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1001-1 class library Arbeit und Analogie 0 - Ursprung des barocken Dramas (Allegorie und Trauerspiel) W. Benjamin Ich habe im Verständnis des Barocks einen entscheidend en Fortschritt gemacht, als ich zeigte, daß die Allegorie kein mißlungenes Symbol ist, keine abstrakte Personifizierung, sondern eine Figurations-Mach t, die voll und ganz von der des Symbols verschieden ist: Die des Symbols kombiniert das Ewige und den Moment, fast im Zentrum der Welt, die Allegorie dagegen entdeckt die Natur und die Geschichte gemäß der Ordnung der Zeit, sie macht aus der Natur eine Geschichte und transformiert die Geschichte in Natur, in einer Welt, die kein Zentrum mehr hat. Wenn wir den logischen Zusammenhang zwischen einem Konzept und seinem Objekt betrachten, sehen wir, daß es zwei Weisen gibt, über ihn hinauszugehen, die eine symbolisch und die andere allegorisch. Einmal isolieren, purifizieren oder konzentrieren wir das Objekt, wir kappen alle seine Verbindunge n [liens], die es an das Universum binden, aber von da an erhöhen wir es, wir bringen es nicht länger in Kontakt mit seinem simplen Konzept, sondern mit einer Idee, die ästhetisch oder moralisch dieses Konzept entwickelt. Ein anderes Mal hingegen ist es das Objekt selbst, daß ausgedehnt wird, gemäß einem ganzen Netz von natürlichen Relationen, es ist das Objekt, das seinen Rahmen überbordet, um in einen Zyklus oder eine Serie einzutreten, und es ist das Konzept, daß sich immer enger geknüpft [resserré] findet, verinnerlicht [rendu intérieur], eingeschlagen in [enveloppé] einer Instanzierung, die man letzten Endes «persönlich» nennen kann: Solcher Art ist die Welt als Kegel oder als Kuppel, dessen sich immer in Ausdehnun g befindliche Basis sich nicht mehr an ein Zentrum bindet, sondern gegen einen Punkt oder einen Gipfel tendiert. Die Welt der Allegorie präsentiert sich eigentümlich in den Devisen und den Emblemen: Zum Beispiel ist ein Stachelschwein figuriert, es illustriert die Inskription «Von Nahem und von Fernem», denn das Stachelschwein sträubt seine Stacheln von Nahem, aber wirft auch seine Borsten von Weitem. Die Devisen oder die Embleme haben drei Elemente, die uns besser verstehen lassen, was eine Allegorie ist: die Bilder [images] oder Figurationen, die Inskriptionen oder Sentenzen, die persönlichen Besitzer oder Eigennamen. Sehen, lesen, widmen (oder signieren). Ist erst einmal des ethische Subjekt ins Individuum gesunken, so kann kein Rigorismus - sei es auch der Kantische - es retten und seinen männlichen Kontur bewahren. Und der Aktions-, nein, nur der Bildungsradius des dergestalt vollendeten, des schönen Individuums beschreibt den Kreis des «Symbolischen». Demgegenüber ist die barocke Apotheose dialektisch. Sie voll- zieht sich im Umschlagen von Extremen. In dieser exzentrischen und dialektischen Bewegung spielt die gegensatzlose Innerlich- keit des Klassizismus schon darum keine Rolle, weil die aktualen Probleme des Barock als religionspolitische gar nicht so sehr das Individuum und seine Ethik als seine kirchliche Gemeinschaft betrafen. «Das Wesen des Barock ist die Gleichzeitigkeit seiner Hand- lungen», heißt es ziemlich grobschlächtig, doch in einer Ahnung des Sachverhaltes bei Hausenstein. Denn fürs Vergegenwä rtigen der Zeit im Raume - und was ist deren Säkularisierung anderes, als in die strikte Gegenwart sie wandeln? - ist die Simultaneisierung des Geschehen s das gründlichste

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Arbeit und Analogie

0 - Ursprung des barocken Dramas (Allegorie undTrauerspiel)

W. Benjamin 

Ich habe im Verständnis des Barocks einen entscheidenden Fortschritt gemacht, als ichzeigte, daß die Allegorie kein mißlungenes Symbol ist, keine abstrakte Personifizierung,sondern eine Figurations-Macht, die voll und ganz von der des Symbols verschieden ist: Diedes Symbols kombiniert das Ewige und den Moment, fast im Zentrum der Welt, die Allegorie

dagegen entdeckt die Natur und die Geschichte gemäß der Ordnung der Zeit, sie macht ausder Natur eine Geschichte und transformiert die Geschichte in Natur, in einer Welt, die keinZentrum mehr hat.

Wenn wir den logischen Zusammenhang zwischen einem Konzept und seinem Objektbetrachten, sehen wir, daß es zwei Weisen gibt, über ihn hinauszugehen, die einesymbolisch und die andere allegorisch. Einmal isolieren, purifizieren oder konzentrieren wir das Objekt, wir kappen alle seine Verbindungen [liens], die es an das Universum binden,aber von da an erhöhen wir es, wir bringen es nicht länger in Kontakt mit seinem simplenKonzept, sondern mit einer Idee, die ästhetisch oder moralisch dieses Konzept entwickelt.Ein anderes Mal hingegen ist es das Objekt selbst, daß ausgedehnt wird, gemäß einemganzen Netz von natürlichen Relationen, es ist das Objekt, das seinen Rahmen überbordet,um in einen Zyklus oder eine Serie einzutreten, und es ist das Konzept, daß sich immer 

enger geknüpft [resserré] findet, verinnerlicht [rendu intérieur], eingeschlagen in [enveloppé]einer Instanzierung, die man letzten Endes «persönlich» nennen kann: Solcher Art ist dieWelt als Kegel oder als Kuppel, dessen sich immer in Ausdehnung befindliche Basis sichnicht mehr an ein Zentrum bindet, sondern gegen einen Punkt oder einen Gipfel tendiert.

Die Welt der Allegorie präsentiert sich eigentümlich in den Devisen und den Emblemen: ZumBeispiel ist ein Stachelschwein figuriert, es illustriert die Inskription «Von Nahem und vonFernem», denn das Stachelschwein sträubt seine Stacheln von Nahem, aber wirft auch seineBorsten von Weitem.

Die Devisen oder die Embleme haben drei Elemente, die uns besser verstehen lassen, waseine Allegorie ist: die Bilder [images] oder Figurationen, die Inskriptionen oder Sentenzen, diepersönlichen Besitzer oder Eigennamen. Sehen, lesen, widmen (oder signieren).

Ist erst einmal des ethische Subjekt ins Individuum gesunken, so kann kein Rigorismus - seies auch der Kantische - es retten und seinen männlichen Kontur bewahren. Und der Aktions-, nein, nur der Bildungsradius des dergestalt vollendeten, des schönen Individuumsbeschreibt den Kreis des «Symbolischen».

Demgegenüber ist die barocke Apotheose dialektisch. Sie voll- zieht sich im Umschlagen vonExtremen. In dieser exzentrischen und dialektischen Bewegung spielt die gegensatzloseInnerlich- keit des Klassizismus schon darum keine Rolle, weil die aktualen Probleme desBarock als religionspolitische gar nicht so sehr das Individuum und seine Ethik als seinekirchliche Gemeinschaft betrafen.

«Das Wesen des Barock ist die Gleichzeitigkeit seiner Hand- lungen», heißt es ziemlichgrobschlächtig, doch in einer Ahnung des Sachverhaltes bei Hausenstein. Denn fürs

Vergegenwärtigen der Zeit im Raume - und was ist deren Säkularisierung anderes, als in diestrikte Gegenwart sie wandeln? - ist die Simultaneisierung des Geschehens das gründlichste

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Verfahren.

1 - Gilles Deleuze zu Open Source

[...]

Diese ganze Achtung für open source, eigentlich hat man fast Lust, hassenswerteVorschläge zu machen. Die ist dermaßen Teil dieses weichen Denkens der armseligenPeriode, von der wir gesprochen haben. Die ist pure Abstraktion. Open source, was ist dasdenn? Das ist etwas rein Abstraktes. Das ist leer. Genau das, was man über das Begehren[désir] gesagt hat, bzw. was ich über das Begehren versucht habe zu sagen. Das Begehren,das besteht nicht darin, ein Objekt zu errichten [ériger], zu sagen: ich begehre das hier. Manbegehrt nicht, zum Beispiel, das Nicht-Eigentum et cetera. Das ist null. Man findet sich inSituationen.

Nehmen wir zum Beispiel das aktuelle Beispiel im Kosovo. Das ist gerade erst gewesen. Wasist die Situation? Wenn ich richtig verstanden haben, man kann mich korrigieren, aber wennman mich korrigiert, ändert das nicht viel. Es gibt diese Enklave in einer anderen jugoslawischen Republik, es gibt diese kosovarische Enklave. Gut, das, das ist eineSituation. Die erste Sache. Es gibt da dieses Massaker, da, wo die Serben, es scheinenirgendwie Serben [oder: "serbischer Abstammung" oder was Deleuze hier auch immer meint]gewesen zu sein, ich weiß nicht, aber zumindest soweit man es aktuell weiß, ich nehme anes sei so, wo sie also die Kosovaren einmal mehr massakriert haben, in ihrer Enklave. DieKosovaren haben sich in ihre Republik geflüchtet [se réfugient], sage ich, Du korrigierst allemeine Fehler, und da, da gibt es ein Erdbeben. Man glaubt, bei Marquis de Sade zu sein.Arme Menschen sind durch die schlimmsten von Menschen erlebten Heimsuchungen[épreuves] gegangen, und kaum sind sie da ankommen, am sicheren Ort, ist es die Natur, dieihn zerstört.

Ich will sagen, man sagt: Open source. Aber letztlich ist das eine Rede für die Intellektuellen,und für hassenswerte Intellektuelle, und für Intellektuelle, die keine Ideen haben. Zuerst,bemerke ich, daß diese GNU Public Licences niemals gemacht sind in Funktion für die Leute,die das interessiert, die Gesellschaften von Kosovaren, die Gemeinschaften [communautés]

von Kosovaren et cetera. Ihr Problem, das ist nicht open source. Was ist das?

Voilà: eine Anordnung [agencement *1]. Wie ich gesagt habe, das Begehren, das ist immer über agencements. Voilà un agencement. Was ist möglich, um diese Enklave abzuschaffenoder um etwas zu machen, daß diese Enklave leben kann [soit vivable]? Was ist das, dieseEnklave da drinnen? Das, das ist eine Frage des Territoriums. Was werden sie annehmen,was die UNO aus dieser Situation ziehen wird, was wird er machen, damit es diese, von allenSeiten bedrohenden Serben ausgelieferte kosovarische Enklave nicht gibt? Das ist keineFrage von open source. Das ist keine Frage von Offenheit. Das ist eine Frage von runningcode. Alle Schandtaten, die die Menschen erfährt, sind Fälle. Das sind keine Dementis zuabstrakter open source. Das sind abscheuliche Fälle. Man wird sagen, daß diese Fälle sichähneln, aber das sind dann Situationen von running code.

Das kosovarische Problem da, das ist typisch für das, was man ein Problem von runningcode nennen wird. Es ist außergewöhnlich komplex. Was soll man machen, um dieKosovaren zu retten, und daß die Kosovaren sich selber aus dieser Situation retten? Undweiter, dieses Erdbeben da. Ein Erdbeben hat auch immer Ursachen, Konstruktionen dienicht gut waren, die nicht gemacht waren, wie sie hätten sein müssen. Alles das sind Fällevon running code. Handeln für die Freiheit, revolutionär werden, das heißt in running code zuoperieren. Wenn man sich an open source wendet, die open source existiert nicht, opensource existiert nicht. Was zählt, ist running code. Es die Erfindung von Recht. Nun, die, diesich damit zufriedengeben, an open source zu erinnern und das wieder zu zitieren, die sinddebil. Es handelt sich nicht darum, open source anzuwenden. Es handelt sich darum, runningcode da zu erfinden, wo, für jeden Fall, das nicht mehr möglich sein wird. Das ist etwas ganzanderes.

Ich nehme ein Beispiel, das ich sehr gerne mag, weil es das einzige Mittel ist, um zuverstehen [faire comprendre] was das ist, running code. Die Leute verstehen da nicht,zumindst nicht alle. Die Leute verstehen nicht sehr gut. Ich, ich denke an die Zeit, als es

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verboten wurde, in Taxis zu rauchen. Vorher hat man in Taxis geraucht. Die erstenTaxifahrer, die verboten haben in den Taxis zu rauchen, haben Auseinandersetzungenausgelöst, weil es Raucher gab. Und es gab einen, der war Anwalt.

Ich hatte immer eine Leidenschaft für running code, für code. Wenn ich keine Philosophiegemacht hätte, hätte ich code gemacht, aber eben kein open source, ich hätte running code

gemacht. Weil das das Leben ist. Es gibt kein open source, es gibt Leben, es gibt code desLebens. Nur das Leben ist Fall für Fall.

Also, die Taxis. Es gibt einen Typ, der nicht will, daß man ihm das Rauchen in einem Taxiverbietet. Er macht einen Prozeß im Taxi. Ich erinnere mich sehr gut, weil ich mich damitbeschäftigt habe, die Urteilsbegründungen zu bekommen. Das Taxi wurde verurteilt. Heuteist das keine Frage mehr. Es wird den gleichen Prozeß geben, das Taxi wird nicht verurteiltwerden, es wird der Benutzer sein, der verurteilt wird. Aber am Anfang wurde das Taxiverurteilt. Unter welchen Begründungen? Das, sobald er ein Taxi nimmt, ist er Mieter. Also,der Benutzer eines Taxis wurde als Mieter aufgefaßt. Ein Mieter hat das Recht, bei sich zurauchen. Er hat das Recht zur Benutzung und darauf zu bestehen [droit d'appui]. Es ist, alsob er etwas mietet. Es ist, wie wenn mein Vermieter mir sagen würde: nein, Du wird nicht beiDir rauchen. Doch, wenn ich Mieter bin, kann ich bei mir rauchen. Also wurde das Taxi alseine rollende Wohnung aufgefaßt, deren Benutzer der Mieter war.

Zehn Jahre später, das ist komplett verallgemeinerbar, gibt es praktisch keine Taxis mehr, indenen man im Namen von wer-weiß-ich rauchen kann. Das Taxi wird nicht mehr als Mieteeiner Wohnung verstanden, es wird verstanden als ein öffentlicher Service. In einemöffentlichen Service hat man den code, das Rauchen zu verbieten. Das ist alles runningcode. Es ist keine Frage von code auf dies oder auf das. Es ist eine Frage der Situation, undder Situation, die sich entwickelt [qui évolue]. Und für die Freiheit zu kämpfen, das ist in der Tat, running code zu machen.

Nun, da scheint mir das Beispiel der Kosovaren typisch. Open source, was will das sagen?Das will sagen: ah, die Serben, sie haben nicht den code, die Kosovaren zu massakrieren.Ok, die Serben haben nicht den code, die Kosovaren zu massakrieren. Und dann? Das istwirklich debil. Oder schlimmer, ich glaube, das ist dermaßen hypokrit, da, dieses ganze

Denken von open source. Das ist null, philosophisch ist das null. Und die Schaffung voncode, das ist nicht die Erklärung von open source. Die Arbeit [création], im code, ist runningcode. Es gibt nur das was exisiert. Also: kämpfen für running code. Es ist das, links zu sein.Das ist, code zu machen.

[...]

L'Abécédaire de Gilles Deleuze, avec Claire Parnet, Vidéo Éd. Montparnasse, 1996

2 - Der Texturmotor 

"The signifier, by reason of its singular relationship to place, becomes an inscription on thebody. Understanding and interpretation are helpless before an unconscious writing that,

rather than presenting the subject with something to be deciphered, makes the subject what itis. Mnemonic inscription is, like mechanical inscription, always invisible at the decisivemoment."

- Friedrich Kittler, Discourse Networks, 196

Paul Virilio und Friedrich Kittler im Gespräch

Ausgestrahlt im Deutsch-Französischen Kulturkanal ARTE

In den fünfziger Jahren hat jemand gesagt, daß wir es mit drei Motoren zu tun hätten. Der erste, der Atommotor, laufe bereits. Der zweite sei der Texturmotor; der dritte, der Bevölkerungsmotor, werde im 21. Jahrhundert laufen. Gegenwärtig läuft der Texturmotor.

Neue Technologien, insbesondere die Möglichkeiten zur Schaffung realer Welten, verändernKultur, Politik und Gesellschaft grundlegend. Zu diesem Thema diskutieren heute abend imGespräch der Stadtplaner und Philosoph Paul Virilio und Friedrich Kittler, Medienspezialist an

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der Humboldt Universität in Berlin.

Paul Virilio: Wir erleben heute nicht nur einen riesigen Werberummel um Autobahnen,Distribution und das, was man Wirtschaft nennt, sondern durch das Shopping und Arbeiten,nicht im Büro sein, sondern Zuhause am Computer, eine Art von Realisierung der Alltagswelt.Im Fernsehen gibt es reale Geschäfte, auf dem Computerbildschirm reale Textshops. Nun,

ich spreche von Geschäften, aber man könnte sich ebenso die Frage stellen, entsteht nichtbereits eine Art von realer Stadt, eine Stadt der Städte? Ein wirkliches Zentrum der Welt, dasHyperzentrum der Welt, nicht mehr die Hauptstadt eines Landes, sondern die Kapitale aller Kapitalen der Welt, New York, Singapur, London, die großen Börsenplätze, die großenStädte, alle zusammen. Verbirgt sich nicht hinter dieser zunehmenden Realisierung einVerlust der zwischenmenschen Beziehungen, ein Verlust des unmittelbaren Texts? Dasheißt, des Gedankenaustausches, so wie wir ihn gerade hier vollziehen? Ich glaube, darüber sollten wir nachdenken, nicht nur die Urbanisten, die Wohnungs- und Städtebauer, sondernauch die, die am Ort des Geschehens verantwortlich sind. Ich nenne ein Beispiel: was istdenn ein Supermarkt, ein Einkaufszentrum heute? Nichts anderes als ein Stadtzentrum ohneStadt, ein Anfangsstadium der Realisierung, noch nicht Shopping, aber bereits auf der grünen Wiese oder am Stadtrand ein Stadtzentrum ohne Stadt. Das ist Realisierung imFrühstadium, das zweite Stadium ist dann tatsächlich Shopping. Gehen Sie nicht mehr ausdem Haus, arbeiten Sie, kaufen Sie, vergnügen Sie sich usw. usf. Was halten Sie von dieser Entwicklung? Mich selbst beunruhigt sie, mich als Urbanisten.

Friedrich Kittler: Es sieht alles aus wie der Erfolg einer wunderbaren und sehr verstecktenStrategie, die nun endlich aufgeht, nachdem sie 15 Jahre lang vorbereitet worden ist. 1982sind die ersten personal computers, wie sie so schön heißen, verteilt worden. Einsame,lonely cowboys die einfach auf dem Schreibtisch standen und nichts anderes konnten alsTexte schreiben, ich untertreibe jetzt. Und irgendwann sind die Dingen in den letzten 15Jahren immer besser geworden und jetzt können sie alle anderen Medien fressen, dasTelephon, den Telegraph und das Faxgerät und bald auch das Bild und den Ton und die CD.Und man kann sie alle mit wunderschönen Verteilern verdrahten, weltweit. Aus dieser ganzkleinen Investition, die auf jedem dritten Schreibtisch in den zivilisierten Ländern steht,entwickelt sich holterdiepolter eine weltweite Distribution, das wirklich wie eine große Spinneist und die anderen Medien das Fürchten lehrt.

Die einzige Ausnahme, die ich machen würde: noch sind, was die Realisierung angeht, diebeiden Bildschirme, in meiner Wohung zumindest, getrennt. Im Wohnzimmer steht der Fernsehapparat und im Arbeitszimmer steht der zweite Monitor, der am Computer hängt. Undich glaube, erst an dem Tag, an dem der Fernseher endlich weg ist, was ich auch sehr hoffe,und alles über den Computer läuft, kann man von dieser wirklichen Realisierung reden. ImMoment sind wir noch im Zwischenstadium, auf der einen Seite gibt es das ProgrammediumFernsehen, das uns besendet, und auf der andere Seite gibt es das Programmiermedium,das alle möglichen Ghettoisierungen möglich macht, und die beiden sind noch in einer sehr gespannten Beziehung zueinander. Was die Menschen zwischen Wohn- und Arbeitszimmer und den beiden Bildschirmen angeht, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, der Computer istnicht erfunden worden um den Menschen zu helfen.

Virilio: Da heißt es, es wird reale Gesellschaften geben, ja sogar eine reale Demokratie. Wasist denn das? Woher stammt diese Idee? Woher kommt der Erfolg einer solchen Idee, dieGemeinschaft ihrer Aktualität zu berauben, zugunsten einer allumfassenden Realisierung,einschließlich der Politik. Wenn man uns erzählt, 'die Demokratie wird real', dann heißt dasdoch, Wahlen werden durch Meinungsumfragen ersetzt. Wenn man uns sagt, 'dieGesellschaft wird real', dann heißt das doch, keiner muß sich mehr um seinen Nächstenkümmern, weil dessen Anwesenheit in gewisser Weise ja überflüssig wird. Ich frage michnun, was ist eine reale Gesellschaft? Sie entsteht, aber was ist das Ihrer Meinung nach?

Kittler: Entweder sie ist ein dummes Schlagwort, was überhaupt nichts besagt, oder sie istinsofern real, als sie als Gesellschaftsmitglieder oder Staatsmitglieder eben nicht bloß mehr Menschen, natürlichen Personen und Rechtspersonen führt, wie Institutionen, sondern großeDistributoren und Strukturen, also eine Welt, in der die Menschen nicht mehr allein kulturelle

Wesen sind. Und daran wird man sich die nächsten drei Jahrhunderte gewöhnen müssen,daß es Roboter gibt, daß es Programme gibt, die teilweise besser sind. Wir alle wissen, daßdie Tage des Schachweltmeisters gezählt sind, daß irgendwann ein Schachprogramm der 

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Schachweltmeister sein wird. Dieses Programm muß man als Teil der realen Weltanerkennen und die reale Gesellschaft ohne diese reale Welt gibt es nicht.

Virilio: Stehen wir nicht schon am Beginn einer dritten Revolution, nach der des Verkehrs undder der Datenübertragung, die wir gerade erleben, nämlich der der Transplantation. Ichmeine damit die des transplantierten Menschens, der voll ausgestattet ist, nicht nur mit einem

Mobiltelephon und einen notebook computer, sondern zusätzlich mit Technologien, wieeinem Herzschrittmacher oder zusätzlicher Gehirnspeicherleistung, Leistungsstimulatorenvöllig anderer Art. Ist so etwas vorstellbar und in welchem Umfang? Ich glaube, diese Fragewird nicht gestellt.

Kittler: Die Frage wird schon gestellt, aber aus einer etwas anderen Ecke, glaube ich. Diecomputer community, wie das so schön heißt auf Englisch, als solche hat kein großesInteresse, sich direkt an die Herzen oder die Gehirne oder die Ohren oder die Augen vonMenschen anzuschließen, weil das eine anorganische Technologie ist, wohingegen dieGentechnologie, die nach dem Modell der Computertechnologie sich jetzt formt undausbildet, ein sehr großes Interesse daran haben dürfte, Schnittstellen zwischen denanorganischen Maschinen von heute und dem alten organischen Fleisch des gefallenen undzündigen Menschen zu bilden. Welche der beiden Tendenzen sich durchsetzt ist eine ganzoffene Frage.

Ich würde so wetten, daß die Computertechnologie in ihrem militärischen Ursprung undstrategischen Abzweckungen, die sie noch heute hat, eigentlich die Bevölkerung in Ruhelassen würde, wenn sie sich allein als Siliciumtechnologie weiterentwickelt. Und daß dieNeurotechnologien und Gentechnologien ein Interesse daran haben, die Bevölkerungen zufressen. Es gibt für mich zwei möglichen Zukunftsszenarien, eines das die Menschenausspuckt, das wäre die Computertechnologie, und das andere, das die Menschen frißt, daswäre die Gentechnologie. Und ersteres ist mir lieber, weil es dann einfach Götter gibt auf der einen Seite, oder Dämonen, und auf der anderen Seite Menschen, die es immer schon gab.Und daß es Götter und Menschen gibt, das ist nun heutzutage vergessen worden.

Virilio: Ich glaube das wir eine Grenze erreicht haben und der Weltraum in der Tat das Endedes Raums ist, um nicht zu sagen das Ende alles Raums, das Wort 'Apokalypse' will ich nicht

benutzen. Wir haben in jeder Hinsicht die Grenzgeschwindigkeit der elektromagnetischenWellen erreicht. Damit haben wir nicht nur die befreiende Geschwindigkeit erreicht, die unserlaubt, einen Satelliten oder Menschen in eine Umlaufbahn zu schießen, sondern auch dieMauer der Beschleunigung. Das heißt die Weltgeschichte, die sich ja ständig beschleunigthat, von der Ära der Kavallerie über die Ära der Eisenbahn, des Telefons, die Ära Marconis,bis zur Ära des Radios und des Fernsehens, stößt jetzt an die Mauer, an die Grenze der Beschleunigung. Die von Ihnen gestellte Frage ist in der Tat, was geschieht in einer Gesellschaft, die an die Grenze der Beschleunigung stößt, während doch alle Gesellschaftender Vergangenheit im Bezug auf den Fortschritt, von der Art und Weise ihrer Beschleunigungbestimmt waren? Beschleunigung nicht nur bezogen auf Speicher- und Rechnerleistungen,sondern auf das Handeln.

Wir wissen doch, daß man heute eigentlich nicht mehr nur von 'Vision' sprechen kann,

sondern von 'Aktion' sprechen muß. Evident bedeutet hier sein, aber gleichzeitig anderswohandeln. Ich meinerseits habe Zweifel, ob diese Frage heute so gestellt wird. Sind wir unsdessen bewußt, daß damit ein globaler, historischer Unfall ausgelöst worden ist. Jedesmalwenn eine neue Geschwindigkeit entdeckt wurde, entstand auch ein neuer spezifischer,lokaler Unfalltypus. Ich sage immer, man hat die Eisenbahn erfunden und damit auch dasEntgleisen. Schiffe, die Titanic, sinken an einen bestimmten Ort, an einen bestimmten Tag.Wir aber schafften mit diesem Einheitsraum, diesem Echtraum, Weltraum, den Unfall der Unfälle, um mit Epikur zu sprechen. Das heißt, der historische Raum selbst erleidet denUnfall durch das Erreichen dieser Grenze der Lichtgeschwindigkeit, könnte man sagen.

Mein Eindruck ist, daß das, was man uns als Fortschritt der Kommunikation präsentiert, inWirklichkeit nicht nur ein Rückschritt, sondern ein unglaublicher Archaismus ist. Die Welt auf einen einzige Raum zu reduzieren, auf einen Zustand, in dem sie keine

Beschleunigungssysteme mehr entwickeln kann, ist ein Unfall ohnegleichen, ein historischer Unfall wie es ihn nie gegeben hat. Wie es Einstein höchst treffend nannte, 'ein zweiter Motor'.Der erste Motor war der Atommotor, der zweite ist der Textmotor, nähmlich der Motor,

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welcher uns den absoluten Raum, den Grenzraum, um nicht zu sagen den Nullraum, d.h.den Echtraum bringt. Ich glaube, das was Sie über die Rechenleistung sagen gilt auch für dieFähigkeit, die Welt zu sehen, die Fähigkeit sie zu gestalten, sie zu lenken, aber auch sie zubewohnen.

Kittler: Wahrscheinlich gehen dann auch die beiden von Einstein bezeichneten Gefahren

historisch und systematisch zusammen. Es ist eine der grassierenden Ideologien von heute,zu behaupten, die Kommunikation würde durch die neuesten Hochtechnologien befördert.Wir wollten immer schon miteinander reden und nun kommt es besonders schnell, effizientund global über die Verteiler. In Wahrheit sind der Atommotor und die Computer beideProdukte des zweiten Weltkrieges. Kein Mensch hat sie bestellt, sondern die militärische undstrategische Situation des zweiten Weltkrieges hat sie notwendig gemacht. Also, es warenvon vornherein keine Kommunikationsmittel, sondern es waren Mitteln des totalen Kriegesund des strategisch geplanten Krieges.

Was jetzt als spin-off in die Bevölkerung hineingestreut wird, wobei ich nicht sagen würde, eswurde weltweit gestreut, sondern die Dominanzen der Distributoren sind natürlich klar Amerika, Kalifornien und Europa und Japan. Was ich nicht glaube, ist daß es schon die letzteGrenze erreicht hat, die Beschleunigung. Daß die Katastrophe sozusagen in der Unüberbietbarkeit der aktuell herrschenden Übertragungs- undBerechnungsgeschwindigkeiten steckt, sondern es ist immer noch strategischer undökonomischer Gewinn daraus zu ziehen, daß man ein System hat, das schneller ist als dasandere System. Es ist immer noch möglich zu unterscheiden zwischen geheimen Maschinenund öffentlich verkauften Maschinen, die sich durch ihre Geschwindigkeit unterscheiden,durch ihre Leistungsfähigkeit. Und es ist immer noch nicht ausgemacht, wie die Sachenweitergehen, weil die Lichtgeschwindigkeit zwar eine absolute Grenze, im Vakuumwohlgemerkt, ist, aber in den real existierenden Technologien läuft die Elektrizität substantielllangsamer als im Vakuum und es werden noch furchtbare Kämpfe laufen in RichtingBeschleunigung, optischer Schaltkreis anstelle von Silicium, das werden Faktoren voneinigen Millionen Beschleunigung sein, sodaß ich also Schwierigkeiten habe, die Apokalypsebereits eingetreten zu sehen.

Nur der Raum der Menschen ist, glaube ich, ein für allemal unterlaufen. Die Frage, die für 

mich brennend ist, ist wie Kultur und Politik darauf reagieren, auf die langsame Depositierungihrer eigene Mächte. Sie haben sich so auf die Alltagssprache und deren Langsamkeit, soauf die Nerven und deren Langsamkeit verlassen, und sind jetzt selber nicht mehr führbar ohne Maschinerien, die Entscheidungen vorbereiten und am Ende sogar noch treffen. Alsowie man als Philosoph und als Politiker reagiert.

Virilio: Sie haben völlig zurecht vorhin den zweiten Weltkrieg erwähnt, aus dem dieseTechnologien hervorgegangen sind. In der Tat muß man sagen, daß mit der InnovationAtommotor etwas ganz anderes erfunden wurde, das im übrigen heute eine Krise erlebt, ichmeine die nukleare Abschreckung. Muß man nun nicht in Zusammenhang mit diesemzweitem Motor, dem Texturmotor, Wege der Evidenz, und ich gebe zu bedenken, daß dieEvidenz in gewisser Weise eine Form von Radioaktivität ist. Das ist nicht nur eine Metapher,sondern ein konkretes Bild. Muß man also nicht bereits für das nächste Jahrhundert mit einer 

anderen Form der Abschreckung rechnen? Ich meine nicht die militärische Abschreckung,zur Verhinderung des Einsatzes des Atommotors, sondern eine gesellschaftlicheAbschreckung zur Verhinderung der Schäden durch den Fortschritt der Evidenz. Denn eineglobale Gesellschaft, die im Echtraum lebt, vom unmittelbaren Datenaustausch, istundenkbar. Oder halten Sie sie für denkbar?

Wenn ich Freunde höre, deren Namen ich hier nicht nennen möchte, die von einem riesigenWeltgehirn sprechen, in dem jeder einzelne Mensch nur noch ein Neuron ist, das auf anderen Neuronen reagiert. Der Mensch also nicht mehr ein irdisches, sondern einneuronales Wesen ist, muß ich genau daran denken. Sind wir nicht schon dabei, was unsereArbeitswelt angeht, unseren Wohnungsbau, eine gesellschaftliche Abschreckung zu erfindenund vorzubereiten. Das heißt eine Abschreckung, um die negativen Folgen dieser Augenblicklichkeit des Handelns und des Texts für die Ärmsten und Schwächsten zu

verhindern? Ist Ihrer Meinung nach eine Abschreckung der augenblicklichen und globalenTextur vorstellbar? Es geht für mich dabei um das Risiko einer Tschernobylkatastrophe mitschädlichen Folgen für die Lebensweisen der Menschen, für das Sozialverhalten. Gibt es

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nicht schon heute Hinweise auf eine solche soziale Desintegration, ein Auseinderfallen der Gesellschaft, von Paaren usw. Ist nicht die strukturbedingte Massenarbeitslosigkeit bereitsein Effekt, ein Niederschlag, fall-out dieses Texturmotors?

[...]

Immer wenn Technologien schneller gemacht wurden, gab es Akkumulation undKonzentration. Heute erleben wir einen Gigantismus der Konglomerate, der Monopole, imübrigen noch begünstigt durch den Wegfall der Anti-Monopolgesetze, der diese zentraleSteuerung überhaupt möglich macht. Zur gleichen Zeit da man uns erzählt, Dsitribution bringtuns die Freiheit an Ort und Stelle, erleben wir, wie sich ganz zufällig Trusts bilden, dieWeltkonzerne, keinen bloßen multinationalen Unternehmen mehr sind. Ich frage mich nun, obdurch diese Illusion der Freiheit durch Text nicht eine Einheitlichkeit der Welt larviert wird, diezulasten ihrer Vielfalt, ihres gedanklichen Erbes, ihrer Kultur ganz einfach, geht. Wir wissenwie das Medium, ganz gleich in welchen Fall, die Verlagerung vom Geschriebenen zumBildschirm, verarmt. Wir wissen um die Verarmung durch den Computer. Ob wir es wollenoder nicht, der Computer synthetisiert Text. Jeder der einen Synthesizer in der Musikverwendet, weiß genau, daß eine echte Geige anders klingt als ein Synthesizer. Und der Computer ist nichts anderes als ein Textsynthesizer. Der Textgehalt wird semantischreduziert. Die Synthetisierung des Texts, die Verarmung der Inhalte, wird aber nicht beachtet.Wie immer wird alles Negative verschwiegen, interessanterweise immer larviert. Wie kannman vorgeben, Technologien zu entwickeln, ohne sich auch gleichzeitig Wissen über damitverbundenen spezifische Unfallrisiken zu erwerben?

Kittler: Man muss es wahrscheinlich so machen wie Bill Gates und die Sachen so verkaufenals seien sie nicht die Sachen wie sie sind. Man verkauft Computer und sagt, das sindSchreibtische, desktops, oder man sagt, es sind Fernsehgeräte, oder die Fernsehgeräte der Zukunft. Auf diese Weise kann man die Maschinerien, mit ihren systemspezifischenSchwächen vernebeln und gut verkaufen.

Virilio: Die neuesten Technologien lassen den Raum in seiner Ausdehnung und Dauer verschwinden. Sie reduzieren die Welt auf ein Nichts, wie man sagt. Das ist ein tiefgreifender Verlust, auch wenn man es nicht zugibt, und niemals zugeben wird. Es gibt eine

Verschmutzung auch der Distanzen und der Zeiträume, die mich im Hier und Jetzt lebenlassen, an einem Ort und in der Beziehung zu anderen Menschen, die durch Begegnungenentsteht, nicht durch eine Präsenz, eine Konferenz oder Shopping. Was denken Sie über diesen Verlust? Setzen wir uns nicht damit selbst und der Welt ein Ende? Wenn es einigeakzeptieren können, die Ausdehnung im Raum zu verlieren, wie wir die Zeitdauer, die langeDauer, verloren haben.

Kittler: Ich sehe bis jetzt einen radikalen Verlust an Raum, weil sich das alles ja imMiniaturraum der Schaltkreise abspielt. Und der ganze Witz daran ist, ich habe immer nochSchwierigkeiten zu sehen, daß die Zeit wirklich geschluckt ist.

Mit dem Verlust der Nähe könnte ich leben, langsam. Wieder ein Beispiel aus dem Leben.Sobald man sich in UNIX begibt, dann ist man von Anfang an ein Mensch unter ungefähr 300

Programmen, von denen man bestenfalls 10 kennt. So im Lauf der ersten Monaten lernt mandann 20 Programme kennen, dann 40, dann 100. Dann ist man sehr überrascht daß man gar nicht mehr alleine ist, sondern mit 100 Programmen lebt, von denen man 20 braucht, undlangsam stellt man fest, daß man 2, 3 Programme nie kennengelernt hat, weil die imHintergrund laufen. Der Name dieser Programme ist übrigens 'Dämonen'. Die haben eineganz merkwürdige Nähe. Man sieht sie nie, sie tun aber immer etwas für einen, wie die Engelin Angelo Logi des Mittelalters und ich habe fast den Eindruck, als sollte man die altenSoziologenträumen langsam fallenlassen, in denen gesagt wird, die Gesellschaft ist eo ipsonatürlicherweise nur aus Menschen zusammengesetzt. Die Gesellschaft und die Nähen undFernen von Heute und Morgen und Übermorgen werden Menschen und Programme inirgendeiner seltsamen Mixtur einbeziehen. Das gibt, denke ich schon, Möglichkeiten der Nähe, weil die Programme ja manchmal nicht dumm sind, deshalb sind sie ja geschrieben,manchmal intelligenter als der Nachbar um die Ecke.

Virilio: Aber das ist doch ein Verlust. Jeder Neuerwerb geht mit einem Verlust einher. Jeder technische Fortschritt führt auch zu einen Verlust. Wir wissen doch sehr gut, daß heute der 

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Verlust sozialer Bindungen mit diesem Untergang, mit dieser Mißachtung des Nächstenverbunden ist. Der Nächste, also jemand der materiell existiert, der schlecht riecht, der langweilt, der stört, den kann man nicht wegzappen usw. Man hat sogar Deodorantserfunden, damit man ihn nicht riechen muß. Das ist im übrigen ein Grund für die Krise der Städte heute, der bevölkerten Oerte. Ob Seefahrer, Menschen der Wellenmechanik oder Menschen der Erde, es gibt einen Ort, an dem bevölkert wird, an dem man lebt.

Heute aber ist es nicht der Nächste sondern der Entfernte, der bevorzugt wird, derjenige der in diesem seltsamen Fenster, auf diesen seltsamen Bildschirmen erscheint. Das reicht sogar bis in die Ehe hinein. Das sieht man doch an den sogenannten getrennt lebenden Paaren,Männer und Frauen, die in getrennten Wohnungen leben, als seien sie bereits geschieden.Und die Kinder lernen dabei ganz nebenbei, ständig zwischen Vater und Mutter hin und her zu pendeln. Und das ist nur der Anfang, denn der Sex beweist uns schon, daß mandemnächst auf Distanz miteinander verkehren kann, d.h. wirklich seinen Entfernten liebenwie sich selbst, weil die echte Frau, die man hat, langweilig ist und weil Präservative nichtsehr zuverlässig sind. Da haben wir doch ein Universalpräservativ.

Wir haben eine Technologie erfunden mit der man sich über tausende von Kilometern hinweglieben kann, ohne sich zu berühren. Ist das nicht eine Metapher des Zerfalls? Ich meine nichtnur der Trennung von Paaren, sondern der Trennung sozialer Bindungen, ja sogar nicht nur der Trennung zwischen zwei Menschen, sondern des Kopulationsaktes selbst. Ist das nichtbereits ein Effekt des Texturmotors? Ich habe wirklich den Eindruck, daß das 19.Jahrhundert, die Kernphysik, der Zerfall der Materie, ebenso wie die Kunst, der Pointillismus,der Divisionismus und natürlich auch die Fraktalgeometrie, auch gesellschaftlicheAuswirkungen haben. Das heißt, dieser Zerfall betrifft auch die Sozialstruktur, den Einzelnenselbst, bzw. die Zweierbeziehung des Paares, das ja die eigentliche Grundlage der Schöpfung der Menschheitsgeschichte ist, denn die Demographie ist ja ein die Geschichtegestaltendes Element. Das ist doch von gewisser Bedeutung, oder nicht? Denn ich habenichts gegen Programme, aber ich wünschte mir, sie würden auch von den Männern undFrauen sprechen. Was meinen Sie dazu?

Kittler: Die Fraktalgeometrie ist erfunden worden, um die euklidische Geometrie etwaskomplizierter zu machen. Plötzlich eine Welt, die nicht mehr bloß mehr aus Rechtecken und

Kreisen und geraden Linien besteht, sondern eine Welt, die aus Wolken besteht und all denschönen Dingen, denen vermutlich auch das menschliche Fleisch relativ nahe steht. Euklidwürde etwa entsprechen den Verfahren, wie im 18. Jahrhundert junge Rekruten gedrilltworden sind. Das hat Foucault, und Sie selbst, sehr schön gezeigt, die gerade Haltung desRekruten, der selber eine Linie bilden soll in seinem Regiment, in seiner Kampflinie. Heuteentsteht eine neue, Chaosmathematik und das könnte ein Modell sein, das nicht unbedingtalle Paare auseinanderreißt, sondern die Komplexität von Individuen besser beschreibt.

Und die Theorie der Rückkopplung könnte ja, wenn's gut ginge, auch die Beziehungzwischen Paaren besser beschreiben. Grob gesprochen, die Freudsche Theorie desVerhältnisses von Frauen und Männern scheint mir dümmer zu sein als die Theorie, dieBateson auf der Basis von Rückkopplungsschleifen gemacht hat. Zu zeigen, daß wenn ich zudir das sage, und du wieder das sagt, und ich daraufhin das sage, weil du mir das gesagt

hast und ich das im guten und bösen Sinne hochschaukeln kann, scheint eine vielvernünftigere Beschreibung von Sozialbeziehungen zu sein, als die Beschreibung mitinternen Imagines, die einen ewigen, lebenslangen Krieg gegeneinder führen. So eineRückkopplungsbeschreibung von Beziehungen ist selbstverständlich basiert auf Nachrichtentechnik und ist nicht aus der Psychologie abzulesen gewesen, als sie auftauchte.Die Modelle, die heute verfügbar sind, um Komplexität zu beschreiben, sind besser alsvorher. Warum die Leute dann trotzdem ins Unglück laufen in ihrer Einsamkeit, vielleichtauch ich selbst, ich sitze oft lieber am Computer, als daß ich andere Sachen mache oder mich unterhalte, das muß irgendwie die Faszination von Macht sein, so wie früher Leute ihreLiebe von ihrer Frau abgewendet haben und auf ein Bild von Jesus oder Maria gelenkthaben, so geht das heute in die Technologien hinein.

Virilio: Ich glaube tatsächlich, daß heute eine neue Kaste von Technologiemönchen

heranwächst, und daß es in der Tat heute Klöster gibt, die dabei sind, einer 'Zivilisation' denWeg zu bereiten, die gar nichts zu tun hat mit der Zivilisation unserer Erinnerung. Die Arbeitwird heute nicht wie im Mittelalter gemacht, sondern durch die Aufarbeitung des Wissens wie

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zu früheren Zeiten, der Antike. Der Beitrag der Mönche zur Wiederentdeckung der Antike ist ja bekannt. Es sind Technologiemönche an der Arbeit und nicht etwa Mystiker, die allesdaransetzen, eine neue Gesellschaft ohne Bezugspunkte zu schaffen. Wir haben es zu tunmit einem technischen Fundamentalismus, nicht nur mit einem mystischenFundamentalismus, im Sinne von Monotheismus, sondern im Sinne einesTexturmonotheismus. Nicht mehr mit dem Monotheismus der Schrift, des Korans, der Bibel,

des neuen Testaments, sondern des Texts im weitesten Sinne.Und damit verbunden ist meiner Meinung nach die große Gefahr, eine Entgleisung, desAbgleitens ins Utopische, in eine Zukunkft ohne den Menschen. Und das macht mir Sorgen.Ich glaube, aus diesem Fundamentalismus entsteht Gewalt, Hypergewalt.

Kittler: Ich sehe es genauso. Er ist aber wahnsinnig spannend, dieser neue Integralismus.Natürlich vergessen die Leute, die das alles programmieren, die Geschichte Europas, die dasmöglich gemacht hat. Wenn man diese Geschichte wieder bedenkt, kann man sehr klar sehen, wie das präzise vor allem aus der Gutenbergischen Erfindung des Buchdrucks undder modernen Algebra herausgekommen ist. Beide sind ungefähr gleichzeitig um 1450-1500entstanden. Der Buchdruck konnte alles kopieren und abschreiben und die Algebra konntealles berechnen, aber die beiden liefen nicht zusammen. Wenn man schrieb, mußte manimmer noch Polizei oder Liebe einsetzen, damit die Leser taten was man beschrieben hat.Wenn man programmiert, dann tritt ein richtiger Integralismus auf. Man schreibt nicht nur,sondern das, was man schreibt, wird getan vom Programm.

Wenn die Digitalrechner keine internen Grenzen hätten, dann würden sie wirklich dieWeltgeschichte zu Ende bringen, in all den Punkten, die Sie gesagt haben: der Raum ist nichtmehr der Raum des Menschens, sondern ist ein Gang in diesen kleinen Wunderdingen. Aber wenn diese Wunderdinge selber Schranken haben, dann kann man sich problemlos ein 22.oder 23. Jahrhundert vorstellen, in dem das Prinzip der Digitalmaschinen nicht gerade über Bord geworfen wird, aber ergänzt wird durch irgendein neues, zu erfindendes Prinzip.

Virilio: Wäre es aber nicht an der Zeit, daß diejenigen, die Maschinen bauen und ihreVorzüge loben, nicht die, die sie verkaufen, meine ich, sich zusammentun um diese Grenzeauszutesten, diese Schadwirkung, dieses spezifisch Negative der Textur. 1888 trafen sich die

Erfinder der Eisenbahn, die Erbauer der Schienennetze Europas, in Brüssel. Warum? Weildie Entwicklung der Dampfmaschinen voranging, die Lokomotiven immer leistungsstärker wurden, die Tiefbauingenieure immer phantastischeren Tunnelbauwerke konstruieren undschwingungsfeste Stahlbauwerke baun konnten usw. usf.

Aber es gab ein Problem. Die Verkehrsführung hielt nicht schritt mit der Leistungsentwicklungder Maschinen. Darum trafen sie sich alle in Brüssel und erfanden das, was man heute dieVerkehrsleittechnik nennt. Man entwickelte das sogenannte Blocksystem. Das Wort gefälltmir übrigens. Wenn der TGV heute gut funktioniert, dann deshalb, weil es das Blocksystemgibt und die Signalerfassung im Führerstand des Zuges. Das bedeutet, es gibt praktischkaum noch Unfälle. Man ist vom Negativen ausgegangen um das zu regeln, was nichtfunktionierte, nähmlich den Verkehr. Man hat Gleiskontakte erfunden, Fahrsignale, dasbereits war eine Form der Daten- und Signalverarbeitung die hoch entwickelt war.

Warum gibt es also heute angesichtlich der schädlichen Folgen der Arbeitslosigkeit, der Fehlentwicklungen im Städtebau, warum gibt es kein Colloquium über diese Kehrseite desinformationstechnischen Fortschritts? Warum beschäftigen wir uns nicht, ähnlich wie dieIngenieure des 19. Jahrhundert das spezifischen Unfallsrisikos der Eisenbahn, nähmlich der Entgleisung, annahmen, heute mit dem spezifischen, zugegeben, immateriellenGefahrenpotential der Verteiler, der Entstehung einer Sozialkybernetik. Wenn ich mich rechtentsinne fürchteten bereits Alan Turing und Norbert Wiener die Anwendung der Sozialkybernetik auf die Gesellschaft. Und uns erzählt man heute, das sei der Fortschritt.Distribution, die kybernetische Regelung des Soziallebens sei der Gipfel der Demokratie.

Mir scheint, es wäre an der Zeit, daß diejenigen, die an den Programmen arbeiten, sich auchmit einem Gegenprogramm beschäftigen, um die Grenzen dieses Prozesses auszuloten.

Aber warum verwenden sie ihre Intelligenz nicht darauf, die Technik in Auseinandersetzungmit ihren negativen Seiten weiterzuentwickeln? Warum verschleiern sie immerzu dieErbsünden dieser Technik, während man doch den Schiffbau vorangebracht hat, indem man

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die Schiffe wasserdicht machte, die Flugzeugtechnik, indem man die Motoren besser steuerbar machte, und natürlich durch die Flugüberwachung und die Fluglotsen. Warum gibtes sowas nicht?

Kittler: Ich habe eine einzige Antwort, die aber völlig idiosynkratisch ist. Ich kenne keineeinzige größere Firma, die in den Händen von Leuten wäre, die die Sachen selber 

programmieren. Sondern die Leute, die programmieren, die also wissen wo die Negativitätder Systeme sitzt, werden grundsätzlich als Programmiersklaven gehalten, das ist einAusdruck in der Branche, tut mir leid. Und die Leute, die Propaganda machen, denen dasgehört, wie Bill Gates, haben vielleicht vor 20 Jahren fünf Zeilen geschrieben und das danngelassen. Dieser Schnitt verhindert eigentlich Diskussionen, diese Negativität, und die Leute,die Sie vorhin zitierten, sind eigentlich freie Wissenschaftler, die sich als Physiker Gedankenmachen, die aber nicht in der Industrie tätig sind. Vielleicht wenn Europa so seßhaft ist,könnte wenigsten das seine Aufgabe sein, daß wir hier eine Diskussion mit den Leuten, diedie Systeme bauen, planen und entwerfen, veranstalten.

Virilio: Warum nicht in Brüssel? Weil eben doch auch die Blocksystemkonferenz in Brüsselstattfand. Ich glaube, Sie haben eben das entscheidende Wort genannt, 'Unternehmen'.Textur kann kein Unternehmen sein, sie ist die eigentliche Materie der Welt. Was wir geradetun hat nichts mit unternehmen zu tun, das ist ein Dialog, ein Gespräch. Wie kann man aber die Frage des Texts auf Unternehmen beschränken? Mehr noch, auf Unternehmen, die sichauf ein absolutes Monopol hinentwickeln? Wir stehen vor einem Phänomen der Tyrannei,einer Tyrannei des Raums, des Texts, der ja ein Alltagsprodukt wie der elektrischen Stromsein sollte. Wenn aber etwas kein Alltagsprodukt ist, dann doch der Text. Wir stehen vor einem Phänomen der Materie, ihrer Maße und Energie, die ihrem Wesen nach dieGeschichte und das Sein konstituiert. Sprache und Sein ist dasselbe. Sein ist sprechen. Daslateinische Wort für Kind, 'Infant', bedeutet doch, 'der nicht spricht'. Man hat also aus demText ein Fertigprodukt gemacht, ein Weltunternehmen.

Kittler: Das ist die Katastrophe. Das Zusammenschmeißen eines alten, aus der Göthezeitstammenden Copyright und Eigentumsrechts an geistigen Produkten mit den neuenEntdeckungen der digitalen Maschinen. Die Definition war die einer Maschine, die alleanderen Maschinen imitieren kann. Diese Definition schafft eigentlich jedes Urheberrecht und

 jedes geistige Eigentum ab, weil es genau diese Maschine ist, die jede andere Maschine,auch uns, in dieser Hinsicht, sofern wir denken, imitieren kann. Das war, glaube ich, dasgroße englische Gift, das kurz vor dem zweiten Weltkrieg erfunden ist und dieses Gift istnach Amerika importiert worden, und das Problem für Amerika war, daraus ein profitablesGeschäft zu machen. Und das scheint in den letzten 50, 60 Jahren wunderbar geklappt zuhaben.

Die skandalösesten Meldungen, die mich erreichen, beziehen sich darauf, daß es jetztmöglich ist in den USA, mathematische Gleichungen zu patentieren. Wenn das geschafft wirdund wenn amerikanische Konzerne das europäische Urheberrecht an Software in diesemamerikanischen Sinne modifizieren, dann ist genau das Gegenteil erreicht von dem, wasdamals die Leute wollten, die die Turingmaschine geschaffen haben. Das ist eine realeDrohung, weil der Text nicht privat sein kann und nicht in Eigentum sein kann. Ich glaube nur 

nicht, daß diese Strategie auf die Dauer wird aufgehen können, weil die Maschinen wirklichproliferieren, wie Atommotoren und alle anderen, weil es nicht kontrollierbar ist und weil imPrinzip darin die allgemeine Imitierbarkeit steckt, dürfte die Software nicht patentierbar sein,auf die Dauer also nicht schützbar. Und was die Hardware angeht, also die Maschinerieselbst, es ist ja so, daß die Herstellungskosten ständig fallen, mit dem Resultat, daß in 10Jahren die heute noch unerschwinglichsten Maschinen für einen Pfennig oder einen Franc zuhaben sein werden. Das ist die andere Dimension, die wirklich dafür sorgt, daß, ich sagenicht Demokratie, aber zumindest Nicht-Eigentum vielleicht die Hoffnung sein könnte.

Virilio: Wir sollten vor den archaischen Instinkten derer warnen, die heute vorgeben, eineglobale Textwelt zu entwickeln, ohne zu analysieren, inwieweit die inhaltliche Reduzierungeine destruktive Wirkung hat. Nicht nur auf Kleinunternehmen, auf tausende und millionenArbeitslose, sondern auf das, was die Geschichte des Sozialwesens ausmacht, nämlich sein

gedankliches Erbe und seine über Jahrtausende geformte Struktur. Darin liegt ein regulativesElement. Entweder dieses Gedächtnis ist nicht lediglich das tote Gedächtnis der Massenspeicher eines Computers, sondern das lebendige Gedächtnis der Arbeitsspeicher 

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der Menschen, oder es gibt gar kein Gedächtnis mehr, nur noch Gewalt. Und dann läuftwirklich der Texturmotor und es entsteht die Notwendigkeit, und das wäre ein wahres Drama,einer sozialen Abschreckung. Und im Vergleich dazu wären die vierzig Jahre der nuklearenAbschreckung, glaube ich, so gut wie gar nichts. Etwas sehr viel gefährlicheres als das, waswir vor 40 oder 50 Jahren erlebt haben, etwas das in seinem Totalitarismus sehr vielgefährlicher wäre als z.B. der Nationalsozialismus oder der Stalinismus.

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