16
Dieses Buch wurde gefordert m it Mitteln des im Rahmen der Exzellcnzinitiative des Bundes und der Lindcr eingerichteten Exzellenzclusters der U niversitat Konstanz ,.Kulturelte Grundlagen von Integration". Flucht und Szene Pcrspektiven und For men eines Thcaters der Fliehenden Herausgegeben von Bettine Menke und Juliane Vogel Rechcrchen 135 © 2018 by Theater der Zeit Texte und Abbildungcn sind urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung, die nicht aus- driicklich im Urheberreclus-Gesetz zugclassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Vcrlages. Das gilt insbesondere fi.ir Vervielfaltigungen, Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikro- verfilmung und die Einspeisung und Vcrarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Muller 72 110405 Berlin I Germany www. thcaterderzei t.de Redaktion: Anika Hoppncr, An ita Martin Covcrabbildung: Still aus Hava.-ie, Philip Scheffner, Deutschland 2016 Gemltung: Sibyll Wahrig Printed in Germany ISBN 978-3-95749-119 -0 FLUCHT UNO SZENE Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden Herausgegeben von Bettine Menke und Juliane Vogel "/. ·. . ' . •' Theater der Zeit Recherchen 13 5

Dieses Buch wurde gefordert m it Mitteln des im Rahmen der ... · \VCI ' l . Aristoteles' Poetik vertraut war, aber eine zumindcst indirekte llli ' Bekanntschaft scheint zunehmend

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Dieses Buch wurde gefordert m it Mitteln des im Rahmen der Exzellcnzinitiative des Bundes

und der Lindcr eingerichteten Exzellenzclusters der U niversitat Konstanz ,.Kulturelte

Grundlagen von Integration".

Flucht und Szene Pcrspektiven und For men eines Thcaters der Fliehenden

Herausgegeben von Bettine Menke und Juliane Vogel

Rechcrchen 135

© 2018 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungcn sind urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung, die nicht aus­

driicklich im Urheberreclus-Gesetz zugclassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des

Vcrlages. Das gilt insbesondere fi.ir Vervielfaltigungen, Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikro­

verfilmung und die Einspeisung und Vcrarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Muller

Winsstra~e 72 110405 Berlin I Germany

www. thcaterderzei t.de

Redaktion: Anika Hoppncr, An ita Martin

Covcrabbildung: Still aus Hava.-ie, Philip Scheffner, Deutschland 2016

Gemltung: Sibyll Wahrig

Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-119-0

FLUCHT UNO SZENE

Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden

Herausgegeben von Bettine Menke und Juliane Vogel

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Theater der Zeit

Recherchen 13 5

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f' ' .

--lnhalt lnhalt

juliane Vogel, Bettine Menke

Das Theater als transitorischer Raum

Einleitende Bemerkungen zum Verhaltnis von Flucht und Szene

I.

FLUCHT UNO SZENE IN OER ANTIKEN TRAGOOIE

Susanne Godde

Asyl als Ubergang

Transitraume in der griechischen Tragi.idie

Winfried Schmitz

Die Schutzflehenden des Aischylos und

das Asyl im klassischen Athen

Rudiger Campe

Flucht und Fi.irsprache in Aischylos' Orestie

Christopher Wild

Davonkommen: Aus Troja und anderswo

Hans-Thies Lehmann

Entscheidung fi.ir das Asyl

11.

TRANSFORMATIONEN VON FLUCHT UNO SZENE

Christina Wald

,And here remain with your uncertainty"

Paradoxien des Raumes in Shakespeares Hikesie-Tragodie

Coriolanus

Katrin Trustedt

,How came that widow in?"

Entzogene Fluchtgeschichten auf der Bi.ihne

juliane Vogel

Fluchta uftritte

Goethes Theater des Asyls

7

26

49

75

98

118

140

167

188

Bettine M enke Agon und Theater 203 Fluchtwege, die Sch(n)eidung und die Szene-

nach den aitiologischen Fiktionen F. C. Rangs und W. Benjamins

Nikolaus M uller-Scholl

Theater der Flucht- Theaterflucht

Brecht und die Krise der Menschenrechte

Ill. ZWISCHENRAUMLICHKEIT UNO FLUCHTAUFTRITT

Ulrike Hafl

Ankunft zu Vielen

jorn Etzold

Graser, Wolken, Wind

Die Szene der Flucht in den Empedokles-Filmen

von Huillet und Straub

Friedrich Balke

Standbilder einer Flucht

Havarie und die dokumentarische Arbeit an einer

Daseinsmetapher

Evelyn Annufl

Szenen des Banopticons

Ewelina Benbenek, Martin jorg Schdfer

Das Spiel mit den Grenzen

Flucht und die Hamburger Theaterszene zwischen

2013 und 2016

Abbildungsverzeichnis

Kurzbiographien

242

262

281

305

328

348

375

377

I

11

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Christina Wald

,AND HERE REMAIN WITH YOUR UNCERTAINTY"

Paradoxien des Raumes in Shakespeares Hikesie-Tragi:idie Coriolanus

,[A] traitorous innovator, I A foe to th'public weal". (3.1.175 f.)I So

wird Caius Martins, der Protagonist von William Shakespeares wahr­

scheinlich letzter Tragodie vom romischen Yolk angeklagt und a us Rom

verbannr trotz seiner militarischen Heldentaten, die ihm den Ehrenna­

men Coriolanus nach der von ihm eroberten volskischen Stadt Corioli

eingebracht haben. Diese Anklage der ,verraterischen Innovation' ist

auch relevant fi.ir Shakespeares Tragodie selbst, die in der Forschung

immer wieder als ein miss!ungenes Formexperiment betraclnet wurde,

selbst wenn man anerkennt, class Shakespeares Dramen ohne Anspruch

auf die Einhaltung einer Regel-Poetik geschrieben sind. Coriolanus wird

im Vergleich zu Shakespeares anderen Tragodien als revolutionar, defizi­

tar, abweichend betrachtet.2 Eines der Hauptargumente fi.ir diese ,verra­

terische Innovation' oder gar ,Verbannung' der Gattung ist die Konzep­

tion des tragischen Protagonisten, in dessen Inneres Zuschauern sehr

wenig Einsicht gewahrt wird, 3 was die tragischen Identifikations- und

Mit!eidenserwartungen unterlauft, 4 und dessen Verhalten in den Augen

mancher Kriti.ker die tragische Katastrophe eher als verdiente Strafe

denn als schuldlos-schuldige Verstrickung erscheinen lasst. 5

Die Anklage der ,traitorous innovation" ist innerhalb der Rahmen­

handlung auch insofern bemerkenswert, als Coriolanus' unterstellter

Umsturzversuch der romischen Republik weniger eine Innovation denn

eine Restitution darstellt: Die Tribunen klagen Coriolanus an, die gerade

erst etablierte (moderate) politische Mitbestimmung des Volkes durch

eine Volkstribunats-Struktur wieder abschaffen zu wollen und eine

Alleinherrschaft anzustreben. Im Hinblick auf Shakespeares Formexpe­

riment ist es ebenso aufschlussreich, seine Gattungsinnovation auch als

Ri.ickwendung zu fri.iheren Mustern der Tragodie zu untersuchen. Ins­

besondere Coriolanus' Ankunft in der Fremde nach der Verbannung aus

Rom und die spateren Schutzbitten von Seiten der Romer weisen bemer­

kenswerte Parallelen auf zu den Inszenierungen der antiken Schutzbit­

ten, die auch den europaischen U rtext des Theaters der Fliehenden

140

l•turieren Aischylos' Hiketiden. Bisher konnte nicht nachgewiesen stru , '

·de11 class Shakespeare mit anti ken griechischen Tragodien oder auch \VCI '

l. Aristoteles' Poetik vertraut war, aber eine zumindcst indirekte llli '

Bekanntschaft scheint zunehmend wahrscheinlich.6 In der folgenden

u ntersuchung von Coria/anus als Hikesie-Tragodie pladierr diescr Bei­

trag dafiir, die Strukturanalogien zwischcn den Hiketiden und Coriola­

nus auf Shakespeares griechisch-romische Quellen zuri.ickzufi.ihren,

denen er die antiken Codes der Hikesie, des Bittens urn Schutz und Auf­

nalune in eine fremde Gesellschaft, entnehmen konnte. 7 Coriolanus lasst

sich als spezifisch fri.ihneuzeitliche Amalgamierung der antiken grie­

chischen und romischen Traditionen lesen, wie Shakespeares wichtigste

Quelle bereits signalisiert: Plutarchs Bioi paralleloi aus dem spaten ers­

ren und friihen zweiten Jahrhundert n. Chr. vcrgleicht gricchische und

romische Figuren in einer Struktur von Parallelbiographien. Seine

Coriolan us-V ita beschreibt m it ethnographischem In teres se die Situa­

tion in der fri.ihen romischen Republik aus der Sicht des griechischen

Biographen8 und orientiert sich dabei vor allem an der Geschichtsschrei­

bung von Dionysios von Halikarnass, veroffentlicht 7 n. Chr. als

Romaike Archaiologia. Auf Basis der franzosischen Plutarch-Uberset­

zung von James Amyot von 1559, Vies paralleles des hommes illustres,

i.ibertrug Thomas North schlieElich 1579 in Lives of the Noble Grecians

and Romans Plutarchs Coriolan-Biographie in den fri.ihneuzeitlichen

englischen Konrcxt. 9 In diesem gestaffelten transkulturellen und trans­

medialen Adaptions- und Ubersetzungsprozess kann Shakespeare via

North, Amyot, Plutarch und Halikarnass auf das ritualisiertc verbale

und gestische Hikesie-Inventar der griechischen Tragodie zuri.ickgrei­

fen, das sowohl politisch als auch psychologisch brisant und damit fi.ir

seine Dramatisierung der romischen Historic poetisch auEerst produk­

tiv war. 10

Die Verbannungsszene in Coriolanus ist fi.ir eine formsemantisch

interessiene Lekti.ire der Konstellation von Flucht und Szene auf­

schlussreich, weil sie ein etablicrtes und szenisch produktives Plot-Ele­

ment des Theaters der Fliehenden und Exilierten seit der Antike ist,

,dramatic almost to excess"", ab er auch, weil Shakespeares Inszcnie­

nmg des Topos spczifische Variationen aufweist. Aufgrund einer Intrige

der Volkstribune wird Coriolanus i.iberraschend verbannt wahrend eines

i.iber mehrerc Szenen gedehnten Akklamationsprozesses, in der die Ple­

bejer ihn eigentlich als Konsul bestatigen sollen in Anerkennung seines

triumphalen Sieges i.iber die Volsker. Diese Verbannung ist das Resultat

einer innerdiegetischen lnszenierung eines tragischen Wendepunktes,

insofern die Tribunen Coriolanus' Klassenhass und Jahzorn so zu mani-

141

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,And here remain with your uncertainty"

pulieren wissen, class dessen unbcdachte AuBcru11gen in der Offenrlich­

keit seine Verbannung politisch durchsetzbar machen. Das tragi che

Wendung-zu,:- Katastrophe-ftandlungsmu ter wird hier zu einer poli­

tiscb srrategischen Inszenieruug des Proragonisren cinges . tzr, cl er clurch

seine hamartitl so leicht i.n seine ,sure destruction" zu teuern sei ., ta)s

ro set dogs on sheep" {2.1.25 .l), wie die Tribunen sicb bereir v rab brlis­ten.

N eben dies er metatheatralen Komponente besteht die Variation des

Verbannungswpos vor allem in Coriolanu s' UJlgewohnlicher Reaktion,

die Shakespeare nicht Plutarch entnchmen konnte. Coriolanu verbanm

seinerseits in einer ,peripety-atop-peripety" 12 die Romer in einer won­

gewaltigen Rede, was eine anmaGende Aneignung des i.iblichen, staatlich

sanktionierten Verfahrens bedeutet und einen Bruch mit den Konven­

tionen des Sprechaktes,u gleichzeitig aber auch die UnrechtmaGigkeit

der vorangegangenen Verbannung von Coriolanus widerspiegelt: Seine

Verurteilung war selbst nicht das Ergebnis einer kontrollierten Verfah­

rensformigkeit (anders als bei Plutarch, der einen geregelteren, wenn

auch ebenfalls manipulierten Ablauf beschreibt), sondern das Resultat

einer politischen Intrige, die die Wut des Volkes zum Staatswillen

ummi.inzt und Coriolanus wie ein Tier a us der Stadt hetzt: 14

142

Brutus: There's no more to be said, but he is banished

As enemy to the people and his country.

It shall be so.

All Citizens: It shall be so, it shall be so!

Coriolanus: You common cry of curs whose breath I hate

As reek o' th' rotten fens, whose loves I prize

As the dead carcasses of unburied men,

That do corrupt my air, I banish you.

And here remain with your uncertainty!

Let every feeble rumour shake your hearts;

Your enemies with nodding of their plumes

Fan you into despair! Have the power still

To banish your defenders till at length

Your ignorance- which finds not till it feels,

Making but reservation of yourselves,

Still your own foes - deliver you as most

Abated captives to some nation

That won you without blows! Despising

For you the city, thus I turn my back.

There is a world elsewhere. (3.3.116- 134)

Christina Wald

[1-l]c is banis hed I As enemy eo the peop le and his country." - ,I banish

~<ll'· 1 And here remain with your unccrt<~inty!" Durch diese gegensei­

d e Vcrbannung croffnct das Drama eine doppelte Perspelnive, nach der

c;rweder Coriolanus der .:.xilicrte und Schurzbedlirftige isr oder die

Romer selbst aus ihrer Heimat verbannt wurden und des Schutzes

bediirfcn, weil Coriolanus nun Rom verkorpert. Damit wird die politi­

sche Parteinahme der Handlung ambivalent und Shakespeare fi.ihrt ein

Gattungsexperiment fort, das er bereits mit fri.iheren historischen Trago­

dien begann, wie Andreas Mahler fi.ir Julius Caesar gezeigt hat, indem er

den Fokus auf die ,epistemic inconsistencies of the plot pattern [of

restitution] itself" setzt.l' Dadurch, class die Dramenhandlung von

Coriolanus nach der gegenseitigen Verbannung die Ereignisse aus

widerspri.ichlichen Perspektiven darstellt, beleuchtet sie die epistemi­

schen Unvereinbarkeiten der doppelten Restitutionshandlung, in der die

Volkstribunen und Coriolanus kontrare Plane der politischen Wiederer­

richtung Roms verfolgen. lb

Diese doppelte Perspektivierung der Handlung und die epistemi­

schen U nvereinbarkeiten der kontraren Restitutionshandlungen gehen

einher mit der Paradoxierung des theatralen Raumes, die Coriolanus in

seiner Verbannungsrede programmatisch proklamiert: ,And here

remain with your uncertainty!" Rom wird als Setting potentiell insta­

bil, ungewiss, prekar, denn durch die gegenseitige Verbannung wird es

paradox konzeptualisiert als zugleich Rom und Ort des Exils: Ist ,the

despised city' noch Rom, nachdem Coriolanus aus ihr verbannt wurde?

Werden wir im Folgenden Zeugen der semantischen und dramaturgi­

schen , transformation of Rome into a place of exile", die Coriolanus

anki.indigt? 17 Ist Coriolanus nun der Inbegriff dieser Stadt, tragt er sie

mit sich und macht damit die Zuri.ickgebliebenen zu Verbannten, zu aus

Rom Ausgeschlossenen? Wird Rom so exponiert in die ,world

elsewhere'? Was wi.irde dies er Export fi.ir Rom bedeuten, ab er auch fur

den Ankunftsraum auGerhalb Roms? A us der Perspektive des Protago­

nisten ist die Zukunft der von ihm zuri.ickgelassenen Stadt besiegelt: Er

antizipiert die militarische Unterwerfung der in ihrem Selbstverstand­

nis uneinnehmbaren Stadt als ,as most I Abated captives to some

nation". Dass die se erobernde Nation unbestimmt bleibt (,some

nation") verstarkt die von Coriolanus gesate ,uncertainty' Roms auf der

Ebene des Plots (und erzeugt fi.ir Zuschauer, die mit der Coriolanus­

Legende vertraut sind, dramatische Ironie in der Vorwegnahme von

Coriolanus' eigcnen spateren Eroberungsplanen, die er selbst als

Anfi.ihrer einer nicht genau national zu bestimmenden Koalition durch­

fi.ihren will).

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,.And here remain with your uncertainty"

Die Dramenhandlung folgt jedoch zunachst der Perspektive der

Volkstribune Roms und zeigt Coriolanus' Weg in die Verbannung, in

einen liminalen Raum der Unbestimmtheit. Auch die raumliche Drama­

turgic vollzieht den Prozess von Coriolanus' gradueller Dislokation

nach: Nach der Verbannungsszene im Zentrum Roms in 3.3, zeigt die

darauf folgende Szene Coriolanus' Abschied von Familie und patrizi­

schen Freunden in 4.1 an den Stadttoren, anschlieilend eine Begegnung

zwischen seiner zuri.ickkehrenden Familie und den Tribunen in 4.2, ein

erstes Schlaglicht auf Rom ohne Coriolanus, das anders als bei Plutarch

nach der Verbannung seine politische und militarische Stabilitat

zunachst erhalt. 18 In 4.3 bewegt sich die Handlung in einen Zwischen­

raum und zeigt die Begegnung zweier Spione zwischen Rom und

Antium. Damit folgt die raumliche Dramaturgic der graduellen Entfer­

nung des Protagonisten von Rom, der selbst zunachst off-stage bleibt,

und sein Weg in die Verbannung damit, anders als bei Plutarch, durch

raumlich unbestimmte ,terra incognita" 19 fuhrt, bevor Coriolanus in 4.4

vermummt in Antium eintrifft.

Zuschauer sehen Coriolanus in dieser Szene erstmals wieder auiler­

halb Roms im entscheidenden Liminalitatsmoment vor dem Eintritt in

das Haus des Gegners, der fur ihn radikal unsicheren und ungewissen

,world elsewhere". Shakespeare verstarkt diese Ungewissheit durch die

soziale Isolation des Verbannten, der anders als bei Plutarch nicht

begleitet wurde. 20 In seinem einzigen Soliloquy reflektiert der Protago­

nist uber die bevorstehende Transgression, die entweder seinen Tod oder

seine Integration in eine neue Gesellschaft bedeuten kann:

Coriolanus: I'll enter. If he [Aufidius] slay me

He does fair justice; if he give me way,

I'll do his country service. ( 4.4.24 ff.)

Shakespeare betont hier wie in anderen seiner displacement-Dramcn

, the fundamental insecurity of arrival" ,21 die Kontingenz und radikale

Offenheit dieser Situation des Ankommens in der Fremde.

Die genaue dramaturgische Strukturierung dieses Moments des

Ankommens in der Fremde lasst sich, so mein Argument, im Ruckgriff

auf die Konventionen der antiken griechischen Kultur und Tragodien

erschlieilen, die Shakespeare aus Plutarch ubernommen und dramatisch

zugespitzt hat. John Gould hat in seiner Untersuchung des Hikesie­

Rituals in der antiken griechischen Kultur die Ankunft des Fremden fol­

gendermailen skizziert:

144

Christina Wald

The l;t'voc;, the outsider who does not belong, is a man without a role

[ ... ] - one who, in a fundamental sense, does not know how to

behave and to whom the members of the group do not know how to

behave either: from his point of view, everything is at risk and not­

hing can be taken for granted; from the point of view of the members

of the group he constitutes an unsettling threat who cannot be ,pla­

ced' and whose behaviour, therefore, cannot be predictedY

Gould erlautert die ordnungsstiftende, regulierende Kraft von Ritualen

und daraus stammenden sozialen (und tragischen) Konventionen wie den

Regeln des Gastrechts und der Hikesie, die Verhaltensmuster definieren

und damit diese politisch hochriskante, kontingente Begegnung zwi­

schen Fremden strukturieren und entscharfen, vor allem indem sie die

Herkunft des Dislozierten ldaren und ihm einen neuen Ort zuweisen.

Im Hinblick auf die gewahlte Auftrittsform fur die prekare Ankunft

in der Fremde ist Coriolanus' erster Satz, nachdem er das Haus von Tul­

lus Aufidius, dem Anfuhrer der Volsker, betreten hat, aufschlussreich:

,A goodly house. The feast smells well, but I I Appear not like a guest"

( 4.5.5 f.). ,I appear not like a guest" verweist darauf, class Coriolanus

weder zu dem Gastmahl eingeladen ist, noch den kulturellen Erwartun­

gen an einen Gast entspricht in Anbetracht seines korperlichen Zustan­

des und seiner einfachen Kleidung, wegen der die Diener ihn fUr einen

Bettler halten. Zugleich ist der Satz aber auch selbst-reflexiver Kom­

mentar, der seine gewah!te Auftrittsform im Hinblicl{ auf gesellschaft­

lich und theatral codierte Protokolle von der Aufnahme von Fremden

beschreibt: Er nimmt nicht das Gastrecht in Anspruch, sondern das

Recht der Hikesie. 21 Wahrend der Xenos gemail den Geboten des Gast­

rechts an der Schwelle wartet, bis er offiziell hereingeleitet wird, uber­

tritt er als Schutzflehender die Schwelle unaufgefordert und lasst sich

am Zentrum des Palastes nieder, an dessen Herd, der zugleich als Altar

des Zeus hikesios zu verstchen ist. 2+ Coriolanus positioniert sich als

Schutzflehender am Herd des Hauses, wie der Dialog explizit deutlich

macht: 25

3 Servingman: What have you to do here, fellow? Pray

you avoid the house.

Coriolanus: Let me but stand. I will not hurt your hearth.

(4.5.23 ff.)

Shakespeare i.ibernimmt diesen Vorgang aus Plutarch, dcr Coriolanus'

Ankunft in Antium folgendermailen beschreibt: ,So he went directly to

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,And here remain with your uncerta inty"

Tullus Aufidius house, and when he came thither, he got him up straight to the chimney harthe, and sat him downe". 26

Allerdings stellt Shakespeare die strukturicrenden K nvenr1•

nen sowohJ des Gastrechts als auch der I-Iikesie radikal in Frage und src ' . 1gcrr damit die Spannung d1eser Ankunftsszcne. Bereits im crstcn Akt J;; nS t er

Aufidius betonen, dass dessen Hass auf Coriolanus alle akralen und sozialen Regularien iibersteigt:

Aufidius: [ ... ] Nor sleep nor sanctuary, Being naked, sick, nor fane nor Capitol, The prayers of priests, nor times of sacrifice­Embargements all of fury- shall lift up Their rotten privilege and custom 'gainst My hate to Martins. Where I find him, were it At home upon my brother's guard, even there, Against the hospitable canon, would I Wash my fierce hand in's heart. (1.1 0.19- 27)

Bei Coriolanus' Ankunft in Antium mtissen Zuschauer also mit der Aussetzung sowohl der gtiltigen Verfahren. von sakraler und politischer Asylie (,nor fane nor Capitol") als auch der Gesetze des Gastrechts (,the hospitable canon") rechnen, also all der Codes, die den riskantcn Ausnahmezustand der Ankunft eines Fremden regeln. Sie sind ,rotten privilege and custom", aufgehoben und iiberboten vom Ausnahmezu­stand des Kri.eges, der sich merooymisch zuspitzt auf den wiederholten Zweikampf zwischen Cori lanus und Aufidius, die im Drama schon zu Beginn als ZwiJlings- oder Doppelgangerfiguren etabliert wurden, als lmimfeinde, die ejne idencjfikatorische Gcgnerschaft verbindet und die einander selbst in ihren Traumen erscheinen.

Der Prozess der hochriskanten Ankunft des Erzfeindes als Schutz­f.lehender \vird im Verglei.ch zu hakespeares anderen Verbannungs­szenen und im VergleicJ1 zu Plurarch ungewohnlich lang gedchnt. 27

C rio lanus gibr sich zunachst nicht eindeutig zu erkennen trotz der drangenden, mehrfachen Aufforderungen der volskischen Diener und ilu-es Fiihrers Aufidius, die dem fremden Ankommenden zusammenge­nommen 25 Fragen stellen, urn seinen ,questionale shape' zu definie ­ren.28 Selbst nachdem Coriolanus seine Vermummung abgelegt und Auf­idius weitere Hinweise auf seine Identitat gegeben hat, erkennt sein Intimfeind ihn nicht. Es ist erst die Nennung seines Namens, die Corio­lanus identifizierbar macht und die sechs Mal wiederholte Frage ,What's thy name?" beantworret. Derrida hat sie in seinen Uberlegun-

146

Christina Wald

· On Hospitality als minimale Eroffnungsfrage des Ankommens gen lD

bcschricben:

this foreigner, then, is someone with whom, to receive him, you begin by asking his name; you enjoin him to state and to guarantee ]Jis identity, as you would a witness before a court. This is someone to whom you put a question and address a demand, the first demand, the minimal demand being: ,What is your name?' or then ,In telling me what your name is, in responding to this request, you are respond­ing on your own behalf, you are responsible before the law and before your hosts, you are a subject in law.' 29

Wahrend die Selbstbenenmmg und -vorstellung des Ankommenden die Begegnung tiblicherweise, wie von Derrida beschrieben, deeskaliert, weil sie dem Identifizierungsverlangen der aufnehmenden Gesellschaft entgegenkommt, verscharft sie bier den Konflikt zunachst, weil sich Coriolanus durch seinen Ehrennamen als Erobercr der volskischen Stadt Corioli zu erkennen gibt. Er macht seine Vergehen gegen die Vols­kcr so deutlich, dass seine Rede bisweilen als todessehnsi.ichtiger Aufruf zum Vergeltungsmord gelesen wurde:30

My name is Caius Martius who hath done To thee particularly and to all the Volsces Great hurt and mischief. Thereto witness may My surname Coriolanus. [ ... ]

[ ... ]-a good memory

And witness of the malice and displeasure Which thou shouldst bear me. (4.5.67- 70, 73 ff.)

Diesc Steigerung des dramatischen Konflikts ruft beide Bedeutungsrich­tungen des lateinischen Bcgriffs hostis und des eng\ischen hosts auf, die auch Derridas Uberlegungen zu ,hostpitality' pragen, 31 weil der (poten­tielle) Gastgeber als (einstiger) Feind adressiert wird.

Die Identifizierung durch den N amen stein zu Beginn dcr langstcn, sich iiber 66 Verse erstreckenden Rede des Protagonisten, die Shake­speare nah an Norths Plutarch formuliert, und die ein weiteres Mal die Ungewissheit der Ankunftssituation steigert, da sie die Reaktion der Volsker hinauszogert. Diesc Rede folgt der seit der Antike etablienen Formsemantik des theatralen Fluchtauftritts: Coriolanus ncnnt scinen Namen, idcmifizierr sich weiter, indem er seine Gcschichte der Verban­nung aus der romischen Heimat offenlegt und seine Bitte urn Aufnahme

147

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,And here remain with your uncertainty"

bei den Volskern formuliert als Teil seines Racheplans an Rom. Entspre­

chend der Dialcktik der Adressierung des host als Gastgeber und Feind

verkni.ipft Coriolanus bei seiner folgenden Bitte urn Aufnahme in clas

Lager cler Volsker zwei Formen der Hikesie: die politische Schutzbitte

in einem hauslichen Rahmen am Herd und das Gnadengesuch auf dern

Schlachtfeld - oder in John Goulds Terminologie, domestic supplication

und supplication of the battlefield: 32

[ ... ]Now this extremity [of Coriolanus's banishment]

Hath brought me to thy hearth, not out of hope­

Mistake me not- to save my life, for, if

I had feared death, of all the men i'th' world

I would have 'voided thee. But in mere spite

To be full quit of those my banishers

Stand I before thee here.[ ... ]

And make my misery serve thy turn. [ ... J [ .... ]I[ ... ]

[ .... ] present

My throat to thee and to thy ancient malice,

Which not to cut would show thee but a fool,

Since I have ever followed thee with hate,

Drawn tuns of blood out of thy country's breast

And cannot live but to thy shame, unless

It be to do thee service. ( 4.5.80- 103)

Dass sich Coriolanus hir seine Bitte urn Aufnahme in eine fremde

Gesellschaft am Herd, dem Altar des Zeus hikesios, platziert, ruft die

antike Hikesie-Tradition auf. Diese Referenz ist umso bemerkenswerter,

als Coriolanus als einziges Drama Shakespeares den Terminus ,hearth"

verwendet. 33 Shakespeares Formulierung ,bath brought me to thy

hearth" nimmt die eindeutigere Formulierung Plutarchs nicht auf, in der

Coriolanus sich selbst als hiketees bezeichnet. 3• Da Shakespeare mit

Norths Ubersetzung gearbeitet hat, hatte er ohnehin nur die allgemei­

nere Bezeichnung ,poore suter [ = suitor]" i.ibernehmen konnen: ,This

extremitie bath now driven me to come as a poore surer, to take thy

chimney harthe, not of any hope I have to save my life thereby" ,35 I m

Adaptionsprozess dieser Begegnung von Dionysios von Halikarnass,

wo Coriolanus als hiketees noch instandig darum bitter, ihm als schutz­

suchendem Fli.ichtling Asyl und Immunitat zu gewahren, 36 i.iber Plu­

tarchs Hikesie, die ohne diese Emphase geschrieben ist, bis zu Amyots

und Norths Obersetzungen wird das Hikesie-Gesuch formallockerer.

148

Christina Wald

In Shakespeares Version verkni.ipft Coriolanus diese domestic supplica­

tion mit einer archaischen Unterwerfungsgeste, der Bitte um Verscho­

nung beim Kampf, der supplication of the battlefield, die Shakespeare in

ibrer Formelhaftigkeit nicht seiner Quelle entnehmen konnte: 37 ,I pre­

sent my throat to thee". Die Verkni.ipfung dieser beiden Hikesie-Codes

wire\ auch in cler ri.ickblickenclen Kommentierung von Coriolanus'

Ankunft in Antium durch Aufidius noch einmal in komprimierter Form

prasentiert: ,Being banished for't, he came unto my hearth, I Presented

to my knife his throat. I took him, I Made him joint-servant with me,

gave him way I In all his own desires" (5.6.29- 32). Durch die Kombi­

nation der hauslichen unci kriegerischen Hikesie-Codes steigert Shake­

speare nicht nur die dramatische , uncertainty', ob die Bittgesuche

gewahrt werden, sondern kommt auch dem Ritualcharakter von Plu­

tarchs Ankunftsszene naher als N orth.38

Der rhetorische Top os ,I present my throat to thee", der die Korper­

sprachc des Schlachtfeldes evoziert, wurde in vielen Coriolanus- Insze­

nierungen korpersprachlich umgesetzt, so beispielsweise in den zwei

bekanntesten neuen Versionen, der Kino-Verfilmung der Tragodie mit

Ralph Fiennes in cler Titelrolle (2011) und in der Produktion des Don­

mar Warheouse (2013- 2014) mit Tom Hiddleston, deren Filmfassung

ebenfalls weltweit in der Reihe ,National Theatre Live" in Kin os

gezeigt wurde. Diese Verkni.ipfung von Korpersprache und Redc (auch

unabhangig davon, ob die Korpersprache nur figurativ evoziert oder tat­

sachlich ausgefi.ihrt wire\) ist typisch und entscheidend fi.ir das Gelingen

der Hikesie im Moment dcr Krisensituation. Dieses transhistorisch wie­

derkehrende Strukturmerkmal macht die Schutzbitte des Geflohenen

oder Vertriebenen auch besonders geeignet hir die theatrale Reprasenta­

tion. Susanne Goclde hat in ihrer Studie des europaischen Fundaments

des Theaters der Fliehenden, Aischylos' Hiketiden, die grundlegende

Theatralitat der Schutzbitte herausgearbeitet: ,Evidenz, das heiflt im

Hinblick auf die Hikesie auch ,mimesis', denn der Schutzflehende ist

aufgerufen, seine N otsituation so anschaulich wie moglich zu demons­

trieren. Das Performative der Hikesie-Sprache verdankt sich nicht

zuletzt der Vcrbindung von Korper- und Wortsprache. "39

In der ,performance of refugeeness' erlangt die Bitte um Aufnahme

ihre Kraft crst durch die i.iberzeugende theatrale Darbietung, vor allem

durch die korpersprachliche Beglaubigung der prasentierten Geschichte.

Auch in Coriolanus verfehlt die korperliche Geste, welche die Verletz­

lichkeit und Auslieferung des einst i.iberlegenen Gegners beweisen soli,

nicht ihre Wirkung. Als die Situation nicht nur sprichwortlich auf Mes­

sers Schneide ist und die Dramaturgic das charakteristische ,element of

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,And here remain with your uncertainty"

indctc1·minacy" auskosrer da J. eden Hikese ievcrlauf cha 1·~ kre · · ' " flSICJ"t •o

anrwortet Aufidius schlie!ll ich in einer (moglicherweise nur str~t · 'b . · ., egtsc )

emphatiSchen Rede, die Coriolanus in die Geseiischaft der "ol 1. f vt st\.cr au -

nimmt und diese lnkorporation in Vergleichen beschreibt d ' · . . • 1c te als

Erabl1erung emer Verwandrschafrsbeziehung markieren:

Aufidius: I loved the maid I married; never man

Sighed truer breath. But that I see thee here,

Thou noble thing, more dances my rapt heart

Than when I first my wedded mistress saw

Bestride my threshold. (4.5.116 -120)

Die Verkni.ipfung von Hochzeits- und Hikesieritual i.iber den gemeinsa­

men Transgressionsmoment, das Schwellenritual, gibt auch der homoso­

zialen, militiirischen Verbri.iderungsszenerie eine homoerotische Kon­

notation, die die Stiirke des durch die Hikesie neu gekni.ipften Bandcs

zusiitzlich betont.

Das doppelt codierte Schwellenritual zeigt, class nicht nur Coriola­

nus' liminale Idemitat an den Obergang in einen neuen Raum gekni.ipft

ist, sondern class auch dieser Raum durch den Obergang potentiell neu

konfiguriert wird. In den folgenden Szenen wird deut!ich, class Antium

selbst durch die neue Verortung von Coriolanus transformiert wird.

Coriolanus, der nach eigener Auffassung Rom mit sich tragt und weiter­

hin von den Volskern als ,Roman" (4.7.1) tituliert wird, i.ibernimmt die

militarische und spirituelle Fi.ihrungsrolle im Lager der Volsker. Laut

Cominius ist er ,their god. He leads them like a thing I Made by some

other deity th'an nature I That shapes man better, and they follow him"

(4.6.91 f.). Wenn Caius Martius Coriolanus, benannt nach Mars, dem

Ahnen Roms, und fur sich die Verkorperung Roms in Anspruch neh­

mend, zum Gott der Volsker geworden ist, die ihn als ,thou Mars"

( 4.5.120) adressieren, ist dann Antium das neue, das eigentliche Rom,

das sich im Unterschied zur zuri.ick gelassenen ,despised city', ,the cor­

rupt simulacrum of Rome",'J durch romische Kampfkraft auszeichnet?

Im Lager der Volsker wird spekuliert, ob Coriolanus tatsachlich Rom

erobern werde: ,think you he'll carry Rome?" (4.7.27). Die Bedeutungs­

nuancen von ,carry' von ,tragen' (,to bear from one place to another by

bodily effort" 42) bis ,erobern' (,to take away or win from the enemy by

military assault" H) spitzen diese Identifikation Roms mit Coriolanus zu:

Wird er durch die Eroberung der zurLickgelassenen Stadt und die

Annahme des Ehrennamens ,Romanus' seine Verkorperung, das ,In­

sich-Tragen', Rams vollenden?44 Wird er die Bezeichnung Rams in das

150

Christina Wald

Rei eh rragcn', also die Rekonfigurierung von Antiu m als neues 11eue • Ro!11 auch nominell vollziehen ?•s

Die e ption wird in den fo.lgenden Szenen inszeniert in denen der

Folws niche mehr auf Coriolanu al~ aus Rom Verbanmem liege, der in

ein 111 unsichcrcn und ungew~ sen Ankunfrsraum agiert sondern auf

den Romern als Exilicnen, also auf der zwciten dcr konkurrierenden

Perspektiven nach de•· gegenseitigen Verbannungsszene. \Vahrend die

Volkstribune zu Beginn der Szene 4.6 Ram noch als innen- und au~en­

politisch sicheren, stabilen Ort definieren (,Rome I Sits safe and still

without him [Coriolanus]" 4.6.36 f.), bringt die Anki.indigung der

Koalition von Coriolanus und den Volskern ciiese Sicherheit ins Wan­

ken. Rom wird nun als ,shak[ing]" (4.6.100) und ,trembling" (4 .6 .122)

beschrieben; es ist der Gnade von Coriolanus ausgeliefert. Die Dramen­

handlung vollzieht Coriolanus' grandioses Verkorperungsphantasma

nach, denn er wird zum Schutz- und Zufluchtsort hir die Romer. Der

letzte Akt inszeniert eine Seri e von drei Gnadengesuchen von Seiten der

Romer, die sich in ihrer Darstellungsform, ihrer Einciringlichkeit und

auch ihrer Effektivitat steigern von der nur berichteten, gescheiterten

Schutzbitte des Konsuls Cominius, zu der dargestellten, aber von

Coriolanus verki.irzten unci misslingenden Bitte von Menenius bis hin

zur ausfi.ihrlichen, gelingenden Schutzbitte einer Gesandtschaft aus

romischen Frauen und Coriolanus' jungem Sohn, angefi.ihrt von der

politisch und psychologisch starksten Akteurin Rams: Volumnia, der

Mutter von Coriolanus.

Die Schu tzbittenden begegnen Coriolanus als einer gottahnlichen,

emotional petrifizierten und immobilen Statue, die auf einem goldenen

Thron sitzt (5.2.63 £.). 46 Damit unterstreicht das Drama seine Verkorpe­

rung Roms, das drei Szenen zuvor in gleicher Pose imaginiert wird

,Rome I Sits safe and still" (4.6.36 f.). Im Folgenden inszeniert cias

Drama selbst-reflexiv theatrale AuffLihrungen der Schutzbitten, die ver­

suchen mi.issen, Coriolanus von der steinernen Verkorperung Roms in

einen Menschen aus Fleisch unci Blut zuri.ickzuverwandeln, der sich

von der Darbietung affizieren lasst. Wie Volumnia abschlieGend formu­

liert, l10ffen sie auf ,pity to our prayers" (5.3.171). Die antike Staffe­

lung von sakraler und politischer Schutzbitte wird hier also verdichtet

in einem gleichzeitigen Appell an einen gottahnlichen Herrscher, 47

und entsprechenci dieser Oberlagerung werden sakrale Protokolle

verknLipft mit einer auf Oberzeugung zielenden, dem individuellen

Gegeni.iber und der individuellen Situation angepassten, improvisierten

theatralen Darbietung, die auf argumentative Oberzeugung unci Affekt­

manipulation zielt.

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,And here remain with your uncertainty"

ln diesen Hikesie- zcnen wird Coriolanus' sitzendcr Ko" . rpcr, ent-

sprechend der zuvor etablterren Metapher des tarr sitzcnde R • 11 orns

rhcronsch als fe. t utmnauerre~; On der Zuflucht prasenticn, in cl d"' ']' . . en te

ex1 Ienen Ri:Jmcr Emlass bcgehren. So motivierr ein Yolk tribu · . . n setnen

Landsmann Menenllls, der als VaterfJgur von Coriolanus fungierte d

er Coriolanus aufsuchen und die chutzbitre aussprechen solle B: as · . turus'

Formulierung priiscntiert Coriolanus als ei ncn iiber traf!en bcgehbaren

Ort: ,You know the very road into his kindness I And cannot lose your

way.' (5.1.58 f.) Cominius der romi che Kriegcr und Konsttl cl . I , er as erstes und vergcbJ icl~ Corio~anu die romische Schutzbitte vorgetragcn

hat, sagt da ScheJtern dreser emeuren Intervention vorhcr uud

beschreibt Coriolanus' verweigernde Rezeptionshaltung folgender­

maEen:

Cominius: He'll never hear him.

Sicinius: Not?

Cominius: I tell you, he does sit in gold, his eye

Red as 'twould burn Rome, and his injury

The jailer to his pity. I kneeled before him;

Twas very faintly he said ,Rise', dismissed me

Thus, with his speechless hand. (5.1.62 - 67)

Dieser Adressat verweigert sich, die Schutzbitre zu erhi:iren, die der

Bittsteller dem Prorokoll der antiken Schutzbitte cntsprechend kniend

ausfiihn.'8 Er interagiert nicht mit dem Schutzflehenden, wedcr verbal

noch ki:irpersprachlich. Er spricht kaum hi:irbar, sagt nm ein Won:

, Rise", mit d'em er di e Schurzbitte friihzeitig beendet mit einer ,speech­

less hand", die allein die verweigernde Haltung von Coriolanus kommu­

niziert. Entscheidend ist, class der potentielle Retter kein Mitleid emp­

finden kann und will: ,[H]is injury [is] I The jailer to his pity". Sein

Mitleid wird als eine allegorische Figur imaginiert, als bewachte Gefan­

gene innerhalb des Zufluchtsones Coriolanus, abgeschottet durch seine

emotionale und politische ,Verletzung" durch die vorhergehende Ver­

bannung. Die Metaphern, die als Bewegungsrichtung die Zuflucht der

Ri:imer bei!in Coriolanus als neucr Verki:irperung Rams vorgeben, sind

umso bemerkenswerter, als sie die geplante Bewegung bei Plurarch vcr­

kehren. Hier haben die Bittenden die Mission, Coriolanus n ach Hause

zu holen, wie Plutarch mehrfach betont.'9

Als es wen ig spatcr tatsachlich zur Schutzbitte von Menenius

kommt, scheitert sie wie vorhergesagt an Coriolanus' mangelnder

Bereitschaft zum Mideid mit dcr vaterlichen Figur. Coriolanus schickt

152

Christina Wald

a 1' ttsteller fort und betont, class er sich ganz von familiaren und den JJ

· nalen Vcrpfli htun gen Rom gcgeni.ibcr geli:ist habc: natt '

C(niolanlts: Away!

Mcneni11 s: How? Away?

Co1'iolanus: Wife, mother, child, I know not. My affairs

Are sernntcd to others. [ ... ]

[ ... ]That we have been familiar,

Ingrate forgetfulness shall poison rather

Than pity note how much. Therefore be gone.

Mine ears against your suits are stronger than

Yo ur gates against my force.[ ... ]

[ ... ]Another word, Menenius,

I will not hear thee speak. (5 .2 .79 - 91)

Die Rede prasentien erneut ein starkes Bild der Mitleidsvermeidung,

und wieder wird Coriolanus als ein On prasentien, zu dem die Ri:imer

Einlass begehren. ,Mine ears against your suits are stronger than I Your

gates against my force": Die Tore zu seinem Inneren, hi er die Ki:irperi:iff­

nungcn der Ohren, sind standhafter gegen die Schutzbitten als die Stadt­

rore Rams gcgen seinen geplanten Angriff. CoriolantJS verki:irpert das

Grundprinzip der Romanitas, die Wehrhaftigkeit, wahrend die Stadt, die

immer noch Rom genannt wird, Angriffcn nicht !anger standhalten

kann. Die Zufluchtsbewegung in das Innere von Coriolanus, z u seiner

,kindness" und ,pity" erfordert also ein Navigieren iiber Stral1en, das

schwieriger ist als gedacht, weil es eine vielfache Abschottung durch

Stadt- und Gefangnisgrenzen i.iberwinden muss, wie di e Mctaphern, die

Coriolanus als Ort imag inieren, verde utlich en .

Die fiir die antike dramatischc Inszenierung der Schutzbitte typische

triangulare Struktur aus Schutzflehendem, Feind und Retter, die sich,

wie Josef Kopperschmidt gezcigt hat, ,konkretisien in der Flucht des

hiketees vor dem Feind, in der Bitte des hiketees an den Retter und

schliei1lich in der daraus resultierenden Auseinandersetzung (Ago n)

zwischen Retter und Feind" / 0 ist hi er zunachst, wie bereits bei Coriola­

nus' Ankunft in Antium, auf ein bilateralcs Verhaltnis zwischen Schutz­

flehcndcm und Feind als potenticllem Retter vcrdichtet. Durch die

Zuschauer des Tragi:idiengeschehens auf der Biihne, die Volsker, allcn

voran Aufidius, wird allerdings ein neues Drciecksverhaltnis ctabliert.

Dicses Drciccksverhaltnis macht den beobachtenden Dritten zum i.iber­

geordneten Richter, der durch sein Uneil iiber die Darbietung der

Schutzbitte in den Agon eintritt- und so auch zu einer Figur wird, die

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,And here remain with your uncertainty"

der Rolle des Off-Stage-Publikums entspricht. Diese selbst-reflexive

theatrale Situation wird deutlich direkt im Anschluss an die bereits

zitierte Abweisung der zweiten Schutzbitte:

Coriolanus: [ ... ]Another word, Menenius,

I will not hear thee speak. -This man, Aufidius,

Was my beloved in Rome; yet thou behold'sr.

Aufidius: You keep a constant temper. (5.2.90- 93)

Wie Coriolanus' Kommentar hervorhebt, haben die Schutzbitte und

Coriolanus' Abweisung vor einem Publikum auf der Bi.ihne stattgefun­

den, vor den volskischen Verbi.indeten, die diese Widerstandsfahigkeit

von Coriolanus erwarten. Aufidius' Kommentar ,You keep a constant

temper" erkennt honorierend an, class Coriolanus sich nicht affizieren lieG

von der Schutzbitte mit starker Appellstruktur. Der Kommentar verweist

auch zuruck auf Coriolanus' fruheres Versagen, als er sich als politischer

Akteur von den Tribunen hatte manipulieren lassen und unwissentlich in

der vorab geplanten tragischen Peripetie-Szene seiner Verbannung in

deren Sinne agierte. Nach der Zuri.ickweisung von Menenius glaubt

Coriolanus, die Proben seiner Wehrhaftigkeit i.iberstanden zu haben und

zum Angriff auf Rom i.ibergehen zu konnen, der fi.ir den nachsten Tag

geplant ist. Die zweite Schutzbitte sieht er als ,latest refuge" (5.3.11) der

Romer, als letzte diplomatische MaGnahme zur Abwendung des Krieges,

aber auch wortlich gesprochen als letzten Fluchtversuch ZU Coriolanusl

Rom als Schutzort fi.ir die ( einstigen) Romer.

Im Folgenden inszeniert das Drama jedoch den nachsten, fatalen

Wendepunkt, der die Paradoxien des Raumes in einer Begegnung zweier

Verkorperungen Roms kulminieren und schlieGlich kollabieren lasst,

indem sie Coriolanus aller Verortung beraubt und der tragischen Kata­

strophe zufi.ihrt. Noch wahrend Coriolanus' Rede ki.indigt sich eine

neue Gruppe romischer Schutzsuchender an, deren unerwartetem und

ungleich starkerem Ansturm auf Coriolanus' Abwehr-Mechanismen er

letztlich nicht wird Stand halten konnen. Dieses dritte und starkste Bitt­

gesuch darf in voller Lange prasentiert werden, die die dramaturgische,

politische, psychologische unci auch literatur- unci theaterhistorische

Komplexitat der Schutzbitte zu voller Entfaltung bringr. Schon die

Ankunft unci Begri.iGung der Frauen enthalt in nuce die wichtigsten

Aspekte der folgenden Schutzbitte:

154

CoTiolanus: [ ... ][Enter Virgilia, Volumnia, [young Martius, Valeria,]

with attendants.]

My wife comes foremost, then the honoured mould

Wherein this trunk was framed, and in her hand

The grandchild to her blood. (5.3.22- 126)

Christina Wald

In Opposition zur vorherigen Metapher des ,sicher unci still' sitzenden,

uneinnehmbaren, isolierten Korpers Roms wird hier die Metapher des

verbundenen Korpers aufgerufen, um die die Verwandtschaftsbeziehun­

gen zwischen Coriolanus und den Schutzbittenden zu konzeptualisie­

ren. Die Formulierung ,the honoured mould I Wherein this trunk was

framed" macht deutlich, class der Korper Volumnias den ihres Sohnes

formte. Ihr Enkel Martius teilt das gemeinsame Blur, und seine Ehefrau

Virgilia wird Coriolanus wenige Zeilen spater als ,[b]est of my flesh"

adressieren (5.3.42).

Die noch vor dem Beginn der Schutzbitte etablierten Metaphern des

verbundenen Korpers unterbinden die rhetorische Inszenierung seines

Korpers als wehrhafte Stadt, weil diese neuen Schutzflehenden bereits

integraler Bestandteil seines Kopers sind unci ihnen so das Inkorporations­

rirual nicht verweigert werden kann. Im Folgenden versucht Coriolanus

dennoch, sich gegen die Familienverbundenheit und ihr groGes Potential,

Mitleid zu erregen, zu immunisieren: ,But out, affection! I All bond and

privilege of nature break! I Let it be virtuous to be obstinate" (5.3.24 ff.).

Sein Wunsch, ,obstinate", also nicht nachgiebig, sondern hart, bleiben zu

konnen, verweist zuri.ick auf seine Petrifizierung als gottahnliche Statue

zuvor, die sich allerdings bereits im nachsten Vers beweglich zeigt:

[Virgilia curtsies.] What is that curtsy worth? Or those doves' eyes.

Which can make gods forsworn? I melt, and am not

Of stronger earth than others. [Volumnia bows.]

My mother bows,

As if Olympus to a molehill should

In supplication nod; and my young boy

Hath an aspect of intercession which

Great Nature cries ,Deny not'. (5.3.27- 33)

Coriolanus' Beobachtung und Kommentierung der Korpersprache der

Schutzbittenden zeigt die groGe Bedeutung dieser non-verbalen Kom­

munikation, die auf einer eigenen Ebene unci hier bereits starker wirkt

als die Reden der fri.iheren Gesandten Roms. 51 Coriolanus versucht

schlieGlich in einem letzten Abwehrmanover, die Bitten unci Argumente

der Frauen vorweg zu nehmen und noch vor deren AuBerung abzuwei­

sen. Volumnia reagiert folgendennaGen auf diesen Versuch:

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,And here remain with your uncertainty"

Volumnia: [ ... ]we have nothing else to ask but that

Which you deny already. Yet we will ask

That, if you fail in our request, the blame

May hang upon your hardness. Therefore hear us. (5.3.88- 9l)

Diese Antwon macht deutlich, dass es nicht allein urn die inhaltliche Aus­

einandersetzung geht, sondern urn die Kommunikations- und Affekt­

struktur der Auffiihrung, der leiblichen Ko-Prasenz, den Reaktions- und

Entscheidungsdruck vor den Augen der Schutzflehenden und des Publi­

kums. Es geht um die Aktivierung des Hikesie-Rituals und seiner spezifi­

schen Rollenmuster, die den Adressierten zu einer Reaktion zwingt, wie

Leah Whittington gezeigt hat. 52 Dass Schutzsuchenden Zeit und Raum

gegeben wird fiir diese auf Uberzeugung des Publikums zielende ,perfor­

mance of refugeeness' ist nicht selbstverstandlich, wie die zuvor abgewie­

senen und verki.irzten Schutzbitten demonstriert haben. Als Coriolanus

die Formulierung der Schutzbitte schlieGlich gewahrt, betont er deren

offentlichen Charakter: ,Aufidius and you Volsces, mark, for we'll 1 Hear

nought from Rome in private.- [Sits.] Your request?" (5.3.92 f.) Wie in der

amiken Tragodie tragt die offentliche Performance der Hikesie Zi.ige der

Gerichtsverhandlung und ist durch die emsprechende ,forensische Rheto­

rik"53 gepragt, wie Coriolanus' einleitende formale Frage signalisiert.

Die Schutzbitte wird wieder gemaG dem aus Plutarch entnommenen

Protokoll der antiken Hikesie korpersprachlich forciert, vor allem

durch das Knien vor Coriolanus und durch zum Zeichen der Schutzbe­

di.irftigkeit erhobene Hande. 5• Sie weist weitere entscheidende struktu­

relle Elememe der amiken tragischen Schutzbitte auf, die dem Anliegcn

Nachdruck verleihen, so die Selbstmorddrohung der Schutzbittenden

und ein Moment der sogenannten ,Kontaktmagie', des entscheidungs­

weisenden physischen Kontaktes zwischen potentiellem Retter und

Schutzsuchenden. Die Selbstmorddrohung der Mutter, der Ehefrau und

des Sohnes fi.ir den Fall, dass Coriolanus tatsachlich Rom angreifen

wird, wird von Volumnia in drastische Worte gefasst:

[ ... ]thou shalt no sooner

March to assault thy country than to tread­

[ ... ]on thy mother's womb

That brought thee to this world. (5.3.122- 126)

Volumnia setzt hier den Angriff auf die mi.itterliche Matrix Roms gleich

mit einem Zertrampeln ihrer Gebarmutter, dem Ursprungsort von

Coriolanus' eigenem Korper. 55 Sie beansprucht also wie zuvor Coriola-

156

Christina Wald

nus flir sich die Verkorperung Roms. 56 Durch die Metonymisierung

ihres Korpers im ,womb' betont sie zugleich die enge, generative Ver­

bindung zwischen den konkurriercnden Verkorperungen Roms in Mut­

rcr und Sohn. Volumnia trcibt hier die semantische Paradoxierung des

R<wn1es auf die Spitze: Sie impliziert, dass ihr Selbstmord, der dcm

Mord an der Mutter zuvorkommt, Coriolanus, der aus diesem Leib

srammt, miteinbezoge, weil er seinen Ursprung ausloscht. Hier wie in

der antiken Tragodie wird Verwandtenmord auch als Selbstmord imagi­

niert und umgekehrt. " Coriolanus, der sich den Raum der radikalen

uncertainty in der Fremde angeeignet und nun seinen Herkunftsort aller

Gewissheit entledigen und zerstoren will, um sein Ideal von Rom zu

restituieren, bricht in dem Moment ein, als er in seiner Mutter den

gewissen, physisch prasenten Orr seiner Herkunft, auf sich zukommen

sieht. Sein Verkorperungsphanrasma kollabiert. 58

Die Inszenierung von sakraler und personaler Hikesie als Begegnung

zwischen Mutter und Sohn macht auch den Moment der korperlichen

Beri.ihrung zwischen Retter und Schutzsuchendem, der (irrefiihrend) als

,Kontaktmagie" beschrieben wurde, 59 weil er den formulierten An­

spruch auf Schutz physisch besiegelt, zu einem komplexen Moment,

weil er neben dem Band der Hikesie auch die korperliche, symbiotische

Bindung zwischen Mutter und Sohn wiederherstellt, die zuvor mehrfach

metaphorisch evoziert wurde. Diese Beri.ihrung ist eine der meistzitier­

tcn Regieanweisungen in Shakespeares CEuvre, ein Moment, der auch als

,the most massive silence of all drama" 60 beschrieben wurde: ,[He]

holds her by the hand, silent" (5.3.182). Dieses Schweigen im Moment

dcr Kontaktmagie, der Verau/)erung der inneren Ergriffenheir, ist die

Zuspitzung der tragischen Krisis, der stille Entscheidungsmoment des

Adressierten, der die Wahl hat zwischen zwei Ubeln, zwischen der Zer­

storung Roms und dem Mord an seiner Familie oder dem eigencn Mord

durch die Volsker als Verrater, den er bereits vorhersieht. In der etablier­

tcn Bildlichkeit des Verwandtenmords gcsprochen, kann er sich ent­

scheiden zwischen Selbstmord und Selbstmord; er durchlcbt die genuin

tragische, unlosbare Kriscnsituation.

Coriolanus entscheidet sich im Wissen um die eigene Lebensgefahr

dafi.ir, die Schutzbitte zu erhoren, und nach der Gewahrung der Schutz­

bittc wird die Aufmerksamkeit wicder gelenkt auf die Situation der

offentlichen Verhandlung vor den Augen eines Publikums auf der

Biihne, das von Coriolanus eine andere Entscheidung erwartet hat.

Coriolanus versucht sich riickzuversichern, dass auch Aufidius sich mit

den Protagonisten der Auffi.ihrung idenrifizieren konnte, class er auch

Mitleid empfunden hat, auf dessen Erregung die Schutzbitte abzielte:

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,And here remain with your uncertainty"

Now, good Aufidius,

Were you in my stead, would you have heard

A mother less? Or granted less, Aufidius?

Aufidius: I was moved withal. (5.3.191 - 194)

Wie die folgende Handlung allerdings zeigt, ist Aufidius' Mitleidsgeste

ein Lippenbekenntnis. Er wartet bereits auf die Gelegenheit, Coriolanus

als charismatischen Anfi.ihrer der Volsker demontieren und seine eigene

Fi.ihrungsposition restituieren zu konnen, und die Gewahrung der

Schutzbitte bietet ihm dafi.ir eine geeignete Vorlage.

Damit erfasst die tragische Krise auch die ohnehin prekare Veror­

tung von Coriolanus, die ihm nun ganzlich entzogen wird. Das radikale

displacement der Figur wird in zwei scheiternden Triumphen im Finale

der Tragodie inszeniert, die Coriolanus' missgli.ickte triumphale Heim­

kehr als Eroberer von Corioli zu Beginn spiegeln und zur tragischen

Katastrophe steigern. Wie Juliane Vogel gezeigt hat, ist die neuzeitliche

Tragodie grundsatzlich eine anti-triumphalistische Gattung, weil sie das

Triumphritual demontiert, das auf die gottliche Erhohung souveraner

Personen angelegt ist und ihnen maximale Raumherrschaft zugesteht. 61

In seiner Studie Roman Triumphs and Early M ode m English Culture hat

Anthony Miller die Reaktivierung romischer Triumphprotokolle im

fri.ihncuzeitlichen England untersucht und herausgearbeitet, wie stark

missgli.ickende Triumphrituale Shakespeares spate Tragodie strukturie­

ren: ,Coriolanus makes the politics of triumph its problematic centre" .62

Das Finale von Coriolanus inszeniert zwei vermeintlich triumphale

Anki.infte in Serie: Zunachst kehrt Volumnia nach Rom zuri.ick und wird

mit den ritualisierten Ehren des Triumphes als ,patroness, the life of

Rome" (5.5.1) gewi.irdigt. Ihre triumphale Heimkehr als Retterin Rams

wird vom Senator als Aufhebung von Coriolanus' Verbannung prasen­

tiert: ,Unshout the noise that banished Martius, I Repeal him with the

welcome of his mother." (5.5.4 f.) ,Unshouting' bezeichnet einen

unmoglichen Vorgang des Ri.ickgangigmachens, des Wiedereinfangens

von etwas bereits Gerufenem, hier den schmahenden, lauten Verban­

nungsforderungen des Volkes. Wie Peter Holland anmerkt, wirft der

Begriff auch die Frage auf, ob ,unshouting' durch Stille oder durch (lau­

teres ?) Rufen die fri.iheren Rufe ungeschehen machen kann: Es ist ,an

impossible task"Y Die knappe, nur sechs Zeilen umfassende, triumphale

Heimkehr Volumnias wird somit i.iberschattet von der Erinnerung an

die fri.ihere, spektakular gescheiterte triumphale Heimkehr von Martius.

Weil diese Verbannung nicht ungeschehen gemacht werden kann, ist

eine Ri.ickkehr von Coriolanus in die einstige Heimat nur unter der

158

Christina Wald

Bedingung des Wi(e)derrufens moglich, wie die zweite Zeile deut!ich

111acht. Die Forderung ,Repeal him' hat eine komplexe Bedeutung:

Einerseits impliziert sie, class Coriolanus aus seiner Verbannung zuri.ick­

gcrufcn werden soli, class er wieder gerufen wird - ein heikles, wenn

nicht unmogliches Unterfangen, wie die crste Zeile durch ,unshout'

betont hat. Andererseits bedeutet ,repeal' auch ,widerufen' und die

elliptischc Formulierung ,Repeal him" statt ,Repeal his banishment"

(oder, wie bei Plutarch, ,to repeale the condemnation and exile of Mar­

tius"6') lasst zu, class sich das Annulieren nicht auf die Verbannung, son­

dern auf Coriolanus selbst bezieht. In dieser Lesart wi.irde Coriolanus

durch und mit der siegreichen Heimkehr seiner Mutter fi.ir nichtig

erklart, ri.ickgangig gemacht in einer Inversion seiner Geburt durch

Volumnia, die ihren Sohn nun wieder inkorporiert hat, metaphorisch

wieder in sich tragt. ,Repeal him with the welcome of his mother" hieGe

dann also: Mit der Begri.iGung Volumnias wird der in ihrlin sie zuri.ick­

gekehrte Sohn willkommen geheiGen. Dass Volumnia in der Szene zuvor

erstmals mit Namen angesprochen und als ,worth of consuls, senators,

patricians, I A city full" (5.4.53 f.) charakterisiert wurde, verstarkt ihre

voluminose Verkorperungskapazitat als Patronin Rams. Das Finale

inszeniert hier die ,jubilatorische Steigerung des nati.irlichen Korpers" 63

dcr den Sohn inkorporierenden Mutter Rams entsprechend der trium­

phalen Uberhohung des heimkehrenden Siegers in militarischen Auf­

trittsprotokollen, demontiert sic abcr tragodientypiseh, da die trium­

phale Ri.ickkehr des zuvor Verbannten nach Rom einhergeht mit seiner

korperlichen Ausloschung. Die Ri.iekverortung im Mutterland als iden­

titatsvernichtende Regression in den Mutterleib ist die Vollendung der

das ganze Drama durchziehenden Entortung von Coriolanus.

Die zweite scheiternde Triumphszene vollendet Coriolanus' rhetori­

sche Ausloschung physisch. ,[H]e returns I Splitting the air with noise"

(5.6.50 f.): Gefeiert von den volskischen Plebejern kehrt Coriolanus

nach Antium zuri.ick, wo Aufidius die zuri.ickgebliebenen Lords bereits

auf dessen Verrat eingeschworen und so die Raumherrschaft des Trium­

phators noch vor seiner Ankunft untergraben hat. Damit kehrt diese

Ri.ickkehr die Vorzeichen seiner fri.iheren gcscheiterten Ri.ickkehr nach

Rom als Eroberer von Corioli zwar um, was die Klassenzugehorigkeit

der ihn Feiernden und ihn Verdachtigenden betrifft, aber in ihrer Stt·uk­

tur wiederho!t und steigert die Szene in einer weiteren ,peripety-atop­

peripety' die fri.ihere katastrophische Wende des Triumphes zur Titulie­

rung als Volksfeind und zur Verbannung. Aufidius bezeichnet

Coriolanus als ,traitor in the highest degree" (5.6.85) und nennt ihn

,Martius" (5.6.89) - eine Degradierung, die jener in der Willkommens-

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,And here remain with your uncertainty"

rede Volumnias in Rom entspricht (,Unshout the noise that banished

Martius"). Dass beide Lager Coriolanus seinen Ehrennamen verwei­

gern, den er zuvor bei seiner Ankunft in Antium als den Restbestand

seiner Identitat und Verortung bezeichnet hatte (,Only that name

remains" 4.5.75), unterstreicht die Dis lokation der Figur. Die Auflosung

des Raumbezuges wird aul;erdem dadurch porenziert, dass die letzte

Szene unklar lokalisiert ist: Sie beginnt in Antium, der ,native town"

(5.6.49) von Aufidius, oszilliert dann aber zu Corioli, wenn Aufidius

Manius anklagt, ,Dost thou think I I'll grace thee with that robbery, thy

stolen name I ,Coriolanus', in Corioles ?" (5.6.90 ff.), um wieder in

Antium zu enden. Die fluide Raumlichkeit der fri.ihneuzeitlichen Bi.ihne

verschmilzt in ihren Wortkulissen hier die volskischen Stadte, um durch

die Reaktivierung der Trauer um die im Krieg um Corioli Gefallenen die

Grundlage zu schaffen fi.ir den Volkshass auf den einstigen (und erneu­

ten) Gegner. Die daraus resultierende Forderung des Volkes, ,Tear him

to pieces" (5.6.121), fm·dert das physische Aquivalent der raumlichen

Zerrissenheit des Protagonisten ein, sie will sein die ganze Tragodie

durchziehendes displacement im dismemberment vollenden. Dass der

nach seiner Ermordung nicht mehr namentlich genannte Protagonist

mit einer, wenngleich hohlen, Bestattungszeremonie in die volskische

Gemeinschaft reintegriert wird, zeigt aquivalent zur vorhergehenden

Triumphszene Volumnias, dass er nur unter der Bedingung seiner Aus­

loschung erneut paradox verortet werden kann: Mit Volumnia nominell,

aber entkorperlicht heimgekehrt als Sohn Rams, als namenloser ,noble

corpse" (5.6.145) begraben in einem unspezifizierten Raum der volski­

schen Sphare, lieGe sich als Inschrift seiner letzten Ruhestatte formulie­

ren: ,And here remain with your uncertainty".

160

Zit. m it Akt-, Szenen- und Verszahl nach folgender Ausgabc: Shakespeare, William: Coria/anus. (=Arden Shakespeare, Third Series), hrsg. v. Peter Holland, London 2013. Das Drama wurde daher oft als Gattungscxperiment und Mischform interpretiert. So spricht Kenneth Bmke in seinem einflussreichen friihen Essay ,Cm·iolanus and the Delights of Faction" (Burke, Kenneth: ,Coria/anus and the Delights of Faction", in: The Hudson Reviezv 19 (1966), H. 2, S. 185- 202) ' 'On ei ner ,gro tesken' Tragod ie, wahrend bojspi cl~weise Karcn Aubrey und James Holstuo nrgumernieren, dass man Coria/anus ebcr a is Satire lesen solle, die tragische Muster nutze, um die TragOdienform zu ,verban­nen': ,[L]ike a tragedy, Coria/anus singles him out as a victim whom tl1e action of the play must sacrifice. But like a satire or comedy, Coria/anus argues that he richly d eserves this punish ment[ ... ]. Rome and Antium chasten Coriolanus with tragic finality but with satiric good conscience. Coria/anus satirizes tragedy and the tragic affiliations of the body politic by placing a tragic king-figure within a satiric plot as its gull. Complemen­ta ry to thi s ch,1Slenin~; of Coriolanus is the pla)"'s pcculio( w~y of prese rvi ng him, of

sho w·ing thnr h is death is "' ~ign of the res toration o f republic:nn ord er, not o f tragic instabi­lity. PQrad oxic., ll y, t rnged y iuclf p lays a role in its o w n Sll tiric banishment• (H olstun, James: ,Tragic Superfluity in Coria/anus", in: English Litaary History 50 (1983), H . 3, S. 485- 507, S. 503- 504 ). Vgl. auch Aubrey, Karen: ,Shifting Masks, Roles and Satiric

Christina Wald

Personae. Suggestions for Exploring the Edge of Genre in Co,•iolanus", in: Wheeler, David (Hrsg.): COJ·iulanus. O .Ztical Essays, New York 1995, S, 299-338 . }\m ausfiihrlichsten dazu Cyntbia Mars hall, die C01·iolanus als eine Herausforderung der En\'artungen der Zuscbauer liest, die die produktive Lccrstelll! von Coriolanus' Inner­lichkeir und psychologischc1· Motivation zu fUll en versuchen . Damit ist Coriolanus la ut Marslull stcllvcrtretend flir eine Grundproblematik des Dramas: ,drama necessarily complicates irs audience's relationship to characters presented on stage, advertising their inte1'ior dcprh while unable ultimately to reveal it" (Marshall, Cynthia: ,Shakespeare, Crossing tl1e Rubicon", in: Holland, Pcrel'(I-!rsg .): Shakespea l'e Su, ·wy 53, Cambridge 2000, S. 73-88, S. 86) . Ahnlich schlussfolgert Emma Smith: ,perhaps we can understand this tragedy, and Shakespearean tragedy more generally, as incerrogating and problemati­zing ideas of character." (Smith, Emma: ,Character in Shakespearean Tragedy", in: Neill, .Michaei/Schalbvyk, David (Hrsg.): The Oxfo>·d Handbook of Shakespea1·ean T>·agedy, Oxford 2016, S. 103). Vgl. z.B . Marshal!: ,It seems an understatement to call Martius an unlikeablc hew; rhc character pointedly dislikes those who would admire or require him, as well as those \\'ho make accommodatlons to social existence- in short, most of us" (:Marshal], Cynthia: ,Co>'iolanus and the Politics of Theauical Pleasure", in: Durwn, Richard/Howard, Jean E. (Ht·sg.): A Companion to Shakespeal'e's \Vol'ks, Bd. 1: The Ti-agedies, Oxford 2013, s. 452-73, s. 461). Bcsonders einflussreiche Lesarten, die fur Coriolanus' Schuld am eigencn Schicksal pla­diercn, sind Fish, Stanlcy E.: ,How to do Things with Austin and Seade: Speech Act Theory and Literary Criticism", in: Modem Language Notes 91 (1976), H. 5, S. 983-1025 und Cavell, Stanley: ,Coria/anus and Interpretations of Politics (,Who does the wolf love?')", in: ders . (Hrsg.): Disowning Knowledge. In Sewn Plays of Shakespeare, Cambridge 2003, S. 143- 177). Richard Halpern referiert den aktuellen Forschungsstand zum Einfluss der griechischen Tragodie auf Shakcspeares Dramen unci konstatiert: ,The whole question of Shakespeare and the Greeks is cutrently up for re-evaluation, while at the same time irrefutable proof of such influence remains difficult to pin down. The least one can say, however, is that the former certainty that Shakespeare had no access to Greek tragic drama looks much less solid than it once did" (Halpern, Richard: ,The Classical Inheritance", in: Neill/Schalkwyk (Hrsg): Tbe Oxfo>·d Handbook of Shakespem·ean Tragedy, S. 19-34, S. 23). In einem aktuellen Sonderheft zum Them a Homer and Greek Ti-agedy in Early Mod an England's Theat>'es mac hen Tania Demetriou und Tanya Pollard darauf aufmcrk­sam, class bereits in der zweiten Halite des 16. Jahrlnmderts griechische Tragodien in lareinischer und englischer Obersetzung in England zirkulierten, die ihrerseits Adaptio­nen und Auffi.thnmgen inspirierten und so mOglicherwcise die englischen Dram en des spateren 16. und 17. Jabrhunderts beeinflusst haben. Samtlichc Tragodien von Aischylos wurden 1555 ins Lateinische Ubertragen, darunter aucb die Hiketiden unter dem Tltel Supplices. (Demetriou, Tania/Pollard, Tanya: ,Homer and Greek Tragedy in Early Modern England's Theatres: An lntmduction", in: Classical Receptions ]oltl'n a/9 (2017), H. 1, S. 1- 35, S. 12). Dam it folgt dieser Beitrag jcingeJ·er Forschung, die Nonbs Plutarch als ,largely unexplo­red somce for Shakespeare's mediated contact with Homer and Greek tragedy" sicht (Miola, Robert S.: ,Past the Size of Dreaming? Shakespeare's Rome", in: Holland, Peter (Hrsg .): Shakespea>'e Survey 69, Cambridge 2016, S. 1- 16, S. 12). Sowohl Miolas als auch ein aktueller Uberblick des FoJ'schungsstandes von Braden bezichcn sich flir Plutarchs Vermiulung von Konventionen und Handlungsmustern der anrikcn griechischen TragO­die vor all em zurcick auf Pelling, Christopher: ,Seeing a Roman Tragedy througl1 Greek Eyes: Shakespeare's]ulius Caesar", in: Goldhill, Simon/Hall, Edith (Hrsg.): Sophocles and the G>·eek 11·agic Tradition, Cambridge 2009, S. 264-288 . Braden, Gordon: ,Classi­cal Greek Tragedy and Shakespeare", in: Classical Receptions]ouma/9 (2017), H. 1, 5.103-119, s. 109-111. Vgl. Burrow, Colin: Shakespeare and Classical Antiquity, Oxford 2013, S. 203 ff. Shakespcarcs Coriolanus orientiert sich ungewohnlich stark an einer Quelle, Norths Plu­tarch (wohl in der Ausgabc von 1595), wie vielfach belegt wurde, hat abcr moglichenveise vereinzelc auch auf andercn Bca.rbeitungen der Coriolanus-Legende, vor allcm in Titus Livys Ab Urbe Condita, Lucius Annaeus Florus' Epitome Bello.·um Omnium Annorum DCC und Virgils Aeneis zuruckgegriffcn, die Shakespeare vicllcicht auf Late in als Tcil

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sciru:r Schulbildung gclese~ h~ (~iir cinc akrueiJe Dis~ussion des Forschungsslandcl" I. ~?lland, P~te~: ~lmro~~crron ,rn: Shakcspeuc: C:or~olanus, S. I- H2, S. 25- -19). g Woe Le.>h Whmrngu>n JUngst gezergt h~t. beschrcrbt Plut•rchs Coriolonus-BiogTOpl · dcaillicrt non-vcrbale Kommunikntion, die moglicherwcise ''on seinen Lese- und ~rlc f~hrungen d~~ khssische~ und_ postklas~tschtn griuhischcn Theatcrs gepr.igt w~r. \'(1~~~­rrnglons Resumcc, dass sreh elrubethantSchcs Dr~ma und antikcs griechisclrcs 'Theat verbinden in Shakcspearcs Dramatisicrung dcr thcarralcn Biogr3phicn Plutarchs n' er

h d . B · 1 • rmmt auc rcser erttllg as Ausg~ngspunkt (Whinington, Lcah· Shakespeare and thA G k • . ·,. "' rt"c s: theuncaltry and performance from Plutareh's Live1 to Coriolamtt•, in: CL~mrul Rereptt-omjo~mm/9 (2017), S. 120- 143, S. 132). In ihrerStudie .R"11aissance SuppltalltS licst Wh11ungton Cort'olamts nls Extrembcispiel fiir die im elisabetbanischen und jakobaiscl E I d • b • p . . eh . len

ng •n wer.l vcr_ ~ettete raxrs v~n Blltgcsu en, doe sich immer im Spannungsfcld einer geregehen, mualrs1.crcen F~rm mrt klarcr ~ollenvencilung und cincr fiir sowohl Binstel­ler als aueh Adressterten rrskamcn, ergebmsoffcnen Begegnung bcwcgen. In dicsem ZusammenhAng wcist Whiuington auch ~uf die Wirkmachtigktit ''on antikcn Codes h · die friihneuzcit!ich.e Bittgesuche nuf anachronisrische Weise mukturieren: .Shakcspea;~~ scenes of suppltcauon. [ .. -.J explore the aHeclive and psychologic:U cmailment.s of living in a culture where .supplu:nuon wos >In everyday occurrence.l3ut they also allow him 10 pur­sue l ~rgcr· qucsuons about the persistence of social and literary forms ncross periods of his~oricnl ch~ng~. In Rid~nrd If and Corio/anlls, Sh•kcspeare considers different ways in whr ch supplrcauon exercrscs unexpected COilStmim because its formal structures arc not in the end, so easily •na•tipu latcd to ~uit the individWII desires and alms of the present ' actors who pnnicipntc In its norm.s. As n longstanding rituali~ed structure wi1h a tmil of litcrnry and historical rrecc?ents behind it, supplication is able to exert extreme pressure on agents \~ho othcrwrse thrnk thcmsclv~s capable of controlling and mastering i1s scripts and scmanur:.•. As a result, rt bc~omes a f1gurc for the c~pacity of 1he anachronistic pnst to shape prc~ont concerns, even when older forms no longer seem to fit." (Whittington, Lcah: RcnawanC'e Supplit~ms. l'octty, Antiquity, Reconcilitrtion, Oxford 2016, S. 121). I m Untersehied zu Whiuingtons weitcm SupplikatiOn$begriff konzcntriert sich dieser Bci­trag auf Hikesie-Sz.c:ncn nls Aufnnbmebinen von Fliichtendcn/Verbanntcn. Kingslcy-Smith, Jane: Shakesp~.1re's Drama of E:rtfe, New York 2003, S. 1. Burke: .Cortolanusand 1hc Ddights of Faction•, S. 191. Vgl. Fish: .How to dtl Things with Austin ~nd Searlc: Speech Act Theory and Literary Criticism•, S. 996 ff. Jobn Plo1zlicst die Sune in diesem Sinne: .The accomplishment of Coriolantts is preci­~cly to shed~ dcvasta~ing lig_ht on the Roman ban!shmen.t of Coriobnus wirbout imply· mg that Corrol>nus hrmself rs ~pable of fully rccrprocaung the act of b<tnishmem• (Piorz, John: .Cot~olamu and the Failure of Performatives•, in: ELH 6J (1996), H. 4, s. 809 - 832; s. 819}. Mahler, Andrcas: .,,There is Restitution, no End of Restitution, only not for us.' Experi­mental Tragedy and the Early Modern Subject injulms Ctesar•, in: Zander, Horst (Hrsg.):ju/ms Ca .. sar. N""' Ct~llral Esutys, New York/London 2005, S. 181 - 195, S. 182. Muhiperspcktil•itiit:tcichnct Shnkespeares Tr-AgOdicn insgesamt •us, wie Paul Kouman deutlich macht: .Shakespeare[ ... ] shows us how different situations look from the stand­point of pmicubr individ~ls (Hamlet, for itlSlance)-as well as from other st~ndpoints on those individuals ~nd that situation (Claudius, Gcnrude, Poloniu:r, Ophelia, Horatio, e.tch of whom has a subjective w11rld-vicw of their own)- without evor showing how or whether these individual poii•ts of 1•icw truly coincide in a pallOJHic whole.[ ... ] The ltction of n Sh~kespearc~n dm1M is im•nriably moth•atcd by the non-coincidence of these multiple poims of 1•iew -the $hecr lnck of nn objective view of subjective stances.• (Komnann, Paul: • What is Shnkespcar·c~n Tmgcdy ?", in: Neiii/Schnlkwyk (1-lrsg): TTie O:~:fortll/aud­bf)().k of S/)trkllspt~TI.'tl>l 'Ji•ag~tfy, S. 3- 18, S. 12). J n sciner Smdie der Auffiihrungsge­schrchtc von CiirtolallltS nrbeitctjohn Riplcy die Mulliperspckti,•itat tllld ,endcmische' Parndoxicnrngstcchnik des Nurativs hernus (Ripley, John: Coriolmws 011 Stage in l:.'ug­lllmlmttf Amt•riro, /609 - 1994, Mndison. NY 1998, S. 13 und p:luint). Er betont aucb, dass die jakob:iische Thenterarchitcktur diese Multiperspektivir:it in dcr Auffiihrungspra­xis porcnzien durch die mucrschicdlichcn Blkkrichrungen des Publikums: .Thejncobean foresiAgc, on which action mighl be 1•icwcd from three sides, was uniquely suited to Coriolamu's bleak, overdctermined vision. This large, neurral canvas allowed its calculntcd groupings, pntterned entrances, and m!ltlnered posing to shape the narrati1•e with uncom-

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pron1ising dnrity. while itS dinying multiplicity of perspective,linguisric indeterrninac.r, ~ud repellent imagery ste~dily alienated the sensibilities and challenged the interprettltive powers of an audience situated Above, below, and Mound it." (Ebd., S. 51). l{ingsley-Smith: Sbakespea'l'e's Drttma of Ex de, S. t 42. Vgl. l'lutarch: .Now on chother side, the cittic of Rome w~s in nt>rl'clou~ uprore, •nd discord. the nobilitie against the communahie, and chicny for Mortius contlcmmtion ;uld wnishmem." (Bullougb, Gc:offre)': .Piu torch's Li1·es of the Noble Grecians and Rom3-nes. T,..•nslated by Sir Thomas North ( 1579)", in: ders. (Hrsg.): Narrative aud Dramatic Soarces of Sbak~spt<tre, London!New York 1964, S. 505 - 5-19, S. 528). Ripley: Cortolauus on Stage 111 England ttlld Amerwt, /6()1)- /994, S. 38. Vel. Shrank, Cathy: .Civility and the City in Cor~olamu", in: ShakespMre Qllttrtrrl)' H (2003}, H. 4, S. 406-423, S. 420. Schiilting, S•bine: •• What country. friends. is this?' The Performance of Connict in Sh<lkespeare's Drama of Migration", in: Dente, Carla/Soncini, Sar-.a (1-lrsg.): SIJakespcarc ,111tf Conf/ta, Hampshire 2013, S. H - 39, S. 3 I. Gould,John: .Hiketcia", in:]oumal of fleJimicStmlics 9J (1973), S. 74 - 103, S. 90. Thomas P. Anderson licst diese S1.cne in einem nktudlcn Bcitrag imllinblick auf den Zusammenhang"on G~stfr.:undschaft, friihmodernen Preundschnftskonzcpten und st~adich sanktionicrtcn Gcmcinschaften. Wic Anderson beobachtel, betont die sprachli­chc Gcstaltung dtr Verse die prekare i\nkunftssitu>tion: .1'he U$e of enjambment in these lines dmws auemion to the contrast (.but I") between hosfrit~lity'' unco•lditionnl wel­come and Coriolanus's inability to p:uticipnte unconditionall y in the plcnilutk" And er· son. Thomas P: ,.,Here's a Strange Alteration!': Hospitnlity, Pt·icnd5hip, .lnd Sovereignty in Coril)/amJI". in: Lupton, ] tll io/Goldstl:in, Da1•id (HI'sg.): Shakesf•~m·c llllll flospitality: Etbirt, Politics, a11d l!xchauge, New York 2016. S. 67- 86, hier: S. 76. ,.The question of demarcation of roles between stmngtr and suppliant is one which must nrisr for the ,arriv~l' when he presentS himsdf for accepmnce by a ,foreign' community: the choice lies between waiting at the porch to be acknowledged and conducted within or crossing the threshold and ;~dopting the ritual of /;ikttcta." Gould, John: .Hiketcia•, in: joumal of HeJimir S1ttdies 9) (1973), S. 74- 103, S. 92, I'N 94a. Vgl. auch Godde, Susanne: Dlfs Dr«ma dcr flikclle. Ritual:md Rlmorik iu Atsrhylos' Hikcticlen, Aschen­dorff/Miinstcr 2000, S. 24, FN )7. V si. den Beitntg \•on Ulrike Ha6 im I'Orliegcnden Band, dcr die uylpolitische Bcdcutung des Hcrdcs in dcr Tragodie heuunrbeitet. Bullough: .Piuu.rch's Lives", S. )27. Vgl. Kingslcy-Smith: Sbttkcspeare's Drama of Exil~. S. 153. Vgl. juli.,ne Vogel, die das Homlet-Zit•t •Is Ausgangspunkt ihru Oberlcgungen zur Kri­scnhaftigkcic •llcr theatralen Aufmue macht. lhrc Bcschrcibun' dcr erforderlicben ldcn­tifizierung des fre.mdcn Auftretendeo gilt insbesonderc fiir den £xilicrtcn und Fliiehtcn­dcn: ~Edordert ist eine epistcmologische, ~bcr auch eine formate Kompeten7. aufsciten der Anwesenden, die neben der Erkenntnislcistung beim Eimritt eincs Frcmdcm :tuch die Zcremonien unci Zugangsprotokolle zur Verfugung stellt, die die Einglicdcrung cines Unbekannten im Moment seines Erseheinens crrnoglichen und seine soziale Bcrcchcnbar­keit garoamieren.• Vogd, Julinne: _,\'ilho's thcrci' Zur Kriscnsitu•tion de> Auhrins in Drama und Theater·, in: dies./Wilcl, Christopher (Hrsg.): Auftrewr. \Vege auf dte B:ilmc, llerlin 2014, S. 22-37, S. 27-28. Derrida,Jacqt•c5' Of Hosprtality: Amtu Dufourmmttelle iii'Vttes}ttcqttts Dcrritlato YeJ­

polld, nus de m Frnnz. I' On R~chcl Bowlby, Stnnford 2000, S. 27. lO Vgl. Calbi, Maurizio: .Stues of Exception: i\uto-in11•1unity and the Body l'olitic in

Shnkespclll'c's Coriolanus", in: Del Snpio Gnrbero, M~rio/lscnl>erg, N~ncy/Pennnchhin, Mnddalena (Hrsg.): Queuio11i111) /Jodius in Sbnkcwetrrc's Rome, Gouingcn 2010, S. 77-94, S. 91 und Kuzner, Jarnes: .unbuilding •he City: Coriolnnus ttnd the Birth of Rcpubli-

ll c:ln Rome·, in: Sbnkespttlr<! Quarterly 58 (2007), H . 2, S. 174- 199. Vgl. bcispidswcise ,.the foreigner (bows) welcomed as guC$l or~$ enctn)'· Hospitality, hostility, bostipitaliry.• (Dcrrida: Of 1/otpttaltty, S. 45.) Gould: .. Hikctcia•, S. 93 f., Anm. IOOa. Vgl Godde: Das Dt·tulla dt·r Hik .. sit•, S. 37. Vgl. Shakespeare: Coriolamu, S. 338, FN 81. Ahlrichs, Bcrnhord: ,Priifsuin der Ccm:iru': Umersurl11mge11 zu de11 crhisclm: Vomel­hmgcll ;, den Pnrallclbiog~ap/)l{m Plmarclu am Bcispiel des, Coriolctll', Hildesheim/Ziirich/Ncw York 200), S. 312.

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Bullough: ,Plutarch's Lives", S. 528. Ebd., S. 316. Peter Riemer argumentiert, class Plu tarchs Version das starkcr forma lisiene Hikesie-Gcsuch bei Dionysios von Halikarnass miiglicherweise deshalb verei nfach t, wei l die Darstellung eines griechischen Rituals im Zusammenhang m it einer Legendc der irci­hen riimischen Republik nm einem gricchischcn Publikum ganz verstandlich "'ar. (Rie­mer, Peter: ,Coriolan bei Plutarch und Shakespeare", in: Mythosl (2004), S. 218-237, S. 222 f.) Zur Forschungsdebatte, ob im friihen Rom und der republikanischcn Zeit in Rom Asylstatten existierten, vgl. Dreher, Martin: ,Einleirung: Die Konferenz i.iber das antike Asylund der Stand der Forschung", in: ders. (Hrsg.): Das antike Asyl: Ku/tische

Gl'undlagen, 1'echt/iche Ausgestaltung und politische Funktion, Kiiln/\Veimar/Wien 2003, s. 1 - 13, s. 5. In No,·rhs Plutarch heiflt es lediglich: ,For if I bad feared death, I would not have come hither to have put my life in hazard" (Bullot1gh: , Plutarch's Lives" , S. 528). Christopher Pelling hat dieses Herausschalcn des rituellen Kerns in seinem einflussrei­chen Essay zur Adaption Plutarchs in Shakespeares fruherer riimischer Tragiidie]u/ius Caesar folgendermaflen beschrieben: ,It is as if Shakespeare can sense the real Plutarch, or at least sense danger, even when his translators stray." (Pclling: ,Seeing a Roman Tra­gedy through Greek Eyes", S. 268). Ein Grund fi.ir diesc von Plutarch und Shakespeare geteilte ,tragic sensibility' mag laut Pclling das Interesse am dramatischen Konflikt gewe­sen sein: ,perhaps we can see how first Plutarch may be adopting a tragic filter for his own presentation of biography and hi story, then Shakespeare- with a sensibility which is itself informed by the ,tragic tradition' which goes back ultimately to the Greeks - may pick up various of these elements himself and recast them in more directly dramatic form." (Ebd., S. 266). Godde: Das Drama der Hikesie, S. 4;. Whittington: Renaissance Suppliants, S.l7, in ihrcr Bescbreibung des formaletl Protokolls der Hikesie (sie verwendet den englischen Begriif ,suppl ication'), das in jungerer For­schung als nicht-ritualistisch eingcschiitzt wird, d. h. als nicht zwingend gelingend, wenn die gultigen Verfahrensregeln beachtet werden. Wie Whittington in ihrer umfangreichcn Studie von Supplikationsszenen in der Literatur der Renaissance zeigt, sind es gerade die Unwagbarkeiten jeder individuellen Hikesie-Szene, die das Protokoll poetisch produktiv machen (Ebd., S. 18 und passim). Kings ley-Smith: Shakespeare's D>·ama of Exile, S. 152. ,carry, v.", in: OED On/in e, Oxford Unive,·sity Press,June2017 (http:/ h·"·w.oed.com /view/Entr)•/2 8252 ?rskey=3kD HAj &resu lt=3 &isAd vanced=ial se# eid [zuletzt ges. 9. Marz 2017]). Ebd. Com inius beschreibt dieses Vorbaben im Bericht seiner gescheitertcn Scbutzbitte: ,,Coriolanus' I He would not answer to; forbad all names: I He was a kind of nothing, titleless, I Till he had forg'd himself a name o' rhe fire I Of burning Rome" (5 .1.1 0 - 15). Vgl. Ca lbis alternative Lesan dieser Doppelbedeutung im Zuge seiner Diskussion von Autoimmunitat in Coria/anus (Calbi: ,States of Exception" , S. 85) . A us der Perspektive der Schutzbitten in den Hiketiden gelesen, en tspricht Coriolanus bier den unbeweglichen Giitters tatuen, die Fluchtl inge in einem crstcn Schritt des Inkor­porationsrituals um Schutz an fl ehen. Miigli cherweise lass t si eh Coriolanus bier auch (anachron istisch) als cinc der Statu ender romischen Kaiser lesen, die in der sich spater entwickelnden eigcncn riim ischen Asylform als Zuflucbtss tatten dienten (Dreher: ,Ein­leitung", S. 5), was cmcut fi.ir eine Amalgamicrung der antiken Asylie-Traditionen in Shakespeares Bearbeitung der Coriolanus-Legendc sprache. Wie Giidde gezeigt hat, ist diese Differenzierung von Altarflucht und personaler H ikes ie allerdings aucl1 in der Antikc schematisch. Es ist spezifisch fur die Hikesi e, class sie inei­nandcrgre ifen. Giidde: Das Drama de~· Hikesie, S. 31. Ebd., S. 29. ,[T]hcy [the Romans] were all of opinion, that the people had reason to call home Mar­tius againe, to reconcile them sch·es to him[ ... ]. So they all agreed together to send ambassadours unto him, to let him understand howe his countrymen dyd call him home againe, and restored him to all his goodes, and besought him to del iver them from this warrc." (Bullougb: , Plu tarch's Lives'', S. 533). Kopperschmidt, Joscf: Hikesie als dramatiscbe Form, 1971, S. 321, zit. n. Giidde: Das

D>•ama der Hikesie, S. 32.

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Christina Wald

Shakespeare betont hicr die Unbeweglichkeit vo n Coriolanu s, dcr anders als in Norths Plutarch-Obersetzung nich t seiner Pa mi lie bereits zu Beginn enrgegen lauft und in Tranen

ausbricht (Shakespeare: Coriolmws, S. 379). ,Being swep t into the s tru cture of supplicat ion will constrain him [Cori olanus] to give a

n:spon~e. Once the script has been initiated, he cannot stop it without the nucleat· option

of reiusing to reply.[ ... ] Tf he can prevent her from asking at all, he can avoid th e con­su·aint that the script of suppliant and supp licarec will impose on him. " Whittingwn: Rwaissance Suppliants, S. 156. Godde: Das D>'ama del' Hikesie, S. 42 . Shakespeare konnte die kiirpcrsprach li che I:'o rcienmg des Bittgesuchs allein Plutarch ent­nchmen; seine andcren Coriolanus-Quellen enthaltcn keine aquivalenten Beschreibungcn (Whining ton: ,Shakespeare and the Greeks", S. 135 f.). Wie Gordon Braden gezeigt hat, ubemimmt Shakespeare ·"·omb' allS North (,thy foote shall treacle upon thy mothers worn be, that brought thee first into rh is world" (Bullough: , Piutarch's Lives", S. ;J9), dcr den Ausdruck m it ,s tartling explicimess" fi.ir Amyots und Plutarchs ,the corpse of her who bore you" erse tzt. Shakespeare \'ersta rkt die Prominenz des Ausd rucks, indem er ihn- anders als Pluta rch- a is Kulminationspunkt an das Ende von Volumnias erster !anger Schutzbittc setlt (Brad en, Gordon: ,Piutareb, Shakespeare and the alpha males'', in: .Martindale, Charles/Taylor, A. B. (H rsg.): Shakespem·e and che Classics, Cambridge 2004, S, 188- 205, S. 190 fi.). \Vie CoJ'iolanus' (iragliche) Identifikation m it Mars hat auch Volumnias VerkiirpCi'ung Roms einen sakralen Subtext. In Plutarchs Lives of the Noble Grecians and Romans wird die Schutzbitte der Frauen als gottlich inspiriertes Vorhaben prasentiert, in dern die rii mi­sc hen Frauen im Tempel Jupiters beten, bis die Vcstalin Valeria von einer giittlichen ,fan­sic" ergrifien "'ird und den Rettungsplan der Schutzbittc durch Coriolanus' Familic fin ­der (Bullough: ,Piutarch's Lives", S. 537 f.).ln Shakespeares Szene wird dicser sakrale Kontext aufgerufcn, als Coriolanus Valeria adress iert, "The moon of Rome, chastens the

icicle I That's candied by the frost from purest snow I And hangs on Dian's temple" (5.3.65 fi.). Er bezicht si eh auf den riimischen Ku lt der Ves ta, nach dem Jungfraucn das heili ge Feuer bcwaclnen, das d ie Kontinuiti'tt Roms reprasentienc und gewah rl eisrere

(Ka hn, Coppelia: R oman Shakespeare. \\l'm1·iors, \Founds, and 1\'lomen, London J 997, S. 156). Wic in Aischylos' Hiketiden wi rd also die Unverletzbarkeit dcr Schutzflchcndcn verstarkt m it dcr Unberi.ihrbarkeit Yon Jungfrauen. Der amike sakrale Jungfrauentopos wird fruhncuzeitlich umgeschrieben, er wird iiberfi.ihrt in die psychologischc Macht der jungfraulicben ?vi utter, die die Nation reprasentier t. Volumnia ist Mutter ohne Ehemann, der Vater ist abwcsend uncl wird nie thematisiert. Die guasi jungfrauliche Geburt von Martius ruckt sie in die Nahe von Rhea Silvia, die von Mac·s veJ'gewaltigt oder vcrfi.ihrt zur Ahnin Rams wurde, indem sie die Zwillin ge Ramulus und Rem us gebar. Das gleiche altgriechische Kompositum bczeichnet Verwandtenmord und Selbstmord. Vgl. Giidde: Das D1·ama de>· Hikesie, S. 154 f. Die Ausgestaltu ng der Verkiirpenmgsme­taphcm in dieser tragischen I-!ohepunkt- und Wendeszene modifizieren di e traditioncllen Staatskiirpermetaphern, die sich sowohl bei Plutarch als auch in Shakespeares Drama durchgangig find en . Auch im Schlussteil seine r Coriolanus-Biographie, in der Plmarch Coriola nus m it seinem griechischen Pendant Alci biades vergleiclu, bcwertet er Coriola­nus' Ge"·a hrung des Bittgesuchs Volu mn ias als fe hlerbah und bcgriindet das Feb lverha l­ten durcl1 eine Referenz zm body politic-i\1etapher: ,yet he had no reason for the love of his mother to pardone his contrie, but rather he should in pardoning his contrie, have spared his mother, bicause his mother and wife were members of the bodie of his contrie and city, which he did besiege" (Bu llough: ,Plutarch's Lives", S. 548). Der psychologi­sche und epistemische Reiz von Shakespeares Szene liegt, anders als bei Plutarch, in der Identifikation von Volumnia mit Rom, in der eine logischc oder hierarchi sc he Unte,·­scheidung der beiden mcitterli chcn Matrices suspend iert ist. Diese Lesart spitzt Kingsley-Smiths Beobachtung zu, dass sich in den letzten beiden Akten ei11e zunehmende lnsrabilitat des Verkiirperungspbantasmas beobachten lasst: ,To [ ... ]destroy in name oi Rome requires the exile to be certain that he st ill embodies Romani tas to a greater enent rhan anyone else- a certai nty that Coriolanus appears ro

lose in the last rwo acts of the play" (Kings ley-Sm ith: Shakespem·e's Drama of Exile, s. 152). Vgl. Giidde: Das D mma der Hikesie, S. 30 f. Giidde '"'·ist auf die \'ilic htigkei t der Solon­Vita van Plutarch fur die umstrittenc Forschungshaltung bin, class die Wirkkraf t dcr kiir-

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Page 16: Dieses Buch wurde gefordert m it Mitteln des im Rahmen der ... · \VCI ' l . Aristoteles' Poetik vertraut war, aber eine zumindcst indirekte llli ' Bekanntschaft scheint zunehmend

,And here remain with your uncertainty"

perlichcn 13criihrung innerhnlb des Hikcsie-Ritu~ls auf m<~gischen Gl~ubcnsinhnltcn bcruh~. Vgl. ~uch nidcns Bcstondnufnahmc aotikcr uppl[btionsritunle die die Bcgriffsgcschiclne dcr ,Komaktmagic' aufnrbcitcr und die Kritikpunktc nn°dcr Annnhme cincr aurom:uischcn \\7irkung die 'er Bcriihrung dcudich mncht. Naidcn, F. S.: Anci~nt

60 upplic,ulon, Oxford/ cw York 2006, . 8 - 18.

Shakespeare, William: The Tragedy ofCoriolmllls, lusg. v. R. B. Parker, Oxford/New York 1994, S. 56.

61 Vogel, Julinnc: A us de m Gmnd: Alfjt>'ittsp>'Otokolle zwischen Racine und Nietzsche Paderbom 2017, S. 226 - 228. '

62 lvliller, Anthony: Roman Ti•iumphs and Em•ly Modern English Cultne, Bas in gsroke/N ew Yor k 2001, S. 137.

6l Shakespeare: Co>·iolanus, S. 399, FN 4.

64 Bu !lough: ,Plurarch's Li,·es", S. 533. 6; Vogel: AHs de m Gmnd, S. 27.

166

l(atrin Tri.istedt

" HOW CAME THAT WIDOW IN?"

Enrzogenc Fluchtgeschichten auf der Bi.ibnc

Die deutschsprachige Biihne ist zu eincm hcrvorgehobenen O rt der

politischen Verhandlung von Flu cht avanciert, 1 an dem Fliichtlinge nicht

nur zum Gegenstand dcr Debatte we rden, sondern gleichzeitig selbst

aufzutreten scheinen. D as konnte den Gedanken nahelegen, class di e

heu tigen Fluchtbewegungen auf der deutschsprachigen Biihne Gegen­

wart gewinnen und direkt vor Augen treten. Der weitaus gro!Ste Teil der

weltweiten Fluchtbewegungen finde t allerdings gegenwartig au!Serhalb

des sich abschottenden Europas statt. Laut UNO-Fliichtlingshilfswerk

wa ren Ende 2016 65,6 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht;

neun von zehn Fli.ichtlingen befanden sich auGerhalb der sogenannten

,entwickelten Welt" und lebten in sogenanmen ,Emwicklungslan­

dern" .2 Wenn das Thearer ,hier und jetzt " vor Augen stellen soll , was

ist, 3 so steht es folglich vo r der F rage, w ie gerade die entzogenen Flucht­

gcschichten auf der Bi.ihne verhandelt werden konnen.' In Elfriede Jcli­

neks StLick Die Schutz befohlenen, das sich diesem Problem wie wenige

stellt, wird diese Frage nicht zuletzt in Begriffen und Figuren von Stell­

vert retung gestellt und durch gespie!t.;

Dass das Theater zum Ort der Verhandlung von Flucht und zum

Erscheinungsraum ihres Entzugscharakters wird, ist nicht neu in der

Geschichte des Theaters. Um die historische Tiefe der inneren Bezie­

hun g von Flucht und Szene zu begrcife n, kann man sich nicht nur der

antiken Tragodie, alien voran Aischylos' H iketiden, zuwenden, die den

Hintergrund von J elineks Stuck abgeben. Auch die fri.ihneuzeitliche

Bi.ihne ist zum Ort der Verhandlung von Flucht- und Migrationsbewe­

gungen gewo rden. Mit Shakespeares Tempest wird die Biihne zu einer

Insel, einem Ort des voriibergehenden Aufenthalts inmitten des Meeres

und mithin de mU nort der Fli ehenden schlechthin. Die Protagonisten

des Tempest, Prospero und Miranda, erscheinen dabei in der doppeldeu­

t igen Rollc von Kolonisa toren und F li.ichtlingen: In ihrem Machrver­

hii.ltnis zu den Figuren, die sie auf der Insel vo rfinden, Ariel und Cali­

ban, bez iehen sie sich nicht nur auf ihre vermeintliche europa ische

Uberlegenheit; 6 als selbst aus Europa Vertriebene und Gefliichtete, si nd

sie diesen Figuren gleichzei tig auf untergrLindige Weise verb unden.

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