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© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 028/20 „Push-Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des Völkerrechts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste

„Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Page 1: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

copy 2020 Deutscher Bundestag WD 2 ndash 3000 - 02820

bdquoPush-Backsldquo an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Lichte des Voumllkerrechts

Ausarbeitung

Wissenschaftliche Dienste

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstuumltzen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Taumltigkeit Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfas-serinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit fuumlr einen Ab-geordneten des Bundestages dar Die Arbeiten koumlnnen der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende ge-schuumltzte oder andere nicht zur Veroumlffentlichung geeignete Informationen enthalten Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veroumlffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulaumlssig Der Fach-bereich beraumlt uumlber die dabei zu beruumlcksichtigenden Fragen

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

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bdquoPush-Backsldquo an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Lichte des Voumllkerrechts

Aktenzeichen WD 2 - 3000 - 02820 Abschluss der Arbeit 31 Maumlrz 2020 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich WD 2 Auswaumlrtiges Voumllkerrecht wirtschaftliche Zusammenarbeit

und Entwicklung Verteidigung Menschenrechte und humanitaumlre Hilfe

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Inhaltsverzeichnis

1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze 4

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze 6

3 Verbot von Kollektivausweisungen 8 31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands 8 32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien 8 33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien

fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze 9

4 Anwendung des Refoulementverbots 11 41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze 11 42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze 12 43 Abschottung und positive Verpflichtungen 13

5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots 15 51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat 15 52 Massenfluchtbewegungen 17 53 Oumlffentlicher Notstand 19 54 Corona-Pandemie 20

6 Fazit 21

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1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze

Als Folge der Ankuumlndigung der tuumlrkischen Regierung die tuumlrkische Grenze in Richtung

Griechenland zu oumlffnen hielten sich im Maumlrz 2020 tausende von Menschen an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze nahe des geschlossenen Grenzuumlbergangs PazarkuleEdirne auf Die aus der

Tuumlrkei bzw aus tuumlrkischen Fluumlchtlingslagern kommenden Personen stammten unbestaumltigten

Medienberichten zufolge offenbar zur Haumllfte aus den Ursprungslaumlndern Afghanistan und zu

20 Prozent aus Syrien1 Ob es sich dabei rechtlich gesehen um Migranten Asylsuchende oder

Fluumlchtlinge iSd Genfer Fluumlchtlingskonvention (GFK) handelte laumlsst sich allenfalls vermuten

bis zu einer individuellen Klaumlrung verbieten sich indes pauschale Urteile uumlber deren Status Mitt-

lerweile hat die Tuumlrkei die Landgrenze zu Griechenland von tuumlrkischer Seite aus wieder ge-

schlossen2 Auch das Camp an der tuumlrkisch-griechischen Grenze wurde von den tuumlrkischen Be-

houmlrden wegen der Corona-Pandemie wieder aufgeloumlst und die Menschen ins Landesinnere ver-

bracht3

Entlang der tuumlrkisch-griechischen Grenze kam es vermehrt zu Zusammenstoumlszligen einreisewilliger

Personen mit der griechischen Grenzpolizei Medienberichten zufolge verhindern griechische

Sicherheitskraumlfte unter Einsatz von Wasserwerfern Traumlnengas und Ventilatoren dass Menschen

die EU-Auszligengrenze in Richtung Griechenland uumlberqueren Von der tuumlrkischen Seite aus seien

im Gegenzug Rauchgasgranaten in Richtung der griechischen Polizei abgefeuert worden4 Der

VN-Sonderbeauftragte fuumlr die Rechte von Migranten Gonzaacutelez Morales bezog sich in seinem

Statement auf Berichte wonach griechische Grenzbeamte Personen die es uumlber die tuumlrkisch-

griechische Grenze geschafft haben festgehalten und entkleidet haumltten ihnen ihre Habseligkeiten

abgenommen und sie dann zuruumlck auf die tuumlrkische Seite gedraumlngt haumltten5

1 Vgl die Uumlbersichtskarte bdquoAn der Auszligengrenze Europasldquo in SZ vom 1415 Maumlrz 2020 S 9 Unter den Men-schen an der tuumlrkisch-griechischen Grenze befinden sich zudem Somalier Palaumlstinenser und Kongolesen

2 Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoDie Tuumlrkei schlieszligt die Grenze zu Griechenland wiederldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikfluechtlingsstreit-mit-der-eu-die-tuerkei-schliesst-die-grenze-zu-griechenland-wieder25658918html

3 Tagesschau vom 27 Maumlrz 2020 bdquoTuumlrkei raumlumt Fluumlchtlingscampldquo httpswwwtagesschaudeinlandfluechtlinge-griechenland-tuerkei-103html

4 ZEIT online vom 7 Maumlrz 2020 bdquoRauchbomben und Traumlnengas an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-traenengas-griechenland-tuerkei-migranten ZEIT online vom 13 Maumlrz 2020 bdquoGriechenland setzt Ventilatoren gegen Fluumlchtende einldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-griechenland-fluechtende-ventilatoren-traenengas-rauch ZEIT online vom 18 Maumlrz 2020 bdquoFluumlchtlinge scheitern mit Einreiszligen des Grenzzaunsldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-konflikt-migration

5 Statement des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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Die griechische Regierung die bereits im November 2019 ein neues Asylgesetz beschlossen hatte

um die gesamte Asylinfrastruktur in Griechenland zu entlasten6 hat mit Wirkung vom 1 Maumlrz

2020 fuumlr 30 Tage die Schlieszligung der Grenze zur Tuumlrkei und die Aussetzung der Moumlglichkeit zur

Stellung von Asylantraumlgen fuumlr illegal uumlber die tuumlrkisch-griechische Grenze kommende Menschen

beschlossen

bdquoThe upgrading at the highest degree of the security measures at the eastern land and sea borders of the

country by the public security and the armed forces to prevent illegal entries into the country The temporary

suspension for one month from the date of receipt of this Decision of the lodging of asylum by those entering

the country illegally The immediate return where possible to the country of origin without registration of

those who enter illegally the Greek territory [hellip]7

Die vorliegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste bietet eine voumllkerrechtliche

Einschaumltzung der Maszlignahmen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze Dabei geht

es konkret um das Spannungsfeld zwischen dem Recht eines Staates seine Grenzen zu schuumltzen

und die Einreise in das Staatsgebiet zu regulieren sowie dem Recht eines Fluumlchtlings bzw eines

Asylsuchenden dessen fluumlchtlingsrechtlicher Status noch nicht abschlieszligend geklaumlrt ist auf

Nichtzuruumlckweisung (Refoulementverbot)

Eroumlrtert wird zunaumlchst die rechtliche Zulaumlssigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Grenzsiche-

rung durch die griechischen Sicherheitsorgane (dazu 2) Die Ausarbeitung geht anschlieszligend

der Frage nach ob die von der griechischen Regierung verfuumlgte Grenzschlieszligung einschlieszliglich

der Zuruumlckweisungen von Asylsuchenden an der EU-Auszligengrenze (sog push-backs)8 deren

fluumlchtlingsrechtlicher Status noch ungeklaumlrt ist mit dem Voumllkerrecht vereinbar sind Untersucht

werden ua das Verbot der Kollektivausweisung (dazu 3) und ndash im Schwerpunkt ndash das Refou-

lementverbot der EMRK bzw der Genfer Fluumlchtlingskonvention (dazu 4) Dabei geht es um die

Frage unter welchen Voraussetzungen das Refoulementverbot zugunsten von Asylsuchenden

uumlberhaupt Anwendung findet (dazu 41 bis 43) und ob es infolge besonderer Umstaumlnde (Ruumlck-

weisung in einen sicheren Drittstaat Massenzustrom Notstand Pandemie) beschraumlnkt bzw aus-

gesetzt werden darf (dazu 51 bis 54)

6 Vgl Sachstand WD 3 ndash 3000 ndash 03520 vom 5 Maumlrz 2020 bdquoAumlnderungen im griechischen Asylgesetzldquo ZEIT online vom 1 November 2019 httpswwwzeitdepolitikausland2019-11kyriakoks-mitsotakis-griechenland-asylgesetz-verschaerfung

7 Hellas Journal vom 1 Maumlrz 2020 Statement of the Government Spokesman Stelios Petsas regarding decisions of the Government Council of National Security httpshellasjournalcom202003statement-of-the-government-spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government-council-of-national-security

8 Zur Problematik sog bdquoheiszliger Abschiebungenldquo (hot returns) vgl Bernsdorff in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 19 Rdnr 29 und 30

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Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zuruumlckweisungen an der Grenze9 ndash einschlieszliglich

der Rolle der europaumlischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 ndash werden in dieser Ausarbeitung

nicht naumlher behandelt11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der tuumlr-

kischen Regierung fuumlr die derzeitige Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze12 einschlieszlig-

lich der rechtlichen Fragen zum EU-Fluumlchtlingspakt mit der Tuumlrkei von 2016 dessen Verletzung

sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen13

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze

Die territoriale Souveraumlnitaumlt der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates den

Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenz-

uumlbertritte zu verteidigen (Grenzhoheit) Der EGMR fuumlhrt im Fall ND und NT gegen Spanien

aus14

ldquoIt should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law and subject to their

treaty obligations including those arising from the Convention Contracting States have the right to control the

entry residence and removal of aliensrdquo

Staatliche Maszlignahmen der Grenzsicherung richten sich zunaumlchst nach nationalem Recht Fuumlr das

Vorgehen der griechischen Sicherheitskraumlfte an der griechisch-tuumlrkischen Grenze maszliggeblich ist

das griechische Grenzregime auf das an dieser Stelle nicht naumlher eingegangen werden kann

Grenzsicherungsmaszlignahmen wie Traumlnengas Wasserwerfer uam die geeignet sind das Grund-

recht auf Leben und koumlrperliche Unversehrtheit zu beeintraumlchtigen sind aber auch am Maszligstab

des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen

9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet zB Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie der Ruumlckfuumlh-rungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung Uumlberdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europaumlische Asylpolitik (Art 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art 72 AEUV Vgl zum Ganzen ua Dana Schmalz Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann VerfBlog vom 13 Juni 2018 httpsverfassungsblogdeweshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann

10 Vgl dazu nur FAZ vom 12 Maumlrz 2020 bdquoFrontex verstaumlrkt Einheiten an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwfaznetaktuellpolitikauslandfrontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt-16675994html

11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten

12 Das Handeln der tuumlrkischen Regierung ist fuumlr die voumllkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsiche-rungsmaszlignahmen rechtlich nur insoweit relevant als dass die Tuumlrkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgeloumlst hat Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Tuumlrkei waumlre kein Rechtfertigungsrund fuumlr Griechenland

13 Vgl dazu Tagesschau vom 5 Maumlrz 2020 bdquoEU-Tuumlrkei-Abkommen Wer hat den Fluumlchtlingsdeal gebrochenldquo httpswwwtagesschaudefaktenfindereu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109html

14 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 167 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 2: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstuumltzen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Taumltigkeit Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfas-serinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit fuumlr einen Ab-geordneten des Bundestages dar Die Arbeiten koumlnnen der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende ge-schuumltzte oder andere nicht zur Veroumlffentlichung geeignete Informationen enthalten Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veroumlffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulaumlssig Der Fach-bereich beraumlt uumlber die dabei zu beruumlcksichtigenden Fragen

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bdquoPush-Backsldquo an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Lichte des Voumllkerrechts

Aktenzeichen WD 2 - 3000 - 02820 Abschluss der Arbeit 31 Maumlrz 2020 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich WD 2 Auswaumlrtiges Voumllkerrecht wirtschaftliche Zusammenarbeit

und Entwicklung Verteidigung Menschenrechte und humanitaumlre Hilfe

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Inhaltsverzeichnis

1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze 4

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze 6

3 Verbot von Kollektivausweisungen 8 31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands 8 32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien 8 33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien

fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze 9

4 Anwendung des Refoulementverbots 11 41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze 11 42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze 12 43 Abschottung und positive Verpflichtungen 13

5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots 15 51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat 15 52 Massenfluchtbewegungen 17 53 Oumlffentlicher Notstand 19 54 Corona-Pandemie 20

6 Fazit 21

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1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze

Als Folge der Ankuumlndigung der tuumlrkischen Regierung die tuumlrkische Grenze in Richtung

Griechenland zu oumlffnen hielten sich im Maumlrz 2020 tausende von Menschen an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze nahe des geschlossenen Grenzuumlbergangs PazarkuleEdirne auf Die aus der

Tuumlrkei bzw aus tuumlrkischen Fluumlchtlingslagern kommenden Personen stammten unbestaumltigten

Medienberichten zufolge offenbar zur Haumllfte aus den Ursprungslaumlndern Afghanistan und zu

20 Prozent aus Syrien1 Ob es sich dabei rechtlich gesehen um Migranten Asylsuchende oder

Fluumlchtlinge iSd Genfer Fluumlchtlingskonvention (GFK) handelte laumlsst sich allenfalls vermuten

bis zu einer individuellen Klaumlrung verbieten sich indes pauschale Urteile uumlber deren Status Mitt-

lerweile hat die Tuumlrkei die Landgrenze zu Griechenland von tuumlrkischer Seite aus wieder ge-

schlossen2 Auch das Camp an der tuumlrkisch-griechischen Grenze wurde von den tuumlrkischen Be-

houmlrden wegen der Corona-Pandemie wieder aufgeloumlst und die Menschen ins Landesinnere ver-

bracht3

Entlang der tuumlrkisch-griechischen Grenze kam es vermehrt zu Zusammenstoumlszligen einreisewilliger

Personen mit der griechischen Grenzpolizei Medienberichten zufolge verhindern griechische

Sicherheitskraumlfte unter Einsatz von Wasserwerfern Traumlnengas und Ventilatoren dass Menschen

die EU-Auszligengrenze in Richtung Griechenland uumlberqueren Von der tuumlrkischen Seite aus seien

im Gegenzug Rauchgasgranaten in Richtung der griechischen Polizei abgefeuert worden4 Der

VN-Sonderbeauftragte fuumlr die Rechte von Migranten Gonzaacutelez Morales bezog sich in seinem

Statement auf Berichte wonach griechische Grenzbeamte Personen die es uumlber die tuumlrkisch-

griechische Grenze geschafft haben festgehalten und entkleidet haumltten ihnen ihre Habseligkeiten

abgenommen und sie dann zuruumlck auf die tuumlrkische Seite gedraumlngt haumltten5

1 Vgl die Uumlbersichtskarte bdquoAn der Auszligengrenze Europasldquo in SZ vom 1415 Maumlrz 2020 S 9 Unter den Men-schen an der tuumlrkisch-griechischen Grenze befinden sich zudem Somalier Palaumlstinenser und Kongolesen

2 Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoDie Tuumlrkei schlieszligt die Grenze zu Griechenland wiederldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikfluechtlingsstreit-mit-der-eu-die-tuerkei-schliesst-die-grenze-zu-griechenland-wieder25658918html

3 Tagesschau vom 27 Maumlrz 2020 bdquoTuumlrkei raumlumt Fluumlchtlingscampldquo httpswwwtagesschaudeinlandfluechtlinge-griechenland-tuerkei-103html

4 ZEIT online vom 7 Maumlrz 2020 bdquoRauchbomben und Traumlnengas an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-traenengas-griechenland-tuerkei-migranten ZEIT online vom 13 Maumlrz 2020 bdquoGriechenland setzt Ventilatoren gegen Fluumlchtende einldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-griechenland-fluechtende-ventilatoren-traenengas-rauch ZEIT online vom 18 Maumlrz 2020 bdquoFluumlchtlinge scheitern mit Einreiszligen des Grenzzaunsldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-konflikt-migration

5 Statement des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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Die griechische Regierung die bereits im November 2019 ein neues Asylgesetz beschlossen hatte

um die gesamte Asylinfrastruktur in Griechenland zu entlasten6 hat mit Wirkung vom 1 Maumlrz

2020 fuumlr 30 Tage die Schlieszligung der Grenze zur Tuumlrkei und die Aussetzung der Moumlglichkeit zur

Stellung von Asylantraumlgen fuumlr illegal uumlber die tuumlrkisch-griechische Grenze kommende Menschen

beschlossen

bdquoThe upgrading at the highest degree of the security measures at the eastern land and sea borders of the

country by the public security and the armed forces to prevent illegal entries into the country The temporary

suspension for one month from the date of receipt of this Decision of the lodging of asylum by those entering

the country illegally The immediate return where possible to the country of origin without registration of

those who enter illegally the Greek territory [hellip]7

Die vorliegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste bietet eine voumllkerrechtliche

Einschaumltzung der Maszlignahmen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze Dabei geht

es konkret um das Spannungsfeld zwischen dem Recht eines Staates seine Grenzen zu schuumltzen

und die Einreise in das Staatsgebiet zu regulieren sowie dem Recht eines Fluumlchtlings bzw eines

Asylsuchenden dessen fluumlchtlingsrechtlicher Status noch nicht abschlieszligend geklaumlrt ist auf

Nichtzuruumlckweisung (Refoulementverbot)

Eroumlrtert wird zunaumlchst die rechtliche Zulaumlssigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Grenzsiche-

rung durch die griechischen Sicherheitsorgane (dazu 2) Die Ausarbeitung geht anschlieszligend

der Frage nach ob die von der griechischen Regierung verfuumlgte Grenzschlieszligung einschlieszliglich

der Zuruumlckweisungen von Asylsuchenden an der EU-Auszligengrenze (sog push-backs)8 deren

fluumlchtlingsrechtlicher Status noch ungeklaumlrt ist mit dem Voumllkerrecht vereinbar sind Untersucht

werden ua das Verbot der Kollektivausweisung (dazu 3) und ndash im Schwerpunkt ndash das Refou-

lementverbot der EMRK bzw der Genfer Fluumlchtlingskonvention (dazu 4) Dabei geht es um die

Frage unter welchen Voraussetzungen das Refoulementverbot zugunsten von Asylsuchenden

uumlberhaupt Anwendung findet (dazu 41 bis 43) und ob es infolge besonderer Umstaumlnde (Ruumlck-

weisung in einen sicheren Drittstaat Massenzustrom Notstand Pandemie) beschraumlnkt bzw aus-

gesetzt werden darf (dazu 51 bis 54)

6 Vgl Sachstand WD 3 ndash 3000 ndash 03520 vom 5 Maumlrz 2020 bdquoAumlnderungen im griechischen Asylgesetzldquo ZEIT online vom 1 November 2019 httpswwwzeitdepolitikausland2019-11kyriakoks-mitsotakis-griechenland-asylgesetz-verschaerfung

7 Hellas Journal vom 1 Maumlrz 2020 Statement of the Government Spokesman Stelios Petsas regarding decisions of the Government Council of National Security httpshellasjournalcom202003statement-of-the-government-spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government-council-of-national-security

8 Zur Problematik sog bdquoheiszliger Abschiebungenldquo (hot returns) vgl Bernsdorff in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 19 Rdnr 29 und 30

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Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zuruumlckweisungen an der Grenze9 ndash einschlieszliglich

der Rolle der europaumlischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 ndash werden in dieser Ausarbeitung

nicht naumlher behandelt11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der tuumlr-

kischen Regierung fuumlr die derzeitige Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze12 einschlieszlig-

lich der rechtlichen Fragen zum EU-Fluumlchtlingspakt mit der Tuumlrkei von 2016 dessen Verletzung

sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen13

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze

Die territoriale Souveraumlnitaumlt der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates den

Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenz-

uumlbertritte zu verteidigen (Grenzhoheit) Der EGMR fuumlhrt im Fall ND und NT gegen Spanien

aus14

ldquoIt should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law and subject to their

treaty obligations including those arising from the Convention Contracting States have the right to control the

entry residence and removal of aliensrdquo

Staatliche Maszlignahmen der Grenzsicherung richten sich zunaumlchst nach nationalem Recht Fuumlr das

Vorgehen der griechischen Sicherheitskraumlfte an der griechisch-tuumlrkischen Grenze maszliggeblich ist

das griechische Grenzregime auf das an dieser Stelle nicht naumlher eingegangen werden kann

Grenzsicherungsmaszlignahmen wie Traumlnengas Wasserwerfer uam die geeignet sind das Grund-

recht auf Leben und koumlrperliche Unversehrtheit zu beeintraumlchtigen sind aber auch am Maszligstab

des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen

9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet zB Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie der Ruumlckfuumlh-rungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung Uumlberdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europaumlische Asylpolitik (Art 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art 72 AEUV Vgl zum Ganzen ua Dana Schmalz Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann VerfBlog vom 13 Juni 2018 httpsverfassungsblogdeweshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann

10 Vgl dazu nur FAZ vom 12 Maumlrz 2020 bdquoFrontex verstaumlrkt Einheiten an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwfaznetaktuellpolitikauslandfrontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt-16675994html

11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten

12 Das Handeln der tuumlrkischen Regierung ist fuumlr die voumllkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsiche-rungsmaszlignahmen rechtlich nur insoweit relevant als dass die Tuumlrkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgeloumlst hat Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Tuumlrkei waumlre kein Rechtfertigungsrund fuumlr Griechenland

13 Vgl dazu Tagesschau vom 5 Maumlrz 2020 bdquoEU-Tuumlrkei-Abkommen Wer hat den Fluumlchtlingsdeal gebrochenldquo httpswwwtagesschaudefaktenfindereu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109html

14 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 167 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 3: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Inhaltsverzeichnis

1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze 4

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze 6

3 Verbot von Kollektivausweisungen 8 31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands 8 32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien 8 33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien

fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze 9

4 Anwendung des Refoulementverbots 11 41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze 11 42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze 12 43 Abschottung und positive Verpflichtungen 13

5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots 15 51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat 15 52 Massenfluchtbewegungen 17 53 Oumlffentlicher Notstand 19 54 Corona-Pandemie 20

6 Fazit 21

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1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze

Als Folge der Ankuumlndigung der tuumlrkischen Regierung die tuumlrkische Grenze in Richtung

Griechenland zu oumlffnen hielten sich im Maumlrz 2020 tausende von Menschen an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze nahe des geschlossenen Grenzuumlbergangs PazarkuleEdirne auf Die aus der

Tuumlrkei bzw aus tuumlrkischen Fluumlchtlingslagern kommenden Personen stammten unbestaumltigten

Medienberichten zufolge offenbar zur Haumllfte aus den Ursprungslaumlndern Afghanistan und zu

20 Prozent aus Syrien1 Ob es sich dabei rechtlich gesehen um Migranten Asylsuchende oder

Fluumlchtlinge iSd Genfer Fluumlchtlingskonvention (GFK) handelte laumlsst sich allenfalls vermuten

bis zu einer individuellen Klaumlrung verbieten sich indes pauschale Urteile uumlber deren Status Mitt-

lerweile hat die Tuumlrkei die Landgrenze zu Griechenland von tuumlrkischer Seite aus wieder ge-

schlossen2 Auch das Camp an der tuumlrkisch-griechischen Grenze wurde von den tuumlrkischen Be-

houmlrden wegen der Corona-Pandemie wieder aufgeloumlst und die Menschen ins Landesinnere ver-

bracht3

Entlang der tuumlrkisch-griechischen Grenze kam es vermehrt zu Zusammenstoumlszligen einreisewilliger

Personen mit der griechischen Grenzpolizei Medienberichten zufolge verhindern griechische

Sicherheitskraumlfte unter Einsatz von Wasserwerfern Traumlnengas und Ventilatoren dass Menschen

die EU-Auszligengrenze in Richtung Griechenland uumlberqueren Von der tuumlrkischen Seite aus seien

im Gegenzug Rauchgasgranaten in Richtung der griechischen Polizei abgefeuert worden4 Der

VN-Sonderbeauftragte fuumlr die Rechte von Migranten Gonzaacutelez Morales bezog sich in seinem

Statement auf Berichte wonach griechische Grenzbeamte Personen die es uumlber die tuumlrkisch-

griechische Grenze geschafft haben festgehalten und entkleidet haumltten ihnen ihre Habseligkeiten

abgenommen und sie dann zuruumlck auf die tuumlrkische Seite gedraumlngt haumltten5

1 Vgl die Uumlbersichtskarte bdquoAn der Auszligengrenze Europasldquo in SZ vom 1415 Maumlrz 2020 S 9 Unter den Men-schen an der tuumlrkisch-griechischen Grenze befinden sich zudem Somalier Palaumlstinenser und Kongolesen

2 Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoDie Tuumlrkei schlieszligt die Grenze zu Griechenland wiederldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikfluechtlingsstreit-mit-der-eu-die-tuerkei-schliesst-die-grenze-zu-griechenland-wieder25658918html

3 Tagesschau vom 27 Maumlrz 2020 bdquoTuumlrkei raumlumt Fluumlchtlingscampldquo httpswwwtagesschaudeinlandfluechtlinge-griechenland-tuerkei-103html

4 ZEIT online vom 7 Maumlrz 2020 bdquoRauchbomben und Traumlnengas an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-traenengas-griechenland-tuerkei-migranten ZEIT online vom 13 Maumlrz 2020 bdquoGriechenland setzt Ventilatoren gegen Fluumlchtende einldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-griechenland-fluechtende-ventilatoren-traenengas-rauch ZEIT online vom 18 Maumlrz 2020 bdquoFluumlchtlinge scheitern mit Einreiszligen des Grenzzaunsldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-konflikt-migration

5 Statement des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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Die griechische Regierung die bereits im November 2019 ein neues Asylgesetz beschlossen hatte

um die gesamte Asylinfrastruktur in Griechenland zu entlasten6 hat mit Wirkung vom 1 Maumlrz

2020 fuumlr 30 Tage die Schlieszligung der Grenze zur Tuumlrkei und die Aussetzung der Moumlglichkeit zur

Stellung von Asylantraumlgen fuumlr illegal uumlber die tuumlrkisch-griechische Grenze kommende Menschen

beschlossen

bdquoThe upgrading at the highest degree of the security measures at the eastern land and sea borders of the

country by the public security and the armed forces to prevent illegal entries into the country The temporary

suspension for one month from the date of receipt of this Decision of the lodging of asylum by those entering

the country illegally The immediate return where possible to the country of origin without registration of

those who enter illegally the Greek territory [hellip]7

Die vorliegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste bietet eine voumllkerrechtliche

Einschaumltzung der Maszlignahmen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze Dabei geht

es konkret um das Spannungsfeld zwischen dem Recht eines Staates seine Grenzen zu schuumltzen

und die Einreise in das Staatsgebiet zu regulieren sowie dem Recht eines Fluumlchtlings bzw eines

Asylsuchenden dessen fluumlchtlingsrechtlicher Status noch nicht abschlieszligend geklaumlrt ist auf

Nichtzuruumlckweisung (Refoulementverbot)

Eroumlrtert wird zunaumlchst die rechtliche Zulaumlssigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Grenzsiche-

rung durch die griechischen Sicherheitsorgane (dazu 2) Die Ausarbeitung geht anschlieszligend

der Frage nach ob die von der griechischen Regierung verfuumlgte Grenzschlieszligung einschlieszliglich

der Zuruumlckweisungen von Asylsuchenden an der EU-Auszligengrenze (sog push-backs)8 deren

fluumlchtlingsrechtlicher Status noch ungeklaumlrt ist mit dem Voumllkerrecht vereinbar sind Untersucht

werden ua das Verbot der Kollektivausweisung (dazu 3) und ndash im Schwerpunkt ndash das Refou-

lementverbot der EMRK bzw der Genfer Fluumlchtlingskonvention (dazu 4) Dabei geht es um die

Frage unter welchen Voraussetzungen das Refoulementverbot zugunsten von Asylsuchenden

uumlberhaupt Anwendung findet (dazu 41 bis 43) und ob es infolge besonderer Umstaumlnde (Ruumlck-

weisung in einen sicheren Drittstaat Massenzustrom Notstand Pandemie) beschraumlnkt bzw aus-

gesetzt werden darf (dazu 51 bis 54)

6 Vgl Sachstand WD 3 ndash 3000 ndash 03520 vom 5 Maumlrz 2020 bdquoAumlnderungen im griechischen Asylgesetzldquo ZEIT online vom 1 November 2019 httpswwwzeitdepolitikausland2019-11kyriakoks-mitsotakis-griechenland-asylgesetz-verschaerfung

7 Hellas Journal vom 1 Maumlrz 2020 Statement of the Government Spokesman Stelios Petsas regarding decisions of the Government Council of National Security httpshellasjournalcom202003statement-of-the-government-spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government-council-of-national-security

8 Zur Problematik sog bdquoheiszliger Abschiebungenldquo (hot returns) vgl Bernsdorff in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 19 Rdnr 29 und 30

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Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zuruumlckweisungen an der Grenze9 ndash einschlieszliglich

der Rolle der europaumlischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 ndash werden in dieser Ausarbeitung

nicht naumlher behandelt11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der tuumlr-

kischen Regierung fuumlr die derzeitige Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze12 einschlieszlig-

lich der rechtlichen Fragen zum EU-Fluumlchtlingspakt mit der Tuumlrkei von 2016 dessen Verletzung

sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen13

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze

Die territoriale Souveraumlnitaumlt der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates den

Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenz-

uumlbertritte zu verteidigen (Grenzhoheit) Der EGMR fuumlhrt im Fall ND und NT gegen Spanien

aus14

ldquoIt should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law and subject to their

treaty obligations including those arising from the Convention Contracting States have the right to control the

entry residence and removal of aliensrdquo

Staatliche Maszlignahmen der Grenzsicherung richten sich zunaumlchst nach nationalem Recht Fuumlr das

Vorgehen der griechischen Sicherheitskraumlfte an der griechisch-tuumlrkischen Grenze maszliggeblich ist

das griechische Grenzregime auf das an dieser Stelle nicht naumlher eingegangen werden kann

Grenzsicherungsmaszlignahmen wie Traumlnengas Wasserwerfer uam die geeignet sind das Grund-

recht auf Leben und koumlrperliche Unversehrtheit zu beeintraumlchtigen sind aber auch am Maszligstab

des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen

9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet zB Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie der Ruumlckfuumlh-rungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung Uumlberdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europaumlische Asylpolitik (Art 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art 72 AEUV Vgl zum Ganzen ua Dana Schmalz Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann VerfBlog vom 13 Juni 2018 httpsverfassungsblogdeweshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann

10 Vgl dazu nur FAZ vom 12 Maumlrz 2020 bdquoFrontex verstaumlrkt Einheiten an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwfaznetaktuellpolitikauslandfrontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt-16675994html

11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten

12 Das Handeln der tuumlrkischen Regierung ist fuumlr die voumllkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsiche-rungsmaszlignahmen rechtlich nur insoweit relevant als dass die Tuumlrkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgeloumlst hat Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Tuumlrkei waumlre kein Rechtfertigungsrund fuumlr Griechenland

13 Vgl dazu Tagesschau vom 5 Maumlrz 2020 bdquoEU-Tuumlrkei-Abkommen Wer hat den Fluumlchtlingsdeal gebrochenldquo httpswwwtagesschaudefaktenfindereu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109html

14 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 167 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 4: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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1 Zur Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze

Als Folge der Ankuumlndigung der tuumlrkischen Regierung die tuumlrkische Grenze in Richtung

Griechenland zu oumlffnen hielten sich im Maumlrz 2020 tausende von Menschen an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze nahe des geschlossenen Grenzuumlbergangs PazarkuleEdirne auf Die aus der

Tuumlrkei bzw aus tuumlrkischen Fluumlchtlingslagern kommenden Personen stammten unbestaumltigten

Medienberichten zufolge offenbar zur Haumllfte aus den Ursprungslaumlndern Afghanistan und zu

20 Prozent aus Syrien1 Ob es sich dabei rechtlich gesehen um Migranten Asylsuchende oder

Fluumlchtlinge iSd Genfer Fluumlchtlingskonvention (GFK) handelte laumlsst sich allenfalls vermuten

bis zu einer individuellen Klaumlrung verbieten sich indes pauschale Urteile uumlber deren Status Mitt-

lerweile hat die Tuumlrkei die Landgrenze zu Griechenland von tuumlrkischer Seite aus wieder ge-

schlossen2 Auch das Camp an der tuumlrkisch-griechischen Grenze wurde von den tuumlrkischen Be-

houmlrden wegen der Corona-Pandemie wieder aufgeloumlst und die Menschen ins Landesinnere ver-

bracht3

Entlang der tuumlrkisch-griechischen Grenze kam es vermehrt zu Zusammenstoumlszligen einreisewilliger

Personen mit der griechischen Grenzpolizei Medienberichten zufolge verhindern griechische

Sicherheitskraumlfte unter Einsatz von Wasserwerfern Traumlnengas und Ventilatoren dass Menschen

die EU-Auszligengrenze in Richtung Griechenland uumlberqueren Von der tuumlrkischen Seite aus seien

im Gegenzug Rauchgasgranaten in Richtung der griechischen Polizei abgefeuert worden4 Der

VN-Sonderbeauftragte fuumlr die Rechte von Migranten Gonzaacutelez Morales bezog sich in seinem

Statement auf Berichte wonach griechische Grenzbeamte Personen die es uumlber die tuumlrkisch-

griechische Grenze geschafft haben festgehalten und entkleidet haumltten ihnen ihre Habseligkeiten

abgenommen und sie dann zuruumlck auf die tuumlrkische Seite gedraumlngt haumltten5

1 Vgl die Uumlbersichtskarte bdquoAn der Auszligengrenze Europasldquo in SZ vom 1415 Maumlrz 2020 S 9 Unter den Men-schen an der tuumlrkisch-griechischen Grenze befinden sich zudem Somalier Palaumlstinenser und Kongolesen

2 Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoDie Tuumlrkei schlieszligt die Grenze zu Griechenland wiederldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikfluechtlingsstreit-mit-der-eu-die-tuerkei-schliesst-die-grenze-zu-griechenland-wieder25658918html

3 Tagesschau vom 27 Maumlrz 2020 bdquoTuumlrkei raumlumt Fluumlchtlingscampldquo httpswwwtagesschaudeinlandfluechtlinge-griechenland-tuerkei-103html

4 ZEIT online vom 7 Maumlrz 2020 bdquoRauchbomben und Traumlnengas an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-traenengas-griechenland-tuerkei-migranten ZEIT online vom 13 Maumlrz 2020 bdquoGriechenland setzt Ventilatoren gegen Fluumlchtende einldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03eu-aussengrenze-griechenland-fluechtende-ventilatoren-traenengas-rauch ZEIT online vom 18 Maumlrz 2020 bdquoFluumlchtlinge scheitern mit Einreiszligen des Grenzzaunsldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-konflikt-migration

5 Statement des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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Die griechische Regierung die bereits im November 2019 ein neues Asylgesetz beschlossen hatte

um die gesamte Asylinfrastruktur in Griechenland zu entlasten6 hat mit Wirkung vom 1 Maumlrz

2020 fuumlr 30 Tage die Schlieszligung der Grenze zur Tuumlrkei und die Aussetzung der Moumlglichkeit zur

Stellung von Asylantraumlgen fuumlr illegal uumlber die tuumlrkisch-griechische Grenze kommende Menschen

beschlossen

bdquoThe upgrading at the highest degree of the security measures at the eastern land and sea borders of the

country by the public security and the armed forces to prevent illegal entries into the country The temporary

suspension for one month from the date of receipt of this Decision of the lodging of asylum by those entering

the country illegally The immediate return where possible to the country of origin without registration of

those who enter illegally the Greek territory [hellip]7

Die vorliegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste bietet eine voumllkerrechtliche

Einschaumltzung der Maszlignahmen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze Dabei geht

es konkret um das Spannungsfeld zwischen dem Recht eines Staates seine Grenzen zu schuumltzen

und die Einreise in das Staatsgebiet zu regulieren sowie dem Recht eines Fluumlchtlings bzw eines

Asylsuchenden dessen fluumlchtlingsrechtlicher Status noch nicht abschlieszligend geklaumlrt ist auf

Nichtzuruumlckweisung (Refoulementverbot)

Eroumlrtert wird zunaumlchst die rechtliche Zulaumlssigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Grenzsiche-

rung durch die griechischen Sicherheitsorgane (dazu 2) Die Ausarbeitung geht anschlieszligend

der Frage nach ob die von der griechischen Regierung verfuumlgte Grenzschlieszligung einschlieszliglich

der Zuruumlckweisungen von Asylsuchenden an der EU-Auszligengrenze (sog push-backs)8 deren

fluumlchtlingsrechtlicher Status noch ungeklaumlrt ist mit dem Voumllkerrecht vereinbar sind Untersucht

werden ua das Verbot der Kollektivausweisung (dazu 3) und ndash im Schwerpunkt ndash das Refou-

lementverbot der EMRK bzw der Genfer Fluumlchtlingskonvention (dazu 4) Dabei geht es um die

Frage unter welchen Voraussetzungen das Refoulementverbot zugunsten von Asylsuchenden

uumlberhaupt Anwendung findet (dazu 41 bis 43) und ob es infolge besonderer Umstaumlnde (Ruumlck-

weisung in einen sicheren Drittstaat Massenzustrom Notstand Pandemie) beschraumlnkt bzw aus-

gesetzt werden darf (dazu 51 bis 54)

6 Vgl Sachstand WD 3 ndash 3000 ndash 03520 vom 5 Maumlrz 2020 bdquoAumlnderungen im griechischen Asylgesetzldquo ZEIT online vom 1 November 2019 httpswwwzeitdepolitikausland2019-11kyriakoks-mitsotakis-griechenland-asylgesetz-verschaerfung

7 Hellas Journal vom 1 Maumlrz 2020 Statement of the Government Spokesman Stelios Petsas regarding decisions of the Government Council of National Security httpshellasjournalcom202003statement-of-the-government-spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government-council-of-national-security

8 Zur Problematik sog bdquoheiszliger Abschiebungenldquo (hot returns) vgl Bernsdorff in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 19 Rdnr 29 und 30

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Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zuruumlckweisungen an der Grenze9 ndash einschlieszliglich

der Rolle der europaumlischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 ndash werden in dieser Ausarbeitung

nicht naumlher behandelt11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der tuumlr-

kischen Regierung fuumlr die derzeitige Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze12 einschlieszlig-

lich der rechtlichen Fragen zum EU-Fluumlchtlingspakt mit der Tuumlrkei von 2016 dessen Verletzung

sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen13

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze

Die territoriale Souveraumlnitaumlt der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates den

Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenz-

uumlbertritte zu verteidigen (Grenzhoheit) Der EGMR fuumlhrt im Fall ND und NT gegen Spanien

aus14

ldquoIt should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law and subject to their

treaty obligations including those arising from the Convention Contracting States have the right to control the

entry residence and removal of aliensrdquo

Staatliche Maszlignahmen der Grenzsicherung richten sich zunaumlchst nach nationalem Recht Fuumlr das

Vorgehen der griechischen Sicherheitskraumlfte an der griechisch-tuumlrkischen Grenze maszliggeblich ist

das griechische Grenzregime auf das an dieser Stelle nicht naumlher eingegangen werden kann

Grenzsicherungsmaszlignahmen wie Traumlnengas Wasserwerfer uam die geeignet sind das Grund-

recht auf Leben und koumlrperliche Unversehrtheit zu beeintraumlchtigen sind aber auch am Maszligstab

des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen

9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet zB Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie der Ruumlckfuumlh-rungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung Uumlberdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europaumlische Asylpolitik (Art 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art 72 AEUV Vgl zum Ganzen ua Dana Schmalz Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann VerfBlog vom 13 Juni 2018 httpsverfassungsblogdeweshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann

10 Vgl dazu nur FAZ vom 12 Maumlrz 2020 bdquoFrontex verstaumlrkt Einheiten an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwfaznetaktuellpolitikauslandfrontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt-16675994html

11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten

12 Das Handeln der tuumlrkischen Regierung ist fuumlr die voumllkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsiche-rungsmaszlignahmen rechtlich nur insoweit relevant als dass die Tuumlrkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgeloumlst hat Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Tuumlrkei waumlre kein Rechtfertigungsrund fuumlr Griechenland

13 Vgl dazu Tagesschau vom 5 Maumlrz 2020 bdquoEU-Tuumlrkei-Abkommen Wer hat den Fluumlchtlingsdeal gebrochenldquo httpswwwtagesschaudefaktenfindereu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109html

14 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 167 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 5: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Die griechische Regierung die bereits im November 2019 ein neues Asylgesetz beschlossen hatte

um die gesamte Asylinfrastruktur in Griechenland zu entlasten6 hat mit Wirkung vom 1 Maumlrz

2020 fuumlr 30 Tage die Schlieszligung der Grenze zur Tuumlrkei und die Aussetzung der Moumlglichkeit zur

Stellung von Asylantraumlgen fuumlr illegal uumlber die tuumlrkisch-griechische Grenze kommende Menschen

beschlossen

bdquoThe upgrading at the highest degree of the security measures at the eastern land and sea borders of the

country by the public security and the armed forces to prevent illegal entries into the country The temporary

suspension for one month from the date of receipt of this Decision of the lodging of asylum by those entering

the country illegally The immediate return where possible to the country of origin without registration of

those who enter illegally the Greek territory [hellip]7

Die vorliegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste bietet eine voumllkerrechtliche

Einschaumltzung der Maszlignahmen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze Dabei geht

es konkret um das Spannungsfeld zwischen dem Recht eines Staates seine Grenzen zu schuumltzen

und die Einreise in das Staatsgebiet zu regulieren sowie dem Recht eines Fluumlchtlings bzw eines

Asylsuchenden dessen fluumlchtlingsrechtlicher Status noch nicht abschlieszligend geklaumlrt ist auf

Nichtzuruumlckweisung (Refoulementverbot)

Eroumlrtert wird zunaumlchst die rechtliche Zulaumlssigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Grenzsiche-

rung durch die griechischen Sicherheitsorgane (dazu 2) Die Ausarbeitung geht anschlieszligend

der Frage nach ob die von der griechischen Regierung verfuumlgte Grenzschlieszligung einschlieszliglich

der Zuruumlckweisungen von Asylsuchenden an der EU-Auszligengrenze (sog push-backs)8 deren

fluumlchtlingsrechtlicher Status noch ungeklaumlrt ist mit dem Voumllkerrecht vereinbar sind Untersucht

werden ua das Verbot der Kollektivausweisung (dazu 3) und ndash im Schwerpunkt ndash das Refou-

lementverbot der EMRK bzw der Genfer Fluumlchtlingskonvention (dazu 4) Dabei geht es um die

Frage unter welchen Voraussetzungen das Refoulementverbot zugunsten von Asylsuchenden

uumlberhaupt Anwendung findet (dazu 41 bis 43) und ob es infolge besonderer Umstaumlnde (Ruumlck-

weisung in einen sicheren Drittstaat Massenzustrom Notstand Pandemie) beschraumlnkt bzw aus-

gesetzt werden darf (dazu 51 bis 54)

6 Vgl Sachstand WD 3 ndash 3000 ndash 03520 vom 5 Maumlrz 2020 bdquoAumlnderungen im griechischen Asylgesetzldquo ZEIT online vom 1 November 2019 httpswwwzeitdepolitikausland2019-11kyriakoks-mitsotakis-griechenland-asylgesetz-verschaerfung

7 Hellas Journal vom 1 Maumlrz 2020 Statement of the Government Spokesman Stelios Petsas regarding decisions of the Government Council of National Security httpshellasjournalcom202003statement-of-the-government-spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government-council-of-national-security

8 Zur Problematik sog bdquoheiszliger Abschiebungenldquo (hot returns) vgl Bernsdorff in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 19 Rdnr 29 und 30

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Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zuruumlckweisungen an der Grenze9 ndash einschlieszliglich

der Rolle der europaumlischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 ndash werden in dieser Ausarbeitung

nicht naumlher behandelt11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der tuumlr-

kischen Regierung fuumlr die derzeitige Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze12 einschlieszlig-

lich der rechtlichen Fragen zum EU-Fluumlchtlingspakt mit der Tuumlrkei von 2016 dessen Verletzung

sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen13

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze

Die territoriale Souveraumlnitaumlt der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates den

Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenz-

uumlbertritte zu verteidigen (Grenzhoheit) Der EGMR fuumlhrt im Fall ND und NT gegen Spanien

aus14

ldquoIt should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law and subject to their

treaty obligations including those arising from the Convention Contracting States have the right to control the

entry residence and removal of aliensrdquo

Staatliche Maszlignahmen der Grenzsicherung richten sich zunaumlchst nach nationalem Recht Fuumlr das

Vorgehen der griechischen Sicherheitskraumlfte an der griechisch-tuumlrkischen Grenze maszliggeblich ist

das griechische Grenzregime auf das an dieser Stelle nicht naumlher eingegangen werden kann

Grenzsicherungsmaszlignahmen wie Traumlnengas Wasserwerfer uam die geeignet sind das Grund-

recht auf Leben und koumlrperliche Unversehrtheit zu beeintraumlchtigen sind aber auch am Maszligstab

des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen

9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet zB Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie der Ruumlckfuumlh-rungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung Uumlberdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europaumlische Asylpolitik (Art 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art 72 AEUV Vgl zum Ganzen ua Dana Schmalz Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann VerfBlog vom 13 Juni 2018 httpsverfassungsblogdeweshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann

10 Vgl dazu nur FAZ vom 12 Maumlrz 2020 bdquoFrontex verstaumlrkt Einheiten an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwfaznetaktuellpolitikauslandfrontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt-16675994html

11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten

12 Das Handeln der tuumlrkischen Regierung ist fuumlr die voumllkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsiche-rungsmaszlignahmen rechtlich nur insoweit relevant als dass die Tuumlrkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgeloumlst hat Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Tuumlrkei waumlre kein Rechtfertigungsrund fuumlr Griechenland

13 Vgl dazu Tagesschau vom 5 Maumlrz 2020 bdquoEU-Tuumlrkei-Abkommen Wer hat den Fluumlchtlingsdeal gebrochenldquo httpswwwtagesschaudefaktenfindereu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109html

14 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 167 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 6: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zuruumlckweisungen an der Grenze9 ndash einschlieszliglich

der Rolle der europaumlischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 ndash werden in dieser Ausarbeitung

nicht naumlher behandelt11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der tuumlr-

kischen Regierung fuumlr die derzeitige Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze12 einschlieszlig-

lich der rechtlichen Fragen zum EU-Fluumlchtlingspakt mit der Tuumlrkei von 2016 dessen Verletzung

sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen13

2 Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze

Die territoriale Souveraumlnitaumlt der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates den

Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenz-

uumlbertritte zu verteidigen (Grenzhoheit) Der EGMR fuumlhrt im Fall ND und NT gegen Spanien

aus14

ldquoIt should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law and subject to their

treaty obligations including those arising from the Convention Contracting States have the right to control the

entry residence and removal of aliensrdquo

Staatliche Maszlignahmen der Grenzsicherung richten sich zunaumlchst nach nationalem Recht Fuumlr das

Vorgehen der griechischen Sicherheitskraumlfte an der griechisch-tuumlrkischen Grenze maszliggeblich ist

das griechische Grenzregime auf das an dieser Stelle nicht naumlher eingegangen werden kann

Grenzsicherungsmaszlignahmen wie Traumlnengas Wasserwerfer uam die geeignet sind das Grund-

recht auf Leben und koumlrperliche Unversehrtheit zu beeintraumlchtigen sind aber auch am Maszligstab

des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen

9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet zB Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie der Ruumlckfuumlh-rungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung Uumlberdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europaumlische Asylpolitik (Art 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art 72 AEUV Vgl zum Ganzen ua Dana Schmalz Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann VerfBlog vom 13 Juni 2018 httpsverfassungsblogdeweshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann

10 Vgl dazu nur FAZ vom 12 Maumlrz 2020 bdquoFrontex verstaumlrkt Einheiten an griechisch-tuumlrkischer Grenzeldquo httpswwwfaznetaktuellpolitikauslandfrontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt-16675994html

11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten

12 Das Handeln der tuumlrkischen Regierung ist fuumlr die voumllkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsiche-rungsmaszlignahmen rechtlich nur insoweit relevant als dass die Tuumlrkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgeloumlst hat Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Tuumlrkei waumlre kein Rechtfertigungsrund fuumlr Griechenland

13 Vgl dazu Tagesschau vom 5 Maumlrz 2020 bdquoEU-Tuumlrkei-Abkommen Wer hat den Fluumlchtlingsdeal gebrochenldquo httpswwwtagesschaudefaktenfindereu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109html

14 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 167 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 7: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Die griechischen Regelungen muumlssen dabei den Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit wahren der

dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europaumlischen Unionsrechtsordnung

(vgl Art 2 und 6 EUV) des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist sondern sich mitt-

lerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Voumllkerrecht herausgebildet hat17

Grenzsicherungsmaszlignahmen die internationale Menschenrechte beeintraumlchtigen muumlssen

danach erforderlich und angemessen sein Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern Ventilato-

ren und Traumlnengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder uumlber den Menschenrechtsorga-

nisationen berichtet haben18 duumlrfte dem Grundsatz der Verhaumlltnismaumlszligigkeit widersprechen19

Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Maumlnner dar die grie-

chische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen Grenzabsperrungen

gewaltsam zu uumlberwinden oder zu beschaumldigen Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur

Verhinderung von Grenzdurchbruumlchen wuumlrde in den allermeisten Faumlllen gegen Art 2 EMRK

verstoszligen (Ausnahme zB Selbstverteidigung eines Grenzbeamten)

Letztlich kommt es aber immer auf die Umstaumlnde des Einzelfalls an so dass sich eine pauschale

rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskraumlfte verbietet

15 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 18 Rdnr 14 ff

16 VN-Menschenrechtsausschuss General Comment No 31 The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant 29 Maumlrz 2004 CCPRC21Rev1Add13 Rdnr 6 httpswwwrefworldorgdocid478b26ae2html ldquo(hellip) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rightsrdquo

17 Vgl Peters Anne bdquoVerhaumlltnismaumlszligigkeit als globales Verfassungsprinzipldquo in Baade Ehricht ua (Hrsg) Verhaumlltnismaumlszligigkeit im Voumllkerrecht Tuumlbingen Mohr 2016 S 1-18

18 Vgl Amnesty International bdquoDramatische Lage an der griechisch-tuumlrkischen Grenzeldquo 2 Maumlrz 2020 httpswwwamnestydeallgemeinpressemitteilunggriechenland-dramatische-lage-der-griechisch-tuerkischen-grenze

19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 2 httpswwwinstitut-fuer-menschenrech-tedefileadminuser_uploadPublikationenFact_SheetFactsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_an_der_Grenzepdf

20 Spekulationen uumlber toumldliche Schuumlsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zuruumlckgewiesen vgl Tagesschau vom 4 Maumlrz 2020 Gab es toumldliche Schuumlsse an der Grenze httpswwwtagesschaudeauslandgrenze-tuerkei-griechenland-119html

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 8: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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3 Verbot von Kollektivausweisungen

31 Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands

Das Verbot der Kollektivausweisung ndash also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Auslaumln-

dern ohne Ansehung des Einzelfalls21 ndash ist in Art 4 des IV Zusatzprotokolls zur EMRK

(bdquoKollektivausweisungen auslaumlndischer Personen sind nicht zulaumlssigldquo) sowie in Art 19 der

Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (bdquoKollektivausweisungen sind nicht zulaumlssigldquo)

niedergelegt

Griechenland hat das IV Zusatzprotokoll zur EMRK ndash und damit das Verbot von Kollektivaus-

weisungen ndash als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert22 Eine voumllker-

rechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung laumlsst sich auch nicht

ohne weiteres uumlber Art 19 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union (GrCh)

herstellen23 Die GrCh bindet gem Art 51 Abs 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU-

Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung als diese EU-Recht durchfuumlhren24 Spezifische Fragen

der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Auszligengrenze sind indes nicht Gegen-

stand dieser Ausarbeitung Zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken

dass bei einer Auslegung des Art 19 Abs 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betref-

fend Art 4 ZP IVEMRK zu beruumlcksichtigen ist25

32 Entscheidung des EGMR im Fall ND und NT gegen Spanien

Die Rechtmaumlszligigkeit sog push-backs durch die spanischen Behoumlrden an der Grenze zwischen der

spanischen Exklave Melilla und dem Koumlnigreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten

21 Hoppe in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Art 4 ZP IV Rdnr 4 Thiele in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 21 Rdnr 26 Nuszligberger Angelika bdquoFluumlchtlingsschicksale zwischen Voumllkerrecht und Politikldquo NVwZ 2016 S 815-822 (821) Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen

22 Europarat Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046 httpswwwcoeintdewebconventionsfull-list-conventionstreaty046signaturesp_auth=agv2qwcM

23 Text unter httpseuroparleuropaeucharterpdftext_depdf

24 Vgl dazu naumlher Schwerdtfeger in MeyerHoumllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 51 Rdnr 36 ff

25 Art 52 Abs 3 GrCh bindet im Sinne groumlszligtmoumlglicher Kohaumlrenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK macht aber auch deutlich dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewaumlhrleistet Vgl zum Verhaumlltnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger in Meyer Houmllscheidt (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europaumlischen Union Baden-Baden Nomos 5 Aufl 2019 Art 52 Rdnr 16 ff

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 9: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Entscheidung des Europaumlischen Gerichtshofs fuumlr Menschenrechte (EGMR)26 Die Groszlige Kammer

pruumlfte die prompte Ruumlckfuumlhrung zweier Beschwerdefuumlhrer aus Mali und aus der Elfenbeinkuumlste

die zusammen mit anderen versucht hatten die Sperranlagen in Richtung Melilla zu uumlberwinden

und ohne individuelle Pruumlfung nach Marokko zuruumlckgefuumlhrt wurden

Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots da die

Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irregulaumlre Weise

uumlberquert haumltten obwohl legale Zugangswege (wie zB der offene Grenzuumlbergang Beni Enzar)

die unstrittig vorhanden waren auch haumltten genutzt werden koumlnnen und muumlssen

ldquoIn the Courtrsquos view (hellip) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner deliber-

ately take advantage of their large numbers and use force is such as to create a clearly disruptive situation

which is difficult to control and endangers public safety In this context however in assessing a complaint

under Article 4 of Protocol No 4 the Court will importantly take account of whether in the circumstances of

the particular case the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry in

particular border procedures Where the respondent State provided such access but an applicant did not

make use of it the Court will consider (hellip) whether there were cogent reasons not to do so which were based

on objective facts for which the respondent State was responsiblerdquo27

33 Relevanz der EGMR-Entscheidung ND und NT gegen Spanien fuumlr die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

Die Entscheidung der Groszligen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventions-

rechtlichen Fluumlchtlingsschutzes gefuumlhrt ndash wie von einigen NGOs befuumlrchtet ndash noch hat sie die

Moumlglichkeit zur Abschottung von EU-Auszligengrenzen richterlich legitimiert Das ergibt sich schon

26 EGMR (GK) ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Beschwerden Nr 867515 und 867915 httphudocechrcoeintengi=001-201353 Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack Robert bdquoEGMR billigt Festung Europa mit Torenldquo Voumllker-rechtsblog vom 14 Februar 2020 httpsvoelkerrechtsblogorgegmr-billigt-festung-europa-mit-toren Pichl Maximilian Schmalz Dana ldquoacuteUnlawful` may not mean rightless The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case ND and NTrdquo VerfBlog vom 14 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeunlawful-may-not-mean-rightless Hruschka Constantin bdquoHot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrigldquo VerfBlog vom 21 Februar 2020 httpsverfassungsblogdehot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig Luumlbbe Anna bdquoDer Elefant im Raum Effektive Gewaumlhrleistung des non-refoulements nach EGMR ND und NTldquo VerfBlog vom 18 Februar 2020 httpsverfassungsblogdeder-elefant-im-raum Schmalz Dana bdquoDie Identifikation Einzelner ndash Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall ND und NTldquo VerfBlog vom 4 Oktober 2017 httpsverfassungsblogdedie-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmr-urteil-im-fall-n-d-und-n-t Pro Asyl vom 14 Februar 2020 bdquoPaukenschlag aus Straszligburg EGMR macht Ruumlckzieher beim Schutz von Men-schenrechten an der Grenzeldquo httpswwwproasyldenewspaukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze

27 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 201 ff

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 10: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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daraus dass fuumlr den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand dass die

Beschwerdefuumlhrer legale und tatsaumlchlich bestehende Zugangswege nach Spanien haumltten nutzen

koumlnnen dies aber unterlassen haben (su Punkt 43) Dies unterscheidet die Situation an der

spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze wo der

Grenzuumlbergang PazarkuleEdirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war

Ein weiterer Grund fuumlr die nur eingeschraumlnkte rechtliche Uumlbertragbarkeit des EGMR-Urteils

ND und NT gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze besteht darin

dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maszligstab des Kollektivausweisungs-

verbots nicht jedoch am Maszligstab des Refoulementverbots nach Art 3 EMRK pruumlfen konnte Die

Beschwerde war naumlmlich unter dem Gesichtspunkt von Art 3 EMRK bereits erstinstanzlich fuumlr

unzulaumlssig erklaumlrt worden da sich der Status der Beschwerdefuumlhrer im Ergebnis als nicht

schutzwuumlrdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte Die Beschwerdefuumlhrer waren

also keine asylberechtigten bdquoFluumlchtlingeldquo iSd GFK deren Zuruumlckweisung (nach Marokko oder

in ihre Herkunftslaumlnder) am Maszligstab des Refoulementverbots zu uumlberpruumlfen gewesen waumlre

Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten die ihre Beschwerde nur

auf das Verbot der Kollektivausweisung stuumltzen konnten ndash dh auf ein im Vergleich zum Refou-

lementverbot weniger bdquofundamentalesldquo weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheits-

rechtlich geltendes Menschenrecht Das Kollektivausweisungsverbot knuumlpft im Gegensatz zum

Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog bdquoFluumlchtlingsstatusldquo) oder an eine prekaumlre

Situation im Herkunftsland an (sog bdquosubsidiaumlrer Schutzldquo zB angesichts von Buumlrgerkriegssitua-

tionen) Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als

fluumlchtlingsrechtliche Implikationen auf

Waumlhrend der fluumlchtlingsrechtliche Status der Beschwerdefuumlhrer zum Zeitpunkt der Entscheidung

im Fall ND und NT gegen Spanien geklaumlrt war sah sich Griechenland an seiner Grenze zur

Tuumlrkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenuumlber deren

Status eben noch ungeklaumlrt ist Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person

Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen zu einem

Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird ist zwar eher unwahrscheinlich

Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Pruumlfung der griechischen push-backs am Maszligstab des

Refoulementverbots nicht nur moumlglich sondern aus Gruumlnden der Einzelfallgerechtigkeit auch

notwendig zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des

IV ZusatzprotokollsEMRK durch Griechenland ausscheidet

Der EGMR hat in seiner Entscheidung ND und NT gegen Spanien eine Reihe von allgemeinguumll-

tigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back-

Situationen getroffen die sich fuumlr die rechtliche Bewertung der Situation an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze durchaus heranziehen lassen

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 11: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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4 Anwendung des Refoulementverbots

Der Refoulementgrundsatz ndash verankert in Art 33 der Genfer Fluumlchtlingskonvention von 195128 in

Art 3 Abs 1 der VN-Antifolterkonvention von 198429 in Art 19 Abs 1 GrCh sowie in der Recht-

sprechung des EGMR zu Art 3 EMRK ndash begruumlndet das Verbot aufenthaltsbeendender Maszlignah-

men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land in das eine Zuruumlck-

weisung erfolgen soll30

41 Zuruumlckweisung bdquouumlberldquo die Grenze

Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genuumlgen muss die Schutzwuumlrdigkeit der betreffen-

den Person in einem individuellen Verfahren uumlberpruumlft werden bis zu dessen Abschluss keine

Abschiebung oder Zuruumlckweisung erfolgen darf Im Fall Sharifi ua gegen Italien und Griechen-

land31 in dem die afghanischen Beschwerdefuumlhrer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen

Hafen wieder nach Griechenland zuruumlckgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe-

diert werden sollten bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maszligstab

von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art 3 EMRK weil

in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewaumlhrleistet war

Fuumlhrt Griechenland also ndash wie angekuumlndigt ndash bdquoheiszligeldquo Abschiebungen (push-backs) von bereits

auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch ohne eine Moumlglichkeit zu ge-

waumlhrleisten Asylantraumlge stellen zu koumlnnen bzw eine individuelle Pruumlfung ihrer Schutzwuumlrdig-

keit vorzunehmen liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots32

28 Text abrufbar unter httpswwwunhcrorgdachwp-contentuploadssites27201703GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansichtpdf

29 BGBl 1990 II S 246 abrufbar unter httpswwwinstitut-fuer-menschenrechtedefileadminuser_uploadPDF-DateienPakte_KonventionenCATcat_depdf

30 Andreas v Arnauld Voumllkerrecht Heidelberg Muumlller 4 Aufl 2019 Rdnr 791 Gilbert Gornig Das Refoulement-Verbot im Voumllkerrecht Wien Braumuumlller 1987 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 75 ff

31 EGMR Sharifi ua gegen Italien und Griechenland Urteil vom 21 Oktober 2014 Beschwerde-Nr 1664309 httphudocechrcoeinteng-pressi=003-4910702-6007035

32 Vgl insoweit auch die rechtliche Einschaumltzung des UN-Sonderberichterstatters fuumlr die Menschenrechte von Migranten Goacutenzales Morales ndash vgl Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights 23 Maumlrz 2020 bdquoGreece Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stoprdquo httpswwwohchrorgENNewsEventsPagesDisplayNewsaspxNewsID=25736ampLangID=E

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 12: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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42 Zuruumlckweisung bdquoanldquo der Grenze

Voumllkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden die sich

jenseits des griechischen Grenzzaunes auf tuumlrkischer Seite befinden und durch Zaumlune Wasser-

werfer oder Traumlnengas daran gehindert werden das griechische Territorium uumlberhaupt zu errei-

chen um einen Asylantrag zu stellen

Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates

gekoppelt ist ndash weil erst dann wie Art 33 Abs 1 GFK formuliert eine Zuruumlckweisung bdquouumlber die

Grenzenldquo moumlglich ist ndash oder auch schon bdquoanldquo der Grenze dh in gewisser Weise extraterritorial

Anwendung findet war rechtlich lange umstritten33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend

geklaumlrt zu haben

Nach Auffassung der voumllkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot

auch einer Ruumlckschiebung von Fluumlchtlingen entgegen die das Staatsgebiet noch nicht betreten

haben sondern an der Grenze um Schutz ersuchen34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der

GFK moumlglichst umfassenden Schutz zu bieten soll Art 33 GFK uumlberall dort Anwendung finde

wo ein Staat Hoheitsgewalt (iSv effektiver Kontrolle) uumlber einen Asylsuchenden ausuumlbe (zB

auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See) Dies koumlnne ndash bildlich gesprochen

ndash auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein der direkt auf der Grenzlinie

steht und den ankommenden Asylsuchenden der sich noch auf dem Territorium des anderen

Staates befindet abweist bzw gar nicht erst einreisen laumlsst (sog push-back-Situation) Der

Grenzbeamte uumlbt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus die uumlber die Grenze hinweg

fortwirkt und voumllkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist

Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall MA ua gegen Litauen einen Verstoszlig

gegen Art 3 EMRK weil den Beschwerdefuumlhrern obwohl sie den litauischen Beamten an der

Grenze ihre Absicht Asyl zu beantragen erkennbar gemacht hatten die Einreise ohne weitere

Pruumlfung verwehrt wurde35

33 Vgl zur Diskussion KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 106

34 KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford Univ Press 2011 Art 33 Abs 1 Rn 87 f (mwN in Fn 230) und Rdnr 106 Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 98 UNHCR Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol httpswwwunhcrorg4d9486929pdf Rdnr 24 ff

35 EGMR MA ua gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Rdnr 105-115 httphudocechrcoeintengi=001-188267

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 13: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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43 Abschottung und positive Verpflichtungen

Die europaumlische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit dass man einen Antrag auch bdquoan

der Grenzeldquo stellen kann ohne dabei allerdings die konkreten Modalitaumlten dafuumlr festzulegen36

So stellt sich die Frage wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist bei denen ein Staat den

Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert weil er die Grenze komplett geschlossen hat

und es ndash anders als in dem oben erwaumlhnten Fall MA ua gegen Litauen ndash zu einem persoumlnlichen

Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt

Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein-

deutig geklaumlrt37 Fuumlr die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das

bdquoSinn-und-Zweck-Argumentldquo Das Menschenrecht wuumlrde ansonsten tendenziell leerlaufen und

seinen humanitaumlren Schutzzweck verfehlen wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich-

tungen durch Abschottung entziehen koumlnnten

An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an So erin-

nert der EGMR in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien zunaumlchst an die Verpflichtung

der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes

bdquo[hellip] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran-

teed by the Convention and the Protocols thereto and in particular by Article 3 of the Convention [hellip]rdquo

ldquo[hellip] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective

access to means of legal entry in particular border procedures for those who have arrived at the border Those

means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection based in partic-

ular on Article 3 of the Convention under conditions which ensure that the application is processed in a

manner consistent with the international norms including the Conventionrdquo38

Dabei hebt der EGMR ua die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung

hervor

36 Vgl Art 3 Abs 1 und Art 43 der Richtlinie 201332EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 26 Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren fuumlr die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes httpseur-lexeuropaeuLexUriServLexUriServdouri=OJL201318000600095DEPDF

37 FAZ vom 3 Maumlrz 2020 bdquoMit Humanitaumlt und Haumlrteldquo Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym httpswwwfazneteinspruchinterview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015html ZEIT online vom 3 Maumlrz 2020 bdquoDeutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechenldquo httpswwwzeitdepolitikausland2020-03griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-daniel-thym bdquoDoch was heiszligt an der Grenze Gilt das Recht auf Antragstellung schon fuumlr alle die auf der ande-ren Seite des Grenzzauns stehen oder nur fuumlr jene die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen Das ist ungeklaumlrtldquo Thym Daniel bdquoDas Ende einer Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

38 EGMR Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 171 und 209 httphudocechrcoeintengi=001-201353

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 14: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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ldquoHowever it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the

international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor-

ders ndash either their own borders or the external borders of the Schengen area as the case may be ndash in a manner

which complies with the Convention guarantees and in particular with the obligation of non-refoulement

In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain in response to recent migratory flows at its

borders to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to

access them and thus to render more effective for the benefit of those in need of protection against

refoulement the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purposerdquo 39

Der EGMR erinnert weiter daran ldquothat the Convention is intended to guarantee not rights that are

theoretical or illusory but rights that are practical and effectiverdquo40 Legt man das Refoulementver-

bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK-

Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) aus so

liegt es nahe eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen regulaumlre

Einreisemoumlglichkeiten zu schaffen Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich bdquokein Loch in den

Zaun schneiden um die Person hereinlassen die nur das Wort acuteAsyl` uumlber den Zaun gerufen

hatldquo43 Es reicht voumlllig aus bestehende Grenzuumlbergangsstellen zu oumlffnen um einen effektiven

Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermoumlglichen44

Die explizite Bestaumltigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus doch

handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortfuumlhrung seiner staumlndigen Rechtspre-

chung zu den positiven Schutzpflichten

39 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 232

40 Ebda Rdnr 171

41 Vgl zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas William A bdquoThe European Convention on Human Rights A Commentaryldquo Oxford 2015 S 33 ff (49 f) Mayer in KarpensteinMayer (Hrsg) EMRK Kommentar Muumlnchen Beck 2 Aufl 2015 Einl Rdnr 48

42 Vgl zum Konzept der Gewaumlhrleistungspflichten (engl positive obligations) in der EMRK vgl Grabenwar-terPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 19 Rdnr 1 ff

43 So etwa zugespitzt Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

44 Dafuumlr plaumldieren ua das Deutsche Institut fuumlr Menschenrechte bdquoDas Vorgehen Griechenlands und der EU an der tuumlrkisch-griechischen Grenze ndash Eine menschen- und fluumlchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati-onldquo Maumlrz 2020 S 3 sowie Amnesty International ZEIT online vom 2 Maumlrz 2020 bdquoAmnesty fordert sichere Grenzuumlbergaumlnge fuumlr Fluumlchtlingeldquo httpswwwzeitdepolitikdeutschland2020-03eu-aussengrenze-amnesty-international-ngo-fluechtlinge-tuerkei

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 15: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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5 Einschraumlnkungen des Refoulementverbots

Im Folgenden soll ndash auch uumlber die konkrete Situation an der tuumlrkisch-griechischen Grenze hin-ausgehend ndash untersucht werden aus welchen Gruumlnden bzw angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschraumlnkt werden duumlrfte

51 Zuruumlckweisungen in einen sicheren Drittstaat

Fraglich ist zunaumlchst ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal-

ten werden kann dass ndash jedenfalls aus griechischer Sicht ndash die Menschen an der tuumlrkisch-

griechischen Grenze aus einem sog sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Tuumlrkei

kommen bzw in einen solchen Staat zuruumlckgeschoben werden sollen

Der Begriff des acutesicheren Drittstaates` ist kein voumllkerrechtlicher Begriff sondern (nur) ein ndash

wenngleich zentraler ndash Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art 16a Abs 2 GG und

sect 26a Asylgesetz45) der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt die

insb uumlber EU- bzw EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind

Auch bei Zuruumlckfuumlhrungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen

Pruumlfung nicht entziehen etwa um sicherzustellen dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will-

kuumlrlich weiterschiebt und damit eine bdquoKettenabschiebungldquo ausloumlst46 So hat das BVerfG klarge-

stellt dass die Einstufung eines Staates als bdquosicherer Drittstaatldquo im Einzelfall widerlegbar sein

koumlnne47

So duumlrfe der Drittstaat bdquonach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein Auslaumlnder in einen solchen Staat abzu-

schieben in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht ohne dass dort (dh im

Viertstaat) in einem foumlrmlichen Verfahren gepruumlft worden ist ob die Voraussetzungen der Art 33 GFK

Art 3 EMRK vorliegen oder ein dementsprechender Schutz tatsaumlchlich gewaumlhrleistet ist Haumllt sich ein Staat

(Drittstaat) zur Weiterschiebung von Fluumlchtlingen in einen anderen Staat fuumlr befugt obwohl dort diese Vo-

raussetzungen nicht gegeben sind ist die Anwendung der Genfer Fluumlchtlingskonvention im Drittstaat nicht

sichergestellt

45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2 September 2008 (BGBl I S 1798) httpswwwgesetze-im-internetdeasylvfg_1992__26ahtml

46 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 86 Classen Claus Dieter bdquoSichere Drittstaaten ndash ein Beitrag zur Bewaumlltigung des Asylproblemsldquo in DVBl 1993 S 700-705 (701) Kaumllin Walter Das Prinzip des Non-Refoulement Bern 1982 S 110 EGMR MA und andere gegen Litauen Urteil vom 11 Dezember 2018 Beschwerde-Nr 5979317 httphudocechrcoeintengi=001-188267 Rn 104 bdquoIt is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks facedrdquo

47 BVerfGE 94 49 Urteil vom 14 Mai 1996 Rdnr 170 httpwwwbverfgdeers19960514_2bvr193893html

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 16: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Denn gemaumlszlig Art 33 Abs 1 GFK darf ein Fluumlchtling nicht auf irgendeine Weise (in any manner whatsoever)

uumlber die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zuruumlckgewiesen werden in denen ihm Verfolgung droht

Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die

Abschiebung oder Zuruumlckweisung in solche Staaten in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat

drohtldquo

Der EGMR misst der Tatsache dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw der

EMRK erfolgen soll zwar eine gewisse Bedeutung zu doch laumlsst er keinen Zweifel daran dass

auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umstaumlnden eine Verlet-

zung des Art 3 EMRK bedeuten kann48

Selbst die Uumlberstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat koumlnne konventi-

onswidrig sein So stellte der EGMR im Fall MSS gegen Belgien und Griechenland49 eine Ver-

letzung des Refoulementverbots gem Art 3 EMRK fest weil die belgischen Behoumlrden nach Grie-

chenland uumlberstellt hatten obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le-

bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten Nach Auffassung des EGMR duumlrfe

also nicht von den formalen Rechtsbindungen denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt auf die 50tatsaumlchlichen Zustaumlnde im Land geschlossen werden Eine Uumlberpruumlfung des Einzelfalles bleibt

somit unerlaumlsslich51

Im Fall Ilias u Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlaumlngst die ungarische Praxis die Serbien

generell als sicher eingestuft und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah-

ren (in Serbien) umfasst als Verletzung von Art 3 EMRK angesehen Die Asylsuchenden muumlssen

nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben in

dem gepruumlft wird ob sie schutzbeduumlrftig sind und ob eine Ruumlckweisung im Einzelfall gegen die

Konvention verstoumlszligt

bdquoThe Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter-

mediary country without examination of the asylum requests on the merits regardless of whether the receiving

third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not it is the duty

of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker

48 GrabenwarterPabel Europaumlische Menschenrechtskonvention Muumlnchen Beck 6 Aufl 2016 sect 20 Rdnr 85 ff mwN aus der Rechtsprechung Alleweldt Ralf Schutz vor Abschiebung und drohender Folter Berlin Heidelberg Springer 1996 S 61 ff Walter Christian bdquoAbschiebungsschutz fuumlr den Kalifen von Koumllnldquo in JZ 2005 S 788-791

49 EGMR (GK) Urteil vom 21 Januar 2011 Beschwerde-Nr 3069609 MSS gegen Belgien und Griechenland httpshudocechrcoeintfre22itemid22[22001-10329322]

50 So auch Thym Daniel bdquoDas Ende der Illusionldquo in FAZ vom 26 Maumlrz 2020 S 6 httpswwwfaznetaktuellpolitikstaat-und-rechteuropaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion-16696503html

51 So auch Arnauld Andreas v bdquoKonventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik ndash Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall MSS Belgien und Griechenlandldquo in EuGRZ 2011 S 238-242 (239)

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 18

Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 17: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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being denied access in the receiving third country to an adequate asylum procedure protecting him or her

against Refoulementrdquo52

Nur unter der Voraussetzung dass es stimmt dass den betroffenen Personen in der Tuumlrkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen laumlsst sich eine Verletzung des Refou-lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen Um dies herauszufinden bedarf es einer Einzelfallpruumlfung

52 Massenfluchtbewegungen

Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich fuumlr die Behoumlrden als

schwierig bis nahezu unmoumlglich erweisen jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht-

lich bzw europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu pruumlfen53 Bei Massenfluchtbewegungen hat

sich fluumlchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet54 bis zur Pruumlfung des Einzelfalls vorlaumlufigen

Schutz zu gewaumlhren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu-

fuumlhren55

Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmaumlszligig als Gefahr fuumlr den

sozialen Frieden56 und damit fuumlr die oumlffentliche Sicherheit ihres Landes an und begruumlnden

damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots

52 EGMR Ilias u Ahmed gegen Ungarn Urteil vom 21 November 2019 Beschwerde Nr 4728715 Rdnr 134 httpshudocechrcoeinteng22itemid22[22001-19876022]

53 Vgl zur Frage des Massenzustroms KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 132 ff

54 Vgl zur europarechtlichen Praxis die Regelungen uumlber voruumlbergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 200155EG des Rates vom 20 Juli 2001 uumlber Mindestnormen fuumlr die Gewaumlhrung voruumlbergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maszlignahmen zur Foumlrderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind auf die Mitgliedstaaten

55 UNHCR Guidelines on International Protection No 11 Prima Facie Recognition of Refugee Status HCRGIP1511 vom 24 Juni 2015 httpswwwrefworldorgdocid555c335a4html UNHCR Protection of Refugees in mass influx situations Overall protection framework ECGC014 vom 19 Februar 2001 httpswwwunhcrorg3ae68f3c24html

56 Vgl Berichte in SPIEGEL online vom 1 Maumlrz 2020 bdquoGespannte Lage am Mittelmeer Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Landldquo httpswwwspiegeldepolitikauslandfluechtlinge-bewohner-auf-lesbos-lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404 Angeblich sollen sich maskierte Buumlrgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 18: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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Waumlhrend der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit fuumlr die Moumlglichkeit aus

Art 33 GFK anlaumlsslich eines Massenzustroms auszusetzen wenn anderenfalls die Aufrechterhal-

tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefaumlhrdet waumlre57 Dass die Staaten dem

Wort bdquorefoulerldquo eine besondere Bedeutung (iSd Art 31 Abs 4 der Wiener Vertragsrechtskon-

vention) beizulegen beabsichtigten wonach das Refoulementverbot bei Massenzustroumlmen von

Asylsuchenden ausgesetzt werden darf belegen die Dokumente zu den travaux preacuteparatoires

allerdings nicht58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK

keinen Niederschlag gefunden

Als ausdruumlckliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt

Art 33 Abs 2 GFK lediglich

Auf die Verguumlnstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Fluumlchtling nicht berufen der aus schwer

wiegenden Gruumlnden als eine Gefahr fuumlr die Sicherheit des Landes anzusehen ist in dem er sich befindet (hellip)

Aufgrund der humanitaumlren Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou-

lementverbots fuumlr die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er-

schoumlpfend angesehen werden Die in Art 33 Abs 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr

voraus die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefaumlhrlichen Verhalten des jeweiligen

Asylsuchenden (Terrorismus Spionage etc) ausgeht Die bloszlige Inanspruchnahme eines Rechts

kann dagegen auch dann nicht als bdquoGefahrldquo iSd Art 33 Abs 2 GFK betrachtet werden wenn sie

von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird59 Die Ausnahmeregelung in Art 33

Abs 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung Dies hat

das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR) deren Schlussfolgerungen fuumlr die Auslegung der

GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind deutlich gemacht

1 In situations of large scale-influx asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek

refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis it should always admit them at least on a

temporary basis and provide with protection to the principles set out below ()

2 In all cases the fundamental principle of non-refoulement ndash including non-rejection at the frontier ndash must be

scrupulously observed60

57 Nachweise bei KaumllinCaroniHeim in Zimmermann (Hrsg) The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol Oxford University Press 2011 Art 33 Abs 1 Rdnr 133 mit Fn 363 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 357 ff

58 Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

59 Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205

60 EXCOM Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx No 22 (XXXII) 1981 httpswwwunhcrorg3ae68c6e10html Vgl auch UNHCR Exekutivkomitee Nr 100 (LV) Beschluss uumlber internationale Zusammenarbeit Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen httpswwwrefworldorgpdfid5db843f00pdf

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In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 22

Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 19: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 19

In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule-

mentverbot diskutiert ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua-

tionen wird indes als unzulaumlssig angesehen61 Dieser Rechtauffassung schlieszligt sich auch der

EGMR an wenn er in der Entscheidung ND und NT gegen Spanien feststellt62

ldquoNevertheless the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato-

ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible

with the Convention or the Protocols theretordquo

Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen lieszlige sich an eine Aussetzung des Refoulementver-

bots denken ndash etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete

Anhaltspunkte dafuumlr bestehen dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Fluumlchten-

den befinden ohne dass eine Pruumlfung im Einzelfall moumlglich waumlre63 Auch eine invasionsartige

Massenfluchtbewegung die das wirtschaftliche Uumlberleben eines Staates gefaumlhrdet koumlnnte eine

solche extreme Ausnahmesituation begruumlnden

Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht

uumlberhaupt von einer Massenflucht sprechen koumlnnen muss an dieser Stelle offen bleiben Denn

zum einen existieren kaum belastbare Angaben uumlber die tatsaumlchliche Zahl jener die in dem

Camp an der Grenze ausgeharrt haben Zum anderen laumlsst sich eine Massenfluchtbewegung zu-

mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern ndash letztlich handelt es sich um eine politi-

sche Einschaumltzung des betroffenen Staates bei der die Gesamtumstaumlnde sowie die Groumlszlige und

Leistungsfaumlhigkeit des Staates zu beruumlcksichtigen sind Griechenland hat das Argument der

bdquoMassenfluchtldquo jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschlieszligung ins

Spiel gebracht

53 Oumlffentlicher Notstand

Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze

dem Generalsekretaumlr des Europarats gegenuumlber den oumlffentlichen Notstand iSv Art 15 EMRK

erklaumlrt64 Der Notstand wuumlrde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermoumlglichen bestimmte EMRK-

Rechte auszusetzen (derogieren) Das Refoulementverbot aus Art 3 EMRK gehoumlrt jedoch gem

61 Wennholz Philipp Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Voumllkerrecht Berlin BWV 2013 S 282 ff Rah Sicco Asylsuchende und Migranten auf See Berlin Heidelberg Springer 2009 S 205 mwN Feil Leonard Amaru bdquoDer acuteMassenzustrom` von Fluumlchtlingen aus voumllkerrechtlicher Perspektiveldquo in ZAR 2018 S 155-160 (157)

62 EGMR ND und NT gegen Spanien Urteil vom 13 Februar 2020 Rdnr 170

63 Hathaway James C The Rights of Refugees under International Law Cambridge 2005 S 362

64 In einem Interview vom 8 Maumlrz hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl DW vom 20 Maumlrz 2020 bdquoAsylrecht in Griechenland auszliger Kraft gesetztldquo httpswwwdwcomdeasylrecht-in-griechenland-auC39Fer-kraft-gesetzta-52862008)

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Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 20: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 20

Art 15 Abs 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten die auch angesichts eines Mas-

senzustroms rechtlich nicht auszliger Kraft gesetzt werden duumlrfen Uumlber die Notstandsfestigkeit des

Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung

keinen

Dissens65

Die Staatenpraxis zeigt dass Staaten Fluumlchtlingsbewegungen ganz anderer Groumlszligenordnungen

bewaumlltigt66 und Grenzschlieszligungen in der Regel nur als Praumlventionsmaszlignahme gegen den wirt-

schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgefuumlhrt haben67

Andererseits laumlsst sich ndash soweit ersichtlich ndash keine konsistente Staatenpraxis ausmachen

wonach Staaten gegen Grenzschlieszligungen anderer Staaten angesichts einer Situation des

drohenden Massenzustroms voumllkerrechtlich protestieren Doch wird der ausbleibende Protest

vielfach politisch motiviert sein68

54 Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie uumlberlagert derzeit die Bemuumlhungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung

der humanitaumlren Notlage an der tuumlrkisch-griechischen Grenze69 Aus nachvollziehbaren Gruumlnden

kaum eroumlrtert ist die Frage ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle

Corona-Pandemie) Staaten berechtigt ihre Grenzen zu schlieszligen und das Asylrecht auszusetzen

Mit Blick auf die Situation an der griechisch-tuumlrkischen Grenze bleibt festzuhalten dass die

Maszlignahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo-

gen wurden (naumlmlich Ende Februar 2020) bevor der bdquoCovid-19ldquo-Ausbruch am 12 Maumlrz 2020 von

65 Vgl insoweit EGMR (GK) Urteil vom 15 November 1996 Beschwerde Nr 2241493 ndash Chahal gegen Groszligbri-tannien Progin-Theuerkauf in HeselhausNowak (Hrsg) Handbuch der Europaumlischen Grundrechte Muumlnchen Beck 2 Aufl 2020 sect 20 Rdnr 14 Lehnert Matthias bdquoDie Herrschaft des Rechts an der EU-Auszligengrenzeldquo VerfBlog vom 4 Maumlrz 2020 httpsverfassungsblogdedie-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze

66 UNHCR Zahlen amp Fakten zu Menschen auf der Flucht httpswwwuno-fluechtlingshilfedeinformierenfluechtlingszahlen

67 FR vom 20 August 2018 bdquoVenezuelas Nachbarn machen die Grenzen dichtldquo httpswwwfrdepolitikvenezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388html

68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der tuumlrkisch-griechischen Grenze im Maumlrz 2020 wurde hauptsaumlchlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert waumlhrend sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zuruumlckhiel-ten

69 DW vom 19 Maumlrz 2020 bdquoCorona setzt Fluumlchtlingskinder festldquo httpswwwdwcomdecorona-setzt-flC3BCchtlingskinder-festa-52845534

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 21

der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

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Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 21: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

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der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklaumlrt wurde70 und in der Folge die EU-

Staaten ihre bdquoSchengenldquo-Grenzen geschlossen haben

Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund fuumlr die

Grenzschlieszligungen berufen noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach

Art 15 EMRK zum Ausdruck gebracht71

Unabhaumlngig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementver-

bot als notstandsfestem Recht und pandemisch begruumlndeten ndash grundrechtsbeeintraumlchtigenden ndash

staatlichen Maszlignahmen72

Rechtlich laumlsst sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur an-

satzweise vermessen Grundsaumltzlich gilt dass auch eine Pandemie keine willkuumlrliche Ausset-

zung bzw Auszligerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt73 So sieht

etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor ndash sect 28 IfSG

regelt abschlieszligend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschraumlnkbaren Grundrechte

des Grundgesetzes Andererseits ist klar dass die Corona-Krise und die drastischen Maszlignahmen

zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne

Auswirkungen bleiben So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologi-

schen Gruumlnden so lange verweigert werden (Quarantaumlne) bis der Infektionsstatus ermittelt ist

Insoweit stellen sich aus behoumlrdlicher Sicht rein organisatorisch aumlhnliche Herausforderungen wie

bei der Ermittlung des fluumlchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfah-

rens

6 Fazit

Das unbestrittene Recht eines Staates seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von

Asylsuchenden zu schuumltzen findet seine voumllkerrechtliche Grenze im sog Refoulementverbot das

ndash verkuumlrzt formuliert ndash die Zuruumlckweisung von Personen in Situationen verbietet in denen ihnen

Folter und unmenschliche Behandlung drohen Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei

Uumlberschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat sondern bereits bdquoanldquo der Grenze

Anwendung sobald ein Staat Hoheitsgewalt uumlber die betreffenden Personen ausuumlbt

70 bdquoWHO erklaumlrt COVID-19-Ausbruch zur Pandemieldquo httpwwweurowhointdehealth-topicshealth-emergenciescoronavirus-covid-19newsnews20203who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

71 Art 15 Abs 1 EMRK spricht von bdquoKrieg oder einen anderen oumlffentlichen Notstandldquo der bdquodas Leben der Nation bedrohtldquo worunter sich unschwer auch ein pandemisch begruumlndeter Ausnahmezustand wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht subsumieren lieszlige

72 Vgl zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 bdquoViele Gefluumlchtete duumlrfen keinen Asylantrag mehr stellenldquo httpswwwtagesspiegeldepolitikdeutschland-macht-wegen-coronavirus-dicht-viele-gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen25655860html

73 So ausdruumlcklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18 Maumlrz 2020 aaO

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 22

Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden

Page 22: „Push Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des … · push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 02820

Seite 22

Ein voumllliges bdquoAbschottenldquo der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise laumlsst das Refoulement-

verbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts

nicht vereinbar Die staumlndige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewaumlhrleis-

tungsverpflichtungen) sowie die Auslegungsmaxime der bdquopraktischen Wirksamkeitldquo (effet utile)

der EMRK-Rechte legen es nahe eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen

regulaumlre Grenzuumlbergaumlnge zu oumlffnen um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asyl-

verfahren faktisch zu ermoumlglichen

Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Uumlberpruumlfung des fluumlchtlings- bzw

migrationsrechtlichen Status des Betroffenen Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung dem nicht

nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt sondern der auch das Konzept des

bdquosicheren Drittstaatesldquo zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw bdquokorrigiertldquo

gehoumlrt zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit74 Das Refoulementverbot soll

nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maszlignahmen ohne Ansehen der Person verhindern

Erst nach einer Einzelfallpruumlfung kann der Staat die Zuruumlckweisung eines Asylsuchenden

dessen Status sich ex post als nicht schutzwuumlrdig erweist in rechtstaatlich einwandfreier Weise

vornehmen

Weder die Genfer Fluumlchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfaumlhige

Grundlage fuumlr die Auszligerkraftsetzung des Refoulementverbots fuumlr Asylsuchende an der grie-

chisch-tuumlrkischen Grenze Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms ein oumlffentlicher

Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulement-

grundsatzes Dieser gilt vielmehr absolut dh auch bei Zuruumlckweisung in einen ndash vermeintlich ndash

sicheren Drittstaat

Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Voumllker-

rechtsliteratur75 und auch nach Einschaumltzung des Verfassers dieser Arbeit duumlrfte sich die

Abschottungspolitik an der griechisch-tuumlrkischen Grenze - dh die Zuruumlckweisungsmaszlignahmen

griechischer Behoumlrden ohne Ansehen der Person - mit dem voumllkerrechtlich verankerten Refoule-

mentverbot kaum vereinbaren lassen Die im Februar dieses Jahres ergangene und voumllkerrechtlich

durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien die vor allem im politi-

schen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechisch-

tuumlrkischen Grenze herangezogen wurde wird sicherlich auch Folgen fuumlr die europaumlische Migra-

tionspolitik an den EU-Auszligengrenzen zeitigen Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffas-

sung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots dem prozedural vor allem das

Postulat der individuellen Einzelfallpruumlfung zugrunde liegt nicht an

74 Vgl zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie Muumlnchen Beck 2 Aufl 1989 sect 24

75 Die voumllkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit beruumlcksichtigt werden