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28 Heilberufe / Das Pflegemagazin 2013; 65 (11) PflegePraxis Reportage E s ist Mittagszeit im Bottroper Seni- orenzentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Bügelstraße. 157 Se- niorinnen und Senioren warten auf ihr Mittagessen. Heute gibt es im Hauptgang Frikadellen mit Kartoffelbrei und Blu- menkohl. Dazu eine heiße Nudelsuppe als Vorspeise. Liebevoll hat Beate Bauer* ihren Senioren im Aufenthaltsraum den Tisch gedeckt. Außen auf der Serviette liegt der Löffel, dann folgen nach innen Gabel und Messer. Der kleine Löffel für den Nachtisch kommt über das ordent- liche Arrangement. Auf jeden Platz stellt sie ein Wasserglas. Ein kurzer Blick über die Tische: Das Mittagessen kann begin- nen. Gisela Sommer* rollt in ihrem Rollstuhl an den Tisch. Beate Bauer stellt ihr eine gut gefüllte kleine Schüssel mit Nudelsuppe hin, schiebt den Rollstuhl näher heran und beugt sich über die Schulter der alten Dame? „Ist alles gut?“, fragt sie freundlich. Gisela Sommer nickt, den Löffel schon in der Hand. Beate muss sich sputen. Auch die Seniorinnen und Senioren, die auf ihrem Zimmer essen möchten oder müssen, warten auf ihre Mahlzeit. Essen austeilen, Betten machen – Zuwendung zeigen Seit vier Jahren arbeitet Beate Bauer im Seniorenheim der AWO. Von 6.45 Uhr in der Früh bis 13:15 Uhr deckt sie Tische, reicht das Essen, sorgt für volle Wasser- gläser, unterhält sich mit den Seniorinnen und Senioren, geht mit ihnen spazieren, macht die Betten und einfache Pflegetä- tigkeiten. Wichtige Aufgaben, für die die examinierten Pflegekräfte in einem streng getakteten System kaum noch Zeit finden. Kein Wunder, dass sich die Belegschaft über die Hilfe der 42-Jährigen freut. Und Beate Bauer ist froh, hier im Senioren- heim gebraucht zu werden. Zwei der alten Damen sind ihr besonders ans Herz ge- wachsen. „Die beiden sind halt noch lie- ber als die anderen“, sagt sie lächelnd. Ein guter Grund, die Seniorinnen auch dann zu besuchen, wenn sie eigentlich schon lange Feierabend hat. „Sie freuen sich so sehr, wenn ich komme. Und ich freue mich, wenn die beiden sich freuen.“ Die Pflegekräfte sind dankbar Projekte wie diese können nur gelingen, wenn der Einsatz für alle Beteiligten eine „Win-win-Situation“ ergibt, so Peter Schmidt, Einrichtungsleiter des Senioren- heims. „Unsere Pflegekräfte sind sehr dankbar für das Engagement von Beate Bauer und ihrer Kollegin. Die Bedienste- ten eines Pflege- und Seniorenheims lei- den ja besonders unter der Arbeitsver- dichtung, die wir aktuell erleben. Zeit für menschliche Nähe und Zuwendung bleibt da kaum noch. Da ist jeder von uns froh, dass Arbeitnehmerinnen wie Beate Bauer mit ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer Freundlichkeit diese Lücke schließen hel- fen.“ Eine besondere Schulung der Pfle- gefachkräfte sei natürlich notwendig: „Die Belegschaft muss realistisch einschätzen können, was sie erwarten darf, welche Empfindlichkeiten es zu beachten gilt, wie sie Arbeitsschritte so erklärt, dass sie von der neuen Mitarbeiterin auch verstanden werden. Dafür haben wir unsere Arbeits- bereiche so kleinteilig organisiert, dass auch Menschen wie Beate Bauer gut zu- rechtkommen und sich keine langen und schwierigen Abläufe merken müssen.“ DOI: 10.1007/s00058-013-1194-x Die Belegschaft muss realistisch einschätzen können, was sie erwarten darf und wie Arbeitsschritte so erklärt werden, dass sie von der neuen Mitarbeiterin auch verstanden werden. Inklusion in der Pflege Angekommen im neuen Job Beate Bauer war 20 Jahre in den Bottroper Werkstätten der Diakonie beschäftigt. Seit vier Jahren arbeitet die 42-Jährige mit geistiger Behinderung praktisch im „Außendienst“: In einem Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt unterstützt sie die Pflegekräfte. Eine „win-win-Situation“ für alle Beteiligten. Was bedeutet Inklusion in der Pflege? Der Inklusionsgedanke sieht vor, dass alle Menschen, unabhängig ihrer Herkunft oder individuellen Fähigkeiten, ein Recht darauf haben, sich vollständig und gleich- berechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Dazu gehört auch, dass Menschen mit geistigen Einschränkungen nach Möglichkeit nicht in separierten Werkstätten, sondern auf dem regulären Arbeitsmarkt Beschäftigung finden. Für die Pflege bedeutet das: Alltagsbegleiter oder Alltagshelfer üben keine Tätigkeiten aus, für die es einer fachlichen Kompetenz bedarf. Aber sie leisten Arbeiten, die geeignet sind, das Pflegepersonal zeitlich zu entlasten und den Senioren und Seniorinnen ein Plus an menschlicher Zuwendung zu bieten: Tische decken, Essen servieren und anreichen, Wassergläser füllen, Einkäufe erledigen, Betten machen, Zuhören, Vorle- sen und Spazieren gehen. INFO

Angekommen im neuen Job

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28 Heilberufe / Das P�egemagazin 2013; 65 (11)

PflegePraxis Reportage

Es ist Mittagszeit im Bottroper Seni-orenzentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Bügelstraße. 157 Se-

niorinnen und Senioren warten auf ihr Mittagessen. Heute gibt es im Hauptgang Frikadellen mit Kartoffelbrei und Blu-menkohl. Dazu eine heiße Nudelsuppe als Vorspeise. Liebevoll hat Beate Bauer* ihren Senioren im Aufenthaltsraum den

Tisch gedeckt. Außen auf der Serviette liegt der Löffel, dann folgen nach innen Gabel und Messer. Der kleine Löffel für den Nachtisch kommt über das ordent-liche Arrangement. Auf jeden Platz stellt sie ein Wasserglas. Ein kurzer Blick über die Tische: Das Mittagessen kann begin-nen. Gisela Sommer* rollt in ihrem Rollstuhl an den Tisch. Beate Bauer stellt ihr eine gut gefüllte kleine Schüssel mit

Nudelsuppe hin, schiebt den Rollstuhl näher heran und beugt sich über die Schulter der alten Dame? „Ist alles gut?“, fragt sie freundlich. Gisela Sommer nickt, den Löffel schon in der Hand. Beate muss sich sputen. Auch die Seniorinnen und Senioren, die auf ihrem Zimmer essen möchten oder müssen, warten auf ihre Mahlzeit.

Essen austeilen, Betten machen – Zuwendung zeigenSeit vier Jahren arbeitet Beate Bauer im Seniorenheim der AWO. Von 6.45 Uhr in der Früh bis 13:15 Uhr deckt sie Tische, reicht das Essen, sorgt für volle Wasser-gläser, unterhält sich mit den Seniorinnen und Senioren, geht mit ihnen spazieren, macht die Betten und einfache Pflegetä-tigkeiten. Wichtige Aufgaben, für die die

examinierten Pflegekräfte in einem streng getakteten System kaum noch Zeit finden. Kein Wunder, dass sich die Belegschaft über die Hilfe der 42-Jährigen freut. Und Beate Bauer ist froh, hier im Senioren-heim gebraucht zu werden. Zwei der alten Damen sind ihr besonders ans Herz ge-wachsen. „Die beiden sind halt noch lie-ber als die anderen“, sagt sie lächelnd. Ein guter Grund, die Seniorinnen auch dann zu besuchen, wenn sie eigentlich schon lange Feierabend hat. „Sie freuen sich so sehr, wenn ich komme. Und ich freue mich, wenn die beiden sich freuen.“

Die Pflegekräfte sind dankbarProjekte wie diese können nur gelingen, wenn der Einsatz für alle Beteiligten eine „Win-win-Situation“ ergibt, so Peter Schmidt, Einrichtungsleiter des Senioren-heims. „Unsere Pflegekräfte sind sehr dankbar für das Engagement von Beate Bauer und ihrer Kollegin. Die Bedienste-ten eines Pflege- und Seniorenheims lei-den ja besonders unter der Arbeitsver-dichtung, die wir aktuell erleben. Zeit für menschliche Nähe und Zuwendung bleibt da kaum noch. Da ist jeder von uns froh, dass Arbeitnehmerinnen wie Beate Bauer mit ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer Freundlichkeit diese Lücke schließen hel-fen.“ Eine besondere Schulung der Pfle-gefachkräfte sei natürlich notwendig: „Die Belegschaft muss realistisch einschätzen können, was sie erwarten darf, welche Empfindlichkeiten es zu beachten gilt, wie sie Arbeitsschritte so erklärt, dass sie von der neuen Mitarbeiterin auch verstanden werden. Dafür haben wir unsere Arbeits-bereiche so kleinteilig organisiert, dass auch Menschen wie Beate Bauer gut zu-rechtkommen und sich keine langen und schwierigen Abläufe merken müssen.“ D

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Die Belegschaft muss realistisch einschätzen können, was sie erwarten darf und wie Arbeitsschritte so erklärt werden, dass sie von der neuen Mitarbeiterin auch verstanden werden.

Inklusion in der Pflege

Angekommen im neuen JobBeate Bauer war 20 Jahre in den Bottroper Werkstätten der Diakonie beschäftigt. Seit vier Jahren arbeitet die 42-Jährige mit geistiger Behinderung praktisch im „Außendienst“: In einem Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt unterstützt sie die Pflegekräfte. Eine „win-win-Situation“ für alle Beteiligten.

Was bedeutet Inklusion in der P�ege?

Der Inklusionsgedanke sieht vor, dass alle Menschen, unabhängig ihrer Herkunft oder individuellen Fähigkeiten, ein Recht darauf haben, sich vollständig und gleich-berechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Dazu gehört auch, dass Menschen mit geistigen Einschränkungen nach Möglichkeit nicht in separierten Werkstätten, sondern auf dem regulären Arbeitsmarkt Beschäftigung finden. Für die Pflege bedeutet das: Alltagsbegleiter oder Alltagshelfer üben keine Tätigkeiten aus, für die es einer fachlichen Kompetenz bedarf. Aber sie leisten Arbeiten, die geeignet sind, das Pflegepersonal zeitlich zu entlasten und den Senioren und Seniorinnen ein Plus an menschlicher Zuwendung zu bieten: Tische decken, Essen servieren und anreichen, Wassergläser füllen, Einkäufe erledigen, Betten machen, Zuhören, Vorle-sen und Spazieren gehen.

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Beate Bauer und Klaudia Bogdon-Braungart beim Tischdecken

Berührungsängste mit der neuen Mitarbeiterin hat Klaudia Bogdon-Braungart vom Sozialen Dienst weder bei der Belegschaft noch bei den alten Menschen festgestellt. „Es gab weder Distanz noch Ablehnung. Im Gegenteil. Beate Bauer kommt bei allen gut an. Natürlich haben wir dafür gesorgt, dass wir am Anfang beson-ders jene Seniorinnen und Senioren eingebunden haben, die be-sonders aufgeschlossen sind und sich gerne unterhalten.“ Probleme bleiben im Alltag – natürlich – nicht aus.

Ursprünglich bestand das Team aus der Werkstatt aus drei Frauen. Eine ging nach kurzer Zeit zurück in die Werkstatt. Die Gründe dafür lagen weder in der Zusammenarbeit mit den Pflegekräften noch in der täglichen Arbeit. Heidi Müller, Übergangsassistentin in der Diakonie: „Zu einer Dame hatte die Kollegin eine besonde-re emotionale Beziehung. Als diese einen Schlaganfall erlitt und verändert wieder ins Heim kam, da war das für die Mitarbeiterin nur sehr schwer zu verkraften. Natürlich versuchen wir, unsere Außendienstler darauf vorzubereiten, dass alte Menschen krank werden und sterben können. Aber im Einzelfall kann es dann trotz-dem vorkommen, dass die Arbeit für unsere Leute zu belastend wird.“ Manchmal, so Heidi Müller, müsse man die Helferinnen und Helfer auch vor sich selbst schützen: „Unsere Leute haben zumeist einen sehr hohen Anspruch an sich selbst. Deshalb ist natürlich ganz wichtig, dass sie vermittelt bekommen: Es macht nichts, dass andere mehr können als man selbst. Wichtig ist nur, dass man im Rahmen seiner Möglichkeiten gute Arbeit leistest.“

Perspektiven wechselnBeate Bauer ist nun schon vier Jahre dabei. Das „mulmige Gefühl“, das sie am ersten Tag empfand, ist längst gewichen. Besonders schwer fand sie es, sich die Namen der vielen Seniorinnen und Senioren zu merken. Heidi Müller lacht: „Das haben wir aber gut hinbekommen, oder, Beate? Wir haben uns einfach Eselsbrücken überlegt. Frau Nobier* trinkt no Bier, erinnerst Du Dich?“ Beate ©

A. L

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PflegePraxis Reportage

Arbeitnehmerinnen wie Beate Bauer helfen mit ih-rer Hilfsbereitschaft und ih-rer Freundlichkeit, Betreu-ungslücken zu schließen.

Bauer grinst. „Ja, das hat gut geklappt.“ In den ersten Wochen fiel es ihr noch schwer, ihren Kolleginnen und Kollegen etwas von sich zu erzählen oder ihnen mitzu-teilen, wenn sie etwas nicht verstand oder sich gerade nicht so wohl fühlte. „Aber das habe ich dann auch gelernt“, sagt sie stolz. Heidi Müller nickt: „Ist doch super, was Du alles schon geschafft hast und wie toll Du durchgehalten hast.“

Die finanzielle Ausstattung dieser Arbeitsplätze ist ein ProblemBeate Bauer ist offiziell weiterhin bei der Diakonie angestellt. Das Seniorenzentrum erstattet ihr Gehalt. Heidi Müller: „Na-türlich wollen wir, dass das Entgelt ent-sprechend der Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden berechnet wird. Wer mehr kann, soll natürlich auch mehr ver-dienen können.“ Trotzdem bleibt die fi-nanzielle Ausstattung dieser Arbeitsplät-ze ein Problem: „Wir sind ein gutes Bei-spiel dafür, dass Inklusion wunderbar funktionieren kann. Aber natürlich müs-sen auch diese Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter ihrer Arbeit entsprechend ent-lohnt werden und dafür gibt es kaum ei-nen finanziellen Spielraum“, sagt Peter Schmidt bedauernd. Mit dieser Ansicht steht der Einrichtungsleiter nicht alleine. Bei einer Befragung im Rahmen des Le-benshilfe-Programms „Perspektiven-wechsel – Menschen mit geistiger Behin-derung als Alltagsbegleiter in der Alten-

hilfe“ – entstanden in Zusammenarbeit mit der „Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege“ (ZQP) – erklärten die teilneh-menden Einrichtungen, dass sie die Fi-nanzierung als das Hauptproblem ansä-hen. Auch Heidi Müller wünscht sich, dass die zunehmende Integration ihrer Teilnehmer in den ersten Arbeitsmarkt nicht an knappen Kassen scheitern wird. „Unsere Werkstattmitarbeiterinnen und -mitarbeiter schließen tatsächlich eine Lücke, die es in der Pflege gibt. Die Zu-gewandtheit und die Ruhe, die sie aus-strahlen, machen das System mensch-licher. Davon profitieren wir alle: Die Belegschaft wird entlastet, die Senio-rinnen und Senioren haben einen An-sprechpartner, der sich Zeit nimmt – und die Menschen mit geistiger Behinderung erfahren an ihren neuen Arbeitsplätzen ein hohes Maß an Wertschätzung, das sie selbstbewusster macht und sie innerlich wachsen lässt.“

Das erlebt auch Beate Bauer in „ihrem“ Seniorenheim und deshalb möchte sie ihre Arbeit auf jeden Fall fortsetzen. „Hier kann ich viel selbstständiger arbeiten als in der Werkstatt. Und meine Pausen kann ich mir selbst einteilen.“ Sie überlegt einen Moment: „Aber erst kommen natürlich die Bewohner – und dann erst ich.“ Annette Lübbers

* Namen von der Redaktion geändert © A

. Lüb

bers

Heidi Müller ist eine von drei Übergangsas-sistenten der Di-akonie, die „Au-

ßenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung“ verantworten und be-gleiten. Sie hat Beate Bauer und eine weitere Kollegin mit Praktikums-zeiten und Weiterbildungsmaß-nahmen auf ihren „Außeneinsatz“ vorbereitet. „Wir haben insgesamt 30 Werkstattbeschäftigte, die einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt gefunden haben, neun davon in Se-niorenheimen: in der Pflege, der Hauswirtschaft, der Haustechnik, oder in der Küche. Leicht darf man sich das nicht vorstellen: Es braucht ein gehöriges Maß an Motivation und Anpassungsfähigkeit, sich als Mensch mit geistigen Einschrän-kungen auf ein solches Wagnis ein-zulassen. Immerhin verlassen diese Menschen einen sozialen Rahmen, in dem sie geschützt und sicher gearbeitet haben. Deshalb haben wir viel Wert darauf gelegt, unsere Außendienstler im Vorfeld gut zu qualifizieren und sie umfassend zu begleiten – nicht nur während der Vorbereitung, sondern auch an ihrer neuen Arbeitsstelle.“