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08 Berlin | Wien | Paris | Jerusalem

B08_Leseprobe

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08

Berlin | Wien | Paris | Jerusalem

Wolkenteppich überm Himmel. Die rote Sonne, im Dunstweben gefangen, lässt den vieläugigen Klotz kürbisfarben leuchten. Eine Straßenbahn rutscht über die Schienen, sagen wir im Winter, denn dann fallen weiß die Flocken vom Himmel in abendliche Flüsse aus Menschen und Fahrzeugen.

es ist niemals still in dieser Stadt. Stört mich das? Ich weiß es nicht. Im Grunde ist es unwichtig. Die Stille, die war, bevor das erste Geräusch sie zerrissen hat, wird nie mehr sein, gleich, wie still es wird.

Die Autos und Busse, die Fußgänger, bewegen sich so schnell wie immer, doch wenn bereift der Schnee den Blick vergittert, nimmt er den Dingen die Geschwindigkeit.

Die Stadt, habe ich das Gefühl, liegt auf der Lauer. Wie lang ich wohl schon hier bin? Ich weiß es nicht. Je nachdem, denke ich, was man unter ich, unter hier und unter sein versteht. Noch nicht lange. Oder schon immer.

Unter einem Vordach sucht er Schutz vorm Schnee, verbirgt das Kinn im Kragen und die Hände in den Manteltaschen. Sein Atem tanzt zwischen Lichtschimmergrenzen empor. Die feucht-verwischte Grünfläche, auf der im Frühjahr und im Sommer Studentenhintern vom Motorteil der Tageszeitung vor Feuchtig-keit geschützt werden, knirscht unter Stiefelsohlen, hart, kalt. Der See gefroren, kleine Kinder versuchen Schritte darauf und kreischen laut, wenns gefährlich knackt.

Asphalt

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man sagt, ihre Winter seien hässlich. Das ist Unsinn. Diese Kälte zum Beispiel ist vorzüglich.

Stehen macht die Füße kalt. Die Mütze tiefer ins Gesicht ge-schoben, malt er mit seinen Schritten schwarze Löcher in den Schnee auf der Asphaltschnur. Der Himmel ist pedantisch und legt die weiße Decke neu zurecht.

im Sommer kommen viele aus anderen Städten, es muss noch mehr davon geben, man hat mir davon berichtet. Manche von ihnen sprechen Englisch. Man kann sich vorstellen, wie das ist, mit Engländern in der Straßenbahn: Schweigen? Tun sie nicht, die haben ja nicht einmal ein Wort dafür.

Das Tagesdunkel macht in dieser Zeit der Sonne Platz – nur wenn sie untergehen will, ein Seufzen in der Brust von Romantikern, Zitat einer Hoffnung. Es wird sich wiederholen und ist am Ende vielleicht doch nur Lüge.

ich habe mich an die Stadt gewöhnt. Das beruht, glaube ich, nicht auf Gegenseitigkeit. Sie wird mir ein Bein stellen, irgendwann, wie sie es mit jedem tut. Verfluchtes Luder, Millionen von Menschen, seit Ewigkeiten, und sie tut, als ginge es sie nichts an.

Die Hauseingänge führen in Geschäfte, leuchten gelb und rot und preisen an, was man verschenken kann, es wird wieder gekauft und geschenkt und überall stehen Plastiktannen in Schaufenstern und Fensterschnee klebt an den Glasscheiben. Mit Tüten bepackt hasten Menschen von Laden zu Laden, das Letzte zu besorgen. In einem Eingang, der schwach nur leuchtet, hier verdient niemand am Weihnachtsgeschäft, hier arbeitet niemand, die Klingelleiste verrät ein Wohnhaus, sitzt ein angegrauter Mann mit einer Kunst-fellmütze auf dem Kopf, die Lederlappen über die Ohren gehängt, und pflanzt sich eine Flasche Schnaps ins Gesicht. Der Einkaufs-wagen mit Leergut in Plastiktüten und einer Decke neben ihm.

ich hatte einen Freund, vor langer Zeit. Er wusste, wo die Engländer herkommen und all die anderen, die im Sommer in die Stadt einfallen. Aber er hat nicht gern darüber gesprochen, es muss ein schrecklicher Ort gewesen sein. Mit ihm habe ich in einem Café gesessen, einem ganz kleinen in einem Hinterhof. Dort kamen nicht viele Menschen vorbei, es war ein Ort, von dem man nicht weiß, ob die Zeit stehengeblieben oder niemals dort angekommen ist. Er hatte sich an die Stadt so wenig gewöhnt wie sie sich an ihn oder an irgendjemand anders. Irgendwann war er spurlos verschwunden.

Er malt schwarze Löcher an ihm vorbei, vorbei auch an den Cafés und vorbei am Eingang zum U-Bahnschacht.

In der Eingangshalle redet ein Mann auf eine Frau ein, redet schnell, wird manchmal lauter, hebt dabei die Arme in die Luft, wo sie wilde Figuren zeichnen. Die Frau legt ihre Hände auf seine Schultern und drückt ihm einen Kuss auf seinen Mund, von seiner Erregung im Stich gelassen, lässt der Mann die Arme sinken.Unter einer Eisenbahnbrücke liegt unberührt schwarzer Asphalt. Ein Abgrund des Nichts tut sich auf unter der Brücke, denkt er halblaut in den Mantelkragen, der Kopf beruhigt ihn: das ist nur im Kopf so.

seit er verschwunden ist, bin ich nicht mehr in dem Café gewesen. Es war schön dort, aber warum soll ich mich allein dort hinsetzen? Ich bin überhaupt in keinem Café mehr gewesen. Ich weiß nicht, wo ich mich herumtreibe, seit er verschwunden ist. Ich glaube, ich gehe viel spazieren. Ich durchquere die Stadt von Norden nach Süden und dann von Westen nach Osten. Stimmt das? Es macht keinen Unterschied.

Unter der Brücke klopft er sich den Schnee vom Mantel, geht dann weiter und nun über eine Brücke, unter der sich der Fluss entlang schiebt. Das Ufer ist weiß, hoch aufgepackt hinter eisigem Flussschwarz. Auf der Treppe, die runter zum Wasser führt, müssen die Schritte kurz treten.

manchmal, da bin ich mir recht sicher, gehe ich an den Fluss. Dann steige ich die Stufen hinunter und stelle mich ganz nah ans Wasser.

Er hebt das Kinn aus dem Mantel und spuckt ins Wasser, sein Speichelfleck glänzt für kurze Zeit im Lichtstreifen, den die Sonne auf den Fluss wirft.

Schiffe fahren auf dem Fluss, ich weiß nicht, wohin. Vielleicht kann ich ihnen folgen. Vielleicht kann ich auch dorthin gehen, wo sie herkommen. Vielleicht ist es Zeit, die Stadt zu verlassen.

Seine Spucke verliert sich im Fluss.

Ich will hier enden. Das ist Unsinn, ich will überhaupt nicht enden, jedenfalls nicht hier und nicht jetzt, ich wäre gern noch ein bisschen. Der Bericht soll enden, ich will, dass der Bericht endet, ich will den Bericht beenden.Das habe ich recht schön gesagt.

Ein Ziel haben, denkt er, und malt mit seinen Schritten schwarze Löcher in den Schnee auf dem Asphalt.

Literatur | Felix Lüttge | Illustration | Anna Shervchenko

Aber um diesen einen zu findenden zerbrochnen wunschdas gebet, das er mehr als einmal faltetum ihn zurückzunehmenum ihn zurückzunehmen

tastet er ihre formen abnach singulärer signifikanzdem flammenden kernseiner nur halb gewollten schuld

und als wären diese lila lila blasender einzige zu zahlende preisfür vorzeitiges eingebenkratzt er an der glühenden wandreißt an ihrer heiligkeit mit lilalila klauen

dann ein blick, dann, abrupt, eine pausefür glänzend hoffnungsloses starrendoch seine ohren pflügen und pflügen undpflügen nach dem, das weggefegt wurdeim splittereis sturm

jede stunde eine erneute bedrohung, einhundert mehrin ihren schoß einhundert mehreinhundert mehr, bis der knochender knochen zum vorschein kommt.

Und in seinem gemurmel hilfeschreiaber ich kann davon nur erzählen.

Kotel

| 23Literatur | Johannes CS Frank | Übersetzung | Ron Winkler | Illustration | Felix Scheinberger

Kotel

intimität ist nicht haut heutzutage; (gliederstumpfausschließlich)

der vogelsang,mitsamt allem pathos,hockt als leergut im wägelchen,wird nachgezogen wie ein kaputtes bein;

(man schämt sich etwas)

eine gebrochne ansicht.

jetzt,jetzt

schmeck ich stoff, salznass.

schließlichalles ist, und hinter dem versteck (dem rückzug des tentakel-wesens)

: berichtigte atmung.

nun läuft der zuschnitt aus dem schritt.ein denkstreif erinnert

den regen,das pflaster, (asphalten)die räderchen,

die vor allem,an ein vermutetes zuhause.

senkkörperLiteratur | Cornelia Schmerle | Illustration | Dalit Shalom

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