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Eine sauschlechte Anfangsvariante des Romans "Paradiso" vom Mai 2008.
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Der längste Tag
[Sauschlechte Anfangsvariante, Mai 2008]
1
Die Straße liegt hell und ruhig im Mittagslicht. Die Backsteinfassaden der
Häuser gegenüber leuchten in einem warmen Rot und oben, weit über mir,
fliegt ein Schwarm Vögel durch die Luft. Die Körper der Vögel bilden ein
langes, breites V, und während ich den Schwarm beobachte, denke ich daran,
daß ich vielleicht bald sterben muß. Jedesmal, wenn ich verreise, kommt mir
der Gedanke, und ich habe keine Ahnung, wieso. Ich bin ja ein sehr
optimistischer Mensch, und bisher ist mir unterwegs noch nie etwas Schlechtes
passiert, trotzdem denke ich daran. Es stört mich aber nicht. Das einzige
Unangenehme daran ist, daß ich vor jeder Reise wie besessen meine Wohnung
aufräumen muß. Die Vorstellung, daß meine Nachwelt sich ein falsches Bild
von mir macht, daß ich irgendwie schlampig oder dreckig oder unorganisiert
und mein Unfall womöglich gar kein Unfall gewesen sein könnte, beunruhigt
mich.
In der Ferne höre ich jetzt ein Motorengeräusch. Ich trete auf die Straße, und
als ich sehe, daß es Nellys brauner Kombi ist, schultere ich meinen Rucksack
und gehe ihr entgegen. Nelly ist eine alte Freundin von Johanna, meiner
Freundin, und sie hat mir angeboten, mich zur Raststätte Michendorf zu
fahren. Dort nimmt mich dann ein Starnberger Geschäftsmann nach München
mit, und morgen früh fliege ich mit Johanna nach Portugal. So einfach ist das;
das heißt, ganz so einfach ist es nicht. Eigentlich würde ich mit meinem
eigenen Auto nach München fahren und wäre auf Nelly und den
Geschäftsmann gar nicht angewiesen, aber vor drei Tagen hat Johanna damit
einen Unfall gebaut. Ihr selbst ist nichts passiert dabei, nicht einmal eine
Schramme hat sie abgekriegt, nur der Wagen war hinüber. Sie ist gegen einen
Baum gefahren oder vielleicht war es ein Laternenmast. Ganz sicher bin ich
mir nicht. Ich habe nicht nachgefragt, weil ich sie getröstet habe und dabei
nicht den Anschein erwecken wollte, als ginge es mir ums Blech. Ehrlich
gesagt, war es mir aber tatsächlich egal, daß das Auto kaputt ist und jetzt
Reparaturkosten anfallen und die Versicherungsgebühren höher werden und so
weiter. Mein Vater kümmert sich um diese Sachen, er kennt da alle Tricks.
Während ich die Beifahrertür öffne, denke ich an ihn, eine Sekunde lang, sehe
ich sogar sein blasses zerfurchtes Gesicht, dann quetsche ich den Rucksack
zwischen den Sitzen nach hinten und sage Nelly Hallo. Grüß dich Alex, sagt sie
in ihrem breiten Münchner Dialekt und küßt mich auf die Wangen, zweimal
links und einmal rechts. Dann dreht sie das Radio lauter, legt den ersten Gang
ein und fährt los. Ich kurbele das Seitenfenster hinunter, halte meinen rechten
Arm in den Fahrtwind und sehe hinaus. Draußen zieht Potsdam vorbei. Der
Schloßpark mit seinen alten Bäumen, die Havel, auf der unzählige Boote
schwimmen, dann fahren wir auch schon durch die maroden Randbezirke aus
der Stadt hinaus und als wir das Ortsschild passieren, werde ich sentimental.
Ich denke, daß ich mich in Potsdam sehr gut und erfolgreich eingelebt habe
und die Stadt und die Filmhochschule wie geschaffen sind für mich. Alles läuft
hier rund, so als hätte es gar nicht anders kommen können, von Anfang an.
Kurz muß ich auch an meine alten Freunde denken, und ohne es zu wollen,
triumphiere ich. Zwei, drei Sekunden lang lebe ich im Allerinnersten dieses
Triumphgefühls, wie ein Kokoon umschließt es mich und ich fühle meinen
Körper sehr klar und strahlend und scharf, dann setzt Nelly den Blinker und
zieht den Wagen auf die linke Spur. Wir überholen einen Laster, und ich
krampfe die Zehen zusammen, so fest, daß die Haut, die über die Gummisohle
des Flip-Flos nach hinten gezogen wird, ganz heiß wird. Zwar sehe ich vor mir
keinen einzigen Wagen, aber es würde mich nicht überraschen, wenn trotzdem
einer käme. Er könnte von dem Alleelicht irgendwie verschluckt worden sein.
Gerade so ein Licht ist das hier unter den Bäumen, das alles und jeden
verschluckt. Nelly lenkt den Wagen wieder auf die rechte Spur zurück und
wischt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ich überlege mir, ihr von meinen
Sterbephantasien zu erzählen, aber dann lasse ich es bleiben. Sie hat vor
kurzem zu Johanna gesagt, sie halte mich für einen Romantiker, und das war
bestimmt nicht als Kompliment gemeint. Sie hat das im Zusammenhang mit
zwei Photographien gesagt, die in meiner Wohnung hängen:
Sonnenuntergänge über bewaldeten Hügelketten der nördlichen Oberpfalz.
Ohnehin glaube ich, daß sie denkt, Johanna habe etwas Besseres verdient,
einen Schauspieler vielleicht, jemand aus München am besten, so wie sie selbst.
Zwar verbirgt sie diese Gedanken vor mir, aber es gelingt ihr nicht immer. Vor
allem, wenn wir uns voneinander verabschieden, gelingt es ihr nicht: Nelly küßt
mich nicht auf den Mund. Sie und Johanna haben diese Angewohnheit, so eine
Münchner Schickeriagewohnheit, die sie auch nach Potsdam importiert haben.
Sie küssen ihre Freunde zum Abschied auf den Mund. Mir gibt Nelly nur die
Wange, und auch das, glaube ich, tut sie nur widerwillig. Ich überlege, was ich
ihr erzählen könnte, aber mir kommt absolut nichts in den Sinn. Dann hilft mir
aber das Radio. Es ist kurz nach eins und die erste Meldung in den
Nachrichten, betrifft Portugal. Die Nachrichtensprecherin sagt, daß in Portugal
die Wälder brennen. Die Feuer, sagt sie, seien von Brandstiftern gelegt worden
und die portugiesische Feuerwehr stehe den Flammen machtlos gegenüber.
Mehrere Brandherde seien völlig außer Kontrolle geraten und das Wasser sei
knapp. Ich sage zu Nelly, daß ich das krass finde und hoffe, daß wir im
Flugzeug einen Fensterplatz bekommen. Zumal, sage ich, die Maschine sich ja
bereits im Sinkflug befinden muß, weil Portugal so ein Land ohne Tiefe ist, ein
Land ohne Hinterland. Nelly sagt, daß sie krass das falsche Wort findet. Es sei
vielmehr eine Tragödie, sagt sie, Menschen würden in den Flammen
umkommen und ganze Ortschaften würden vernichtet. Ich wiege den Kopf
hin und her, als ob ich ihre Worte in Betracht ziehen würde, aber tatsächlich
denke ich, daß ich Recht habe. Ich habe das Feuer ja nicht gelegt und wir
haben den Flug nach Lissabon auch nicht gebucht, um es uns anzusehen. Wir
wollen dort nur Urlaub machen, und wenn wir zufällig über die Flammen
fliegen, haben wir doch auch das Recht hinunter zu schauen.
Meine Wut auf Nelly wächst, und gerade als ich damit anfange, die Haut um
meine Fingernägel herum abzureißen, taucht weiter vorne ein blaues
Hinweisschild auf. Rasthof Michendorf 500 Meter steht drauf. Ich lege sofort
meine Hände auf die Oberschenkel, lache kurz und sage, daß wir eigentlich
auch in Deutschland bleiben könnten, so heiß, wie es im Moment hier ist.
Nelly gibt irgendein Geräusch von sich, dann setzt sie den Blinker und fährt
über die gestrichelte weiße Linie auf die Seitenspur hinaus. Sie parkt den
Wagen vor dem Tankstellenshop, und bevor sie den Motor abstellt, sehe ich
noch schnell auf die Uhr. 13:07 zeigt die Digitalanzeige an, in acht Minuten bin
ich mit meiner Mitfahrgelegenheit verabredet.
.
Gib Johanna einen Kuss von mir, sagt Nelly zum Abschied und beugt sich
nach vorne. Ich drehe den Kopf halb schräg, und sie küsst mich mitten auf den
Mund. Mein Kinn fängt zu zittern an, hinter ihrem Rücken balle ich die Hände
zu Fäusten und konzentriere mich ganz fest darauf, sie nicht an mich zu
pressen und weiter zu küssen. Zugleich habe ich aber eine unglaubliche Wut
auf mich, weil ich so einfach zu manipulieren bin. Ich weiß ja, daß es nichts
bedeutet, sie küßt ja jeden auf den Mund. Meine Wut überträgt sich jetzt auf
sie und dann auf Johanna selbst. Mit dieser plumpen Masche, denke ich, hat sie
mich gekriegt. Damit hat sie meine Beziehung zerstört. Vier Jahre lang war ich
mit Leni zusammen, glücklich zusammen, und dann kommt diese Münchnerin
und küßt mich zum Abschied auf den Mund. Einmal ein bißchen länger, und
weil sie so ein strahlender Mensch ist und bei allen so gut ankommt, schicke
ich Leni zum Teufel. Wobei das so natürlich auch nicht stimmt. Sie hat mich ja
nicht gezwungen, ich habe auch mitgemacht, sonst wäre es gar nicht passiert.
Vielleicht war ich mit Leni doch nicht so glücklich, denke ich, sie war ja auch
nicht so hübsch wie Johanna und im Grunde bemitleide ich meine alten
Bekannten, die noch immer an ihren Schulfreundinnen klammern, obwohl
jeder sehen kann, daß schon längst alles kaputt gegangen ist. Die haben sich
nicht entwickelt, und ich mich schon, denke ich, und dann höre ich plötzlich
Nelly, die mich fragt, ob irgendwas ist?
Ich schüttele den Kopf, lasse die Arme schlaff an den Seiten herunter baumeln
und sage, daß es ohne den Fahrtwind ganz schön heiß hier draußen ist. Fast
wie in Portugal, sage ich und lächele, und Nelly sagt: Ja, das stimmt. Dann setzt
sie sich in den Wagen, läßt den Motor an und fährt davon. Ich bleibe stehen
und sehe ihr hinterher, und dabei lecke ich mir von innen mit der
Zungenspitze über die Lippen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe,
irgendeinen fruchtigen Geschmack vielleicht, aber meine Lippen schmecken
nur nach getrocknetem Schweiß. Nach meinem eigenen, glaube ich. Ich
schultere meinen Rucksack, gehe auf den Tankstellenshop zu und lehne mich
gegen die Wand.