APuZ_Geschichte Als Instrument

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  • APuZAus Politik und Zeitgeschichte

    63. Jahrgang 4243/2013 14. Oktober 2013

    Geschichte als Instrument

    Martin SabrowVariationen ber ein schwieriges Thema

    Bodo von BorriesZurck zu den Quellen? Pldoyer fr die Narrationsprfung

    Thomas GrobltingGeschichtskonstruktion

    zwischen Wissenschaft und Populrkultur

    Klaus ChristophAufarbeitung der SED-Diktatur heute so wie gestern?

    Marcel SiepmannVom Nutzen und Nachteil europischer Geschichtsbilder

    Marion KleinTrauerimperativ:

    Jugendliche und ihr Umgang mit dem Holocaust (-Denkmal)

  • EditorialMan hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zuknftiger Jahre zu belehren, beige-messen, schrieb der Historiker Leopold von Ranke 1824. Zu-gleich versuchte er jedoch, sich diesem Anspruch zu entziehen: Der Geschichtsschreiber wolle schlielich blos zeigen, wie es eigentlich gewesen. Die Vorstellung eines objektiv ber allen Dingen schwebenden Historikers war aber schon damals illu-sionr. Wie in der Vergangenheit liegende Ereignisse zu einer zusammenhngenden Erzhlung, zu einem bestimmten Narra-tiv verknpft werden, ist zwangslufig eine Konstruktion und fllt je nach Standpunkt und Herangehensweise unterschiedlich aus.

    Geschichte ist also nicht starr, sondern formbar. Entsprechend lang ist die Tradition der Versuche, sie fr politische Zwecke zu instrumentalisieren sei es durch Flschung oder Auslassung, Dmonisierung, Heroisierung oder schlicht durch einseitige In-terpretation. Die Gefahr, dass staatlicherseits bestimmte Ge-schichtsbilder etabliert werden, besteht vor allem in nicht-plu-ralistischen politischen Systemen. Doch auch in Demokratien wird mit Geschichte Politik gemacht und werden bestimmte Er-zhlungen durch ffentliche Reprsentation favorisiert aller-dings haben es Meistererzhlungen heute immer schwerer, auf dem ffentlichen Markt konkurrierender Narrative und zudem in einer heterogenen Migrationsgesellschaft unhinter-fragt zu bestehen.

    Eine besondere Herausforderung nicht nur fr die Fach-wissenschaft, sondern auch fr die historisch-politische Bil-dung, deren Aufgabe es ist, historische Narrative immer auch als schpferische Leistung erkennbar zu machen und sie so zu de-konstruieren, liegt im grundlegenden Medienwandel: Schlssige Deutungsangebote finden sich zunehmend meist in attraktiver Verpackung auch in (Unterhaltungs-) Medien, de-ren primre Ziele konomischer Natur sind. Geschichte in Ge-stalt von Histotainment ist dort vor allem ein geeignetes In-strument, um Quote zu machen.

    Johannes Piepenbrink

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    Martin Sabrow

    Geschichte als Instrument:

    Variationen ber ein schwieriges Thema

    Martin Sabrow Dr. phil., geb. 1954; Profes-sor fr Neueste Geschichte

    und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universitt zu Berlin

    und Direktor des Zentrums fr Zeithistorische Forschung

    Potsdam (ZZF), Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam. [email protected]

    In auerwissenschaftliche Dienste genom-men und zum Instrument politischer Inte-ressen gemacht zu werden, zhlt zum Schicksal

    der Geschichtsschrei-bung. Die Verflschung der historischen Wahr-heit, die Unterdrckung geschichtlicher Fakten und die Ntigung ihrer professionellen Sach-walter durch deren Auf-traggeber und Abneh-mer sind stehende Topoi aller Auseinanderset-zung mit der Vergan-

    genheit mit dem Lobpreis der Muse Klio verbindet sich seit jeher die Klage ber ihren Missbrauch.

    Gleichwohl fllt es bei nherem Hinsehen gar nicht so leicht, Erkenntnis und Interesse berzeugend voneinander zu unterscheiden und die instrumentelle Nutzung der Histori-ografie von ihrer freien Entfaltung abzugren-zen. Dies gilt zumal in der Zeitgeschichte, in der die Beziehung von Vergangenheitser-fahrung und Zukunftsgestaltung angesichts der Einrede der Zeitgenossen, des Selbstver-stndnisses der Gegenwartsgesellschaft und ihrer geschichtspolitischen Legitimationsan-strengungen besonders eng geknpft ist.

    Manipulation und Flschung

    Immerhin kann als klares Erkennungsmerk-mal historischer Instrumentalisierung die Verzerrung der historischen Wahrheit durch Verflschung ihrer Quellen und Fakten an-gefhrt werden. Berchtigt ist etwa das zu-erst 1903 in Russland unter dem Titel Pro-tokolle der Weisen von Zion erschienene

    Pamphlet, das sich als Dokumentation ei-ner geheimen jdischen Weltverschwrung prsentiert und ungeachtet seiner verhee-renden ffentlichen Wirkung nichts als eine vermutlich von russischen Rechtsradika-len fabrizierte Flschung oder prziser: eine bloe Fiktion darstellt. Historische Falsi-fikate sind so alt wie die Geschichtsschrei-bung, und ihr Bogen spannt sich von der erst um 800 entstandenen Schenkungsurkunde des rmischen Kaisers Konstantin, die den Herrschaftsanspruch des Papstes auf Rom und die Christenheit verbrgen sollte, bis zu den geflschten Hitler-Tagebchern, auf die 1983 der Stern hereinfiel.

    Eine fortgesetzte historische Verkehrung furchtbarer Tatsachen verbindet sich mit Ka-tyn. Der Name des westrussischen Dorfes ist zum Synonym geworden fr das durch Mos-kau angeordnete Massaker an Zehntausenden von polnischen Offizieren, Intellektuellen und Staatsbediensteten, die als sowjetfeind-liche Elite im Frhjahr 1940 durch die so wje-tische Geheimpolizei (NKWD) zu geheim gehaltenen Hinrichtungsorten unter ande-rem in einem Wald bei Katyn gebracht, er-schossen und verscharrt worden waren. Die Entdeckung dieser Mordtat durch die deut-sche Wehrmacht fhrte zu einer Propaganda-schlacht der beiden Diktaturen, in der die aufgedeckten oder fingierten Fakten auf bei-den Seiten als politische Munition dienten. Die So wjet union setzte die auf krasse Fl-schungen gesttzte Politik der Leugnung ih-rer eigenen Verantwortung und deren ber-tragung auf die NS-Fhrung ber Jahrzehnte hinweg fort und bekannte sich erst 1990 un-ter Michail Gor ba tschow und Boris Jelzin zu der durch die historischen Indizien lngst zweifelsfrei festgestellten Schuld Stalins und seiner Helfershelfer.

    Brachial in der Umschreibung der Vergan-genheit verfuhr auch die Bildregie des Stali-nismus, die in der So wjet union wie auch sp-ter in ihren Satellitenstaaten die Retusche von Bildzeugnissen zur alltglichen Praxis erhob wobei die Verstmmelung der Bilder durch Wegschneiden in Ungnade gefallener Perso-nen in der Regel auch mit deren physischer Auslschung einherging oder ihr unmittel-bar folgte. Kein Bild hat in diesem Zusam-menhang traurigere Berhmtheit erlangt als das am 5. Mai 1920 vor dem Moskauer Bol-schoi-Theater entstandene und millionenfach

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    Retuschierte Geschichte: Lenin mit und ohne Trotzki und Kamenew

    Lenin am 5. Mai 1920 whrend einer Rede auf dem Swerdlow-Platz (heute Theaterplatz) in Moskau. Rechts auf der Treppe stehen Trotzki und Kamenew (oben); in der spter verwendeten, retuschierten Version fehlen sie (unten).Quelle: Haus der Geschichte, Bonn / Staatliches Historisches Museum Moskau

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    verbreitete Foto, das einen mit flammenden Worten zum Kampf gegen Polen aufrufen-den Lenin zeigt. Die auf dem Holzpodest bei ihm stehenden Kampfgefhrten Trotzki und Kamenew wurden nach ihrer jeweiligen Ent-machtung in spteren Nachdrucken schritt-weise wegretuschiert und durch Holzstufen zu dem Podest ersetzt, von dem aus Lenin seine Ansprache an die abmarschbereiten Rotarmisten hielt.

    Kaum weniger bekannt ist die Bildfl-schung in der Ablichtung der bei Kriegsen-de 1945 auf dem Berliner Reichstag aufge-pflanzten Roten Fahne, die den Triumph der Sowjetarmee ber Hitlerdeutschland ikono-grafisch bannte. Hier tritt allerdings schon eine erste Irritation in der klaren Unterschei-dung von echt und falsch zutage. Denn die Bildmanipulation betraf nicht nur die von den Handgelenken der Fahnentrger weg-retuschierten Beuteuhren, sondern (hn-lich wie im Fall des die nationalsozialistische Machtergreifung feiernden Fackelzuges vom 30. Januar 1933) die Unwahrheit des portrtierten Ereignisses selbst, das zu ei-nem spteren Zeitpunkt nachgestellt wurde, um das historische Ereignis visualisieren und verewigen zu knnen.

    Einflussnahme und Zwang

    Neben der Unterscheidung von Original und Flschung bietet die Entgegensetzung von Zwang und Freiheit eine hilfreiche Orien-tierung, um Geschichte als Instrument fass-bar zu machen. Dazu zhlt in erster Linie die Unterdrckung oder Verzerrung histo-rischer Erkenntnisse im ffentlichen Raum und in der Fachwissenschaft selbst. Die fort-gesetzte Leugnung oder Marginalisierung des Vlkermordes an den Armeniern in der Trkei whrend des Ersten Weltkriegs liefert hier ein prominentes Beispiel. Nicht anders in Deutschland, wo zur staatlichen Kontrolle der Kriegsschulddebatte in der Weimarer Republik eigens ein Kriegsschuldreferat ge-schaffen wurde, das die Arbeit eines zur Kl-rung der Schuldfrage eingesetzten Untersu-chungsausschusses des Deutschen Reichstags lenkte. Mit Blick auf die deutsche Verhand-lungsposition gegenber den Alliierten ver-hinderte es zudem eine geplante Aktenpu-blikation sowie die Verffentlichung des im Parlamentsausschuss erstatteten Gutach-

    tens, mit dem Hermann Kantorowicz die Kriegsunschulds legende zerstrt hatte. 1

    Auch die Geschichtsschreibung der Bun-desrepublik kennt herausragende Flle poli-tischer Einflussnahme auf ihre Arbeit. Dies gilt namentlich fr das vom Bundesvertrie-benenministerium initiierte und finanzier-te Groforschungsprojekt Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mit-teleuropa, das in den 1950er Jahren in starke Spannung zu den Interessen erst der Vertrie-benenverbnde und dann der Bundesregie-rung selbst geriet. Je mehr die Arbeit an der Dokumentation aus der fachlichen Eigen-logik heraus drngte, den Vertreibungsvor-gang in einen groen geschichtlichen Rahmen (zu) stellen und somit in die Gesamtge-schichte der ethnischen Flurbereinigung des 19. und 20. Jahrhunderts einschlielich der nationalsozialistischen Volkstumspolitik ein-zubetten, desto mehr frchtete der politi-sche Auftraggeber, statt der gewnschten ge-schichtspolitischen Waffe der Anklage einen Entschuldigungszettel finanziert zu ha-ben, der die Einmaligkeit der Deutschenver-treibung relativieren knnte. Ein geplanter Ergebnisband kam nicht zustande, nachdem der zustndige Staatssekretr die Publikation nach Lektre der bereits verfassten Teile als politischen Selbstmord fr sein Haus be-zeichnet hatte. 2

    Geschichtspolitische Eingriffe in die Fach-autonomie gingen auch vom Auswrtigen Amt aus. In der zu Beginn der 1960er Jahre wieder aufflammenden Frage nach der deut-schen Schuld am Weltkriegsausbruch 1914

    1 Vgl. Ulrich Heinemann, Die verdrngte Niederla-ge. Politische ffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Gttingen 1983, S. 95 ff. Zum Charakter der sich zwischen Wissenschaft und Leben neu bildenden Zeitgeschichte bei der Durchsetzung einer vaterlndische(n) Lsung im 1914 ausbrechenden Kulturkrieg vgl. Klaus Groe Kracht, Kriegsschuldfrage und zeithistorische For-schung in Deutschland. Historiographische Nach-wirkungen des Ersten Weltkriegs, in: Zeitgeschich-te-online, Mai 2004, www.zeitgeschichte-online.de/themen/kriegsschuldfrage-und-zeithistorische-for-schung-deutschland (1. 10. 2013).2 Vgl. Matthias Beer, Im Spannungsfeld von Poli-tik und Zeitgeschichte. Das Groforschungsprojekt Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in: Vierteljahrshefte fr Zeitgeschichte, 46 (1998) 3, S. 345389, hier: S. 379, S. 383.

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    versuchte das Auswrtige Amt am Ende vergeblich eine Vortragsreise des engagier-ten Verfechters der Kriegsschuldthese Fritz Fischer in die USA zu verhindern. Auch in der Auseinandersetzung mit der untergegan-genen SED-Diktatur ereigneten sich in den vergangenen Jahren im Hintergrund heftige Rangeleien, die bis in die angemessene Plat-zierung von Politikerzitaten an einzelnen Ausstellungsorten der Berliner Gedenkland-schaft reichten.

    Die Gedenksttte Deutscher Widerstand stand in den 1990er Jahren immer wieder un-ter heftigem politischem Druck, die Bilder von Reprsentanten des kommunistischen Widerstands wie Ulbricht und Pieck zu ent-fernen und das kommunistisch beherrsch-te Nationalkomitee Freies Deutschland aus der Wrdigung des Widerstands auszuklam-mern. 3 Das Deutsche Historische Muse-um tauschte 2009 Zeitungsberichten zufolge in der Ausstellung Fremde? Bilder von den Anderen in Deutschland und Frankreich seit 1871 auf Verlangen des Bundeskulturbe-auftragten eine Tafel, die sich kritisch mit der Flchtlingspolitik der EU auseinandersetzte, gegen einen unverfnglichen Text aus, der die erfolgreiche Integration von Zuwanderern in Deutschland lobte. 4

    Freiwillige Selbstinstrumentalisierung

    Nicht immer geht es dabei nur um die Ver-letzung der Fachautonomie durch wissen-schaftsfremden Eingriff; manches Mal macht die Historie sich durchaus auch selbst zum Instrument politischer Absichten. Schon der als preuischer Hofnarr berchtigte und als brandenburgischer Landeshistoriker bedeu-tende Jacob Paul von Gundling beschwor sei-nen Landesherrn, den Soldatenknig Fried-rich Wilhelm I., seine 1708 fertiggestellte Biografie des Groen Kurfrsten aus auen-

    3 Vgl. Ekkehard Klausa, Ungeteilte Ehre. Gedenk-sttte Deutscher Widerstand darf nicht zwischen gu-ten und bsen Gegnern Hitlers unterscheiden, in: Die Zeit vom 17. 6. 1994; Christian Bhme, Pieck und Ulbricht als Reizfiguren, in: Der Tagesspiegel vom 15. 7. 1998.4 Vgl. Philipp Lichterbeck/Kai Mller, Zankapfel Migration: Es gilt das gesprochene Wort. Wie die Be-hrde von Kulturstaatsminister Neumann Druck auf das Deutsche Historische Museum ausbt, in: Der Tagesspiegel vom 12. 11. 2009.

    politischen Rcksichten nicht in die ffent-lichkeit gelangen zu lassen: Ich kann nicht lugnen, es sind allhier unterschiedliche Ge-heime Sachen, deswegen diese Schrifft nicht kan gedrucket werden, sonderlich in denje-nigen Dingen, so Schweden, Dnnemarck, Polen und den Kayser angehen, dannenhero diese Schrifft einstens wol in acht genommen werden mu. 5

    Auf der gleichen Linie bewegte sich die gelenkte Geschichtswissenschaft der so-zialistischen Lnder. Sie erhob den politi-schen Eingriff in den Gang der Wissenschaft gleichsam zum System, wenngleich der his-torische Herrschaftsdiskurs diese Einver-nahme mit der Doktrin der Einheit von Par-teilichkeit und Objektivitt zum Ausweis von Wissenschaftlichkeit selbst erklrte und in ihrer Anstigkeit weit weniger hufig aufscheinen lie, als dies aus der Auenper-spektive zu vermuten wre. Besonders ek-latante Beispiele einer verflschenden Ver-einnahmung bietet dabei insbesondere die SED-Parteigeschichtsschreibung, in der sich die politische Macht unverhllt zur Geltung brachte: Walter Ulbricht selbst fungierte als Vorsitzender des Autorenkollektivs, das die historische Meistererzhlung des Sozia-lismus schrieb und ber den Charakter der Novemberrevolution 1918 ebenso autoritativ entschied wie ber die Rolle der KPD im an-tifaschistischen Widerstand oder die Etap-pen der DDR-Geschichte.

    Wie ungeniert gerade im Hinblick auf die Parteigeschichtsschreibung die historische Erkenntnis dem politischen Interesse unter-worfen wurde, lehrt genauso etwa der partei-amtliche Umgang mit den Briefen und Kas-sibern, die Ernst Thlmann in den elf Jahren seiner nationalsozialistischen Haft verfasst hatte: Als 1950 ein umfngliches autobio-grafisches Schreiben des bis zu seiner Er-mordung 1944 eingekerkerten Parteifhrers auftauchte, besorgte Ulbricht eigenhndig die redaktionelle Einpassung des im Neuen Deutschland abgedruckten Lebenszeugnis-ses in den antifaschistischen Heldenmythos, damit es Ernst Thlmann trotz Kerkerhaft als unbeugsamen Kmpfer und gleichzei-

    5 Zit. nach: Martin Sabrow, Herr und Hans-wurst. Das tragische Schicksal des Hofgelehrten Ja-cob Paul von Gundling, StuttgartMnchen 2001, S. 189.

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    tig auch von einer starken menschlichen Sei-te zeigt. 6 Und als 15 Jahre spter das Insti-tut fr Marxismus-Leninismus (IML) sich anschickte, eine grere Auswahl der Briefe Ernst Thlmanns zu publizieren, listete es in einer Mitteilung an Ulbricht nicht nur die er-folgten Streichungen (etwa zur Rolle Stalins) und redaktionellen Vernderungen auf, sondern sperrte auch im gleichen Zug die im Parteiarchiv liegenden Originale, damit nie-mand den Editionsbetrug durch einfachen Textvergleich aufdecken knne. 7 Doch auch an der fachlich ungleich besser angesehenen Akademie der Wissenschaften regierte jeden-falls im Konfliktfall hufig das Opportuni-ttsparadigma, wenn etwa der Direktor des Zentralinstituts fr Geschichte noch 1986 autoritativ feststellte: bereinstimmung mit Parteigeschichte mu gewahrt bleiben. Wenn Parteifhrung Entscheidung trifft, ist sie durchzufhren, auch wenn es uns nicht in allen Punkten gefallen sollte. 8

    Freilich kannte und kennt auch die nicht diktatorisch beherrschte deutsche Geschichts-

    6 Redaktionelle Vorbemerkung zu: Ernst Thl-mann, Antwort auf Briefe eines Kerkergenossen in Bautzen, Januar 1944, in: Neues Deutschland (ND) vom 21. 10. 1950, S. 3. Wie um sich von einem heim-lichen Verdacht zu reinigen, war dem abgedruckten Brief ein Faksimile beigegeben, dessen Korrespon-denz mit dem Text als Authentizittsbeweis sorg-fltig bezeichnet wurde: Obenstehendes Faksimile zeigt einen Ausschnitt aus dem Original des in un-serer gestrigen und heutigen Ausgabe verffentlich-ten Briefes von Ernst Thlmann. Dieser Abschnitt erschien auf der 4. Seite unserer gestrigen Ausgabe. ND vom 22. 10. 1950, S. 4. Was allerdings unter dem so beteuerten Respekt vor dem Original genau zu verstehen war, hatte Ulbricht der ND-Redaktion zu-vor so mitgeteilt: Die Stellen, die meiner Meinung nach ausgelassen werden sollten, habe ich rot ange-zeichnet. Zit. nach: Thilo Gabelmann (i. e. Egon Grbel), Thlmann ist niemals gefallen? Eine Legen-de stirbt, Berlin 1996, S. 186 f. Zu den in der DDR un-gedruckt gebliebenen Briefen Thlmanns an Stalin vgl. auch: Russel Lemmons, Rival. Ernst Thlmann in Myth and Memory, Lexington 2013, S. 71.7 Zit. nach: T. Gabelmann (Anm. 6), S. 209. Gr-bel selbst, der anfangs der 1980er Jahre eben diesen Vergleich im Zentralen Parteiarchiv der SED anstel-len wollte, wurde nach eigenem Bekunden mitgeteilt, dass IML-Direktor Lothar Berthold zuverlssig vor-gesorgt habe: Solch einen Vergleich wird es niemals geben. Um das zu verhindern, hat Berthold ja die ar-chivierten Briefe sperren lassen. Zit. nach: E. Grbel (Anm. 6), S. 122.8 Zit. nach: Joachim Petzold, Parteinahme wofr? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, Potsdam 2000, S. 320.

    wissenschaft im 20. Jahrhundert das Phno-men der Selbstinstrumentalisierung. So argu-mentierte der konservative Historiker Gerhard Ritter vor allem politisch, als er 1931 den mit einer marxistisch inspirierten Studie zum Wilhelminischen Imperialismus und seinem Schlachtflottenbau hervorgetretenen Eckart Kehr als einen fr unsere Historie ganz ge-fhrlichen Edelbolschewisten ausgrenzte, der sich lieber gleich in Ruland als in K-nigsberg habilitieren solle. 9 Nicht anders ver-fuhr auch der linksliberale Historiker Hans Mommsen, als er sich 1962 als Mitarbeiter des Instituts fr Zeitgeschichte (IfZ) dafr ein-setzte, dass ein vom IfZ in Auftrag gegebener Artikel von Hans Schneider zum Reichstags-brand von 1933, der sich gegen die auch von Mommsen selbst vertretene Alleintterschafts-these richtete, nicht zur Publikation gelang-te. Mommsen hielt in einer Aktennotiz fest, dass aus allgemeinpolitischen Grnden eine Publikation unerwnscht zu sein scheint, und ventilierte darber hinaus die Mglich-keit, auch eine anderweitige Verffentlichung der Studie durch Druck auf Schneider zu verhindern. 10

    Wandel der Geschichtskultur

    Doch dies blieben in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach bisherigem Kenntnisstand bloe Einzelflle. Histori-sche Instrumentalisierung in dem vorge-stellten Sinn stellt im Selbstverstndnis un-serer Zeit hierzulande keine herausragende fachwissenschaftliche Bedrohung mehr dar, sondern grassiert vornehmlich in Lndern mit schwcheren demokratischen Traditio-

    9 Gerhard Ritter an Hermann Oncken, 24. 9. 1931, in: Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hrsg. v. Klaus Schwabe/Rolf Reich-ardt, Boppard 1984, S. 236 f. Ritters harsches Ur-teil stand in Verbindung zu seinem ablehnenden Gutachten vom selben Tag ber eine von Kehr als Bewerbungsarbeit fr den preuischen Staatspreis eingereichte Habilitationsschrift ber die Steinsche Reformpolitik, die Ritter als hasserfllte Hetz-schrift disqualifiziert hatte. Vgl. Gerhard Ritter an das Preuische Ministerium des Kultus und des Unterrichts, 24. 9. 1931, in: ebd., S. 237241. Vgl. auch: Hans-Ulrich Wehler, Eckart Kehr, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Historiker. Bd. 1, Gttingen 1971, S. 100113.10 Zit. nach: Zur Kontroverse ber den Reichstags-brand (Stellungnahme der IfZ-Leitung), in: Viertel-jahrshefte fr Zeitgeschichte, 49 (2001) 3, S. 555.

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    nen. Ein anschauliches Beispiel dafr bietet die 2006 vom iranischen Auenministerium veranstaltete Holocaust-Konferenz in Te-heran, die in pseudo-wissenschaftlicher Ver-brmung antisemitische Hetze betrieb und zur Leugnung der Shoah aufrief. Zu wach ist dagegen hierzulande die ffentlichkeit, zu stark die Macht der Medien, zu plural der fachliche Diskurs, als dass eine allzu gro-be politische Indienstnahme der Geschich-te vorstellbar wre. So kannten, um nur ein Beispiel zu nennen, die Enquetekommissio-nen des Deutschen Bundestags zur Aufarbei-tung der SED-Diktatur zwar parteipolitische Deutungslager, aber sie unterdrckten weder abweichende Voten, noch suchten sie die Ab-fassung der von ihnen bestellten Fachexperti-sen zu beeinflussen.

    Gewiss: Die nach 1989 ausgetragenen Kaba-len um die Besetzung von Leitungsposten im Bereich der politischen Bildung und der Ge-denkstttenarbeit, aber auch einiger au er-uni versi trer Zeitgeschichtseinrichtungen wie dem Hannah-Arendt-Institut fr Totalitaris-musforschung knden in Flle von der so un-genierten wie unheilvollen Einmischung poli-tischer Instanzen. Aber alle Bemhungen um eine politisch lancierte Verhinderung histori-scher Arbeit und Unterdrckung gewonne-ner Erkenntnis haben in der bundesdeutschen Fachkultur mit ihrem System der selbstgesteu-erten Forschungsfrderung, der akademischen Forschungsfreiheit und der innerfachlichen Selbstbeobachtung gegenwrtig doch eher ge-ringe Durchsetzungschancen. Der gewachsene Respekt der Politik vor der Autonomie der his-torischen Forschung resultiert weniger aus der gewachsenen Macht der akademischen Fach-wissenschaft die im Gegenteil ihr ber lan-ge Zeit behauptetes Deutungsmonopol lngst mit den unterschiedlichen Akteuren, Forma-ten und Medien des Geschichtsdiskurses tei-len lernen musste. Die bereitwillige Aufnahme auch belastender Forschungsergebnisse folgt vielmehr vor allem dem paradigmatischen Wandel der deutschen Geschichtskultur, die sich von einer mimetischen Traditionspflege hin zu einer kathartischen Aufarbeitungsbe-reitschaft gewandelt und in der Anerkennung des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs ihren nationalen Grundkonsens gefunden hat.

    Wie es scheint, hat sich das seit den 1960er Jahren gegen den anfnglichen Schweige-konsens der deutschen Mehrheitsgesell-

    schaft anrennende Projekt der zeithis-torischen Aufklrung ber eine heillose Vergangenheit kraftvoll durchgesetzt. Der Wille zur historischen Offenlegung ist noch in der Bonner Republik erfolgreich gegen alle Schlussstrichforderungen angegangen, er hat mit Hilfe der aufkommenden Zeit-zeugen, der massenmedialen Thematisie-rung und der akademischen Forschung den zunchst bermchtigen Wunsch nach his-torischer Selbstvershnung und Schuldent-lastung gebrochen, und er hat den in der Kontroverse um die Wehrmachtsausstel-lung Mitte der 1990er Jahre zum letzten Mal machtvoll aufgeflammten Vorwurf der nati-onalen Nestbeschmutzung endgltig hinter die Grenzen des gesellschaftlich ungestraft Sagbaren verbannt.

    Die Bereitschaft zur schonungslosen Aus-einandersetzung mit dem noch kein Men-schenalter zurckliegenden Grauen des nati-onalsozialistischen Zivilisationsbruchs trgt der vereinigten Bundesrepublik weltweit An-erkennung ein. Noch auf der anderen Seite der Weltkugel, wie etwa in Kapstadt, haben sich der Auseinandersetzung mit dem deut-schen Vlkermord gewidmete Lern orte als nicht zuletzt von der Kulturpolitik des Aus-wrtigen Amtes gern genutzte Foren der kul-turellen Begegnung etabliert das Holocaust Centre gleichsam als moderne Form der Goe-the-Gemeinde, wie sie Friedrich Meinecke nach dem Zweiten Weltkrieg als Mittel einer geistigen Erneuerung nach der deutschen Katastrophe hatte initiieren wollen.

    Fr immer immun?

    Doch die Annahme, dass auf diese Wei-se die Historie ihre politische Indienstnah-me dauerhaft abgewehrt, gleichsam Immu-nitt gegen Instrumentalitt eingetauscht habe, fhrt in die Irre. Insbesondere der seit dreiig Jahren ansteigende Geschichtsboom, der die Erforschung der Vergangenheit aus dem Ghetto einer universitren Spezialdis-ziplin in die Mitte der Gesellschaft katapul-tiert hat, stellt zugleich die Mechanismen der fachlichen Selbstkontrolle auf neue Pro-ben. Neben der freien akademischen Befas-sung haben sich heute auch in der histori-schen Disziplin verschiedenste Spielarten der wissenschaftlichen Auftragsforschung etabliert. So setzt der Bund im Rahmen sei-

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    ner Forschungsfrderung eigene inhaltliche Schwerpunkte auch in den Geisteswissen-schaften. 11 Das Bundesverteidigungsminis-terium unterhlt sogar eine zentrale Res-sortforschungseinrichtung, die auf der Basis ministerieller Forschungsweisungen ar-beitet und in ihrer wissenschaftlichen Hand-lungsfreiheit nach Auffassung des Wissen-schaftsrats bedrohlichen Einschrnkungen unterliegt. 12

    In der historischen Unternehmensfor-schung hat sich lange Zeit eine Tradition der Firmengeschichte behauptet, die sich mit me-thodischer Konventionalitt und darstelleri-scher Distanzlosigkeit zum hagiografischen Sprachrohr unternehmerischer Selbstdarstel-lung machen lie. Als Subdisziplin von frag-wrdigem wissenschaftlichem Wert ist die-ser Zweig der Unternehmensgeschichte daher bereits seit Lngerem in den Fokus auch in-

    11 Beispielsweise untersttzt das Bundesministe-rium fr Bildung und Forschung laut seinem aktu-ellen Rahmenprogramm die Geistes-, Kultur- und Sozial wissen schaften darin, ihren Beitrag zum Ver-stndnis der gesellschaftlichen Gegenwart in Europa und weltweit, zur Erschlieung des kulturellen Er-bes und zur Wertschtzung und Verwirklichung von Vielfalt und Zusammenhalt zu leisten, indem es ei-gene Forschungsvorhaben definiert: Das kulturelle Erbe, das in Archiven und Sammlungen, Museen und Bibliotheken erhalten wird, soll durch Forschung besser erschlossen, verstanden, bewusst gemacht und prsent gehalten werden. Neben der langfristig ange-legten institutionellen Frderung der Leibniz-For-schungsmuseen setzen wir in diesem Bereich neue Impulse durch gezielte Projektfrderung. BMBF, Rahmenprogramm Geistes-, Kultur- und Sozial-wissenschaften, o. D., www.bmbf.de/pubRD/Rah-menprogramm-Text_Dezember-final_%282%29.pdf (1. 10. 2013).12 Der Wissenschaftsrat hatte das Militrgeschicht-liche Forschungsamt (MGFA; heute Zentrum fr Militrgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) 2005 evaluiert und in seinem Bewer-tungsbericht festgestellt: Die Leitung der Abtei-lung Forschung verfgt nicht ber ein umfas-sendes Entscheidungsrecht in wissenschaftlichen Fragen, das die Entwicklung einer erkennbaren For-schungsperspektive fr das MGFA sowie eine ko-hrente Themenstellung ermglichen wrde. Auch fehlen das Verfgungsrecht ber das wissenschaft-liche Personal sowie das Recht, dem BMVg vor-zutragen. Die genannten Befugnisse liegen smt-lich beim militrischen Amtsleiter, der gemeinsam mit dem Wissenschaftlichen Beirat auch den Kon-takt zum BMVg hlt. Wissenschaftsrat, Stellung-nahme zum Militrgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA), Potsdam, 19. 5. 2005, www.wissenschafts-rat.de/ download/ archiv/ 7261-06.pdf (1. 10. 2013).

    nerfachlicher Kritik geraten. 13 Umgekehrt impliziert nicht jeder politische Auftrag auch eine fachliche Abhngigkeit. Die zahlreichen Expertenteams, die in den vergangenen Jah-ren konstituiert wurden, um die NS-Vergan-genheit oberster Bundesbehrden und den spteren Umgang mit ihr zu erhellen, arbeiten smtlich im Auftrag und auf Rechnung der jeweils untersuchten Behrde und doch zu-gleich bis hin zum Bundesnachrichtendienst und zum Bundesamt fr Verfassungsschutz in erklrter fachlicher Unabhngigkeit. Auch in der ber Jahre hinweg gefhrten Debatte um das Auswrtige Amt und seine NS-Ver-gangenheit ist bei aller Schrfe niemals der Vorwurf erhoben worden, dass die mit der Untersuchung betraute Historikerkommis-sion sich von Vorgaben ihrer ministeriellen Auftraggeber htte leiten lassen. 14

    Die Januskpfigkeit der historischen Ins-trumentalisierung beschrnkt sich nicht auf ihre intentionale Inanspruchnahme. Sie fin-det unvermeidbar bereits dort statt, wo die Geschichtsschreibung ihre analytische und reflexive Distanz gegen den geschichtskul-turellen Konsens der Gegenwart eintauscht. Allein der Glaube, dass aus der Geschich-te gelernt und damit ihre Wiederholung ver-hindert werden knne, sichert der Historie in unserer Zeit materielle und immaterielle Res-sourcen, die ihrer disziplinren Leistungs-kraft enorm zugute kommen und nimmt sie gleichzeitig in den Dienst eines volksp-dagogischen Zwecks, der die kritische Aus-einandersetzung mit den gesellschaftlich an-erkannten Meistererzhlungen ihrer eigenen Zeit erschwert. Im epochalen Paradigma der

    13 Vgl. Kim Christian Priemel, Gekaufte Geschich-te. Der Freundeskreis Albert Vgler, Gert von Klass und die Entwicklung der historischen Unter-nehmerforschung nach 1945, in: Zeitschrift fr Un-ternehmensgeschichte/Journal of Business History, 52 (2007) 2, S. 117202; Cornelia Rauh, Angewand-te Geschichte als Apologetik-Agentur? Wie Erlan-ger Forscher Unternehmensgeschichte kapitalisieren, 2011, www.hist.uni-hannover.de/fileadmin/histori-sches_seminar/lehrende/cornelia_rauh/Rauh_zu_Schoellgen__ZAG_in_ZUG_56.pdf (1. 10. 2013).14 Vgl. Eckart Conze et al., Das Amt und die Vergan-genheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Mnchen 2010. Zur Rezepti-on der Studie vgl. Wolfgang Schultheiss, Zuspitzun-gen. Anmerkungen zu Das Amt und die Vergangen-heit, Berlin 2013; Martin Sabrow/Christian Mentel (Hrsg.), Das Amt und die Vergangenheit. Eine deut-sche Debatte, Frank furt/M. 2013 (i. E.).

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    Aufarbeitung hat die Zusammenfhrung von politisch-kulturellen und wissenschaftli-chen Standards der Auseinandersetzung mit der heillosen Vergangenheit des 20. Jahrhun-derts breite Anerkennung erfahren, whrend die Risiken dieser liaison dangereuse von Ge-schichtspolitik, Zeitzeugenkultur und Wis-senschaft bislang nur in Ausnahmefllen ins Bewusstsein treten. 15

    Selbst die gesetzliche Kriminalisierung der Auschwitzlge oder der Leugnung des Geno-zids an der armenischen Bevlkerung macht wie jede andere gesellschaftliche Kodifizierung his-torischer Erkenntnisse Geschichte zum Instru-ment auerfachlicher Zwecke. Gesellschaftlich weithin anerkannt argumentieren Stimmen im Fachdiskurs, die der Erinnerung in der Figur des moralischen Zeitzeugen und seiner Au-thentizitt einen von der Empirie gelsten Er-kenntniswert zubilligen, 16 oder die Geschichts-schreibung zur Durchsetzung historischer Narrative auffordern. 17 Aber auch sie unter-werfen die Wissenschaft von der Geschichte ei-

    15 Ausnahmen bildeten etwa die ffentliche Rezepti-on der Voten der von der Politik eingesetzten Enquete-kommissionen zur Aufarbeitung der DDR-Geschich-te, die seit den 1990er Jahren bundes- und lnderseitig eingesetzt wurden. Vgl. Klaus Hrtung, Streit um die Geschichte. Die Enquete-Kommission zur Aufarbei-tung der SED-Diktatur beendet ihre Arbeit, in: Die Zeit vom 13. 5. 1994; Martin Sabrow et al. (Hrsg.), Wo-hin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Gttingen 2007; Gudrun Mallwitz, Aufar-beitung der SED-Diktatur: Eklat in Enquetekommis-sion, in: Berliner Morgenpost vom 2. 7. 2011; Thomas Metzner, Gutachter: Regierung torpediert Enquete-kommission, in: Der Tagespiegel vom 24. 7. 2011.16 Der Historiker kann und darf sich ber die per-snlichen Erinnerungen nicht einfach hinwegsetzen, sonst verkommt (im Falle des Holocaust, Anm. MS) seine Darstellung zu einer Abstraktion, die vom da-maligen Erleben ebenso abgeschnitten ist wie von der Chance des gegenwrtigen persnlichen Nachvoll-zugs. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Ver-gangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Mnchen 2006, S. 50. Auch wenn sich die Einzelhei-ten dieser Erinnerung (des moralischen Zeugen, Anm. MS) gelegentlich als faktisch inakkurat erweisen, stat-tet die Authentizitt der biographischen Erfahrung und ihrer lebenslangen, oft traumatischen Wirkung den moralischen Zeugen mit einer ungefragten Autori-tt aus. Dies., Die Last der Vergangenheit, in: Zeithis-torische Forschungen, 4 (2007) 3, S. 375385.17 Andererseits braucht man, um eine historische Groerzhlung einen Mythos, wie Herfried Mnk-ler sagen wrde durchzusetzen, eine Botschaft, einen Ort, einen Zeitpunkt. Rainer Eckert, Dis-kussionsbeitrag, in: Katrin Hammerstein/Jan Scheu-nemann (Hrsg.), Die Musealisierung der DDR. Wege,

    nem auerwissenschaftlichen Zweck sei er in der Geschichtskultur auch noch so akzeptiert. Gerade das unsere Gegenwartsepoche der Auf-arbeitung prgende einvernehmliche Zusam-menwirken von Geschichtspolitik, Gedenk-kultur und Zeitgeschichte verstt gegen den Grundsatz, dass nur und immer die Infragestel-lung des allgemein Anerkannten die Weiterent-wicklung der Wissenschaft sichert. 18

    Dies fhrt zu dem gerade fr die heuti-ge Diktaturaufarbeitung so provokanten Satz Reinhart Kosellecks, dass Geschichte von den Siegern zwar erfolgreich gemacht, aber nicht erfolgreich geschrieben wird, und der ge-schichtliche Wandel im Gegenteil von den Be-siegten zehrt, weil nur sie auf kritische Befra-gung statt auf bequeme Besttigung des Status quo zielten. 19 Der gleiche Vorbehalt lsst sich gegenber staatlichen oder privatwirtschaft-lichen Forschungsauftrgen geltend machen, deren fachliche Einflussnahme weniger aus der regelmigen Identitt von Auftragsvergabe und Quellenhoheit resultiert als aus der Fest-schreibung kulturell anerkannter Urteilskon-ventionen und Forschungswege: Nicht in ihrer gewollten inhaltlichen, sondern in ihrer unge-wollten paradigmatischen Affirmation steckt das Kernproblem der Auftragsforschung. 20

    Gebrauch und Missbrauch

    Doch auf der anderen Seite gilt ebenso, dass Geschichte, wo immer sie aus der akademi-schen Sphre heraustritt, nie zweckfrei ist, sondern immer auch eine Indienstnahme be-deutet. Histotainment in den Massenmedi-en und in der historischen Eventkultur ist Teil unseres Alltags, und die Bewirtschaftung der Vergangenheit hat im Zuge des Geschichts-booms neben der populren Geschichtsver-mittlung lngst Felder erobert, in denen es we-

    Mglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin 2012, S. 82.18 Zum Epochencharakter der Aufarbeitung vgl. Martin Sabrow, Vergangenheitsaufarbeitung als Epochenbegriff, in: Merkur, 67 (2013) 6, S. 494505.19 Vgl. Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten, Frank furt/M. 2000, S. 2777, hier: S. 67 ff. Vgl. auch: A. Assmann, Schat-ten (Anm. 16), S. 69 f.20 Vgl. Bernhard Schulz, Auf eingefahrenem Gleis. Wie die Auftragsforschung die Geschichtsschreibung beeinflusst, in: Der Tagesspiegel vom 16. 1. 2012.

  • APuZ 4243/2013 11

    niger um die Vergangenheit als vielmehr um die Zukunft geht. Geschichtsmarketing zhlt zu den wichtigsten Manahmen der Kunden-bindung, gleichviel ob es sich im augenzwin-kernden Retrostyle von Kleinwagen in der Autoindustrie zeigt oder in der geschichtstou-ristischen Vermarktung von Altstdten und Gedenkorten, in der Nutzung historischer Ikonen fr das product placement oder in der Schaffung von Herstellervertrauen durch Tra-ditionsversicherung, die noch bis in die Wer-bung fr das tgliche Morgenbrtchen reicht: Hei drauf. Seit 1887. 21 Mit der public history hat sich im zurckliegenden Jahrzehnt auch in Deutschland ein historisches Arbeitsfeld eta-bliert, welches das so spannungs- wie ertrag-reiche Verhltnis von Wissenschaft und Wirt-schaft sowohl analytisch zu durchdringen wie praktisch zu gestalten sucht.

    So fhrt die Frage nach Geschichte als In-strument notwendigerweise zu einem wider-

    21 So der Werbespruch eines Backwarenunterneh-mens, vgl. www.backeria.de (1. 10. 2013).

    Politisch, aktuell und digitalAPuZ auch im ePub-Format fr Ihren E-Reader. Kostenfrei auf www.bpb.de/apuz

    sprchlichen Befund. Nicht jeder Gebrauch der Geschichte ist zwingend Missbrauch; von Instru men ta li sie rung lsst sich sinnvollerwei-se nur dort sprechen, wo die fachliche Erschlie-ung der Vergangenheit beabsichtigt oder unbeabsichtigt zur auerfachlichen Beglaubi-gungsinstanz wird. Empirische Verflschung, normative Fesselung und teleologische Verzer-rung sind Spielarten einer Indienstnahme der Historie, denen die Geschichtswissenschaft mit ihren reflexiven Krften immer wieder kritisch zu begegnen hat und auch erfolgreich begegnen kann. Darber hinaus aber den ffentlichen Gebrauch der Geschichte selbst als grundstz-lich illegitim und verflschend zu verdammen, wrde nicht nur die fachlichen Wirkungs- und Entwicklungschancen verschenken, die sich aus der Inanspruchnahme historischer Exper-tise im politischen und gesellschaftlichen Raum ergibt. Es wrde am Ende die Historie von der immer wieder bedrohten und zu verteidigen-den Zweck- und Bindungsfreiheit in die offen-bare Sinnlosigkeit berfhren.

  • APuZ 4243/201312

    Bodo von Borries

    Zurck zu den Quellen? Pldoyer

    fr die Narrations-prfung

    Essay

    Bodo von Borries Dr. phil., geb. 1943; Professor

    i. R. fr Erziehungswissenschaft unter besonderer Berck-

    sichtigung der Didaktik der Geschichte an der Universitt

    Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg.

    [email protected]

    Die Instrumentalisierung von Historie, also die Indienstnahme von Geschichts-schreibung fr politische, kulturelle oder wirt-

    schaftliche Zwecke, ist kein neues Phnomen. Um ein Beispiel fr viele zu bringen: Im Schloss Wilhelmstal bei Kassel gibt es eine wunderschne Roko-ko-Fayence: Klio, die Muse der Geschichte, sitzt nackt und mit ver-bundenen Augen auf

    dem Scho des Kriegsgottes Mars und schreibt mit ihrer Feder nach dessen Diktat. Das kann vor fast 300 Jahren nur halb ironisch, halb zynisch gemeint gewesen sein. Geschichte ist nie zweckfrei, nie neutral. Sie erklrt immer durch Erzhlung ber angeblich relevante Ge-schehnisse und Wandlungen in der Vergan-genheit die Gegenwart und erffnet dadurch Zukunft. Aber wie?

    Dieser Mechanismus schliet ein, dass der Geschichtsschreiber, ob er will oder nicht (und offen oder verdeckt), eine Absicht und ein Interesse verfolgt, eine Position und Per-spektive einnimmt, eine Folgerung und Ori-entierung fr die Gegenwart bietet. Gaius Julius Caesar hat seine Kommentare zum Gallischen Krieg und zum Brgerkrieg gleich selbst verfasst, damit keine falschen oder unerwnschten Deutungen aufkom-men konnten, Octavianus Augustus lie seinen Tatenbericht in den Provinzen auf groen Steintafeln einmeieln. Geschich-te, um das mindeste zu sagen, wird von den Siegern geschrieben; andere reden von den Mrdern. Damnatio memoriae, das Ver-

    bot der Erinnerung an berwundene Geg-ner, auch die Vernichtung ihrer Denkmler und Schriftstcke, ist zu allen Zeiten eine bliche Praxis gewesen. Ebenso hufig al-lerdings versucht man, das Bild des Besieg-ten tiefschwarz einzufrben, wozu man als berlegener und berlebender Sieger zahl-reiche Mglichkeiten hat. Die herrschende Geschichte ist stets die Geschichte der Herr-schenden gewesen.

    Statt Geschichte als Instrument kann man auch Nutzung oder Gebrauch von Geschich-te sagen oder Erinnerungskultur. Das macht die Unentrinnbarkeit ganz deutlich. Nicht der kommunikativ ausgetragene Streit ber Geschichte (umkmpfte Geschichte) ist ein Problem. Das ist ganz normal. Schlim-mer ist etwaige Uniformitt, wie sie in tradi-tional hierarchischen Gesellschaften einer-seits und modernen Diktaturen andererseits gewnscht und (teilweise) erzeugt wird. Da findet eine Debatte ber Geschichte nur im Geheimen statt. Es ist also wohlfeil und un-fruchtbar, wieder einmal festzustellen, dass irgendjemand Historie zu instrumentalisie-ren versuche. Das ist unvermeidbar. Was soll-te er oder sie sonst tun? Eine andere Frage ist, wie weit wissenschaftliche Historie, wie es sie seit der spten Aufklrung gibt, Garantien ge-gen (illegitime, aggressive, vorurteilhafte, ver-flschende) Instrumentalisierung entwickeln kann. Es gibt Methodenstandards der ueren und inneren Quellenkritik, des interkulturel-len und internationalen Austausches zwischen zu Partnern gewordenen ehemaligen Gegnern und schlielich eine Forschungsethik des Gel-tenlassens von (echten) Gegen-Quellen und (begrndbaren) Gegen-Interpretationen.

    Aber gravierende Risiken des absichtli-chen Betrugs und des vielfach unabsichtlichen Selbstbetrugs sind damit noch lange nicht vom Tisch. Gezielte Tuschung anderer ist nicht nur im Nationalsozialismus und Bolschewismus vielfach betrieben worden, corriger lhistoire war auch in Weimar blich. Vor allem da, wo es gar nicht um Herstellung falscher Daten, son-dern um Durchsetzung gnstiger Deutungen geht, bleibt das ein bliches Geschft auch eh-renwerter demokratischer Historikerinnen und Historiker. Aber Selbsttuschung stellt das gr-ere Problem dar. Auch Geschichtsschreiber bleiben manchmal in den eigenen Vorurteilen und Weltsichten gefangen, knnen sich andere Betrachtungsweisen gar nicht vorstellen.

  • APuZ 4243/2013 13

    Methodensorgfalt statt Moralpredigt

    Natrlich ist es berechtigt, Instrumentalisie-rungen von Geschichte anzuprangern, wenn sie intellektuellen und normativen Standards nicht entsprechen. Aber das Risiko unfrucht-barer gegenseitiger Vorwrfe ist gro. Mora-lisieren bringt wenig. Stattdessen kommt es darauf an, die methodischen Fhigkeiten so zu entwickeln, dass man Manipulationen an-derer nicht aufsitzt, sich auch vor Autosug-gestionen schtzt und schlielich offensiv Dritten bei der Entdeckung und Unschd-lichmachung illegitimer Instrumentalisie-rungen helfen kann. Das darf man Aufkl-rung durch methodisch reflexiv abgesicherte Historiografie nennen. 1

    Es hilft also nichts; man muss an theoreti-sche Vorbedingungen dessen heran, was His-torie berhaupt ist und liefert und wie man sie relativ sicher gegen platte und flschende Instrumentalisierungen machen kann. Und dafr sind die jngsten nationalen Kontro-versen, etwa ber die perfekte NS-Gleich-schaltung (?) oder relative NS-Widerstn-digkeit (?) des Auswrtigen Amtes (sowie die Nachgeschichte nach 1945), ber die Ver-harmlosung (?) oder Verteufelung (?) der DDR-Geschichte sowie ber die Produktivi-tt (?) oder Negativitt (?) der 68er-Bewegung in Westdeutschland, nicht die besten Bei-spiele. Scheinbar weiter entfernte Geschichts-themen (Kolonialgeschichte, Geschlechter-beziehungen, Umweltverwstungen) lassen einen gelasseneren Umgang zu und erweisen sich hufig als mindestens ebenso identitts- und zukunftsrelevant (aber nicht so modisch).

    Eine klassische Frage eines Kindes knn-te etwa sein: Warum sind die sterreicher eigentlich keine Deutschen, obwohl sie doch Deutsch sprechen? Die Antwort kann nur in einer Geschichte ber vergangene Prozesse bestehen und zwar in narrativer Struktur. Dabei wird es ganz verschiedene Geschichts-versionen geben, zum Beispiel deutsche und sterreichische, ungarische und franzsische Varianten, aber nicht nur die eine richtige bei lauter anderen tendenziell oder grob falschen.

    1 Die Forschungsgruppe FUER Geschichtsbe-wusstsein hat dafr den Terminus (methoden-) re-flektiert und (selbst-) reflexiv eingefhrt. Vgl. Wal-traud Schreiber et al., Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2006.

    Es gelten nmlich nicht fr alle Individu-en beziehungsweise Gruppen dieselben Ge-schichten in gleichen Versionen. Das hat man Identittskonkretheit genannt. Aber Iden-tittskonkretheit von Geschichte schliet Triftigkeit, also den Anspruch auf Richtig-keit und Plausibilitt (Wahrheit), nicht aus, sondern verlangt sie. Denn wir leben in Netzwerken und nicht nur in einer Identitt. Jede(r) hat nicht nur eine nationale Zugeh-rigkeit und Selbstdefinition, sondern auch eine altersgruppen-, schicht-, bildungs- und geschlechtsspezifische, eine regionale, euro-pische und universale historische Identitt.

    Es ergeben sich dabei verstndlicherwei-se auch Konflikte und Kontroversen. Um-kmpfte Geschichte statt gemeinsamer Geschichte (beides wird in zweierlei Be-deutung auch geteilte Geschichte genannt) ist in pluralistisch-heterogenen Gesellschaf-ten ganz normal und nicht zu skandalisieren. Spannend und eine Frage der demokrati-schen Kultur ist erst, wie damit umgegan-gen wird, nmlich abwehrend und feindselig herabsetzend oder kommunikativ und neugie-rig suchend. Eben dazu mssen Methodenstan-dards eingehalten werden, und zwar kognitiv wie human. Es geht nicht nur, aber besonders in kulturell gemischten Lerngruppen nicht an, die eigenen Interessen oder Vorurteile un-umwunden fr den Nabel der Welt zu erklren und keineswegs mehr in Frage stellen zu las-sen. Statt dessen gilt: Audiatur et altera pars! Fachdidaktisch und unterrichtspraktisch heit das: verhandeln statt anordnen.

    Dabei ist es nicht so, dass alle historische Er-kenntnis mit Quellenfindung, Quellenbeur-teilung und Quellenauswertung beginnt. Der Einzelne wie auch eine Gruppe oder eine Schulklasse kann auch ber eine provokative Deutung oder eine umstrittene Schlussfolge-rung in historisches Lernen einsteigen (Verun-sicherung). Oft wird das sogar motivierender und lebensnher sein. Entscheidend ist, dass die Prfung auf Kontraste und die Prfung auf Triftigkeiten eng zusammengehren. Wer gar nicht wahrnimmt, dass verschiedene Quel-len, abweichende Darstellungen und gegen-stzliche Botschaften zu gleichen historischen Phnomenen vorliegen, hat die Logik histori-schen Denkens, die Chance zu Fremdverste-hen und Selbsteinsicht, noch nicht begriffen. Wer umgekehrt nicht mehr nach der besten aber nicht einzigen Version (meist muss sie

  • APuZ 4243/201314

    hoch-inklusiv ausfallen) fragt und sucht, kann seine historische Orientierung, sein Welt- und Selbstverstndnis, seine Handlungsoptionen nicht durch historisches Lernen optimieren und revidieren.

    Wert und Grenzen der Quellenarbeit

    Wenn man die Geschichtsschulbcher seit etwa 1970/1975 anschaut, knnte man den-ken, Quellenarbeit sei inzwischen zur ge-schichtsdidaktischen Monostruktur und Mo-nokultur geworden. Ist das heute wirklich noch der Stand der Erkenntnis? Zwar ist rich-tig, dass Quellenarbeit beim Geschichtsler-nen unverzichtbar ist sie ist aber nicht al-les. Zudem gilt: Quellenarbeit muss viel mehr sein als bloe Informationsentnahme.

    Nach 1968 ging es darum, bis dahin ver-schwiegene, aber fr Brgerinnen und Br-ger beraus wichtige Geschichte erst einmal sichtbar zu machen: Die Geschichte der Un-terschichten und Auenseiter, der Kolonisier-ten, der Frauen (und Kinder), der Umweltnut-zung und -zerstrung, der Conditio Humana (Alltagsgeschichte) oder der sozialen Bewe-gungen kam bis 1968 nicht oder kaum vor; und bei Nachfragen wurde oft aber flschlich erklrt, dazu gbe es keine Quellen. Die Ak-tivisten der Reform (Geschichtswerksttten, Projektarbeit, Forschendes Lernen) gaben als Strategie das Selbermachen aus: Grabe, wo Du stehst!; und das fhrte oft ziemlich weit. Wer aber grbt, findet zunchst mehr Quel-len (darunter auch erzhlende oder Traditions-quellen) als fertig ausgearbeitete, schon vorge-tane Darstellungen. Statt programmatischer, juristischer und abstrakter Quellen(texte) soll-ten biografisch-konkrete Beispiele gewhlt, also Erfahrungsgeschichte von unten und in-nen prsentiert werden. Freilich weisen solche Quellen meist das Problem der Vereinzelung, der fehlenden (beziehungsweise erst festzu-stellenden) Reprsentanz auf. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, ein Justizirrtum selbst Justizskandal noch kein Unrechts-system. Aber selbst bei groen politischen Entscheidungen ist die Lage oft so eindeutig nicht. Gibt es wirklich die eine Entscheidung (Ulbrichts) ber den Mauerbau, oder war auch das ein Prozess, in dem verschiedene Phasen anfielen, verschiedene Krfte und Interessen mitspielten und der Kreml (Chru sch tschow) ein erhebliches Wort mitsprach? Mit anderen

    Worten: Einzelquellen mssen sorgfltig ein-gebettet, erklrt und kontextualisiert werden. Quellen lassen sich durchaus suggestiv-miss-bruchlich einsetzen.

    Nach 1968 wurde jedoch leider das vllig triftige Konzept Zu den Quellen (Ad fon-tes!) gegen die Einsichten der Theoretiker in der Schulpraxis zugleich verabsolutiert und verkrzt. Quellen, Quellen, Quellen in je-der Stunde wurden blich, vielleicht sogar eine Monokultur. Aber die Multiperspektivitt des Quellenangebots war dabei keine Selbstver-stndlichkeit; und eigene Geschichtsdarstel-lungen wurden meist schon gar nicht erstellt. Das heit: Die eigentliche Syntheseleistung der Kontextualisierung und Narrativierung erst recht der Sinnbildung ber Zeit(verlaufs)erfahrung und Orientierung fr die Gegen-wart entfiel zugunsten von bloer Informati-onsentnahme. Es wurde in der Vergangenheit herumgestochert, statt Prozesse, Entwicklun-gen, nderungen aufzuzeigen. 2

    Die Verkrzung schulischer Quellenarbeit auf Informationsentnahme und die Eingewh-nung in autoritative Vor-Auswahl solider, belastbarer Quellen fr die stets knappe Un-terrichtszeit hat dramatische Folgen. Jugend-liche verkennen und verkehren in ihrem Den-ken tendenziell geradezu die Funktionen von ereignisnahen (zeitgenssischen) Quellen und retrospektiven (heutigen) Darstellungen. Wie durch eine grere Befragung empirisch er-wiesen ist, 3 halten sie Quellen eher fr ob-jektiv, vollstndig und triftig, Darstellungen eher fr subjektiv, beliebig und unzuverlssig. Diese fatale Fehleinschtzung sollte durch wei-tere Dogmatisierung von versimpelter Quel-lenarbeit nicht weiter untersttzt werden.

    Probleme beim Lernen aus Quellen

    Instrumentalisierung von Geschichte heit oft schlicht verschweigen und leugnen. Man hofft, dass die Besiegten oder Ausgemordeten

    2 Vgl. Hans-Jrgen Pandel, Textquellen im Unter-richt. Zwischen rgernis und Erfordernis, in: Ge-schichte lernen, 8 (1995) 46, S. 1421; ders., Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch?, in: Saskia Handro/Bernd Schnemann (Hrsg.), Geschichtsdi-daktische Schulbuchforschung, Berlin 2006, S. 1537.3 Vgl. Bodo von Borries et al., Schulbuchverstnd-nis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht, Neuried 2005, S. 7175.

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    so schwach sind, dass ihre Seite keine eigene langfristig wirkkrftige Tradierung mehr zu-stande bringen kann (und insofern kulturell ausstirbt). Quellen werden nicht selten zu-sammen-geflscht oder noch hufiger aus-gelscht (Solche Vernichtungsaktionen gibt es nicht nur bei Geheim- und Sicherheitsdiens-ten, sondern vielfach auch bei demokrati-schen Regierungen). Es gengt deshalb eben nicht, einen einzelnen Beleg oder ein paar Do-kumente zu haben, sondern man braucht (fast) alle Quellen (fast) aller Seiten. Das allerdings ist oft schon rein quantitativ und vor allem linguistisch (Fremdsprachenzahl!) nicht zu leisten, schon gar nicht fr den Laien.

    Alle Geschichte ist hoch selektiv; niemand kann die ganze Geschichte (histoire totale) schreiben. Aber weder bei der Themenent-scheidung noch bei der Materialauswahl ist der Geschichtsschreiber ganz frei. Es gibt Skanda-le und Zivilisationsbrche, die man nicht ber-gehen kann; es gibt Moralstandards, die Nach-kommen von Opfern den Enkeln von Ttern aufdrngen drfen. Ein redlicher trkischer Historiker kann schwerlich den Armenier-Genozid ab 1915 (und nenne er ihn Prven-tivmassaker gegen den drohenden Armeni-er-Aufstand 1915) auslassen. Und wer diesen Prozess untersucht, darf nicht nur mit osma-nischen Quellen vielfach sorgfltig beisei-te gebracht oder schon im Vorgang selbst in Schriftform vermieden arbeiten. Die seltenen schriftlichen uerungen von Opfern, die Be-richte internationaler Zeitzeugen sogar Fo-tos (von Armin T. Wegner)! und die Aussa-gen von berlebenden sind unerlsslich. Was heit das fr die Quellenbenutzung beim Ge-schichtslernen? Ohne Quellen geht es nicht (so wenig wie in irgendeiner verantwortbaren Geschichtsschreibung). Aber nur mit wenigen stromlinienfrmigen Quellen (wie sie in den meisten Schulbchern aus berforderungssor-ge nur geliefert werden) geht es erst recht nicht.

    Natrlich ist es bertrieben, dass eine Quel-le noch keine Quelle sei. Ein einziger Beleg kann, wenn er echt, verbrgt und anerkannt ist, durchaus ein Durchbruch, ein Kronzeug-nis sein. Aber wer garantiert fr seine Echt-heit? Im Regelfall wird es zur Prfung der Authentizitt, des Stellenwertes, der Genera-lisierbarkeit, sogar bei den wichtigsten Schls-seldokumenten, auf ausfhrlichen Vergleich, sowohl im Zusammenhang (Kontextualisie-rung) wie mit Gegenzeugnissen (Multiper-

    spektivitt), ankommen. Nur in einer Be-wahrdidaktik pflegen Quellen schon perfekt eingebettet und autoritativ gesichert zu sein. Gerade das kann sie fr Manipulation und In-strumentalisierung hoch anfllig machen.

    Neue Monokultur

    In integrierten Schulpraktika und Kern-praktika habe ich in den vergangenen Jah-ren relativ viel Unterricht beobachtet und in zahlreichen Hospitationsprotokollen ber Alltagsunterricht nachlesen knnen. Das ist zwar nicht reprsentativ, hat aber einen kom-pakten Eindruck hinterlassen, zumal die vie-len Stunden meiner Praktikantinnen und Praktikanten die offenbar als erwnscht gel-tende Gestaltungsweise ebenfalls intensiv spiegeln. Demnach scheint eine neue und hoch fragwrdige fachmethodische Mono-kultur entstanden zu sein.

    Es gibt nur noch sehr selten Hausaufgaben; und auch dann wird meist nicht gewagt, neuen Unterricht auf ihnen aufzubauen. Damit kommt lngere zusammenhngende Lektre kaum noch vor, die fr historische Kontextua-lisierung so wichtig ist. Es fehlt dadurch nicht nur an ohnehin niemals gelingenden ber-blicks- und Grundkenntnissen, sondern auch an Arbeits- und Problemwissen zum jeweili-gen Thema. Sehr verbreitet ist arbeitsteilige Gruppenarbeit zu zwei bis vier Quellentex-ten (jeweils allenfalls eine Druckseite lang und oft keineswegs kontrovers beziehungsweise multiperspektivisch), bei der die Schlerin-nen und Schler viel Zeit bekommen, Quel-len mit Arbeitsaufgaben zu erschlieen und ihre Ergebnisse anschlieend den Mitschlern in einer Museumsfhrung (auch Gruppen-puzzle oder Gallery Walk genannt) zu pr-sentieren. Meist fehlt dabei eine anschlieende vertiefende und vergleichende Plenarauswer-tung unter Lehreranleitung; mithin gibt es re-gelhaft auch keine methodenreflektierenden und selbstreflexiven Schleifen. Das Ergebnis der Doppelstunde besteht somit darin, dass jede(r) Lernende etwa eine Druckseite Quel-lentext zur Kenntnis genommen hat, ohne dass eine nennenswerte Kontextualisierung oder Narrativierung stattgefunden htte, ge-schweige denn nach einer historischen Sinn-bildung (Orientierungskompetenz) gefragt worden wre. ber Informationsentnahme kommt man kaum hinaus.

  • APuZ 4243/201316

    Die Historische Kompetenzfrderung wird so auf eine recht bescheidene Methoden-orientierung des bloen Umgangs mit Mate-rialarten (Quellen, Bilder, Tabellen ) beschrnkt. Dabei liegt keineswegs eine ber-forderung, sondern eine Unterforderung der Lernenden jedenfalls der Leistungsstrke-ren vor, die in der gleichen Zeit locker ein Vielfaches an Text bewltigen knnten. An der Oberflche wird Kommunikation angeregt, Veranschaulichung geleistet, Abwechslung an-geboten, Beweglichkeit erzeugt in der Tie-fenstruktur spielt die Fachlichkeit, die Gram-matik des historischen Denkens, dabei keine nennenswerte Rolle. Mglicherweise wieder-holt sich genau das Spiel mit der berverall-gemeinerten und zugleich versimpelten Quel-lenarbeit nach 1968: Schleraktivierung (etwa Kooperatives Lernen, frher auch Grup-penarbeit genannt) ist theoretisch vllig ver-nnftig; nun droht ihre Verabsolutierung und Verkrzung. Auch das kann rasch eintnig, langweilig und unproduktiv werden.

    Quellenarbeit ohne eigene Narrationspro-duktion ist blo ein Etikettenschwindel, eben-so Kooperatives Lernen ohne Vertiefung und Ausdiskutieren von Kontroversen und ab-weichenden Gegenwartsbezgen. Die Gleich-setzung von Geschichte mit Stoffmassen (nicht mit Interpretationen und Zusammen-hngen, eben zu lsenden Problemen und ab-zuwgenden Sinnbildungen) sitzt so fest, dass auch Quellenarbeit und Problemorientierung, Handlungsorientierung und Methodentrai-ning alle vier natrlich seit Jahrzehnten gute Vorformen von Kompetenzorientierung oft nur unverbindliche Schlagworte geblieben sind. Die Einsicht, dass Historie jeweils ein mentales Konstrukt in narrativer Struktur und perspektivischer Begrenztheit bedeutet, hat sich im Alltag keinesfalls durchgesetzt.

    Freilich gibt es einen guten Grund fr diese Enthaltsamkeit, nmlich ein ungelstes Pro-blem der Kompetenzorientierung: Synthetisch re-konstruktive Quellenarbeit wie analytisch de-konstruktive Darstellungsprfung kos-ten bei einem einzelnen Thema jeweils deut-lich mehr Lernzeit vorsichtig gesagt: etwa die dreifache als herkmmlicher leitfaden- oder quellengesttzter Geschichtsunterricht. Lern-zeit fr Historie aber ist stets extrem knapp, selbst wenn der Trend zu weiteren Krzun-gen in den Stundentafeln gestoppt wird. So-lange also eine geheime (aber kanonbezogene)

    Stofforientierung in den meisten Richtlinien wie in gesellschaftlichen Erwartungen und im Lehrerbewusstsein erhalten bleibt, besteht wenig Aussicht auf eine Lsung des Dilemmas.

    Kompetente Teilhabe an Geschichtskultur

    Unter diesen Umstnden kann es nicht die Hauptaufgabe sein, weiterhin mehr Quellen-arbeit zu fordern. Natrlich hat stets bewusst zu bleiben, dass es in der Historie ohne Quel-len als letzte Instanz berhaupt nicht geht. Also muss es auch vorkommen, dass aus mehreren Quellen wie Bildern, Werkzeu-gen, Dokumenten, Tagebchern ein Wand-lungsprozess untersucht und erzhlt wird (Re-Konstruktion), was allerdings sehr viel mehr als bloe Informationsentnahme ver-langt, nmlich Verlaufsvorstellungen, Kausal-zuschreibungen, Generalisierungsschtzun-gen und Sinnbildungsvorschlge beziehungs-weise Orien tie rungs angebote.

    Mindestens ebenso wichtig ist der Umgang mit fertigen und oft suggestiv beziehungs-weise perfekt gestalteten Narrationen aller Art (etwa historische Spielfilme und TV-Do-kumentationen, Ausstellungen und Gedenk-sttten, Computerspiele und Re-Enactments). Um Methoden fr die sorgfltige berpr-fung von Darstellungen kommen wir also nicht herum. Daraus ergeben sich Wert und Grenzen der Narrationsprfung fertiger Ge-schichtsversionen (De-Konstuktion):

    Ideologiekritik ist ebenso wichtig wie Quellenarbeit. Dass Geschichten verschie-den beziehungsweise parteilich sein kn-nen und deshalb geprft und unter Um-stnden revidiert werden mssen, gehrt zu den basalen, wenn auch im Alltag nicht leicht umsetzbaren Einsichten.

    Darstellungen (sei es in Buch, Fernsehen oder Museum) ergeben sich eben nicht au-tomatisch aus den Quellen; es gibt auch nicht nur eine (gar: die) Darstellung. Dabei finden sich gleichwohl starke Abweichun-gen in Deutung, Wertung und Kombina-tion, mitunter sogar in der Fakten-Aus-wahl. Die mssen erklrt werden.

    Geschichtskulturelle Erzeugnisse auf dem Markt liefern synchrone und diachrone Kontextualisierung und Synthesenbildung. Das bedeutet Narrativierung (Zeitverlaufs-

  • APuZ 4243/2013 17

    vorstellung und Sinnbildung darber). Doch deren Tiefendimension muss man erst zu verstehen suchen, weil die Struktu-ren oft verdeckt bleiben und die Wirkme-chanismen oft unbewusst ablaufen. Hier Klrungen sicherzustellen, ist die Haupt-aufgabe der historischen Methode, und nicht die bloe Quellenfindung und -wie-dergabe.

    Dazu gehrt die Frage, ob in den jeweili-gen Darstellungen Theoriefundamente of-fengelegt, Fragestellungen entfaltet, Kausa-littszuschreibungen begrndet, Zeit- und Handlungsablufe hergestellt, berlegun-gen zur Generalisierung und Bedeutsam-keit angestellt und Gegenwartsbotschaften angeboten werden.

    Kontinuitt der Aufgabe

    Daraus folgt: Quellenfundierung und Dar-stellungsprfung gehren untrennbar zu-sammen. Ein persnliches Beispiel soll er-lutern, wie das gemeint ist. Vor mehr als vierzig Jahren, in der Prfungsstunde im Zweiten Staatsexamen 1972 habe ich meine 7. Gymnasialklasse den Sturz des Bayernher-zogs Tassilo III. durch Karl den Groen 788 nach frnkischen und bayerischen Quellen vergleichen lassen. Dass sich auf beiden Sei-ten durch Behauptungen (sogenannte Fak-ten), Unterstellungen und eingefrbte Deu-tungen ein vllig gegenstzliches Bild ergibt, war auch fr 12- bis 13-Jhrige herauszuar-beiten. Das bedeutete Quellenstudium und Multiperspektivitt. Dieselben Schler hat-te ich schon im Vorjahr unter anderem zwei Lehrererzhlungen ber Augustus als Frie-densherrscher und Prinzipatsgrnder ver-gleichen lassen eine aus der DDR und eine aus der Bundesrepublik. Das war Arbeit an zwar kaum fiktionalen, aber umso heftiger perspektivischen und durch Adjektive wer-tenden Darstellungen, eben Kontroversitt und Ideologiekritik. Die Jungen und Md-chen, denen diese fundamental gegenstz-lichen Versionen (Befestigung der Sklaven-haltergesellschaft versus Ausgleich zwischen verbindlicher republikanischer Ver fas sungs-tradi tion und ntiger zentralistischer Reichs-verwaltung) natrlich nicht nur vorgelesen, sondern auch in Schriftform zur Auswertung vorgelegt wurden, waren dadurch in gar kei-ner Weise berfordert.

    Beides schien mir nicht nur gleichermaen ntig, sondern beides sollte sich auch gegensei-tig sttzen, um schon die Kinder darin einzu-ben, sich in verantwortbarer Methodenanwen-dung ein vertretbares eigenes Bild zu machen. Synthetische Quellenarbeit (Re-Konstrukti-on) und analytische Darstellungsprfung (De-Konstruktion) sollten also nicht gegeneinander ausgespielt, sondern kombiniert werden. Es ist brigens kein Zufall, dass es weder mit einer Darstellung noch mit einer Quelle getan war. Jedes Mal kam es auf den Vergleich (Ge-meinsamkeiten, hnlichkeiten, Abweichun-gen, Widersprche) an. Jenseits der 7. Klasse wa-ren dann auch Konfrontationen von drei oder vier Versionen (auch Theorien) ntig.

    Um kein Missverstndnis aufkommen zu lassen: Ich habe mir das damals nicht einsam aus den eigenen Fingern gesogen; sondern das war als guter, produktiver Geschichtsunter-richt anerkannt und erwnscht, wenn nicht gar selbstverstndlicher Standard. Heute wr-de man das natrlich Methodeneinbung, Handlungsorientierung und ganz neu Kompetenzansatz nennen. Damals sprach man schlichter von Lernzielen und Qua-lifikationen, die zu Autonomie und Mndig-keit der Lernenden beitragen sollten. Diese Worte fhrten nicht nur Linke, sondern auch Liberal-Konservative ganz selbstver-stndlich im Munde und in ihrer Schreibfeder. Nur dass bei den Progressiven das Reizwort Emanzipation dazukam, bei den Bewah-renden der Kernbegriff Identitt.

    Fazit

    Was ist nun abschlieend illegitime Instru men-ta lisierung von Geschichte, was unvermeidli-che und was zulssige oder gar erwnschte? Man kann die Frage auch umformulieren: Wo liegt die Grenze zwischen suggestiver Indok-trination, bequemer Selbsttuschung, berleg-ter Gegenwartsanwendung und bernomme-ner Verantwortung? Leider geht es nicht ohne eine zustzliche Differenzierung ab. Es gibt in der Geschichtskultur Tendenzbetriebe wie Parteien und Kirchen, Gewerkschaften, Un-ternehmerverbnde und Privatsender. Diese Gruppen drfen ihre je spezifischen Wahrhei-ten verbreiten (deshalb noch nicht Verzerrun-gen, Unterstellungen und Flschungen oder etwa doch?), und seien sie auch ziemlich rela-tiv, interessengeleitet und begrenzt.

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    Es gibt aber auch Instanzen der histo-risch-politischen Sozialisation, die gesetz-lich oder normativ zu weit mehr Reflexi-vitt und Zurckhaltung, ja geradezu zu einem gewissen Mae an Neutralitt und Objektivitt (das heit maximaler Inter-Subjektivitt und insoweit eben kontrollier-barer Wahrheit) verpflichtet sind. Das gilt zum Beispiel fr Parlamente und Regierun-gen, Universitten und Schulen, ffentliche Sendeanstalten und Museen, wohl auch Ge-denksttten. Fr sie und eben nicht glei-chermaen fr die Tendenzbetriebe wur-den im sogenannten Beutelsbacher Konsens vier Regeln aufgestellt: 4

    Verbot der berwltigung,

    Gebot der Kontroversitt,

    Hilfe zur Interessens- und Identittsarti-kulation,

    Verpflichtung auf Methodenorientierung (heute Kompetenzfrderung).

    Natrlich wird auch von Wissenschaftlerin-nen und Lehrern keine eunuchische Ob-jektivitt verlangt. Sie mssen, um eine ab-wgende Formel aus der Zeit nach 1968 zu benutzen, Parteilichkeit vermeiden, drfen aber explizite Parteinahme zeigen. Der Beu-telsbacher Konsens ist eingehalten, wenn die Lehrperson jeweils ausdrcklich klar macht (und deutlich erkennen lsst), welchen Hut sie gerade trgt, den

    des Informanten ber unstrittiges Material,

    des Lernberaters fr individuelles und kol-lektives Weiterkommen durch angemesse-ne Arbeitsmethoden,

    des Moderators einer systematischen Ab-wgung in der Lerngruppe,

    des Provokateurs oder Zweiflers zwecks Erffnung einer Kontroverse,

    des Notengebers fr Analyse- und Synthe-sefhigkeit (nicht fr Gesinnung!),

    des politisch-historisch Urteilenden mit ei-ner eigenen Meinung (persnliche Partei-nahme).

    4 Vgl. Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 179 ff.

    Wer Historie betreibt (schreibt, liest, ansieht, diskutiert), hat also immer Ziele oder Zwe-cke, was man auch als Instrumentalisierung (instrumentelle Nutzung von Geschichte) bezeichnen kann. Aber die Art dieser Ziele kann verschieden sein, wobei natrlich der Offenheitsgrad des Bezuges auf Gegenwart und Zukunft hchst bedeutsam ist:

    Affirmation des Bestehenden (zum Beispiel Herrschaft, Ideologie, Tradition, Struktur),

    Oppositions-Rechtfertigung (Zustandskri-tik, Vernderungswunsch, Protest, Legen-denaufdeckung),

    Einsicht in Entwicklungstrends, -risiken und -chancen als Fundament fr Hand-lungsdisposition und -strategie,

    Hobby-Amsement und Freizeit-Unter-haltung,

    Suchen nach Vorbildern (und Warnbildern) der eigenen individuellen wie gruppen-spezifischen Lebensgestaltung,

    Analysefhigkeit fr geschichtskulturelle Kontroversen und Konflikte (auch Erwerb von kulturellem Kapital und kleinen Un-terschieden als Habitus des Gebildeten?),

    Grenwahn (Ausleben von Macht- und Ruhmtrumen) und Selbstbetrug (Illusion der eigenen Vortrefflichkeit und berle-genheit),

    Vershnung mit Gegnern von gestern (Fremdverstehen, Selbsteinsicht, Aufei nan-der-Zugehen).

    Es liegt auf der Hand, dass eigene metho-dische Kompetenzen (historische Re-Kon-struk tion und De-Konstruktion) dabei eine entscheidende Hilfe sein knnen, weder selbst illegitim Geschichte zu instrumentali-sieren noch illegitimer Instrumentalisierung von Geschichte zu verfallen. Das kann man historische Methodenreflexion nennen. Noch wichtiger ist es, sich selbst ber die Art der Zwecke und den Grad der Zielerreichung im-mer wieder Rechenschaft abzulegen. Diese Selbst-Reflexivitt betrifft natrlich beson-ders die eigene historische Frage- und Orien-tierungskompetenz.

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    Thomas Groblting

    Geschichtskon-struktion zwischen

    Wissenschaft und Populrkultur

    Essay

    Der Text basiert auf einem Beitrag fr das Jahrbuch fr Politik und Geschichte (Bd. 4) das in Krze im Franz-Steiner-Verlag erscheinen wird (hrsg. von Clau-dia Frhlich, Harald Schmid und Birgit Schwelling).

    Thomas Groblting Dr. phil., geb. 1969; Pro-

    fessor fr Neuere und Neueste Geschichte am

    Historischen Seminar der West-flischen Wilhelms-Universitt

    Mnster; Domplatz 2022, 48143 Mnster.

    thomas.grossboelting@ uni-muenster.de

    Erinnerung, Gedchtnis, Reprsentati-on diese Begriffe, die mit ihnen ver-bundenen Konzepte wie Forschungen ha-

    ben Konjunktur. Aus der ffentlichen The-matisierung von Ver-gangenheit, aber auch aus kulturellen Selbst-beschreibungen sind sie nicht mehr wegzu-denken. Auch wenn wissenschaftliche Im-pulse den Raum geff-net haben fr die (Wei-ter-)Entwicklung der

    Geschichte zweiten Grades, so ist die Erinne-rungswelle selbst aber wesentlich von der f-fentlichen Thematisierung der Vergangenheit getragen: Es sind und waren politische An-ste, zivilgesellschaftliche Bewegungen und Einzelinitiativen, die Aspekte der Vergangen-heit thematisierten, mit inhaltlicher und zeit-licher Kohrenz versahen und damit zur f-fentlichen Geschichte machten, die dann auf die Gegenwart projiziert wurde und fr die Zukunft orientieren sollte. Schon oft wurde auf die besonderen Voraussetzungen fr diese Art des Geschichtsgebrauchs in Deutsch-land hingewiesen. Insbesondere im geteil-ten wie auch im wiedervereinigten Deutsch-land scheint doch die Herleitung von Identitt aus der Vergangenheit eine besondere Bedeu-tung zu haben. Es waren vor allem zwei Br-che im 20. Jahrhundert, die dieses besondere politisch-kollektive wie auch individuelle In-teresse an der Vergangenheit hervorriefen: je-ner mit der NS-Diktatur 1945, aber auch der mit der Zwangsherrschaft der SED des Jahres

    1989. Die jeweils spezifische Art des ffentlich praktizierten Rckgriffs auf die Geschichte hat funktional meist weniger mit der Vergan-genheit zu tun, sondern erklrt sich vor allem aus dem gegenwrtigen Orientierungsbedrf-nis fr zuknftige Handlungen. 1

    Will man die davon ausgehende Entwick-lung von Erinnerung charakterisieren, dann muss man sich kategorial an den jeweiligen Gegenwartsfunktionen orientieren, die diese Form der Vergangenheitsthematisierung ge-sellschaftlich hatte. Folgt man dieser Prmisse, deuten sich klare Vernderungen im Umgang mit der deutschen Vergangenheit an. Die Zu-kunft der Erinnerung wird anders sein als der Modus der Vergangenheitsbewltigung im Umgang mit der NS-Diktatur wie auch der der Aufarbeitung der SED-Diktatur.

    Bewltigung und Aufarbeitung

    Im Vordergrund des bundesdeutschen Pro-jekts NS-Vergangenheitsbewltigung, so die charakteristische Selbstbezeichnung, standen die Thematisierung und Bearbei-tung von Leid und Unrecht, von Tterschaft und Opferstatus. Das Ziel dieses Projekts war es, die Anerkennung und die Aufarbei-tung der Vergangenheit gegen diejenigen ge-sellschaftlichen und politischen Krfte zu erkmpfen, die an der Haltung des Davon haben wir nichts gewusst festhielten. Er-innerung war in dieser Konstellation nicht zuletzt Mittel zum Zweck, um die ideologi-schen Kontinuitten mit der NS-Vergangen-heit zu berwinden. Die frhen Jahre der Bundesrepublik boten gengend Anlass wie auch viel Angriffsflche fr ein solches Vor-haben: Starke Elitenkontinuitten in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft entsprachen ei-ner allgemeinen Abwehrhaltung gegenber einer Thematisierung der Vergangenheit.

    Das idealtypische Medium fr dieses Pro-jekt Vergangenheitsbewltigung ist die Ge-

    1 Vgl. Harald Welzer, Erinnerung und Gedcht-nis. Desiderate und Perspektiven, in: ders./Christian Gudehus/Arianne Eichenberger (Hrsg.), Gedchtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinres Handbuch, StuttgartWeimar 2010, S. 110, hier: S. 8.

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    denksttte, wie Volkhard Knigge, als Direk-tor der Stiftung Gedenksttten Buchenwald und Mittelbau-Dora einer der fhrenden Pro-tagonisten dieser Art von Geschichtsthema-tisierung, herausgearbeitet hat. 2 Eine Ge-denksttte einzurichten und ihre Existenz zu sichern hie auch, diese als Ort der Dokumen-tation sowohl zur Erinnerung an die Opfer als auch zu Beweiszwecken gegen die Leugnung der Verbrechen zu bewahren. In dem Mae, in dem die bundesdeutsche Gesellschaft sich von der postnationalsozialistischen zu einer de-mokratisch-pluralen hin wandelte, vernderte sich auch der Impuls dieser Art der Vergan-genheitsbewltigung: Die dezidiert politische Funktion des Imperativs Du darfst nicht ver-gessen vernderte sich, sakralisierte sich in den Folgejahren zunehmend und gewann im-mer strker eine moralisch-sinnstiftende Kon-notation, die weit ber den politischen Kon-text des Kampfes um die Anerkennung von Schuld sowie entsprechender Verpflichtungen hinausging. 3 In der Bundesrepublik war es auf diese Weise gelungen, ein negatives Gedcht-nis als staatlich gefrderte, ffentliche Aufga-be zu etablieren und zu einer Ressource fr demokratische Kultur und diese fundierende Lern- und Bildungsprozesse zu machen. 4

    Die Wiedervereinigung, so liee sich die Entwicklung weiterschreiben, gab dem Pro-jekt Vergangenheitsbewltigung noch einen weiteren Schub, wenn sich auch das Etikett zu Aufarbeitung nderte. Allen Unterschieden zum Trotz gab es doch auch wesentliche Pa-rallelen: Mit bernahme der nationalen NS-Gedenksttten der DDR schuf ein vom Bund getragenes Programm auch fr die Institutio-nen im Westen eine neue Grundlage. Das Ge-nerationenprojekt wurde fortgefhrt. Auch inhaltlich-methodisch orientierte sich die Aufarbeitung der SED-Diktatur zunchst an den altbundesrepublikanischen Praktiken und Formen, die man in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entwickelt hatte. In der Forschung fand dieser Weg seine Ent-sprechung in der kurzen und wenig frucht-baren Renaissance der Totalitarismustheorie.

    2 Vgl. Volkhard Knigge, Gedenksttten und Muse-en, in: ders./Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erin-nern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Vlkermord, Mnchen 2002, S. 378389, hier: S. 379.3 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenksttten?, in: APuZ, (2010) 2526, S. 39, hier: S. 3.4 Volkhard Knigge, Zur Zukunft der Erinnerung, in: APuZ, (2010) 2526, S. 1016, hier: S. 12.

    Insbesondere auslndische Beobachter wie zum Beispiel der Deutschlandforscher James McAdams erklrten die Intensitt wie auch die auf Delegitimierung zielende Form der Aufarbeitung, mit der sich das wiederverei-nigte Deutschland der kommunistischen dik-tatorischen Vergangenheit annahm, mit dem Lerneffekt der NS-Thematisierung. 5

    Die Zukunft der Erinnerung ist dieser be-sondere Modus wohl nicht, und das gleich in mindestens doppelter Hinsicht: Geschichts-kultur, Erinnerungspolitik respektive Ge-schichtspolitik, Erinnerungskultur schon allein die Austauschbarkeit der einzelnen Wortbestandteile zeigt, dass das entsprechen-de Vokabular zwar feuilletonistisch anschluss-fhig ist, aber keinesfalls przise definiert. So charakterisierte der amerikanische Soziolo-gie Jeffrey K. Olick die Erinnerungsmetapho-rik als einen broad, sensitizing umbrella, der hoch verschiedene Sachverhalte und Prozes-se eher unbestimmt berspannt. 6 Nicht nur Kritiker, sondern auch Protagonisten des For-schungsfeldes beklagen eine semantische und normative berladung der Begriffe, die oft-mals mit methodischer Unschrfe Hand in Hand geht, sodass eine konzeptionelle Weiter-entwicklung angemahnt wird.

    Aber nicht aus dem Feld der wissenschaft-lich-theoretischen Durchdringung, sondern aus der Praxis historisch-politischen Lernens und dessen Reflexion kommt die gra vie rend-ste Kritik. Insbesondere Autoren wie Volk-hard Knigge, Jan Philipp Reemtsma, Harald Welzer oder auch der Althistoriker Christian Meier haben ihre Bedenken scharf herausge-arbeitet. Im ffentlichen Gedenkwesen, so schreibt beispielsweise Meier, sei das an eine Generation gebundene Projekt Historisches Lernen qua Erinnerung zur kontraproduk-tiven Pathosformel verkommen. Dem pflich-tet Volkhard Knigge bei: Eine zumeist von lteren angemahnte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tritt ihnen (den Jngeren, Anm. TG) berwiegend als Erinnerungsim-perativ () entgegen und begegnet ihnen in Gestalt massenmedialer oder ffentlich habi-

    5 Vgl. James McAdams, Judging the Past in Unified Germany, Cambridge 2001, S. 9.6 Jeffrey K. Olick, From Collective Memory to the Sociology of Mnemonic Practices and Products, in: Astrid Erll/Ansgar Nnning (eds.), Cultural Memo-ry Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2008, S. 151161, hier: S. 159.

  • APuZ 4243/2013 21

    tualisierter Redundanzen und Kmmerfor-men wie etwa Gedenkstttenpflichtbesuchen, rhetorischen Codes, visuellen Klischees oder vordergrndiger Symbolpolitik. 7

    Die Beschrnkungen und Grenzen des Projekts Vergangenheitsbewltigung/Auf-arbeitung treten besonders mit Blick auf die Nachgeschichte der zweiten Diktatur in Deutschland zutage: Wo es hinsichtlich des Nationalsozialismus gelang, zumindest ober-flchlich eine breite gesellschaftliche Verstn-digung ber dessen historische Bewertung zu etablieren, da blieb mit Blick auf die SED-Diktatur der vielfach erhoffte Effekt aus: Ein breiter Konsens, welchen Ort der deutsche Staatssozialismus sowjetischen Typs in der Gedenk- und Erinnerungskultur der Bun-desrepublik einnehmen soll, ist nicht in Sicht und wird als Zielperspektive selbst zuneh-mend problematisiert. Muss es, kann es oder darf es eine einheitliche Deutung der DDR-Vergangenheit geben? Die verschiedenen Phasen des deutsch-deutschen Selbstverstn-digungsdialogs (Vereinigungskrise, Ostal-giedebatte, Trotzidentitt und andere Stich-worte sind hier zu nennen) sind mittlerweile beschrieben, wenn auch noch nicht analy-siert. Die Vergangenheitsthematisierung hat-te dabei meist eher spaltende als integrierende Wirkung. Bis heute ist diese Debatte um die DDR-Geschichte von verschiedenen Span-nungslinien durchzogen, die exemplarisch auch die Vernderungen im Feld der Erinne-rung allgemein anzeigen:

    Erstens sehen sich geschichtspolitische For-derungen nach einem verbindlichen und in der Regel delegitimierenden Umgang mit der DDR-Geschichte, wie sie in Teilen der histo-risch-politischen Bildung formuliert werden, mit heterogenen, kontrren und teils DDR-affirmativen Deutungen im geschichtskultu-rellen Diskursfeld konfrontiert.

    Zweitens folgt man entsprechenden Umfragen scheint die aus anderen zeitge-schichtlichen Diskursen bereits bekannte Diskrepanz zwischen kulturellem und kom-munikativem Gedchtnis mit Blick auf die Erfahrungs-, aber keineswegs homogene Er-innerungsgemeinschaft der Ostdeutschen evident und wird als Problem des mentalen Einigungsprozesses markiert.

    7 V. Knigge (Anm. 4), S. 13.

    Drittens differenzieren sich die mit der Be-schftigung mit Vergangenheit verbundenen Funktionen deutlich aus: Der klassisch di-daktische Anspruch der historisch-politi-schen Bildung verband sich oftmals mit einer praktischen Nutzung, die an nationalstaat-liche, zum Teil parteipolitische oder religi-se Identifizierungsmechanismen gebunden war. An deren Stelle treten zum Teil neue ge-schichtskulturelle Formate wie Musik- und Filmproduktionen oder auch private Museen. Diese verstehen sich als Dienstleister oder als Elemente der Unterhaltungsindustrie, so dass ihnen verstrkt auch ein konomisches Inte-resse eigen ist. Spezifische Unterhaltungs- und Sinnstiftungsmodi dieser Formen zielen in neuer Weise auf antizipierte Adressatener-wartungen und sind in der Konsequenz mit einer selektiven Hinwendung zur Diktatur-geschichte in Deutschland verbunden.

    Erinnerungswandel durch Medienwandel

    All diese Vernderungsprozesse wurden und werden angestoen wie auch beschleunigt durch einen rasanten Medienwandel, dessen tiefgreifende Wirkungen bislang wohl kaum abschlieend abzuschtzen sind: Die be-schleunigte und immaterielle Kommunikati-on des Internets und der sozialen Netzwer-ke erweitert die Mglichkeiten des Umgangs mit der Vergangenheit ungemein. Im Bereich der Erinnerungskultur fungieren laut Erik Meyer insbesondere die sozialen Netzwerke als ein Assoziationsraum, in dem die rezi-pierten Inhalte seitens der Nutzerinnen und Nutzer gesammelt und verteilt werden und sich Motive verdichten. Damit ist die De-zentrierung wie auch die Pluralisierung von Geschichtsbildern unausweichlich. Die her-kmmlichen Plattformen und Medien fr die Diskussion von Geschichte verlieren an Ein-fluss, ohne aber ganz in der Be deu tungs losig-keit zu versinken: Nach wie vor, so zeigen erste Untersuchungen zur Geschichtsthe-matisierung im Internet, werden die Themen meist anderswo gesetzt: Geschichte im Film und in dokumentarischen Formaten, in B-chern, zum Teil auch im Geschichtsunter-richt. Die dort angestoenen Debatten wer-den dann im Netz fortgesetzt und vertieft. 8

    8 Vgl. Drte Hein, Virtuelles Erinnern, in: APuZ, (2010) 2526, S. 2329, hier: S. 27.

  • APuZ 4243/201322

    Die informationstechnische Entwicklung bedeutet somit sicher nicht das Ende, vielleicht nicht einmal eine Krise des Erinnerns, wohl aber eine tiefgreifende Vernderung ihrer For-men und Funktionen. Wo Erinnerungskultu-ren heute meist zivilgesellschaftlich und dezi-diert politisch begrndet werden, so werden sie in Zukunft eher kommerziell motiviert sein; wo sie heute eher noch auf Nachhaltig-keit angelegt sind, werden sie morgen eher epi-sodenhaft und kampagnenfrmig sein; sind sie heute noch vergegenstndlicht und diskursiv, so werden sie morgen visualisiert und virtu-ell sein; bewegen sie sich heute noch im nati-onalstaatlichen Deutungsrahmen, werden sie zuknftig eher global ausgerichtet sein. 9 Die Globalisierung des Holocaustgedenkens ist das vermutlich treffendste Beispiel dafr.

    Diesen angedeuteten Trend im Umgang mit der Vergangenheit hat der sterreichische His-toriker Valentin Groebner jngst als einen be-sonderen Bruch beschrieben, den er zeitlich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts verortet: Antike, Mittelalter, Aufklrung, ja auch das 19. Jahrhundert htten sich seitdem in eine Art historische Tiefsee verwandelt, pittoresk, materialreich, aber distanziert; eine Zone, in der alles Vergangene gleich weit weg ist, so fremd und weit entfernt, dass es nicht mehr in direkter Referenz auf die Gegenwart ge-braucht werden kann und keine direkt wirk-samen Ursprungs- und Identifikationsangebo-te mehr enthlt. Wie andere Autoren nimmt Groebner nur die Geschichte und die Vorge-schichte des Nationalsozialismus von dieser Diagnose aus. Allein diese werde in der ffent-lichen Inszenierung weithin selbstverstndlich als eigene und damit als unmittelbar wirk-mchtige und identittspolitisch genutzte Ge-schichte (angesehen), mit der man in der rich-tigen, angemessenen Weise umzugehen hat. Richtig an der Beobachtung scheint mir, dass die Geschichte der NS-Diktatur in besonde-rer Weise als moralisch und identittspoli-tisch aufgeladene Nahvergangenheit gilt. 10

    9 Vgl. Claus Leggewie/Erik Meyer (Hrsg.), Erinne-rungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frank furt/M. 2008.10 Valentin Groebner, Touristischer Geschichtsge-brauch. ber einige Merkmale neuer Vergangenheiten im 20. und 21. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, (2013) 296, S. 408428, hier: S. 411 f. hnlich argumen-tiert Paul Nolte, Die Macht der Abbilder. Geschich-te zwischen Reprsentation, Realitt und Prsenz, in: Merkur, 59 (2005) 677678, S. 889898, hier: S. 893.

    In abgeschwchter Weise knnen wir diesen Trend auch fr die Thematisierung der DDR-Vergangenheit im Kontext der kommunisti-schen Diktaturen Osteuropas beobachten. Trotz dieser besonderen Stellung aber sind auch NS- und DDR-Vergangenheit von den grundlegenden Vernderungen in der Erin-nerung nicht ausgenommen.

    Er ist wieder da: Hitler in der deutschen Erinnerung

    Neben der Verfolgung und der Ermordung der Juden in Europa gibt es ein weiteres Erin-nerungsmoment, das nicht nur, aber wohl vor allem die Deutschen seit 1945 in besonderer Weise ebenso fasziniert wie abgestoen hat: die Person Adolf Hitler. Zum Teil angeleitet durch die alliierten Besatzungsmchte, zum Teil aus der Dynamik eines wohl vor allem sozialpsychologisch zu erklrenden Prozes-ses schlug bereits in den ersten Nachkriegs-jahren der Mythos Hitler und die in den letzten Kriegsjahren zwar brckelnde, aber doch tief wurzelnde Faszination fr den Dik-tator in ihr Gegenteil um. Aus dem Fhrer wurde eine Unperson: Im Sprachgebrauch des Westens avancierte er zum Teufel oder Dmon, im Osten galt er als faschistische Bestie. 11

    Hitler blieb auch in den Folgejahren immer Garant fr ein groes Interesse. Dabei war es nicht die Historikerschaft, die diesen Trend forcierte. Hier setzte man laut Norbert Frei auf eine Entpersonalisierung des histori-schen Narrativs, teils um sich damit dezidiert von der voyeuristischen Kammerdienerper-spektive einer an privaten Details interes-sierten Illustriertenpresse abzusetzen, teils um dem ffentlichen Bild von den vermeint-lich berragenden Fhigkeiten Hitlers entge-genzusteuern. Die gesellschaftliche Thema-tisierung Hitlers auerhalb der Wissenschaft kannte diese Zurckhaltung nicht: Hitler sells. Den Anfang machte der Journalist Jo-achim Fest und damit ein akademischer Au-enseiter mit der erfolgreichsten Biografie der Nachkriegszeit: Sein Buch Hitler ver-

    11 Vgl. Norbert Frei, Fhrerbilderwechsel. Hitler und die Deutschen nach 1945, in: Hans-Ulrich Tha-mer/Simone Erpel (Hrsg.), Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, Dresden 2010, S. 142147, hier: S. 144.

  • APuZ 4243/2013 23

    kaufte sich seit 1973 in verschiedenen Ausga-ben und Auflagen rund 800 000 Mal. 12 Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel erreich-te und erreicht mit seinen NS-Titelgeschich-ten herausragende Verkaufszahlen, Guido Knopps ZDF-History-Redaktion war in vie-lem ganz um die Person Hitlers und ihre Wei-terungen herum konzipiert. 13 Angesichts des groen Kassenerfolgs von Bernd Eichingers Film Der Untergang ber die letzten Tage im Fhrerbunker fragte der Journalist Jens Jessen bereits 2004 in der Wochenzeitung Die Zeit, was Hitler so unwiderstehlich mache. Das mit Hitler verbundene Erregungspoten-zial sei von keiner anderen lebenden oder to-ten Gestalt zu bertreffen, so Jessen. 14

    Schon bei einer sporadischen Sichtung verdichtet sich der Eindruck, dass die Fi-gur Adolf Hitler besonders whrend der zu-rckliegenden zehn Jahre in der Populr-kultur verstrkt in Erscheinung getreten ist. Das reicht von Kabarettnummern (etwa vom Duo Pigor & Eichhorn) ber Comics (Wal-ter Moers) bis zu TV-Produktionen und di-versen Kinofilmen. Die Dmonisierung der frhen postnationalsozialistischen Jahre ist dabei einer popkulturellen Verwendung ge-wichen. Inzwischen dient Hitler als Gru-selgre einer globalisierten Medienwelt, die sich seiner in allen mglichen und unmgli-chen Zusammenhngen bedient lngst nicht mehr nur zum Zweck der historischen Auf-klrung. 15 In den Medien und speziell in der Unterhaltungsindustrie gengen heute weni-ge Anspielungen, um die hrteste aller Dro-gen, die Aufmerksamkeit produzieren, zu verabreichen. 16 Zwei Finger waagerecht un-ter die Nase gehalten, ein etwas rollendes R, ein stierer Blick schon scheint die Imitation perfekt und die Anspielung allgemein wahr-nehmbar zu sein. Und die Verfilmung des Moers-Comics wird mit dem Slogan bewor-ben: Adolf, die Nazi-Sau, ist nun einmal der grte Popstar, den wir Deutschen je hervor-gebracht haben. 17

    12 Vgl. Buchreport vom 25. 3. 2010.13 Vgl. Simone Erpel, Hitler entdmonisiert. Die me-diale Prsenz des Diktators nach 1945 in Presse und In-ternet, in: H.-U. Thamer/dies. (Anm. 11), S. 154160.14 Jens Jessen, Braune Schatten: Was macht Hitler so unwiderstehlich?, in: Die Zeit vom 23. 9. 2004, online: www.zeit.de/ 2004/ 40/ 01_leit_1_40 (1. 10. 2013).15 N. Frei (Anm. 11), S. 147.16 Vgl. ebd; Zitat von J. Jessen (Anm. 14).17 Vgl. www.adolf-online.com (1. 10. 2013).

    Das jngste Beispiel fr diese Entwicklung ist die Erstverffentlichung des Journalisten Timur Vermes. Die Polit-Satire Er ist wie-der da () hat die Bestseller-Listen erobert. An der Qualitt des Romans kann das nicht liegen, tzte im Januar 2013 die Sddeutsche Zeitung gegen das im Herbst 2012 erschiene-ne Buch. 18 Nicht die Publikation selbst, son-dern seine Rezeption hatte diese Besprechung bewirkt. Vermes hatte mit einem hchst un-gewhnlichen Buch die Aufmerksamkeit vie-ler Leserinnen und Leser geweckt. Bis zum Sommer 2013 verkaufte sich Er ist wieder da ber 700 000 Mal, hinzu kamen 150 000 Hrbcher. bersetzungen in 27 Sprachen sind ebenso angekndigt wie die Verfilmung des Buches ein berraschungserfolg, den viele nicht fr mglich gehalten hatten. Es war sicher nicht die Prominenz des Autors, die den Erfolg zu erklren hilft: Als Journa-list hatte Vermes in unterschiedlichen Zu-sammenhngen gearbeitet, sich aber eher in der zweiten Reihe und als Ghostwriter profi-liert. Die verffentlichten Reaktionen helfen ebenfalls nicht, den Senkrechtstart des Bu-ches zu erklren, denn die Kritik ignorierte das Buch. Selbst nachdem sich Er ist wieder da auf den Bestsellerlisten eingeschrieben hatte, hielten sich die professionellen Kom-mentatoren zurck oder kritisierten das Buch als geschmacklos oder politisch naiv, ohne aber dem Erfolg Abbruch zu tun.

    Also war es offenbar doch das Thema, wel-ches dem Buch so viel Popularitt bescherte. Das Cover mit dem stilisierten Seitenschei-tel und dem charakteristischen Minischnau-zer lsst keinen Zweifel. Derjenige, der im Roman wieder da ist, ist Adolf Hitler: Nach 66 Jahren im Nirgendwo