Oppositionspartei, die sich wei-gerte, der Namensänderung zuzustimmen, bezeichnet die amerikanische Regierung das Land weiterhinals Birma, und ich mache dasselbe. Sofern nicht anders vermerkt, verweist »Birmane« auf die ethnischeMehrheitsgruppe, die ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung umfasst.

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    Die Vorherrschaft der chinesischen Minderheit in Südostasien

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    Märkte, Junta-Stil und die chinesische Übernahme

    Birma hat eines der brutalsten Militärregimes der Welt − den Sta-

    te Law and Order Restoration Council oder SLORC.* Er kam imSeptember 1988 an die Macht, nachdem er Tausende unbewaff-neter Demonstranten hatte niederschießen lassen. 1990 führte derSLORC Mehrparteienwahlen durch, weigerte sich dann jedoch, denerdrutschartigen Wahlsieg von Aung San Suu Kyi, der Friedensno-

     belpreisträgerin von 1991, anzuerkennen, sondern stellte sie statt-dessen unter Hausarrest und erntete damit den Hass der Birmanen.2

    Der SLORC war von Anfang an auf aggressive Weise promarktwirt-schaftlich orientiert. In der Umkehrung von drei Jahrzehnten kata-strophaler sozialistischer Zentralplanung schlug der SLORC 1989»den burmesischen Weg zum Kapitalismus« ein. Abgesehen vonder Bereicherung korrupter SLORC-Generäle, allesamt Birmanen,

     brachte das darauf folgende Jahrzehnt der Marktorientierung für dieeinheimische Bevölkerung, deren große Mehrheit sich weiter in dertraditionellen Landwirtschaft betätigte, eigentlich keine Vorteile. Ei-

    ne Gruppe allerdings profitierte exorbitant.

    Seit Birmas Umschwung zu einer marktorientierten, frei zugänglichen Wirtschaft wurden sowohl Rangun, die moderne Hauptstadt, als auchMandalay, die alte Edelstein-Stadt und Sitz der letzten beiden birma-nischen Könige, von ethnischen Chinesen übernommen. Einige die-ser Chinesen stammen aus Familien, die seit Generationen in Birmagelebt haben. Wie die Inder, aber in einem geringeren Ausmaß, waren

    die Chinesen während der Kolonialperiode (1886−1948) unverhält-nismäßig wohlhabend, was im Wesentlichen auf eine wirtschaftslibe-rale Politik zurückzuführen war, die Birmas traditionell landwirtschaft-lich geprägte Wirtschaft verdrängte. Obwohl viel von ihrem Reichtum

     während der sozialistischen Zeitspanne (1962−1988) beschlagnahmt wurde, blieben die Chinesen auf Birmas Schwarzmärkten und teilwei-se auch im Opiumschmuggel aktiv.

    * 1997 wurde der SLORC bei stark verringerter Mitgliederzahl reorganisiert und umbenannt in State Peaceand Development Council. Aber die meisten Birmanen bezeichnen die Regierung weiterhin als SLORC.

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    In Birmas neuer Marktwirtschaft verwandelte sich die chinesisch- birmanische Minderheit fast über Nacht in eine wohlhabende Wirt-schaftsgemeinschaft. Zusätzlich kauften mehrere Zehntausend ar-

    mer, aber unternehmerisch geschickter Einwanderer aus China, dieaus dem nahe gelegenen Yunnan ins Land strömten, für weniger als300 Dollar die Ausweispapiere toter Birmanen auf und wurden da-mit im Handumdrehen zu birmanischen Staatsangehörigen. Heutegehören den chinesischen Birmanen – die sich in  Longyis , den tra-ditionellen birmanischen Unisex-Sarongs, unwohl zu fühlen schei-nen − fast alle Geschäfte, Hotels und Restaurants in Mandalay sowiedie wichtigsten Geschäfts- und Wohnimmobilien. Für Rangun gilt

    mehr oder weniger dasselbe. Nur einige wenige Unternehmen sindnoch in birmanischer Hand (hauptsächlich Druckereien und Zigar-renfabriken) und werden ringsum von Hochhäusern überragt, die

     von Chinesen gebaut wurden und Chinesen gehören.

     Wie es für Südostasien typisch ist, beherrschen die Chinesen den birmanischen Handel auf jeder Ebene der Gesellschaft. Joint-Ven-tures wie das Shangri-La-Hotel-Geschäft zwischen Lo Hsing-Han,

    dem chinesisch-birmanischen Präsidenten des Asia-World-Kon-zerns, und dem chinesisch-malaysischen Industriemagnaten RobertKuok verwandelten Mandalay und Rangun in blühende Stützpunktefür Festlandchinesen und chinesische Geschäftsnetze in Südostasi-en. (Nichtbirmanische chinesische Investoren sind leicht auszuma-chen. Sie tragen keine Longyis , sondern Cowboystiefel, Sonnenbril-le und eine Flasche Johnnie Walker Red.) Am bescheideneren Ende

    des Spektrums leben chinesische Straßenhändler nicht schlecht da- von, dass sie preiswerte Fahrradreifen aus China − häufig mehr als30.000 pro Monat − für Rikschas in Birma verkaufen. Die chinesi-sche Überlegenheit ist auch kein städtisches Phänomen. Nach zwei

     Jahren schwerer Überschwemmungen im südlichen China strömteeine große Anzahl chinesischer Bauern – manche schätzen sie aufmehr als 1 Million − ins nördliche Birma. Diese neuen birmanischen»Bürger« bauen jetzt Reis auf dem gerodeten Hügelland an, das sie

    übernommen haben. Ganze chinesische Dörfer sind auf diese Wei-se entstanden.3

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    Durch den Boykott der USA aus Menschenrechtsgründen hat dieGlobalisierung für Birma ein unverhältnismäßig chinesisches Ge-sicht bekommen, obwohl die Anwesenheit französischer und deut-

    scher Investoren ebenso spürbar ist. »Nennen Sie ein großes Infra-strukturprojekt irgendwo in Myanmar, und die Wahrscheinlichkeit,dass es in den Händen chinesischer Auftragnehmer liegt, ist sehrhoch«, beobachtete The Economist  vor ein paar Jahren.

    Chinesische Ingenieure arbeiten an dem Ausbau der Autobahn vonMandalay bis Yangon. Chinesische Unternehmen planen die Eisen-

     bahnstrecke von Mandalay bis Myitkyina nahe der chinesischen

    Grenze und die Strecke von Mandalay bis zur Hauptstadt. Mit derHilfe von Sträflingstrupps in Ketten aus Myanmars Gefängnissen bauen sie auch eine Linie von Ye bis Tavoy in Myanmars entferntemSüdosten … Gegen internationale Konkurrenz konnten sich chine-sische Auftragnehmer durchsetzen und bekamen den Auftrag, einegroße Brücke über den Chindwin-Fluss zu bauen.

     Andere chinesische Unternehmungen reichen von einem neuen

    internationalen Flughafen für Mandalay über Unterkünfte für dieStreitkräfte bis hin zu 30 Staudämmen. Es waren die Chinesen, diein Zusammenarbeit mit Siemens eine Bodensatellitenstation für dieHauptstadt errichteten.4

    Die Chinesen in Birma beherrschen nicht nur den legalen Handel,sondern auch dubiose Schwarzmarktaktivitäten. Tatsächlich ist dieGrenze zwischen der legalen und illegalen Handelstätigkeit in Bir-

    ma wie in vielen Entwicklungsländern fließend. Einige der einfluss-reichsten Unternehmer des Landes sind ehemalige − vielleicht auchimmer noch aktive – Drahtzieher des Drogenhandels. »Drogendea-ler, die einst mit Mauleseltrecks über Dschungelpfade zogen, sind

     jetzt führende Gestalten in Birmas neuer Marktwirtschaft«, klagtedie ehemalige amerikanische Außenministerin Madeline Albright.5

    Der in Birma geborene chinesische Industriemagnat Lo Hsing-han war zum Beispiel in den 1960er-Jahren ein berüchtigter Opium-könig und vermutlich für einen Großteil des Heroins verantwort-lich, das in amerikanischen Venen landete. Laut dem Birma-Exper-

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    ten Bertil Lintner begann Lo in seiner Geburtsprovinz Kokang alsLeutnant der pistolenschwingenden lesbischen Opiumkönigin Oli-

     ve Yang. 1989 schloss Lo ein Geschäft mit dem SLORC ab und über-

    zeugte die anderen chinesischen Drogenbosse, eine Waffenruhe mitder Junta als Entgelt für wertvolle Bauholz- und Mineralkonzessio-nen zu akzeptieren. Heute umfasst Los kommerzielles Reich »Asia

     World« ein Containerschifffahrtsgeschäft, die Hafengebäude inRangun und Mautstellen auf der wiedereröffneten Burma Road. Lo

     besteht darauf, dass er jetzt ein legitimer Unternehmer ist. »Seit inMyanmar die Marktwirtschaft eingeführt wurde«, erklärt er, »ist esleichter, Geld mit dem Handel von Fahrzeugen über die chinesische

    Grenze zu verdienen.«6 Ungeachtet dessen, ob Lo eine weiße Wes-te hat oder nicht − und die meisten westlichen Offiziellen glaubennicht daran –, bleibt Birmas »chinesische Unterwelt« weiterhin do-minierend im Rauschgifthandel und der Geldwäsche, solange chine-sische Händler auf den blühenden gesetzlichen Märkten von Man-dalay agieren.

    Chinesische Plutokraten, birmanisches Elend 

    Seit der SLORC die Märkte öffnete, betreibt Birma Raubbau an sei-nen Rohstoffen, besonders Teakholz, Jade und Rubine. Abgesehen

     von SLORC-Generälen sind die Begünstigten fast ausschließlichChinesen und eine Handvoll Schmuggler des Bergvolks.

    Birmas Wälder umfassen mehr als 70 Prozent des Teakholzbestan-des der Welt. Der birmanische Teakbaum mit seinen großen eiför-migen Blättern und den weißen Blüten kann über 40 Meter hoch

     werden. Sein Holz ist dunkel, schwer und harzhaltig sowie extremhart und haltbar. Teakholz war lange das Holz der birmanischen Kö-nigsdynastie und wurde durch Rudyard Kipling unsterblich gemacht(»Elephints a-pilin’ teak/ in the sludgy, squdgy creek, / Where thesilence ’ung that ’eavy you was ’arf afraid to speak! / On the road to

    Mandalay …«), heute ist es Amerikas bevorzugtes Holz für Boots-decks und Salatschüsseln.

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    Seit mehr als einem Jahrzehnt verkaufen Birmas Bergvölker, beson-ders die Shan, enorme Mengen an Teakholz zu Schleuderpreisen anchinesische Händler. Offiziell sind diese Verkäufe Schmuggelware

    und verletzen das Monopol des SLORC auf Holzexporte. In Wirk-lichkeit haben SLORC-Generäle einen Handel mit aufständischenBergvölkern geschlossen und ihnen wirtschaftliche Freiheit im Ge-genzug für Waffenruhe gewährt. Infolgedessen schlängeln sich seit1989 täglich Lastwagenkonvois mit Teakholzstämmen − manchmalmehr als drei Meter dick und von Bäumen, die Hunderte von Jahrenalt waren − entlang der gebirgigen alten Burma Road über die Gren-ze in Chinas Provinz Yunnan.

     Währenddessen gestaltete sich die offizielle Holzpolitik des SLORCals aggressive, global orientierte Marktöffnung mit Regierungskon-zessionen. Darauf beharrend, dass das Fällen von Teakbäumen Bir-mas Wirtschaftsentwicklung unterstütze, forderte der SLORC diePrivatwirtschaft zum vollen Einsatz bei der Förderung der »Forst-

     wirtschaft« auf (was hier Abholzung bedeutet) und befreite Forst- wirtschaftsexporte sogar von Steuern. Neben europäischen und chi-

    nesischen Investoren sind die meisten Geschäftspartner des SLORCchinesisch-birmanische Industriemagnaten, die enge Verbindun-gen zu thailändisch-chinesischen Holzfirmen haben. Ein prominen-tes Beispiel ist der führende Industrielle »May Flower« Kyaw Win,der als Sohn einer armen chinesischen Familie im Norden des Shan-Staats auf die Welt kam. Seit seinem Einstieg ins Bauholzgeschäft im

     Jahr 1990 ist Kyaw Win − der auch als Managing Director der Yan-

    gon Airlines fungiert und häufig mit hochrangigen Generälen gese-hen wird − einer der wohlhabendsten Männer in Birma.7

    Im Gegensatz dazu haben Birmanen kaum von der marktgetriebe-nen Abholzung des Landes profitiert. Shan verdienen weiterhinGeld mit dem Schmuggel von Teakholz nach Yunnan, aber um dasGanze noch schlimmer zu machen, geben die Shan, ebenso wie die

     bestochenen birmanischen Grenzbeamten, fast ihre gesamten Ein-nahmen für begehrte Konsumgüter aus, die aus China importiertund von birmanischen Chinesen verkauft werden. Infolgedessen ha-

     ben die Chinesen am Ende sowohl das Teakholz als auch das Geld,

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     während die Shan und die Birmanen mit billigen Gettoblastern, Mi-chael-Jackson-T-Shirts, Sportschuhen, Präservativen und Bier auschinesischer Produktion abgespeist werden.8

    Neben dem Teakholz ist Birma berühmt für seine Edelsteine: Tau- benblutrubine, leuchtend blaue Saphire und Imperial-Jade. Vor1989, unter der sozialistischen Herrschaft im birmanischen Stil, wares nur dem Staat erlaubt, den Abbau und Verkauf von Edelsteinenzu betreiben. Als 1980 ein Privatmann in einer Mine einen Rohru-

     bin von unglaublichen 469,5 Karat entdeckte und auf dem Schwarz-markt verkaufte, wurde er verhaftet und eingesperrt. Der SLORC

    eignete sich den Rubin 1990 wieder an und proklamierte ihn stolzals Staatseigentum. Als Na Wa Ta oder »SLORC-Rubin« wurdesein Bild im ganzen Land in der staatlichen Working People’s Daily gezeigt (nahezu zeitgleich gab die Regierung auch die Entdeckung

     von zwei Rohsaphiren bekannt, von denen der eine 979 Karat wog,der andere ungefähr 1.300 Karat). Während der sozialistischen Peri-ode, als die gesamte Industrie verstaatlicht war, verkaufte die birma-nische Regierung Edelsteine an ausländische Unternehmen, indem

    sie jährliche »Edelsteinmessen« abhielt. Private Edelsteinverkäu-fe wurden von Hunderten Händlern im Untergrund durchgeführt,größtenteils auf den Schwarzmärkten an der 34. und 35. Straße vonMandalay.9

    Bei einer 180-Grad-Kehrtwende in Richtung Marktwirtschaft priva-tisierte die birmanische Regierung Anfang der 1990er-Jahre großeTeile der Edelsteinindustrie. Seit 1995 wurden private Bergwerks-

    konzessionen über Ausschreibungen vergeben und kosteten bis zu83.000 Dollar pro Morgen Land für unerschlossene Edelsteingru-

     ben. Wieder einmal waren praktisch alle Konzessionäre chinesisch- birmanische Unternehmer. Von einem Edelsteinunternehmen inchinesischem Besitz wurde berichtet, dass es 100 Edelsteinminenkontrollierte und über 2.000 Kilogramm Rohrubine pro Jahr förder-te. Das sichtbare Vermögen von Lo Hsing-Han, das auf ungefähr 600Millionen Dollar geschätzt wird, schließt wertvolle Rubinkonzessio-nen sowie »einen Bergwerksanteil in der nördlichen gelegenen ›Ja-derausch-Stadt‹ Phakent ein − von der erzählt wird, dass sie einen

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    300-Tonnen-Jadeblock birgt, der so tief im Dschungel begraben ist,dass er nicht bewegt werden kann«. Die Asia World von Lo ist jetztder beliebteste Partner für Ausländer, die in Birma investieren. Zu-

    sammen mit dem privaten Bergbau legalisierte der SLORC auch pri- vate Edelsteinverkäufe. Heute wird Birmas Edelsteinindustrie auf je-der Stufe von erfolgreichen birmanischen Chinesen beherrscht, vonden Finanzgebern über die Konzessionsbetreiber bis zu den Eigen-tümern Hunderter neuer Schmuckgeschäfte, die überall in Manda-lay und Rangun gedeihen.10 Selbstverständlich werden SLORC-Be-amte auf jeder Ebene angemessen beteiligt.

      Dass sich im Hinblick auf das finanzielle und menschliche Kapi-tal die große Mehrheit der einheimischen Birmanen von ungefähr69 Prozent der Bevölkerung mit der chinesischen 5-Prozent-Min-derheit des Landes nicht messen kann, ist eine Untertreibung. Drei

     Viertel der Birmanen leben in ländlichen Gebieten am Existenzmi-nimum und sind meist in der Reisproduktion oder Landwirtschafttätig. Trotz der Bodenreformen während des sozialistischen Zeital-ters haben vermutlich 40 Prozent der birmanischen Bauern keinen

    Grundbesitz. Für auf dem Land lebende Birmanen ist es praktischunmöglich, Geld zu sparen. Sie geben ihren gesamten Verdienst so-fort aus, um am Leben zu bleiben. Infolgedessen haben die meis-ten Birmanen wenig oder kein Kapital und profitieren nicht von der

     Wirtschaftsliberalisierung.11

    Der Mangel an Finanzkapital ist nicht das einzige Problem. Seit der Abkehr vom Sozialismus im Jahr 1988 hat der SLORC die Ausgaben

    für Gesundheit und Ausbildung zusammengestrichen. Laut den Ver-einten Nationen besuchen fast 40 Prozent der birmanischen Kinderkeine Schule, und bis zu 75 Prozent gehen vor der fünften Klasse ab.

     Außerdem wurden Birmas Universitäten wegen der Angst der herr-schenden Junta vor studentengeführten Aufständen von Dezember1996 bis Juli 2000 geschlossen. Alle diese Faktoren, zusammen mitmöglichen kulturellen Hindernissen wie einem eventuellen Vorur-teil gegenüber »gierigem« Gewinnstreben, machen es für Birma-nen äußerst schwierig, sich in einer Marktwirtschaft zu behaupten.12

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    In städtischen Gebieten haben Birmanen unter der Marktöffnunggelitten. Die meisten gebürtigen Einwohner von Mandalay waren

     von jeher Handwerker, die ihren Lebensunterhalt mit dem Weben

     von Teppichen, dem Schnitzen von Blattgold, dem Fertigen vonMöbeln oder dem Polieren von Edelsteinen verdienten. In den letz-ten Jahren haben die niedrigen Löhne in diesen traditionellen Indus-trien sowie die sprunghaft ansteigenden Preise von Konsumgüternden Lebensstandard Tausender Menschen unter das Existenzmini-mum getrieben. Seit 1989 ist der Preis von Reis in Mandalay ständiggestiegen – einmal um über 1.000 Prozent in sieben Jahren −, oh-ne dass ein Ende in Sicht wäre. Viele Birmanen, deren durchschnitt-

    liches Pro-Kopf-Einkommen nur ungefähr 300 Dollar pro Jahr be-trägt, bewegen sich dadurch an der Grenze zum Verhungern.

    Zudem wurden birmanische Einwohner von Mandalay aus ihrerHeimat vertrieben, als chinesische Projektentwickler in den 1990er-

     Jahren alle bedeutenden Immobilien in der Stadt ergatterten – undein schnelles Vermögen machten, weil sich die Eigentumswerte inden chaotischen neuen Märkten verdoppelten und verdreifachten.

    (Im Jahre 1990 hatte der SLORC bereits Dissidenten und Mönchegewaltsam umgesiedelt.) Heute leben Tausende armer, vertriebenerBirmanen in Satelliten-Elendsvierteln am Stadtrand von Mandalay,in Sichtweite der farbenprächtigen, eingezäunten Prunkvillen derSLORC-Generäle, von denen sich viele ganz offen von chinesischenUnternehmern aushalten lassen.13

    Freie Märkte sollen den Wohlstand insgesamt erhöhen und tun das

    tatsächlich häufig. Aber Birmas eingeborene Mehrheit, die ungefähr30 Millionen Menschen umfasst, kann das nicht bestätigen. In ih-rer Wahrnehmung haben Märkte und Wirtschaftsliberalisierung zurDominierung und Plünderung ihres Landes durch eine Handvoll»Außenseiter« geführt, hauptsächlich Chinesen in symbiotischer

     Verbindung mit dem SLORC. Der Hauptgeschäftsbezirk von Man-dalay wird jetzt von chinesischen Zeichen und chinesischer Musikgeprägt, die aus chinesischen Geschäften tönt. Produkte birmani-scher Herkunft wurden fast vollständig durch preiswertere chinesi-sche Importe ersetzt. Chinesische Restaurants, die gegrilltes Fleisch

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    und Fisch anbieten, sind voller Menschen, die Mandarin sprechen.»Wenn du nach Mandalay willst«, mokiert sich eine Figur in einemlokalen Cartoon, »musst du Chinesisch können.« Bei Sonnenun-

    tergang strömt das neue Geld von Mandalay in chinesisch geführteKaraoke-Bars, in denen junge chinesische Animierdamen die neues-ten Lieder von in Hongkong produzierten CDs mitsingen. An den

     Wochenenden entspannen sich wohlhabende Chinesen im Gebirgs-ort Maymyo, dessen von britischen Kolonisten zurückgelassene vik-torianische Villen sie als Ferienhäuser erworben haben.14

    Inzwischen brodeln bei der birmanischen Mehrheit unter der Ober-

    fläche antichinesische Ressentiments. So wie der Hass auf denSLORC zunimmt, wächst auch der Hass auf die Chinesen, und dasnicht ohne Grund: Die engen kapitalistischen Beziehungen zwi-schen SLORC-Generälen und chinesischen Unternehmern, ganz zuschweigen von den Waffenkäufen in China, waren entscheidend fürdie Unterstützung der verachteten herrschenden Junta Birmas. Aberin der gegenwärtigen Schreckensherrschaft gibt es keine Möglich-keit, um Ressentiments abzureagieren, sei es gegen den SLORC, die

    reichen Chinesen oder die marktorientierte Politik, die diesen bei-den Gruppen erlaubt hat, Millionen einzustreichen, während einge-

     borene Birmanen in ihrem eigenen Land zur zunehmend unterjoch-ten Unterklasse werden. Alkoholismus nimmt unter Birmanen starkzu. Das ist noch erschreckender vor dem Hintergrund, dass der Ge-nuss hochprozentiger Getränke als Verstoß gegen die Fünf Gebo-te des birmanischen Buddhismus betrachtet wird. Passenderweise

    ist das meistkonsumierte alkoholische Getränk chinesisches Tiger-Bier, das aus China importiert wird.15

    Heute sprechen gewöhnliche Birmanen verbittert von »der chinesi-schen Invasion« oder »Wiederkolonisation durch die Chinesen«.»Die Menschen, die diese neuen Gebäude errichten, sagen, dass sieBirmanen seien, aber wir wissen, dass sie in Wahrheit aus China stam-men«, erklärte ein birmanischer Ladenbesitzer verärgert. »Sie über-nehmen unsere Geschäfte und vertreiben uns aus unseren Häusern.«16 Trotz massiver Repressionen seitens der Regierung − das Internet undalle Formen politischer Organisationen und freier Meinungsäußerung

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    sind verboten – ist die Feindschaft der Einheimischen gegenüber den birmanischen Chinesen greifbar, und sie wächst.

    Chinesische Marktbeherrschung im historischen Kontext 

    Kein anderes Land besitzt Birmas schreckliche Kombination ei-ner Orwell’schen Regierung, eines Überflusses an Rubinen und rie-sengroßer Felder mit Opiummohn (welche die gegenwärtige Juntadurch Limetten und Sojabohnen ersetzen lassen will). Dennoch istdie zugrunde liegende Dynamik in Birma − chinesische Marktüber-legenheit und starke Ressentiments bei der einheimischen Mehrheit– charakteristisch für nahezu jedes Land in Südostasien.

    Chinesen spielten schon lange vor dem Kolonialzeitalter eine un- verhältnismäßig große Rolle im kommerziellen Leben Südostasiens.Im frühen 15. Jahrhundert, als Admiral Cheng Ho im Auftrag derMing-Dynastie eine Flotte von 300 Schiffen um Südostasien führte,entdeckte er auf Java, heute zur Republik Indonesien gehörend, ei-

    ne blühende Enklave chinesischer Gefährten. Der Admiral bemerk-te, dass die Chinesen über feines Essen und gute Kleidung verfügten,im Gegensatz zu »den Eingeborenen des Landes, die sehr schmut-zig waren, eine Vorliebe für Schlangen, Insekten und Würmer hattenund zusammen mit den Hunden schliefen und aßen«.17

    Um dieselbe Zeit war in einem anderen Teil des heutigen Indonesi-en das wesentlich fortschrittlichere Tabanan der Sitz eines der mäch-

    tigsten und kultiviertesten Königshöfe von Bali. Das KönigreichTabanan, so erzählt Clifford Geertz, strotzte vor »rebellischen Kom-plotten, strategischen Ehen, bewussten Beleidigungen und geschick-ten Schmeicheleien, die in ein feines Muster der machiavellistischenStaatskunst eingewebt waren«. Tabanan war auch das Zentrum derheute weltberühmten balinesischen Musik und Theaterkünste. Den-noch wurde selbst vor 600 Jahren der ganze Außenhandel im Kö-

    nigreich von einem einzelnen wohlhabenden Chinesen gesteuert, während die übrigen Mitglieder der winzigen chinesischen Gemein-schaft als seine Agenten handelten. Einheimischer Handel existierte

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    praktisch nicht. Ein halbes Jahrtausend später hat sich in dieser Hin-sicht wenig geändert. Auch 1950 waren alle Geschäfte und Fabrikenin Tabanan in chinesischem Besitz.18 

     Als die Spanier 1571 auf der philippinischen Insel Luzon die StadtManila gründeten, stießen sie auf chinesische Ansiedlungen, diemehr als ein Jahrhundert vor ihnen errichtet worden waren, sowieauf streitlustige chinesische Händler, die in ihren Dschunken segel-ten und Kanonen abfeuerten. Die Feindseligkeit zwischen den Chi-nesen und den Spaniern ist ein Dauerthema in der philippinischenKolonialgeschichte. Die Spanier legten den Chinesen massive Steu-

    ern und Beschränkungen auf und sonderten sie in dem eingezäuntenGetto Parián ab. Gleichzeitig waren die Spanier sehr abhängig vonden Chinesen, die als Händler, Schneider, Schlosser, Bäcker und so

     weiter jede wichtige Wirtschaftsnische zu besetzen schienen.

     Am 23. Mai 1603 kamen drei chinesische Mandarine auf den Phil-ippinen an, ihre sämtlichen offiziellen Abzeichen und einen Kasten

     voller Siegel tragend, als ob sie noch in China wären. Nachdem sie

    die Huldigungen der chinesischen Einwohner Manilas entgegenge-nommen hatten,

    präsentierten die Mandarine dem spanischen Gouverneur ei-

    nen Brief, der erklärte, dass sie gekommen waren, um einen

    Berg voller Gold und Silber zu untersuchen, von dem der chi-

    nesische Kaiser gehört hatte und der nach ihrer Kenntnis bis

     jetzt unerschlossen sei. Sie legten die standesgemäße Erha-

    benheit von Abgesandten des allmächtigen Herrschers an

    den Tag und bewegten sich durch Manila, als ob es chinesi-

    sches Territorium wäre. Sie ordneten auch Prügelstrafen an,

    wenn sie dies für passend erachteten. Die Spanier wussten

    nicht, was sie davon halten sollten. War es das Vorspiel für ei-

    ne chinesische Übernahme der Philippinen? … Als Vorsichts-

    maßnahme gab der Gouverneur die Anweisung aus, dass al-

    le Chinesen auf der Insel sich in Listen einzutragen hatten

    und die Männer in Gruppen zu jeweils 300 Personen unterge-bracht werden sollten.19

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    Die Chinesen widersetzten sich, und Feindseligkeiten brachen aus.Nachdem ein spanischer Gesandter in Parián getötet worden war,nahmen die Spanier Rache. Sie metzelten 23.000 Chinesen nieder

    und eigneten sich gierig deren Eigentum an. Später allerdings bedau-erten die Spanier, dass sie so viele Chinesen getötet hatten, weil sie,

     wie einer von ihnen jammerte, nichts zu essen hatten und »keineSchuhe, nicht einmal zu überhöhten Preisen«.20

    Die Chinesen kehrten schließlich zurück und wurden von den Spa-niern noch viele Male niedergemetzelt. Am Ende überlebten dieChinesen die Spanier.

    Die chinesische Wirtschaftsüberlegenheit in Vietnam geht noch weiter zurück. Vietnams aufgezeichnete Geschichte beginnt im Jahr208 v. Chr., als ein abtrünniger chinesischer General Au Lac erober-te, ein Gebiet in den nördlichen Bergen Vietnams, in denen das

     Viet-Volk lebte. Er erklärte sich zum Kaiser von Nam Viet. Ein Jahr-hundert später vereinte sich die mächtige Dynastie von Han Nam

     Viet mit dem chinesischen Reich, und für die folgenden tausend

     Jahre stand Vietnam als Provinz unter der Herrschaft Chinas. Wäh-rend dieser Periode der chinesischen Kolonisation und in vielen da-rauf folgenden Jahrhunderten wurde Vietnam von Strömen chinesi-scher Einwanderer besiedelt − Beamte, Gelehrte und Händler sowieSoldaten, Flüchtlinge und Kriegsgefangene. Am Ende des 17. Jahr-hunderts hatte sich innerhalb der vietnamesischen Gesellschaft eineausgeprägte chinesische Gemeinschaft gebildet, die in Vietnam alsHoa bekannt ist.21

    Die Chinesen in Vietnam waren berüchtigt für ihren Geschäftssinn. Anders als die Briten, Niederländer und Japaner waren die Chine-sen nicht nur Händler, sondern auch Produzenten. Sie stellten al-les Mögliche her, von schwarzen Räucherkerzen bis zu feinster Sei-de. Sie agierten als Zwischenhändler zwischen den Europäern undden lokalen Vietnamesen. In Hoi An, Vietnams geschäftigstem Han-delshafen vom 16. bis in das 18. Jahrhundert, besaßen chinesische

    Händler das Monopol auf Vietnams Goldausfuhrgeschäft und be-herrschten den lokalen Handel mit Papier, Tee, Pfeffer, Silberbar-

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    ren, Waffen, Schwefel, Blei und B