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5 „Was willst du einmal werden?“ Anmerkungen zur Berufsfindung Vom Lokomotivführer zum Waldorflehrer „Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?“ „Ich will Lokomotivführer werden.“ Von unserem Küchenfenster aus konnten wir einen Steinwurf entfernt täglich die Dampfeisen- bahn vorbeischnauben sehen und hören und dem Lokführer sogar zuwinken. „Dann kann ich jeden Tag Eisenbahn fahren und ganz weit fort fahren. Ich werde Lokomotivführer!“ – Eine unumstößliche, klare und absolut freie Entscheidung war gefällt. Es war ein Kindheitstraum, an den keine Fragen und keinerlei Bedenken geknüpft waren. Bereits in der ersten Schulzeit wollte ich dann zunächst Pfar- rer werden, weil ich dann auch eine so große und schöne Kirche bekommen würde und jeden Sonntag von der Kanzel herunter donnern und wettern dürfte. Und während der Gymnasialzeit wäre ich eine Zeitlang unheimlich gerne Pianist geworden. Mein Musiklehrer war ein brillanter Pianist und Organist, ich hatte bei ihm Klavierunterricht und war sehr beeindruckt von ihm. Ich musste mich aber bald der Einsicht beugen, dass meine Bega- bung für eine solche Traumkarriere viel zu gering war. Als ich dann in der späten Oberstufe – viel zu spät – über ei- nen Lehrer, der mich befeuerte, das Lernen und die Freude daran entdeckte, war schnell geklärt: ich werde studieren und ich will Lehrer werden. Eine Stunde nach dem glücklich bestandenen Abitur legte ich die Fächer fest: Deutsch und Geschichte. Ich wusste nicht, was mich dabei alles erwartet und wie viel mir das abverlangen wird, sondern war glücklich über diese Entschei- dung und lange Zeit begeistert vom Studium und überhaupt vom Studentendasein – was brauchte es mehr! Dass ich dann Wal- dorflehrer geworden bin und über welche Umwege, ist eine eigene Geschichte. Aber das Dargestellte genügt, um zu sehen, wie viele Ansätze vorausgingen und auch nötig waren, bis der berufliche Ort in der Welt gefunden war. Ich kenne Menschen aus meinem Bekanntenkreis, bei denen diese Pfade noch weit verschlungener und komplizierter verlaufen sind. Einige haben den ihnen gemäßen beruflichen Ort gar nicht gefunden und quä- Berufsfindungstage…

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„Was willst du einmal werden?“Anmerkungen zur Berufsfindung

Vom Lokomotivführer zum Waldorflehrer„Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?“ „Ich will

Lokomotivführer werden.“ Von unserem Küchenfenster auskonnten wir einen Steinwurf entfernt täglich die Dampfeisen-bahn vorbeischnauben sehen und hören und dem Lokführersogar zuwinken. „Dann kann ich jeden Tag Eisenbahn fahrenund ganz weit fort fahren. Ich werde Lokomotivführer!“ – Eineunumstößliche, klare und absolut freie Entscheidung war gefällt.Es war ein Kindheitstraum, an den keine Fragen und keinerleiBedenken geknüpft waren.

Bereits in der ersten Schulzeit wollte ich dann zunächst Pfar-rer werden, weil ich dann auch eine so große und schöne Kirchebekommen würde und jeden Sonntag von der Kanzel herunterdonnern und wettern dürfte. Und während der Gymnasialzeitwäre ich eine Zeitlang unheimlich gerne Pianist geworden. MeinMusiklehrer war ein brillanter Pianist und Organist, ich hatte beiihm Klavierunterricht und war sehr beeindruckt von ihm. Ichmusste mich aber bald der Einsicht beugen, dass meine Bega-bung für eine solche Traumkarriere viel zu gering war.

Als ich dann in der späten Oberstufe – viel zu spät – über ei-nen Lehrer, der mich befeuerte, das Lernen und die Freude daranentdeckte, war schnell geklärt: ich werde studieren und ich willLehrer werden. Eine Stunde nach dem glücklich bestandenenAbitur legte ich die Fächer fest: Deutsch und Geschichte. Ichwusste nicht, was mich dabei alles erwartet und wie viel mir dasabverlangen wird, sondern war glücklich über diese Entschei-dung und lange Zeit begeistert vom Studium und überhaupt vomStudentendasein – was brauchte es mehr! Dass ich dann Wal-dorflehrer geworden bin und über welche Umwege, ist eineeigene Geschichte. Aber das Dargestellte genügt, um zu sehen,wie viele Ansätze vorausgingen und auch nötig waren, bis derberufliche Ort in der Welt gefunden war. Ich kenne Menschenaus meinem Bekanntenkreis, bei denen diese Pfade noch weitverschlungener und komplizierter verlaufen sind. Einige habenden ihnen gemäßen beruflichen Ort gar nicht gefunden und quä- Berufsfindungstage…

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len sich sozusagen entfremdet und gelähmt durch ihr Berufsle-ben.

Es ist klar: der Berufsweg ist ein Lebensweg. Die beruflicheTätigkeit beansprucht in der Regel den ganzen Menschen, einengroßen Teil unserer Aufmerksamkeit, unserer Fähigkeiten undKräfte. Auch unserer Zeit, ja unserer Lebenszeit. Wenn wir unsmit dieser Tätigkeit identifizieren können, weil wir sagen kön-nen, ich habe für mich das Richtige gefunden und was ich tue istsinnvoll und notwendig für die Welt, dann bestärkt das auchunser persönliches Selbstwertgefühl. Auch gesellschaftlich, alsonach außen, bestimmen wir unsere Identität sehr stark über An-sehen und Bedeutung unseres Berufes und nicht zuletzt über dieHöhe des damit zusammenhängenden Lebensstandards.

Die richtige Berufswahl ist für uns aber vor allem deshalbvon existentieller Bedeutung, weil sie es uns ermöglicht, mitFreude und Begeisterung an der Gestaltung der Zukunft mitwir-ken und uns persönlich entfalten zu können. Es geht also um diebeiden Pole Ich und Welt und wie ich die Beziehung zwischenbeiden gestalte. Das erfordert grundsätzliche, verantwortlicheEntscheidungen. Ist es besonders nach der Katastrophe vonFukushima ethisch noch vertretbar, sich der Atomindustrie zurVerfügung zu stellen, oder ist es nicht dringend geboten, dieErforschung und Entwicklung alternativer Energien voranzutrei-ben? Habe ich die Zukunft der Erde und der nachfolgendenGenerationen im Blick, wird meine Entscheidung völlig andersausfallen, als wenn es mir nur um meine persönliche Karrieregeht. Wir können heute sehen, dass in allen erdenklichen Le-bensbereichen die jungen Menschen mit solchen Gewissensfra-gen konfrontiert werden, die früher eher die Ausnahme waren.

Begabung und VerantwortungÜberrascht hat mich diesbezüglich die Wachheit und Klar-

heit der Teilnehmer an meinem diesjährigen Michaeli-Ge-sprächskreis. Das Thema lautete „Berufsfindung“ und sollteGelegenheit bieten, sich gemeinsam und grundsätzlich über dieeigene berufliche Zukunft zu beraten. Dass sich über 30 Schülergemeldet hatten, zeigt das vorhandene Interesse und den Bedarfnach Austausch und Klärung über diese ihre Zukunft betreffendeFrage. Die Frage, warum sie diesen Kurs gewählt haben, warschnell beantwortet: Es ginge um eine der wichtigsten Lebens-entscheidungen, über die sie sich Anregungen und Klärung er-hofften, so lautete der Grundtenor. Es waren dann erstaunli-cherweise nur zwei Schüler dabei, die angaben, sie hätten noch„gar keinen Plan“, was sie später beruflich einmal machen wol-len. Acht hatten bereits eine Vorstellung oder einen Wunsch

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über ihre berufliche Zukunft und vierzehn hatten einige Vor-stellungen und Wünsche, waren sich aber noch unsicher. DasSpektrum war sehr breit und reichte über Düsenjetflieger, Mo-torradrennfahrer und Basketballprofi, über Geologe, Grund-schullehrer, Erzieher und Biologe oder Naturfilmer bis zu Ar-chäologe, Architekt, Informatiker und Psychologe.

Die meisten Schüler begründeten ihr Berufsziel mit dem per-sönlichen Interesse, das sie damit verbanden, und weil sie mein-ten, dafür genügend befähigt zu sein. Es war aber auch bereitsein gewisses Bewusstsein vorhanden, das über den persönlichenBezug hinausreichte. Als die Frage auftauchte, ob es heutzutageethisch vertretbar sei, z.B. in der Waffenindustrie oder in derAtomindustrie zu arbeiten, wurde das einhellig abgelehnt bzw.ein Schüler meinte, man brauche sehr wohl Atomingenieure,weil es nämlich darum gehe, endlich aus der Atomindustrieauszusteigen und die Atomkraftwerke könnten nur von Fach-leuten abgeschaltet und entsorgt werden.

Freie Berufswahl – Wunsch und WirklichkeitMit der rasanten Entwicklung zur individuellen Freiheit und

Unabhängigkeit sind auch die Anforderungen an die eigeneUrteilsfähigkeit und die persönliche Verantwortlichkeit gewach-sen. Selbst noch zu meiner Kindheit in den 50er Jahren wurde inunserem Dorf fast jeder Junge fraglos Bauer wie seinVater, Großvater und Urgroßvater und noch weiterzurück. Das war der gegebene Horizont. Gehen wirweiter zurück bis ins Mittelalter, dann sehen wir, wiedort die „Berufsfrage“ durch die Zugehörigkeit zu denStänden bestimmt wurde. Der Adel blieb unter sichund Bauer blieb Bauer. In den Städten zur Zeit desHochmittelalters erst hieß es dann: „Stadtluft machtfrei!“ Ein in die Stadt entlaufener höriger Bauer durftedort bleiben, sofern ihn sein Grundherr nicht innerhalbeines Jahres offiziell zurückforderte. War er dann cle-ver und geschickt genug, konnte er sich nun eventuellim Handwerksbereich eine eigene Existenz aufbauen.Aber auch dafür gab es durch die Zünfte streng gere-gelte, damals sehr sinnvolle Vorschriften und Grenzen,in welche das gesamte Handwerkswesen eingebettetwar. Wie man es auch immer bewerten mag, die Men-schen wurden jedenfalls durch die soziale Ordnungweitgehend getragen.

Erst mit dem Beginn der Neuzeit und auf der Basis der sichentfaltenden kapitalistischen Industrie eröffneten sich allmählichdie Möglichkeit und das „Recht auf freie Berufswahl“. Aber wie

Beruf Buchbinder

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sah diese Freiheit aus? Zum einen waren die Menschen nunimmer weniger bereit, sich vorgegebenen sozialen Zwängen zubeugen, vielmehr strebten sie nach eigenständiger Lebensge-staltung. Zum anderen verlangte das „freie Unternehmertum“ die„freie“, das heißt grenzenlose Verfügbarkeit über alle sich bie-tenden Arbeitskräfte. Auch Kinder z.B. hatten im Frühkapitalis-mus selbstverständlich in den Fabrikhallen der Borsigs undKrupps zu schuften. Karl Marx sprach seinerzeit völlig zu rechtvon „Lohnsklaverei“. Es nahm viele Jahrzehnte in Anspruch, bissich die Industriearbeiterschaft unter Führung der damaligenSPD und der Gewerkschaften einigermaßen menschenwürdigeLöhne und Arbeitsbedingungen erkämpfen konnte.

Die sich rasant differenzierende und verästelnde Arbeitstei-lung in den großen Industrieanlagen ließ zugleich permanentneue Berufsfelder entstehen, und den dafür qualifizierten Ar-

beitskräften bot sich nun nach dem Prinzipvon Angebot und Nachfrage die Möglich-keit, sich für eine dieser Stellen zu bewer-ben. Während sich somit neue Freiheitenund Möglichkeiten der beruflichen Ent-wicklung eröffneten, wurde die Arbeitzugleich an die Gesetzmäßigkeiten desMarktes gebunden. Man spricht heute wieselbstverständlich vom „Stellenmarkt“ oder„Arbeitsmarkt“, ohne sich darüber Gedan-ken zu machen, ob das der Arbeit und demBeruf des Menschen angemessen ist. So hatunsere heutige Zeit – als Folge der techno-logischen Entwicklung – eine unvorstellbargroße Menge von Berufsmöglichkeitenentstehen lassen – einige tausend! –, die

wirkliche Freiheit der Berufswahl steht allerdings auf einemanderen Blatt. Würde man die Freiheit der Berufswahl wirklichals Grundrecht einklagen, dann verstieße unsere Gesellschaftpermanent gegen die Menschenrechte. Der junge Mensch musssich deshalb an dem orientieren, was sich ihm de facto bietet,nicht allein daran, was er sich wünscht.

Noch in anderer Hinsicht müssen sich die Wünsche derSchüler von der Wirklichkeit korrigieren lassen. Die meistenTätigkeiten sind heute hoch spezialisiert und daher oftmals ent-sprechend einseitig, über weite Strecken vielleicht auch eintöni-ger, als man es sich vorgestellt hat. So etwa wenn ein gelernterSchreiner sich in einer großen Firma wiederfindet, in der nurTüren oder Fensterrahmen hergestellt werden, und zwar aus-schließlich maschinell. Da ist es zunächst einmal wichtig, dassklare Vorstellungen entstehen.

Kinderarbeit im Frühkapitalismus

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Begegnung und VorbildAls Anregung, sich erste Gedanken zur eigenen Berufswahl

zu machen, finden bei uns für die Schüler der zehnten Klassejeweils im zweiten Schulhalbjahr die sogenannten „Berufsfin-dungstage“ statt. Für dieses zweitägige Projekt lädt eine Gruppevon Eltern ihnen bekannte Persönlichkeiten ein, die sich denSchülern mit ihrem Beruf vorstellen und mit ihnen darüber insGespräch kommen. Die vertretenen fünf bis sechs Berufe sollenin gewisser Weise repräsentativ sein, die sie darstellenden Per-sönlichkeiten brauchen etwas pädagogisches Geschick. Bei denTreffen geht es in etwa um folgende Fragen und Themen: Wiehaben Sie zu ihrem Beruf gefunden? Wie gefällt Ihnen Ihreberufliche Tätigkeit? Worin sehen Sie die gesellschaftliche Be-deutung Ihrer Tätigkeit? Wie hat der Beruf Ihr Leben beeinflusstusw.? Für die Schüler findet also eine Begegnung mit Menschenstatt, die bereits lange berufliche Erfahrung und ein möglichstklares Bewusstsein darüber mitbringen. Es steht dabei nichtunbedingt in erster Linie dervorgestellte Beruf, sondernzumeist die ihn ausfüllendePersönlichkeit und deren be-ruflich-biographischer Wer-degang im Zentrum derAufmerksamkeit. Die Schü-ler können sich auf dieseWeise einen unmittelbarenund konkreten Eindruckverschaffen, welchen Stel-lenwert der Beruf im Lebendieser Menschen spielt. DesWeiteren gibt es bei diesem Berufsfindungs-Projekt die Mög-lichkeit, sich mit Bewerbungsmodalitäten zu beschäftigen und esfolgt ein Besuch beim Arbeitsamt zwecks erster Orientierung,wie man sich über die Berufswelt und den Zugang zu ihr infor-mieren kann. Das Echo der Schüler ist in der Regel positiv undsie beschreiben das Projekt als interessant und anregend für ihreweitere Beschäftigung mit diesem Thema.

Für mich ist es immer wieder spannend, etwa beim Martins-bazar oder beim Zwölftklass-Spiel „Ehemalige“ zu treffen undzu erfahren, wie es ihnen geht und was aus ihnen geworden ist.Dieses Mal traf ich z.B. zwei Lehrerinnen, einen gestandenenHandwerker, einen angehenden Arzt sowie junge Mütter undVäter. Ich hatte durchweg den Eindruck, gereiften Persönlich-keiten zu begegnen, die sich mit Freude an ihre Schulzeit zu-rückerinnern.

Werbung für den„Arbeitsplatz mit Zukunft“

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Berufswahl und UnterrichtEine wichtige Rolle spielen Schul- und Unterrichtserfahrun-

gen hinsichtlich der beruflichen Orientierung unserer Schüler.Ich glaube, dass der Unterricht quer durch alle Fächer so etwaswie einen permanenten Ort der Berufsfindung darstellt. Hierseien aus einer Vielzahl nur ein paar Motive genannt, über dieimmer wieder insbesondere von „Ehemaligen“ berichtet wird.Zum Beispiel kommt es mir immer wieder zu Ohren, dassSchüler sich für ein bestimmtes Studium entscheiden, weil sieeine bestimmte Lehrerpersönlichkeit und deren Unterricht alsinspirierend erlebt haben. Also eine Begegnung stattgefundenhat, durch die das Interesse und die Begeisterung geweckt wer-den, die dann für die eigene Lebensgestaltung ausschlaggebendgeworden sind. Eine ähnlich prägende Bedeutung kommt deneinschneidenden Erfahrungen und Begegnungen unserer Schülerwährend des Sozialpraktikums zu. Diese öffnen häufig einenganz neuen Blick auf das Menschsein und auf die eigene Per-sönlichkeit. Insbesondere nach der Begegnung mit pflegebe-dürftigen Menschen. Für so manchen Schüler wurde dadurch dieEntscheidung angebahnt, einen sozialen Beruf zu ergreifen odersich in diesem Bereich privat zu engagieren.

Auch die Beschäftigung mit bestimmten Unterrichtsinhalten,etwa der Parzivaldichtung in der elften Klasse, ist hier anzufüh-ren. Parzivals Weg und Aufgabe besteht darin, Bewusstsein undHerrschaft über seine Lebensbestimmung zu erringen, und damitgeht er weit über das Mittelalter hinaus. Er handelt nicht imherkömmlichen Sinne, der traditionellen Vorherbestimmungentsprechend, wie man es von ihm erwartet. Deshalb ist er zu-nächst völlig ohne Orientierung und verrennt und verirrt sich,wo er auch hinkommt. Aber Schritt für Schritt erringt er Klar-heit, erhält unterwegs auch immer wieder Hilfe und verfolgt dasdann endlich erkannte Ziel mit allen ihm zu Verfügung stehen-den Kräften, bis er es schließlich erreicht. Diese beeindruckendeBiographie bietet für Schüler immer wieder Anlass, über sichselbst und die mögliche eigene Lebensaufgabe nachzudenken.Dabei wird zugleich deutlich, dass es nicht nur um „Beruf“ imengeren Sinne geht, sondern darüber hinaus um „Berufung“, umdie künftige Lebensrichtung, in die dann die berufliche Tätigkeiteingebettet sein kann.

Als weiteres Beispiel sind das Zwölftklass-Spiel und über-haupt die Bühnenerfahrungen während der Schulzeit zu nennen.Sie führen den Einzelnen immer in gewissem Maße über sichselbst hinaus, indem er als Schauspieler eine Rolle zu verkörpernhat, die vielleicht konträr zu seinem eigenen Charakter steht, indie er sich aber hineinleben muss. Das kann ihm dazu verhelfen,

Soziale Berufe

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sich selbst künftig in einem anderen Licht zu sehen, vielleichtselbstkritischer als bisher. Wichtig sind auch die sozialen Erfah-rungen und Lernprozesse, die sich im Verlaufe der oft schwieri-gen Proben mit einer gesamten Klasse einstellen, und nicht zu-letzt bedeutet die Interaktion untereinander und mit dem Publi-kum während den Aufführungen ein unschätzbares Erlebnis anGeistesgegenwart und sozialer Kommunikation. Auf diese Wei-se werden hier Fähigkeiten veranlagt, die für sehr viele berufli-che Tätigkeiten unabdingbar sind, die darüber hin-aus jedoch auch unser Menschsein ausmachen unduns als Persönlichkeit stärken. Hinzu kommt noch,dass die Bühnenerfahrungen schon manchemSchüler den Weg in Richtung Schauspielberufgebahnt haben.

Solche Wirkungen zeigen sich oftmals erst nachder Schulzeit. Besonders eingeprägt hat sich mirdie folgende Episode. Ich kannte einen Schüler –nicht von unserer Schule –, der als einer der un-beugsamsten Gegner und Verweigerer der Euryth-mie berüchtigt war und gnadenlos alle Bemühun-gen scheitern ließ, ihn eines Besseren zu belehren.Er ergriff nach der Schule den Beruf des bio-dynamischen Landwirtes und wurde ein halbes Jahrdanach während der Ausbildung gesichtet, wie er inder Scheune mit den anderen Auszubildenden un-gewöhnlich grazil und geschmeidig höchst kompli-zierte eurythmische Bewegungen ausführte.

LebensschuleFür die meisten unserer Schüler jedoch wie überhaupt für die

jungen Menschen heutzutage ist die Berufsfindung oft einKreuzweg, denn vorgegebene oder erworbene Impulse, die ineine bestimmte Richtung weisen könnten, fehlen sehr häufig.Jetzt heißt es, selbst Kriterien finden, jetzt heißt es, sich prüfen.Was will ich im Leben, was kann ich, was habe ich mir bishererworben, was traue ich mir zu, habe ich Ziele, Ideale, habe ichMut, bin ich kreativ, will ich meinen Weg gehen oder folge ichdem Ruf der Trendsetter und Marktschreier, die mich auf die„tausendmal überlaufene Bahn“ locken möchten?

An dieser Stelle wird auch offenbar, inwiefern die Schule ih-rer Hauptaufgabe gerecht wurde, die jungen Menschen bei derEntfaltung ihrer Persönlichkeit dergestalt zu fördern, dass sie indie Lage kommen, die Welt nicht egoistisch-kleinkariert undkritiklos-naiv zu betreten, sondern mit prüfendem, eigenständi-gem Blick und dem Mut, etwas zu wagen. Wo werde ich ge-

Klassenspiel der 12. Klasse 2012

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braucht, nicht nur, was würde ich gerne tun!? Schulbildung mussüber die Vorbereitung der Schüler auf ihr zukünftiges Berufsle-ben hinausgehen, sie muss auf das Leben vorbereiten und daserschöpft sich nicht in der Ausrichtung auf die berufliche Tätig-keit. Es geht unter anderem um das Ziel, durch seine gesamteLebensführung sinnstiftend zu wirken.

Bedenken wir auch, dass unter den Bedingungen des heuti-gen Spezialistentums und der Globalisierung für sehr vielekünftige Erwachsene die berufliche Tätigkeit alles andere alsErfüllung und Glück mit sich bringen wird und dass sich diesenMenschen die Frage stellt, womit sie ihre Zeit außerhalb derberuflichen Arbeit ausfüllen. Kompensieren sie jetzt all ihrenFrust mit materiellen Ersatzbefriedigungen plus permanentemMedienkonsum, oder haben sie die Fähigkeit und Kraft, sichetwa auf kulturellem Gebiet oder im sozialen oder politischenBereich gesellschaftlich einzubringen? Unsere Schule mit ihrenEltern ist in dieser Hinsicht ein wichtiges Vorbild für die Schü-ler. Ist es doch beeindruckend, mit welchem Einsatz sich vieleunserer Eltern neben ihrer beruflichen Beanspruchung noch fürdie Schulbelange engagieren, etwa im Vorstand, in der Gesamt-konferenz, im Bazarteam, für die Bücherstube oder in anderenInitiativen.

Die Entwicklungswege der jungen Menschen heutzutage zei-gen zudem oftmals, dass sie ganz andere Richtungen nehmen,als zunächst gedacht oder gewollt war. Es ist ja auch gar nichtunbedingt gesagt, dass es erstrebenswert ist im Leben dem zufolgen, worauf die schon vorhandenen Begabungen verweisen.Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass es geradedarauf ankommt, neue Fähigkeiten zu erlernen, die man nichtschon mitbringt.

Bei der Frage „Was will ich einmal werden?“ geht es alsonicht allein um einen von vornherein bestimmten beruflichenWerdegang. Wesentlicher ist es, in unseren Zeiten des sozialenund globalen Wandels, der persönlichen Mobilität und der wirt-schaftlichen Unsicherheit Initiativkraft und geistige Beweglich-keit, Kommunikationsfähigkeit, Vertrauen und Selbstvertrauenins Leben mitzunehmen. Je stärker diese Fähigkeiten ausgeprägtsind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Menschden Ort entdecken wird, an dem er Leben und Arbeit als seineigenes individuelles Schicksal, als seine Bestimmung und Beru-fung erfahren kann.

Gustav Meck (L)