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Band 3 - Zeitmuseum - qs-wob.de · 1929 geboren, besuchte Jane Roberts Schule und College in Saragota Springs und heiratete später den Künstler Roben F. Butts, der sie bei ihrer

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BuchWeitere Lektionen über die komplexen Dimensionen vonRaum und Zeit, inner- und außerkörperlicherWahrnehmung, Multipersönlichkeit,Komplementär-Aspekte und Synchronizität mußÜberseele Sieben in seiner Ausbildung bewältigen.Zunächst aber muß er George Brainbridge helfen, dervielleicht unter anderem ein im zwanzigsten Jahrhundertlebender Zahnarzt ist, und John Fenster, der eventuellChristus ist, eventuell aber auch nicht, und noch einigenanderen Persönlichkeiten mit facettenreichen Identitäten.Gemeinsam geraten sie auf der Suche nach dengeheimnisvollen Kodizillen in das rätselhafte Museum derZeit, wo sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft inallen möglichen realen und wahrscheinlichen Versionensamt der beteiligten Protagonisten auf turbulente Weisebegegnen.

Autorin1929 geboren, besuchte Jane Roberts Schule und Collegein Saragota Springs und heiratete später den KünstlerRoben F. Butts, der sie bei ihrer medialen Arbeitunterstützte. Zunächst war sie als »normale«Schriftstellerin tätig und verfaßte Romane,Kurzgeschichten und Kinderbücher. 1963 kam sie zumersten Mal in Kontakt mit einer des-inkarniertenWesenheit, die sich selbst »Seth« nannte und als Ener-giepersönlichkeit bezeichnete. Nachdem Jane Robertsvon den Tantiemen der ersten Seth-Bücher leben konnte,

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schrieb sie auch wieder eigene Werke, nun jedoch überihre Bewußtseinsentwicklung in der Arbeit mit Seth. DieTrilogie von den Abenteuern der Überseele Sieben ist vonherausragender Faszination. Die beiden vorausgehendenBände sind: Überseele Sieben (12163) und Lehrzeit(12164).roberts

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ZeitmuseumAus dem Amerikanischen übertragen von SusanneKahn-AckermannGOLDMANNVERLAGOriginaltilel: Oversoul Seven and the Museum of TimeOriginalverlag: Prentice Hall Press, New York DeutscheErstausgabeDer Goldmann Verlagist ein Unternehmen der Verlagsgruppe BerteismannMade in Germany · I. Auflage · 4/92© 1984 byjane Roberts© der deutschsprachigen Ausgabe 1992by Wilhelm Goldmann Verlag, MünchenUmschlaggestaltung: Design Team MünchenSatz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, BerlinDruck: Eisnerdruck, BerlinVerlagsnummer: 12165Redaktion: Gundel RuschillDvW · Herstellung: Stefan HansenISBN 3-442-12165-5

Überseele Siebenin allen seinenManifestationengewidmetund all jenendie sich die

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Kodizillezu Herzen nehmen

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Kapitel 1Kypros und Überseele Sieben schauen bei Dr. GeorgeBrainbridge und Freunden vorbei

»Ich mag keine Ärzte«, sagte Überseele Sieben zuKypros, seiner Lehrerin. Die beiden schwebten als zweiLichtpunkte vor einem der Fenster im ersten Stock dermedizinischen Abteilung.»Dieser Arzt ist eine deiner Persönlichkeiten, und erbraucht deine Hilfe.« Kypros seufzte. »Seelen solltenkeine Vorurteile haben.«In diesem Augenblick wurde das Fenster aufgerissen. EinMann im weißen Arztkittel streckte den Kopf heraus undscheuchte brüllend die Tauben weg, die sich auf demkleinen Vordach niedergelassen hatten. »Weg mit euch,weg mit euch!« Das Fenster wurde wieder zugeknallt.»Na gut, er braucht Hilfe!« sagte Sieben grämlich. »Ist dashier ein Examen?«»Genau. Und du wirst sein neuer Mitarbeiter sein. Du wirstdir zur Abwechslung einen physischen Körper zulegenund -«»Niemals!« brüllte Überseele Sieben.»Das ist ein notwendiger Bestandteil deiner Ausbildung«,erwiderte Kypros sanft. »Es geht jetzt darum, daß du dichmit der irdischen Realität noch vertrauter machst, um dieErfahrungen deiner Persönlichkeiten wirklich verstehen zukönnen. Du wußtest, daß das irgendwann auf dichzukommt.« Um Sieben zu trösten, nahm sie die Gestalt

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einer bezaubernden jungen Frau mit uraltem Wissen odereiner uralten Frau mit jungem Aussehen an. Derunglückliche Sieben wurde zu einem vierzehnjährigenJungen. Beide saßen unsichtbar auf dem Fensterbrett imersten Stockund blickten hinunter auf die verschlungenen Wege vorder medizinischen Abteilung. »Das ist wirklich zu vielverlangt, Kypros«, jammerte Sieben.»Deine Persönlichkeiten haben die ganze Zeit über einephysischen Körper«, erinnerte ihn Kypros und verbarg einamüsiertes Lächeln.»Wie lange muß ich denn einen Körper haben?«»Na, so lange, bis du Dr. Brainbridge geholfen hast, seineProbleme zu lösen.«»Und wie lange wird aas dauern?« Siebens Konturen ver-schwammen, und Kypros erwiderte: »Wer weiß? Es wirdauf dich ankommen.«»Was hat er denn für ein Problem?« fragte Siebenverunsichert.»Das herauszufinden, ist ebenfalls deine Sache.« Kypros'Blick richtete sich auf nichts im besonderen. »Es wirdallerdings schnell deutlich werden.«»Ich würde lieber Ma-ah im Land der Sprecher helfen«,grübelte Sieben. »Sie hat ein exotisches Leben. Und da istnoch Twiety, die im siebzehnten Jahrhundert aufwächst.Die brauchen meine Hilfe auch. Anscheinend habe ichmehr Persönlichkeiten, als ich bewältigen kann, und wasnoch schlimmer ist, du stellst mir dauernd weitere vor. Ichwußte nicht mal, daß ich einen Arzt als Persönlichkeithabe.«

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»Du wußtest es«, erwiderte Kypros mit einer bestimmtenBetonung, und Überseele Sieben wurde rot. »Na ja. Ichwußte es und hab's vergessen. Ich meine, ich dachte, erkäme allein zu Rande.«»Du hast ihm Leben und Energie gegeben, und ich weiß,daß du ihn auf einer Ebene aufrechterhältst und stützt,aber jetzt mußt du dich näher mit ihm befassen.«»Hört sich logisch an.« Sieben klang niedergeschlagen.»Aber... wie war's, wenn ich ihm von hier aus helfenwürde?« fragte er hoffnungsvoll.Schweigen.»Verdauung, Atmen, all das?« Sieben war nahe amVerzweifeln.»All das«, sagte Kypros.»Na gut, zur Abwechslung, aber nur so lange, wie es seinmuß. Ich werd tagsüber eine Frau und nachts ein Mannsein. Oder am Donnerstag ein Inder, am Montag einGrieche -«»Ein Körper«, sagte Kypros mit Nachdruck. »Ein Mannoder eine Frau, das kannst du dir aussuchen. Aber dumußt, wie die Menschen, bei einem Körper bleiben,jedenfalls für diesen Teil des Examens. Auch mußt du fürdiese spezielle Aufgabe über einundzwanzig sein, sagenwir, so Mitte zwanzig.«Überseele Sieben fand sich plötzlich von den neuenAussichten überwältigt. »Ich muß also... irgendwo leben,ich meine, eine Wohnung oder ein Haus finden, wie mandas hier nennt. Ich muß Kleidung tragen. In Laden gehen,um sie zu kaufen. Ich muß... Beziehungen zu Leutenhaben. Ich meine mit Menschen, als wäre ich einer von

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ihnen.« Er schloß die Augen, so erschüttert, daß ermehrere Gestalten zugleich annahm.»Sieben, hör auf damit! Und beruhige dich. So schlimm istes nun auch nicht.«»Nicht so schlimm?« echote Sieben verblüfft und wurdemit jeder Minute nervöser. »Es ist eine Sache, meinenPersönlichkeiten im Traumzustand beizustehen, sie zuinspirieren, ihr Leben aufrechtzuerhalten. Aber... michihnen anzuschließen* das ist doch etwas ganz anderes!«Er sah jetzt aus wie ein alter, gebeugter Mann mit Turban- sehr alt und sehr gebrechlich.»Was für eine rührende Gestalt.« Kypros lächelte.»Muß ich gehören werden?« fragte Sieben. »Mich würdenichts mehr wundern.«»Nein, dafür ist keine Zeit. Du wirst einfach erscheinen.«»Na, immerhin was.« Sieben war etwas besänftigt. »Ichmeine, eine Geburt erfordert so viel Engagement...« Unddann, nach kurzem Nachdenken: »Was für ein Arzt ist Dr.Brainbridgeüberhaupt? Ein Chirurg? Ein praktischer Arzt? EinNeurologe? Ein -«»Er ist Zahnarzt«, sagte Kypros.»Zahnarzt! Zahnärzte kann ich am allerwenigstenausstehen«, schrie Sieben. »Diese Schlächter. Imzwölften Jahrhundert bedeutete ein Zahnarztbesuch fastüberall auf der Welt praktisch das Todesurteil. Und imsiebzehnten Jahrhundert ist es nicht anders. MeinePersönlichkeit Josef wäre beinahe bei so einem Zahnarztgestorben. War mehr ein dreckiger Stall als sonstwas, und-«

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»Dr. Brainbridge lebt Ende des zwanzigstenJahrhunderts«, fiel ihm Kypros ins Wort. »Ich habe dieSituation der Medizin in den verschiedenen Epochenüberprüft, um sicherzugehen, daß du über dienotwendigen Informationen verfügst. Zu dieser Zeit sindZahnärzte sehr, sehr respektable Leute, und man hält siedurchaus nicht für Schlächter.«»Sie ziehen aber immer noch Zähne«, Sieben schütteltesich. »Sie benutzen noch keine Töne, um sie zu entfernenoder um Gewebe zu heilen oder —«Kypros schmunzelte. »Siehst du, du weißt sehr viel mehrüber Zahnheilkunde, als dir klar war. Jetzt komm. Sehenwir uns Dr. Brainbridge an... er behandelt gerade einenPatienten. Dies hier ist die medizinische Abteilung desKommunalen Psychiatriezentrums von Riverton im StaatNew York. George arbeitet hier drei Vormittage in derWoche.«»Psychiatriezentrum? Was ist denn das?« fragte Sieben.»Du wirst schon sehen. Jetzt schau einfach zu.«Auf den ersten Blick wirkte George nicht besondersanziehend. Er war untersetzt, hatte braunes Haar, eingerötetes Gesicht, breite Lippen und, wie Sieben auffiel,eine Menge blendendweißer Zähne.»Sie waren noch nie bei mir in Behandlung, nicht wahr?Na, dem werden wir heute abhelfen«, lachte Dr.Brainbridge. »In den Stuhl mit Ihnen.«»Wahrlich«, sagte der Patient.»Wahrlich?« fragte George und ordnete seine Folterinstru-mente (wie Sieben sie in einem Kypros gesandtenGedanken nannte).

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Von der Tür her ließ sich seine begleitende Pflegerin, Mrs.Much, hören: »Der hier denkt, er sei Christus.« Etwasratlos hob sie die Schultern. Sie hatte dunkles Haar, warfüllig und wirkte mütterlich.George grinste: »So ist das also. Auf seiner Karteikartesteht zwar John Fenster, aber das ist schon okay.«»Dann wolln wir mal«, wandte er sich an seinen Patienten,der nun im Behandlungsstuhl lehnte. Das Lampenlichtschien ihm praktisch direkt in die Augen, und sein nurundeutlich wahrnehmbares Gesicht schien von einemHeiligenschein umgeben. »Der Zahn muß raus. Dabrauchen wir nur ein bißchen Lachgas«, murmelte Georgemehr zu sich selbst. Dann, an den Patienten gewandt:»Das ist Lachgas. Sie werden gar nichts spüren.« Erschälte einen runden Kanister aus seiner Umhüllung. »Siedrücken nur hier. Sie können selbst regulieren, wieviel Sienehmen. Wenn irgend etwas weh tut, dann drücken Sie.Alles klar?« Er blickte seinem Patienten forschend insGesicht. Manche konnten selbst ihre Dosis regulieren,andere schafften es nicht. »Ich glaube, Sie machen dasschon«, sagte er.Die braunen, seltsam warmen und tiefen Augen desPatienten blickten George an. »Ich bin Christus«, sagte er.»Ich kann etwas Schmerz ertragen. Oder vielleicht fühleich auch gar nichts. Ich weiß nie, wie ich reagiere. Aberdas Gas wird nicht nötig sein.«Mrs. Much trat einen Schritt vor, und Sieben stöhnteinnerlich auf. Doch George schwieg nur kurz und redetedann weiter, als sei er es gewohnt, Christus in seinemStuhl sitzen zu haben. »Es ist mir nicht erlaubt, Zähne

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ohne Betäubung zu ziehen«, erklärte er. »Und in einemFall wie diesem dauert es mit Novocain zu lange. Warumtun Sie mir also nicht den Gefallen und nehmen das Gas?Das würde die Dinge sehr erleichtern.«Pause. Dann schüttelte Christus den Kopf. »Wahrlich. Sotu, was du tun mußt.«»Super. Super.« George rieb sich die Hände. »SchauenSie zu, ich zeig Ihnen noch mal, wie es funktioniert.« DerPatient atmete zögernd etwas von dem Lachgas ein.»Himmlisch.« Überseele Sieben wurde beim Anblickdieses Mannes in Georges Folterstuhl unbehaglichzumute. Sein Gesicht war von der Lampe hell beleuchtet,sein Mund weit geöffnet, und George sah hinein.»Nehmen Sie noch mal etwas Lachgas«, bat er seinenPatienten, was dieser tat. Allmählich begann das Gas zuwirken, und Christus begann zu summen: »Näher meinGott zu dir.« George mußte ihn bitten, den Mund wiederaufzumachen. »Noch weiter«, sagte er.Sieben, der die Prozedur beobachtete, zuckte zusammen,als sich Georges Zange um den Zahn in ChristiUnterkiefer legte. George drückte zu, zog und hatte ihndraußen. »Da ist der Bösewicht. Das haben Sie großartiggemacht. Super!« sagte er und hielt seinem Opfer denZahn vor die Nase.Christus, noch immer betäubt, lächelte. Überrascht trat Dr.Brainbridge zurück. Noch nie in seinem Leben hatte er einso strahlendes, gelöstes, unschuldiges Lächeln gesehen.Der Patient war in den Vierzigern, doch in diesemAugenblick blickten seine Augen wie die eines

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zehnjährigen Jungen. Mein zehnjähriger Sohn, dachteGeorge, hat nie einen derart unschuldigen Blick gehabt.»Sei gesegnet«, sagte dieser merkwürdige Mann mit sogütiger und gewinnender Stimme, daß George ihn nuranstarren konnte, den Zahn samt blutiger Wurzel nochimmer in der Hand. Und plötzlich fühlte er, wie sein ganzerKörper prickelnd warm wurde, wie von einem innerenLeuchten durchdrungen, entspannt und voller Kraft. Erkonnte es sich nicht erklären. Es war, als sei er binneneines Augenblicks um Jahre jünger geworden.Mechanisch schob er einen weißen Gazetampon in dasLoch, das der gezogene Zahn hinterlassen hatte, undtupfte das Blut vom Mund des Patienten. Undgleichermaßen mechanisch konnte er nur murmeln:»Super. Sie waren super.«Die ganze Zeit über hatte Überseele Sieben Christusargwöhnisch betrachtet.»Er segnet immer jeden«, erklärte Mrs. Much undschüttelte heftig den Kopf. »Macht nie irgendwelcheSchwierigkeiten.«George nickte nur und versuchte, sich so normal wiemöglich zu verhalten. Es muß das Gas sein, entschied er,das dem Patienten einen so... so sublimen Ausdruckverleiht. Er ist euphorisch, bei Gott, daran ist nichtsGeheimnisvolles. Nur daß auch er selbst sich euphorischfühlte, wie war das zu erklären? Er hatte nichtsgenommen, nichts von dem Gas abbekommen. »Sie kön-nen jetzt aufstehen«, sagte er, nachdem er sein Werk anChristi Zahnfleisch nochmals überprüft hatte. »Wir werden

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die Lücke schon irgendwie zukriegen«, versprach er.»Machen Sie sich keine Sorgen.«Christus spuckte ein wenig Blut aus, hüpfte munter wie einJüngling vom Stuhl und wandte sich George zu: »Seinochmals gesegnet, mein Sohn«, sagte er und schlug dasKreuz. Diesmal stand George wie angewurzelt, überwältigtvon dem Gefühl, am ganzen Körper energetischaufgeladen, ins Gleichgewicht gebracht, gereinigt wordenzu sein, so als atmete er schon seit Jahren reinenSauerstoff. Und noch bevor er einen klaren Gedankenfassen konnte, platzte er heraus: »Wie machen Sie das?«»Ich bin Christus«, antwortete der Mann sanft, und obwohlGeorge sich sagte, daß dieser Typ schon in den nächstenMinuten wieder in die Nervenheilanstalt zurückkehrenwürde, ergaben seine Worte Sinn. Keinen vernünftigenSinn, aber doch irgendwie Sinn.Mrs. Much gab einen kichernden Laut von sich. »Ihnen hater auch eine Ladung verpaßt, was?« Über ihr breitesGesicht zog ein amüsiertes, freundliches Lächeln.»Suggestion«, sagte sie. »Erstaunlich, nicht wahr?«»So eine Ladung lass ich mir jederzeit gern gefallen«,erwiderte George. Er stieß einen langen Pfiff aus undbeobachtete mit ungewohnter Ehrfurcht, wie ChristusLebewohl winkte und durch die Tür verschwand.»Ciao«, sagte George.Er behandelte noch ein paar Patienten, machte aber keineSpaße wie sonst und vergaß auch sein »Super«, mit demer gewöhnlich die Schmerzgeplagten beruhigte und ihnenMut machte. Schließlich wollte jeder ein »guter« Patientsein.

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Dieser Christus ging ihm nicht aus dem Sinn, und erwußte nicht, warum. Was ihm Sorgen machte. Es warokay, wenn man deprimiert war, weil, na ja, weil ein Zahnweh tat. Also ließ man ihn herausziehen. Oder wenn derBlutzucker niedrig war. Oder weil irgend jemand wasgesagt oder getan hat, das einen ärgerte. Oder einfach,weil einem jemand gegen den Strich ging. Wie der Typ da,dachte George düster. Der Patient, ein junger Mann na-mens Gregory Diggs, starrte ihm herausfordernd in dieAugen.»Machen Sie den Mund bitte ein bißchen weiter auf«,sagte George und warf erst einen prüfenden Blick auf dasGesicht des Mannes, bevor er ihm Gaze zwischen Kiefernund Wangen schob. »Spüren Sie das?« fragte er undprüfte und beklopfte das Zahnfleisch. »Man hat Ihnen inder Anstalt einen Weisheitszahn gezogen.« Er richtetesich auf. »Es sind nicht die Zähne, es ist das Zahnfleisch,fürchte ich. Tut manchmal ordentlich weh, was?«»Jaa«, knurrte der junge Mann wütend und bedachteGeorge mit einem feindseligen Blick. »Woher wissen Siedas?«»Am Zahnfleisch kann man alles sehen«, sagte Georgeund wusch sich die Hände. »Lügt nie. Die Zähne habensich gelockert. Sie sind...«»Ach was, Scheiße! Sie wollen doch nur, daß ich hier öfteran-tanze. Sie würden wahrscheinlich jeden verdammtenZahn von mir ziehen, nur um ein paar extra Mäuse zumachen!«George hatte schon fast vergessen, was ihn beunruhigthatte, aber der trotzige, verächtliche Blick des jungen

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Mannes brachte es ihm wieder in Erinnerung. Sofortverglich er diesen haßerfüllten Blick mit der gütigen, dochkindlichen Klarheit der Augen seines Patienten von vorhin.Die Hochstimmung, die er empfunden hatte, nachdem ihndieser Verrückte gesegnet hatte, war verflogen. Natürlich,dachte George ironisch. Aber sein normaler Seinzustand— der ihm eigentlich immer als in Ordnung erschienenwar- kam ihm nun im Vergleich dazu fad und dröge vor, soals sei sein ganzer Körper mit Novocain vollgepumpt.»Und was jetzt?« fragte der junge Mann arrogant.»Zum Teufel, ja, ich ziehe Zähne aus lauter Spaß«, sagteGeorge. »Wie kommt's, daß Sie hier sind?«»Die Bastarde wollen herausfinden, ob ich ne Macke habeoder nicht.«»Haben Sie eine?« fragte George. »Ich glaube, jeder istirgendwie verrückt. Ich kann nicht sagen, daß ich eineoperative Zahnfleischbehandlung empfehlen würde. Ichglaube nicht, daß das noch hilft.«»Sie meinen, wenn ich Kohle hatte, würden Sie's machen,was?«George reichte es. Er trat zurück, die Hände in die Hüftengestemmt. »Ich ziehe Ihnen sofort jeden einzelnen Zahn,wenn es Ihnen darum geht«, sagte er, halb spaßhaftdrohend, halb wirklich wütend. Was zum Teufel stimmt mitso einem Jungen wie diesem nicht? fragte er sich. Dann:»Die Parodontose ist schon zu weit fortgeschritten. Ichglaube nicht, daß die Zähne noch zu retten sind. Ichversuche nur, Ihnen überflüssige Schmerzen zu ersparen.So eine Zahnfleischbehandlung ist kein Picknick, und ichbezweifle, daß sie in Ihrem Fall etwas nützt. Wie gesagt,

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die Zähne haben sich schon gelockert. In etwa dreiMonaten können wir anfangen, sie rauszuholen. Und fürden Übergang werde ich Ihnen eine Brücke einsetzen.«»Mist, in irgendwelchen verdammten drei Monaten bin ichnicht mehr da«, schrie Gregory Diggs. »Sie ticken ja nichtrichtig! In drei Monaten bin ich über alle Berge.« Ermachte Anstalten, aus dem Stuhl zu klettern.»Wie Sie wollen«, sagte George und zuckte die Achseln.Er konnte zu diesem Bürschchen da nicht durchdringen.Und er hätte es wohl auch gar nicht erst versuchen sollen.»Na, sind Sie jetzt fertig mit mir?« fragte Gregory Diggs.»Ich hab nämlich ne Verabredung mit meinem Banker.«Er grinste, stieg vom Stuhl, wackelte herausfordernd mitdem Hintern und bewegte sich zur Tür.»Super. Viel Spaß«, sagte George säuerlich.Er reinigte seine Instrumente und ordnete sie in einekleine Tasche. Überseele Sieben, noch immer auf seinemBeobachtungsposten, sagte: »Dieser Gregory macht mirSorgen, auch wenn er in der Nervenheilanstaltuntergebracht ist. Ich möchte das Ganze ja nichtüberbewerten, aber - er könnte doch George nicht irgendetwas antun, oder?«»Denk an die Wahrscheinlichkeiten, das ist alles«,antwortete Kypros. »Ich wollte, daß du dir das Leben unddie Arbeit deiner Persönlichkeit gut anschaust, bevor du inihre Umgebung eingeführt wirst.«»Und dieser Christus«, sagte Sieben. »Leute, die glauben,sie sind Christus, machen mir auch Sorgen. Du weißt niegenau, was sie vorhaben. Ich verstehe allerdings immer

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noch nicht, warum George so durcheinander war, als ersich besser fühlte.«»Das wirst du noch«, erwiderte Kypros. »Mach dir späterdarüber Sorgen, wenn es sein muß. Im Moment möchteich, daß du dir Georges Haus ansiehst. Den Nachmittagverbringt er im Wochenendhaus bei seiner Frau.« Und imnächsten Moment befanden sich Kypros und Siebeneinige Blocks weiter in Georges Praxis im Parterre seinesWohnhauses. »Der Anordnung der Räume in diesemHaus solltest du besondere Aufmerksamkeit schenken«,sagte Kypros. »Die Privaträume der Familie sind zum Bei-spiel oben. Es ist geplant, daß du George heute abend umacht Uhr zum erstenmal triffst. Du bist zum Abendesseneingeladen.«»Warum soll ich der Anordnung der Räume besondereAufmerksamkeit schenken?« fragte Sieben. »Ich wittereschon einige Implikationen... oder Komplikationen...«Doch Kypros war verschwunden.Etwas verunsichert blickte sich Sieben um. Obwohl allesnormal aussah, hatten die Räume etwas Provisorischesan sich. Sie vermittelten ein Gefühl von Unbeständigkeit,so als hätten sie erst kurz vor seiner Ankunft ihregegenwärtige Form angenommen. Sieben seufzte. Trotzseiner merkwürdigen Vorahnungen mußte er sich alserstes das ganze Haus ansehen. Danach würde er Kyprostreffen, um zu entscheiden, in was für einer Gestalt ererscheinen sollte.Sieben vertrödelte Zeit mit dem Ausprobierenverschiedener Formen, die er aber nicht zu einem Körper

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materialisierte, hauptsächlich deshalb, weil er nicht wußte,wie.Die Zeit verflog so rasch, daß es Abend war, bevor Siebenes merkte. George mußte jeden Augenblick nach Hausekommen. Er beschloß, sich besser doch das Hausanzusehen, wie Kypros ihm geraten hatte. Er ging insnächstliegende Zimmer, wobei er die immaterielle Gestalteines jungen Mannes Ende Zwanzig annahm, etwa dasAlter, in dem er in seinem physischen Körper auftretenwürde - wenn er ihn bekam. Und jetzt merkte er, daßirgend etwas nicht stimmte. Alles verschwamm, so als obentweder die Zeit oder der Raum aus der Form gedrängtwürde.

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Kapitel 2Der richtige Ort, doch die falsche Zeit. Der richtige Name,doch der falsche Mann.

Unsichtbar wirbelte Sieben herum und versuchte, denrichtigen Ort und die richtige Zeit zu orten und sichsozusagen mit dem Terrain vertraut zu machen. Er wußte,daß er den richtigen Ort hatte, denn als er durch eines dermit Spitzengardinen behängten Fenster blickte, sah ereinen Block weiter den Fluß, die sich darüber wölbendeBrücke und das Ufer auf der anderen Seite. Im Hausbrannte kein Licht... Licht} Überseele Sieben schluckteund warf nochmals einen Blick aus dem Fenster: Das daauf der Straße waren Gaslaternen, keine elektrischeLeuchten. Er war in der falschen Zeit. Über derBeschäftigung mit seinem künftigen Körper hatte er denHalt in der Zeit verloren.Natürlich. Jetzt bemerkte er auch dieGaslichtinstallationen an den Wanden des Hauses. Erseufzte, richtete seine innere Aufmerksamkeit auf Dr.Brainbridge und dessen korrekte Zeit von 1985 undwartete. Doch nichts geschah. Vielmehr spürte er etwassehr Merkwürdiges in der Atmosphäre des Hauses, ohnees genau definieren zu können. Ein Bewußtsein...wanderte herum, vielleicht nicht ganz auf der richtigenBahn. Er konnte fast fühlen, wie es gegen... Konzeptionenprallte, die ihm... zu groß waren.

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Sieben hielt inne. Seine Aufgabe war es, in die richtigeZeit zu kommen, nicht selbst herumzuwandern. Aberseine Neugier und Abenteuerlust waren geweckt. Er blieb,wo er war, und ließ sein Bewußtsein durchs Hauswandern. Im Parterre die kleine Zahnarztpraxis. SpäteSonnenstrahlen ließen die Instrumente aufblinken. EinGeruch von Nelke und Kampfer... brr... und Chloroform.Im vorderen Teil des Hauses war noch das Wartezimmer,und hinten befanden sich zwei Arbeitsräume und eineKüche.Drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küchenahmen den ersten Stock ein, in das Sieben jetzthinaufgestiegen war. Er wurde langsam ungeduldig, als erplötzlich im Stockwerk über sich eine Bewegungwahrnahm. Er sauste hinauf. Dort in einemMansardenzimmer lag auf einem schmalem Bett ein Mannum die Dreißig. Sein Bewußtsein stürmte wild herum.Sieben sah den Traumkörper des Mannes, der nicht diegeringste Stabilität hatte und ständig die Form wechselte,sogar noch während der Mann andere Gestaltenhalluzinierte. Der ganze Raum schien von Drachen undDämonen erfüllt, die den armen Dummkopf, wie Siebendachte, in eine Schlacht nach der anderen verwickelten.Ein Dämon mit Wolfsrachen baute sich drohend vor demTraumkörper des Mannes auf. Der Mann stieß einenSchrei aus, begann zu zittern und schloß entsetzt dieAugen. Sieben verwandelte sich in einen alten weisenMann, sagte dem Dämon, er solle verschwinden, undführte den verängstigten Träumer zu seinem Bett zurück.

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Erst jetzt bemerkte Sieben die Gerätschaften, die teilweisehinter einem Stuhl versteckt waren, und ihm wurde klar,wie der Träumer in seine mißliche Lage geraten war. »Siehaben Lachgas genommen«, sagte Sieben.Die beiden hockten Seite an Seite auf dem Bett, der Mannnoch immer in seinem Traumkörper. »Das mache ichimmer, wenn ich allein hier oben bin und meine Frau undmein Sohn über den Sommer verreist sind. Ichexperimentiere. Aber wer sind Sie? Das Gas scheint nochimmer zu wirken.«»Das kann man wohl sagen«, erwiderte ÜberseeleSieben. »Übrigens, welches Jahr haben wir, und wer sindSie?«»Ich bin George Brainbridge, Dr. George Brainbridge«,antwortete der Mann überrascht, als ginge er davon aus,daß sein Name jedermann geläufig sein mußte, undstreckte Sieben höflich die Hand hin.Überseele Sieben war geplättet. »Dr. George Brainbridge?Sind Sie sicher?«»Nun, guter Mann, ich will doch hoffen, meinen eigenenNamen zu kennen«, antwortete Dr. Brainbridge. »Undwer, wenn ich fragen darf, sind Sie? Ich bin mir nicht ganzsicher, was hier passiert, aber das hier ist bei weitem diereizendste Begegnung, die ich unter diesen Umständen jehatte.«»Ah, und welches Jahr, äh, haben wir?« Sieben fürchtetesich fast vor der Antwort.»Wir haben 1895, Anfang Juni«, antwortete George.»Wollen Sie damit sagen, daß Sie das auch nichtwissen?« In seiner Stimme schwang Erregung, und als ihn

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Überseele Sieben nun ansah, bekam er seinen erstenwirklichen Eindruck von George Brainbridge dem Ersten.Er hatte rötliches, jetzt etwas zerzaustes Haar, einenebenso rötlichen Bart und hellblaue Augen von der Formjener elektrischen Weihnachtsbaumlämpchen, die er,George, in seinem Leben wohl nicht mehr zu Gesichtbekommen würde, und er hatte zwei Grübchen in seinerlinken Wange. Und als nun Georges Augen erregt underwartungsvoll aufleuchteten, wußte Überseele Siebensofort, was dieser George war -ein Träumer, ein Idealist,der stets zwischen Träumen und Realität hin- undhergerissen war.Sieben ächzte: »Sie sind der falsche George Brainbridge.Und ich bin in der falschen Zeit. Wenn meine Rechnungstimmt, sind Sie aber viel zu alt, um Georges Vater zusein. Es muß Ihr Enkel sein, den ich suche.«Das Gas tat noch immer seine Wirkung. GeorgeBrainbridge fand die ganze Sache nun einfach großartig.»Na, dann unterhalten wir uns doch, solange Sie hiersind«, schlug er liebenswürdig vor. »Ich führe Tagebuchüber meine Gas-Experimente. Was für ein wunderbaresErlebnis!« Er langte nach einer Pfeife und richtete sichoffensichtlich auf einen ausgedehnten Schwatz ein.Mechanisch halluzinierte Sieben eine Pfeife für George,dem nicht klar war, daß er sich noch in seinemTraumkörper befand, und sagte dann niedergeschlagen:»Ich muß mir irgend etwas ausdenken, um hier wiederrauszukommen, weil mich Ihr Enkel - es muß Ihr Enkelsein — braucht und ich nicht mal weiß, was für Problemeer hat.«

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»Ah«, sagte George träumerisch.»Ah?« wiederholte Sieben ziemlich laut. »Sie sind wirklicheine großartige Hilfe, schnüffeln Gas und halluzinierenDämonen und Gott weiß was...«»Ich hörte William James über Stickoxydul sprechen undbeschloß, es selbst auszuprobieren«, antworteteBrainbridge etwas gereizt. »Ich betrachte meineExperimente ganz einfach als Erkundungsreisen in dieNatur der... der Wahrheit.«»Hört sich für mich ziemlich bombastisch an«, sagteSieben. Er wollte nicht unfreundlich sein, aber er machtesich Sorgen um seine Rückkehr m die richtige Zeit.Gleichzeitig wurde er sich seiner Umgebung imneunzehnten Jahrhundert und der frühsommerlichenDämmerung mehr und mehr bewußt.Durch das offene Fenster drangen starke, verführerischeDüfte herein. Sieben kräuselte die Nase und atmete tiefein.»Das ist Flieder, was Sie da riechen«, erklärte GeorgeBrainbridge. »Französischer und weißer Flieder, auf dereinen Seite der Auffahrt gepflanzt. Sie können auch nochdie letzten Apfelblüten riechen. Die Bäume stehen beimStall.«Und plötzlich war Überseele Sieben so bezaubert von denDüften und vom Licht der späten Sonne auf den weißenSpitzenvorhängen und vom Himmel, den er dahinter sah,daß er George zutiefst verwundert anstarrte. »Warumsuchen Sie inmitten all dieser Schönheit, in diesemsinnlichen Bad von Licht und Düften, nach anderenRealitäten...? Wenn Sie wirklich fühlten... was dieser

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Moment verlangt... dann wären Sie so von Leben erfüllt,daß Sie spüren würden, was Wahrheit ist, und Sie müßtennicht nach ihr suchen.«»Das war eine schöne Predigt«, murmelte Georgeschläfrig. Und kurz bevor er die Augen seinesTraumkörpers schloß, brabbelte er noch: »Enkel? Ichhabe keinen Enkel...« Sein Traumkörper fiel in seinenphysischen Körper zurück, und George Brainbridge warfür nichts mehr zu haben, außer für den Schlaf.Sieben seufzte. Mit einer Mischung aus Verärgerung undErleichterung betrachtete er den schlafenden George unddeckte ihn mit einem frischen weißen Laken zu, dasordentlich gefaltet neben dem Bett lag. Aber warum, sofragte er sich, bin ich derart mit der Zeitdurcheinandergeraten? Hatte die Gasschnüffelei desGeorge im neunzehnten Jahrhundert etwas mit denProblemen seines Enkels im zwanzigsten Jahrhundert zutun? Das Haus war dasselbe. Die Raumkoordinatenwaren für beide Männer die gleichen, wenn sie sich auchoffensichtlich in unterschiedlichen Zeitepochenfokussierten. Aber warum, warum hatte der falscheGeorge ihn angezogen?Weil mich irgend etwas angezogen hat, überlegte Sieben,sonst wäre ich ohne Umschweife zum richtigen Georgegelangt. Und wieder stieß er einen Seufzer aus. Hier saßer nun, ganz allein in einem Dachgeschoß imneunzehnten Jahrhundert, im richtigen Haus, aber an diehundert Jahre entfernt von dort, wo er sein sollte.Schlimmer noch, normalerweise korrigierten sich solcheIrrtümer von selbst, oder Kypros half ihm aus der Patsche.

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Aber diesmal blieb seine Umgebung störrisch stabil. Erschien sich nicht auch nur eine Minute weiterbewegen zukönnen, von hundert Jahren ganz zu schweigen - oderfünfundneunzig. Macht das einen Unterschied?Niedergeschlagen starrte er auf den Boden, auf Dr.Brainbridges Utensilien. Er mußte wieder ins zwanzigsteJahrhundert gelangen, wo er einen Körper annehmen undeine Weile in ihm leben sollte. Eine kurze Weile, wie erhoffte. Inzwischen wurde der Himmel dunkler. Er sah ausdem hinteren Fenster, durch die neblige Dämmerunghinunter auf den Stall, der mit einer hübschen dunkelrotenFarbe gestrichen war. Ein Pferd wieherte. Dann hörte erklar und deutlich ein Klipp-Klapp, beugte sich hinaus undsah den Eismann mit Pferd und Wagen. Er trug eine grüneKappe mit weißen Streifen und eine hellgrüne Jacke. Erhielt den Wagen an, ging zu seiner Rückseite, hievteeinen großen Eisblock herunter und sprintete zurrückwärtigen Veranda unterhalb des Mauervorsprungs vordem Fenster, wo Sieben ihn nicht mehr sehen konnte.Dann tauchte er wieder auf und sprang auf seinen Wagen.Sieben roch den warmen Pferdedung und den Duft vonFlieder, und im nächsten Moment hob sich der Nebel, unddie tauigen, schon etwas welken lila Dolden längs derAuffahrt wurden deutlich sichtbar. Was für einebezaubernde Szenerie, dachte Sieben. Und auf denersten Blick mochte er den gasschnüffelnden GeorgeBrainbridge sehr viel lieber als diese Version des zwan-zigsten Jahrhunderts, die die Tauben verscheuchte. Alshätte er sie gerufen, kam nun ein ganzer SchwärmTauben von der Rückseite des Stalls angeflogen. Sie

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ließen sich auf dem Mauervorsprung unter dem Fensternieder und begannen zu gurren. Aus der Zimmereckemurmelte George Brainbridge: »Gottverdammte Tauben.«Sieben mußte fast wider Willen lachen und wurde gleichdarauf wieder ernst. Es war allerhöchste Zeit, in dieAbenddämmerung eines Junitages des Jahres 1985zurückzukehren.

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Kapitel 3Überseele Sieben legt sich einen Körper zu und trifft denrichtigen George

Kypros war ein Lichtpunkt im Wartezimmer des GeorgeBrainbridge im zwanzigsten Jahrhundert.George wartete im Behandlungsraum auf die Ankunftseines neuen Mitarbeiters Dr. Sieben. Er pfiff vor sich hin,beäugte die Tauben auf dem Fenstersims und hoffteinnigst, daß dieses neue Arrangement funktionierenwürde.Kypros war klar, daß Sieben entweder aufgehaltenworden war oder eine falsche Abzweigung in der Zeit oderim Raum genommen hatte. In diesem Raum in dieser Zeitwar er jedenfalls nicht. Leicht verärgert löste sie ihrBewußtsein aus seiner präzisen Zeitorientierung, behieltaber dieselben Raumkoordinaten bei. Von ihrergegenwärtigen wahrscheinlichen Position ausgehend,wirbelte ihr Bewußtsein durch die Zukunft des Raumes.Kein Sieben! Blieb also nur noch die Vergangenheit.Und fast sofort sah sie Sieben hundert Jahre entfernt,aber räumlich nur ein paar Meter weiter weg,herumwandern. Sie materialisierte sich als diealte-doch-junge Lehrerin und stand neben ihm. GeorgeBrainbridge, der in seiner Zeit einen Blick insWartezimmer warf, sah natürlich niemanden.»Sieben, du bist in der falschen Zeit«, rief Kypros.

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»Ich bin in die Vergangenheit zurückgegangen und habeGeorges Großvater getroffen«, erklärte Sieben, derseinerseits seine Lieblingsgestalt eines Vierzehnjährigenangenommen hatte.Kypros schmunzelte. »Ich wußte gar nicht, daß du sogründlich recherchierst.«Sieben lächelte bescheiden.»Könnte es sein, daß du dich einfach verirrt hast?«Sieben errötete. »Es muß einen Grund gegeben haben,warum ich in der falschen Zeit beim falschen Georgegelandet bin«, verteidigte er sich.»Richtig. Erinnere dich später wieder daran. Georgeerwartet dich jeden Moment, und du hast noch nichteinmal einen richtigen Körper.«»Du meinst wirklich einen Körper, nicht nur eine Gestalt?«»Einen Körper. Wie ich schon sagte.« Kypros lachte.»Und du mußt ihn in der richtigen Zeit materialisieren,damit er paßt. Das heißt, wir müssen zuerst inszwanzigste Jahrhundert zurück.«Sieben sah niedergeschlagen aus. »Wie kommt es, daßdu im Zeitreisen so viel besser bist als ich? Manchmalhabe ich keine Probleme, und dann wieder... komme ichvollkommen durcheinander.«»Na gut«, sagte Kypros. »Schau auf diesen Stuhl daneben dir.« Sieben tat es und betrachtete den rotenviktorianischen Lehnstuhl, bis er plötzlich schimmerte undzum lederbezogenen Schaukelstuhl in GeorgesWartezimmer des zwanzigsten Jahrhunderts wurde. »Dasist für dich im Moment der leichteste Weg«, erklärte

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Kypros. »Es gibt noch bessere Methoden, die du auchbald kennenlernen wirst.«»Wo bleibt denn dieser Kerl?« murmelte George in seinerPraxis.»Nun? Wo ist dein Körper?« fragte Kypros. »Ist er nochnicht fertig?«Sieben seufzte. »Ich hatte noch keine Zeit, über einennachzudenken, geschweige denn, ihn fertig zu haben«,sagte er unglücklich.»Wir können deinen Körper aber nicht einfach so aus demNichts mitten im Zimmer auftauchen lassen. Laß deinSelbstmitleid, Sieben. Komm hier rüber, in die Ecke, wouns George nicht sehen kann.«Sie standen am Kamin im Wartezimmer. »Jetzt nimmzuerst die Gestalt an, die du haben willst«, leitete Kyprosihn an. »Ein junger Mann wäre am besten, ungefährsechsundzwanzig Jahre alt. Was den Rest angeht, so laßdeine Phantasie walten.«Mit großem Bedauern gab Sieben seine Gestalt einesVierzehnjährigen auf und begann ganz von vorn. Er waretwa eins neunzig groß. Sein Haar dicht und fast schwarz.Er fügte einen Bart hinzu und entfernte ihn dann wieder.Seine Augen waren erst blau, dann wechselte er zuBraun. »Wie ist der Mund?« fragte er Kypros.»Beeil dich, Sieben«, ermahnte sie ihn etwas tadelnd.»Entschließ dich für eine klare Gestalt und laß es gutsein.«Sieben veränderte seine Haarfarbe zu Dunkelbraun, fügteeine ziemlich hohe Stirn hinzu und ein energisches Kinn(damit er vertrauenswürdig aussah). Der Mund schien

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ganz von allein zu kommen. Er gehörte zu seinergeliebten Gestalt des Vierzehnjährigen, nur daß seineLinien jetzt einen leichten Zug nach unten aufwiesen.»Das ist es«, rief Sieben.»In Ordnung«, sagte Kypros. »Jetzt versuch deinBewußtsein so klar und still zu halten, wie du kannst. Dashier wird nur einen Moment dauern.«Sieben war sich nicht ganz sicher, was Kypros dann tat,aber er fühlte, wie sich seine Gestalt langsam festigte.Unsichtbare Atome strömten aus allen Ecken der Weltherbei, um sich in dieser Form zu versammeln. Er fühlteeine gewaltige Aktivität. Dann spürte er blitzartig dieseAktivität aus dem Innern. Ein Herz pumpte Blut. Das Blutfloß durch die brandneuen Adern. Sein Puls begann zupochen wie eine winzige Uhr. Sieben grinste und probierteseine Gesichtsmuskeln aus. Er war schon im Körpereiniger seiner Persönlichkeiten gewesen, um ihnen ausdem einen oder anderen Grund beizustehen, aber dashier war etwas anders. Ein eigener Körper! Einmerkwürdig besitzergreifendes Gefühl überkam ihn.Dieses lebendige Bündel aus irdischem Stoff gehörte ihm.Niemand sollte sich daran vergreifen!»Ich sehe, so unerquicklich ist die Erfahrung gar nicht«,bemerkte Kypros trocken. »Aber du scheinst etwasvergessen zu haben.«»Was?« fragte Sieben. Er sah an seinem elastischenKörper herunter und fühlte in seinem Innern die regenOrgane... alle kommandobereit. »Alles da, soweit ichsehen kann.«

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»Sieben!« In Kypros' Stimme lag ein ganz bestimmterTon.Sieben grinste strahlend: »Ach, die Kleidung. Ich habe dieKleidung vergessen.«»Genau.« Kypros schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, du hastdeine Hausaufgaben gemacht und weißt, was du tragenwillst. Mach dir jetzt ein Bild von deiner Kleidung, und ichwerde den Rest besorgen.«Im Grunde war Sieben sehr stolz auf sich. Er gab einer mitApfelbäumen bedruckten Unterhose Gestalt und einemschwarzen Pulli mit Rollkragen, und Kypros verwandeltealles rasch in reale Kleidung.»Wie machst du das?« fragte Sieben.»Genauso wie mit deinem Körper. Ich habe jetzt keine Zeitfür eine ausführliche Erklärung. Ich bringe die... Atomedazu, sich im Raum zu verdichten... Aber was brauchst dunoch?«»Jetzt kommt die Hauptsache«, verkündete Sieben stolzund formte über dem Unterzeug einen Polyesteranzug mitwinzigen grünen und weißen Karos. »Na, wie findest dues?« fragte er. »Perfekt für Ende 1980.«»Du siehst tatsächlich wie ein hoffnungsvoller jungerZahnarztkollege aus«, sagte Kypros etwas zweifelnd.»Das will ich doch meinen«, erwiderte Sieben. »Ich habedas studiert und studiert und studiert, um sicher zu sein,daß ich modisch hier nicht aus dem Rahmen falle.«»Und die Zahnärzte in diesem Jahrhundert gehenbarfuß?« Kypros lachte und blickte in Siebens neue,strahlende und überraschte braune Augen.

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Sofort materialisierte Sieben Socken und ein Paarschwarzer Stiefel. »Die Socken werden mit Deodorantbehandelt«, erklärte er. »Ich sah so ähnliche in GeorgesKleiderschrank. Die Anregung für die meisten dieserSachen stammt von seiner Garderobe... Er muß es alsomögen, wie ich mich anziehe...« Kypros lachte nochimmer. »Na ja, es ist eben so vieles zu berücksichtigen«,verteidigte Sieben sich. »Du machst dich über mich lu-stig...«»Du siehst nur so... irdisch aus«, erwiderte Kypros undversuchte sich zu beherrschen. »Du siehst aus wie einjunger Dandy.«»Tu ich nicht«, protestierte Sieben. »Ich seh aus wie einjunger Zahnarztkollege. Hast du selbst gesagt.«Plötzlich wurde Kypros wieder ernst. Sie stabilisierte dieForm seiner Socken und Stiefel. »Denk daran, dein Körperist nur temporärer Natur«, warnte sie ihn. »Behandle ihngut. Und es gibt einige Dinge, die du gewohnt bist zu tun,die du mit diesem Körper nicht tun kannst. Und es gibtauch einige Orte, wo er nicht hingehen kann. Aber daswirst du alles lernen.«»Was für Orte«, fragte Sieben alarmiert.Doch Kypros blieb nicht mehr die Zeit zu antworten,George Brainbridge brummte: »Verdammt, wo bleibtdieser Kerl?« und trat in den Flur. »Schnell«, sagteKypros, »geh in den Flur, damit es so aussieht, als kamstdu gerade aus dem Wartezimmer.« Und sie verschwand.Dr. George Brainbridge (der Dritte) war neununddreißigund etwas kompakter, als er es für seineunbeeindruckenden Eins-siebzig sein sollte. Tatsächlich

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ist er etwas vierschrötig, dachte Sieben. Das braune Haareher unauffällig. Der Schnurrbart und die Augenbrauenziemlich struppig, doch außerordentlich ausdrucksstark.Beide waren in ständiger Bewegung, wie es schien.George Brainbridges Augen waren zwar klein und einwenig tiefliegend, aber - lebendig. Den Leuten fielenGeorges Augen wahrscheinlich nicht besonders auf, weiler sie meist halb geschlossen hielt, um sie urplötzlich weitzu öffnen, in der Regel, um einer überraschtenWertschätzung der Person Ausdruck zu verleihen, mit derer gerade so sanft und gütig geredet hatte. Und manchmallächelten nur seine Augen.Und genau das taten sie auch jetzt, als George den frischgebackenen Sieben betrachtete. »Super«, sagte George.»Sie müssen mein neuer Assistent sein.«Und auch der junge Dr. Sieben lächelte, trat aufGeorge-Brainbrigde zu und streckte einer irdischenGepflogenheit entsprechend die Hand aus.»Super. Super. Super«, wiederholte George und drückteSiebens neue Hand so fest und kräftig, daß Sieben draufund dran war, aufzuschreien, »Heute abend werden dieAbfalltonnen geleert. Ich muß die noch rausstellen. Dauertnur eine Minute. Und zum Laden an der Ecke fahren, umPickles zu besorgen. Dauert nur zwei Minuten. Dannkönnen wir uns beide entspannen, ein paar Drinks zu unsnehmen und zu Abend essen. Machen Sie sich'sgemütlich. Bin gleich wieder da.«Und noch bevor Sieben zu einer Antwort ansetzen konnte,verschwand George in den hinteren Teil des Hauses undließ seinen jungen Kollegen verblüfft und etwas verärgert

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stehen. All die Hektik, nur damit George die Abfalltonnenrausstellen konnte!Und hier war er, wieder allein im Haus. Ein Haus, daseinfach irgendwie... unzuverlässig ist, dachte er und ging,ohne weiter darüber nachzudenken, in GeorgesWartezimmer.»Ich hätte dieses Haus nie unzuverlässig nennen dürfen«,meinte er später zu Kypros. »Aber ich habe es getan. Unddas war es auch.«

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Kapitel 4Die Zeit - Treppe rauf und runter

Natürlich hatte sich das Haus in den Jahren seit der Zeitvon George dem Ersten verändert. Zwei Messingplakettenan der Wand zeigten, wie hoch das Wasser bei denÜberschwemmungen in den Jahren 1948 und 1972gestiegen war. Sie waren im Abstand von etwa sechzigZentimeter übereinander, rechts vom Marmorsims desKamins angebracht. In der Zeit des ersten George warendas Wartezimmer ein Salon und der Kamin in Gebrauchgewesen. Heute war er nur noch elegantes, nutzloses De-kor. Darüber hing ein harmloses Blumenstilleben. Siebenverzog bei seinem Anblick das Gesicht und trat dann andie schmalen Fenster, die vom Boden bis zur Deckereichten und zur Straße hinausgingen. Davor standenriesige Topfplanzen, die sofort seine Aufmerksamkeiterregten. Er war sich der Autos nur vage bewußt, die meinem bestimmten Rhythmus vorbeifuhren, wenn nämlichdie Ampel an der Ecke zur Brücke wieder einenVerkehrsschwarm entließ. Dann trat eine kurze Pause ein,bis die Ampel erneut auf Grün schaltete.Das massive Backsteinhaus war selbst an diesemwarmen Junitag innen kühl. Möglicherweise dämpfte dasGemäuer auch den Verkehrslärm, obwohl ein Fensteroffen stand. Jedenfalls war es in einer derVerkehrspausen, in denen Uberseele Sieben plötzlichmerkte, daß wieder etwas nicht stimmte! Auf dem dunklen

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Holzboden des Wartezimmers lag ein kastanienbraunerTeppich, aber keiner draußen in der Eingangsdiele. DennSieben wurde bewußt, daß er Fußschritte auf demgefliesten Gang zwischen Haustür und Treppe gehörthatte. Jemand war dort schon einige Zeit auf und abgegangen, wie er nun realisierte, obwohl doch außer ihmniemand im Haus sein sollte.Er wirbelte herum und erblickte zu seiner ÜberraschungGeorge Brainbridge den Ersten, der gerade die Treppehinaufging. Gleichzeitig horte sich der Lärm, der durchsFenster drang, schrecklich anders an als noch vor einemMoment. Und wieder wirbelte Sieben herum und starrteungläubig.Die Straßen des neunzehnten und zwanzigstenJahrhunderts existierten... fast gleichzeitig. Die Autoswaren nur wenig deutlicher zu sehen als die Pferde undKutschen. Die Häuser auf der anderen Straßenseitewechselten schimmernd zwischen ihren verschiedenenFassaden. Ein offenbar neuerbautes Haus verschwandimmer wieder, und an seiner Stelle erschien eine freieParzelle und umgekehrt. Und das geschah so schnell, daßSieben blinzeln mußte.Er wandte sich wieder dem Zimmer zu und rieb sich dieAugen, denn zu seinem Schrecken erstreckte sich dieserVerwandlungsprozeß nicht nur auf das Draußen.Gegenstände des Salons im neunzehnten Jahrhunderttauchten im Wartezimmer auf -oder vielmehr verwandeltesich das Wartezimmer immer wieder in den Salon. Ein mitMohair überzogener Sessel erschien urplötzlich und stieß

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Sieben gegen das Knie, Er sprang zurück. In der anderenEcke des Raums stand unversehens ein riesiger Farn.Den Platz des Couchtisches neben Sieben nahm einviktorianischer Teetisch ein, samt einer Teekanne, dreiTeetassen und einem Strauß früher Sommerrosen ausdem Garten. Im Grunde schien es Sieben, als ob allespulsierte, aber so rasch, daß er nicht folgen konnte. Allesschimmerte und verschwand, doch niemals, bevor nichtschon der nächste Satz an Gegenständen zu erscheinenbegann.Er stand da und wollte seinen Augen nicht trauen. Zukeiner Zeit war da nichts, sondern immer wenigstens dieAndeutung eines auftauchenden oder verschwindendenGegenstands. Und Sieben ergriff, als die Rosen wiederauftauchten, die Vase und hielt sie fest, um zu sehen, waspassieren würde.»Das war kein sehr intelligenter Schachzug«, sagte erspäter zu Kypros, die ihm beipflichtete. Denn die Vase unddie Blumen bebten und schimmerten - und so auch allesandere im Raum. Und dann, als hätte sich das Zimmerentschieden, blieben Vase und Rose, wo sie waren. Derviktorianische Teetisch blieb. Die Wasserstandsmarkenvon den Überschwemmungen waren verschwunden. DasZimmer blieb nun unverändert, und Sieben fand sich amfalschen Ort in der falschen Zeit.Er schluckte. Sicher passiert mir das nur innerhalb meinereigenen Wahrnehmung, überlegte er. Für George denDritten würde es das Haus des zwanzigsten Jahrhundertssein, wenn er von den Abfalltonnen und seinem Einkaufzurückkehrte. Oder? Es blieb keine Zeit, sich um George

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den Dritten Gedanken zu machen, denn plötzlich hörteSieben jemanden durch die hintere Tür hereinkommen.Und wer immer es auch war, der da durch diese Türhereinkam, er würde ihn samt physischem Körper undallem hier vorfinden, hier, wo er nicht hingehörte. In seinerVerzweiflung ließ Sieben die Vase fallen. Sie zerbrach.Wie der Blitz sauste er die Treppe hinauf, lief aufZehenspitzen möglichst rasch und leise weiter in Richtungvon George des Ersten privatem Studierzimmer imDachgeschoß. Sein Herz klopfte wie rasend, der Schweißfloß ihm die Achselhöhlen hinunter. Er stellte sich vor, daßjeden Moment jemand aus einem der Schlafzimmer tretenund sehen könnte, wie er den dunklen Flur entlanglief. Erwar überrascht, daß sich ein Körper so schnell bewegenkonnte, doch er keuchte, als er schließlich die Tür zurTreppe ins Dachgeschoß erreichte. Erleichtert öffnete ersie, schloß sie hinter sich und lehnte sich aufatmenddagegen.Und jetzt hörte er George den Ersten lachen.Sieben war schon drauf und dran, geradewegs durch dieTür in Georges Studierzimmer zu treten, als ihm einfiel,daß er einen richtigen Körper hatte, wenn auch in derfalschen Zeit. Er hob die Hand, um anzuklopfen, verhieltdann aber nachdenklich mitten in der Bewegung. Georgewürde ihn wahrscheinlich nicht hereinlassen, ja, er würdeihn nicht mal erkennen, da Sieben bei ihrem letztenZusammentreffen ein alter weiser Mann gewesen war.»Oh. Ah. Haaaa, haaa...« Die durch die geschlossene Türdringenden Geräusche irritierten Sieben. Er mußte mitGeorge reden und herausfinden, was für eine Verbindung

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zwischen seiner Gasschnüffelei und den Zeitwechselnbestand. »Und dann kam mir die Lösung«, berichtete erKypros später. »Ich bemerkte die Abstellkammer linksneben Georges Zimmer und wußte, was ich zu tun hatte.«Sieben öffnete sie rasch und verstaute sorgsam seinenKörper darin. Hier würde er versteckt und aus dem Wegsein. Erfreut über seine Findigkeit verließ er dann seinenKörper, nahm die Astralgestalt des weisen alten Mannesan und schritt durch Georges Tür.George Brainbridge der Erste kicherte vor sich hin: »SindSie also zurückgekommen! Hier, nehmen Sie mal. Ichhabe eine außerordentlich überraschende Entdeckunggemacht.«»Wie kommt es, daß Sie immer meine Astralgestaltwahrnehmen, wenn Sie Gas schnüffeln?« fragte Sieben.»Und was hatten Sie vor? Ich sah Sie noch vor ein paarMinuten unten und —«»Schsch, schsch, schsch«, machte George und fuhr dannin glücklichem Singsang fort: »Ich sah... ich sah... dieZukunft. Ich sah dieses Haus in der Zukunft... Ich sahsogar ein Buch über Zahnheilkunde in der Bibliothek, woes natürlich gar nicht sein kann. Aber es ist da.«»Na, jetzt wird es für Sie nicht mehr da sein«, erwiderteSieben düster. »Wir sind jetzt wieder in Ihrer Zeit. Washaben Sie getan, daß... das passiert? Ich sollte in deranderen Zeit sein, in der Zukunft.«»Sapperlot. Ein Problem«, sang George weiter. »Und ichhabe nicht die geringste Ahnung, wie oder warum dasalles passiert.«

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Nun ernsthaft beunruhigt ließ sich Sieben auf GeorgesBett-33kante nieder. Das Sonnenlicht des spaten Nachmittagsdrang durch die Spitzenvorhänge und blinkte hier und dortauf der Tapete mit Rosenblütenmuster auf. Die Tür desKutschenhauses stand offen, die Kutsche selbst war nichtzu sehen. In den Ahornbäumen zwitscherten Vögel, unddie Ränder der weißen Spitzendecke über Georges altemSchreibtisch bewegten sich sacht in der sanften Brise, diedurch das Fenster hereinwehte. George hob den kleinenKanister, inhalierte etwas Gas und sagte träumerisch: »Ichkomme selten dazu, untertags hier heraufzukommen, aberein paar Patienten haben abgesagt... ah, was für ein liebli-cher... Junitag es doch ist.« Sein Schnurrbart bebte. Seinebraunen Augen lächelten Sieben liebevoll an, und er ließsanft seine Hosenträger schnalzen. »Wer immer Sie auchsind, willkommen und nochmals willkommen«, murmelteer.Sieben dachte nach. Die Kutsche stand nicht imKutschenhaus, so wie Georges Auto auch nicht in derGarage war. Hieß das, daß George noch immer beimEinkaufen war?»Ich werde auch den Titel dieses Buches aufschreiben,das ich gesehen habe«, redete George neben ihm weiter.»Ich werde beweisen, daß ich in der Zukunft war. Ichwerde vielleicht sogar diesen William James über meineGeschichte informieren...«»Sie können gar nichts beweisen«, sagte Siebenmürrisch. »Das Buch wird in Ihrer Zeit nicht von anderenentdeckt werden.« Doch kaum hatte er das gesagt, biß

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sich Sieben auf die Zunge, denn Georges Augenbegannen plötzlich zu glitzern. »Sie haben recht«, sagteer. »Ich muß es... stehlen und mit mir zurückbringen. Beimnächsten Zeitwechsel werde ich es tun.«»Nein, nein, nein, das dürfen Sie nicht«, rief Sieben. »Ichhab mir eine Blumenvase in Ihrem Salon gegriffen, als dieZeit dauernd hin- und herwechselte, und als ich siefesthielt, bekam ich die Zeit, die dazu gehört.«»Mein Geist ist so klar wie das All«, sagte Georgeverwundert. »Sie meinen, daß ich möglicherweise, wennich dieses zukünftige Buch stehle, auch in seiner Zeitlande?«»Genau«, sagte Sieben, was ihn an Kypros erinnerte.George lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück,spielte nachlässig mit den Quasten an der Kordel seinesroten Schlafrocks, wackelte mit seinenschwarzbestrumpften Zehen und sagte verschmitzt: »Daswäre ja ausgesprochen opportun.«»Opportun? Das wäre eine Katastrophe«, rief Sieben. Vonunten war ein Geräusch zu hören.»Sapperlot, das ist die Kutsche«, rief George. »MeineHaushälterin Mrs. Norway kehrt anscheinend vom Besuchbei ihrer Tante zurück. Da muß ich mich wohl inpräsentable Form bringen und -«»Würden Sie bitte still sein!« rief Überseele Sieben undüberlegte rasch. Wenn die Kutsche in dieser Zeitzurückkehrte, dann bog möglicherweise 1985 das Auto indie Einfahrt ein - mit dem richtigen George Brainbridge amSteuer. Sieben sauste zum Fenster.

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Die Kutsche rollte gemächlich an denPfingstrosenbüschen vorbei. Sieben wartete, bis diePferde vor dem Kutschenhaus anhielten - offensichtlichwollte Mrs. Norway sie gleich in den Stall bringen undnicht erst draußen anbinden. Dann stellte sich Sieben mitaller Kraft Georges kleinen Porsche vor. Er sah vor sei-nem geistigen Auge jedes Detail und bemühte sich, die er-wünschte Autoform der Kutsche zu überlagern. Eines derPferde wieherte und lenkte ihn ab, und hinter ihmmurmelte George der Erste träumerisch: »Was tun Siejetzt?«Die Kutsche schimmerte, die Pferde verschwanden, dasAuto wurde sichtbar, und dann... waren Pferde undKutsche (und Mrs. Norway) wieder da. Sieben schnapptenach Luft, denn der Porsche blieb auch. Mrs. Norway stiegaus der Kutsche, offensichtlich ohne das Auto zu sehen.George Brainbridge sprang aus dem Wagen, schlug dieTür zu, fing an zu pfeifen und schlenderte auf das Hauszu. Beide, George und Mrs. Norway, betraten das Hausdurch den Hintereingang.Sieben war mit seinem Latein am Ende. George der Ersteerhob sich, strich seinen Schlafrock glatt und schob denGaskanister unters Bett. Als er sich umdrehte, war Siebenverschwunden. George schüttelte den Kopf. Sapperlot, niekonnte man wirklich wissen, wie lange das Gas wirkte.Sieben fürchtete sich, in den Flur zu treten. Seine letzteHoffnung war, daß er, wenn er Georges Studierzimmerverließ, irgendwie wieder im Haus des zwanzigstenJahrhunderts war. Aber dieses Glück war ihm nichtbeschieden, der Flur blieb, wie er war. Er betrat die kleine

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Kammer, wo sein Körper gemütlich schlief. So schnell erkonnte, tauchte er in ihn ein, wobei ihm sofort ein paarFragen kamen.Wer zum Beispiel würde seinen Körper sehen? Wenn ihnMrs. Norway im Haus des neunzehnten Jahrhunderts sah- dann steckte er endgültig in der Patsche. Er rochgeradezu nach zwanzigsten Jahrhundert in seinemPolyestersommeranzug, dessen Stil und Material derDame äußerst merkwürdig vorkommen mußten. Vonseiner Digitaluhr ganz zu schweigen. Eigentlich einhübscher Einfall, dachte er, außerdem kann ich diewenigstens in der Tasche verschwinden lassen. Er konntesich auch nicht der Anzüge des einen oder anderenGeorge bedienen, denn sie waren ihm zu klein. Undwährend Sieben über all das nachdachte, stieg ervorsichtig die Treppe zum ersten Stock hinunter, auch derimmer noch neunzehntes Jahrhundert. Dann, das Herzschlug ihm bis zum Hals, betrat er die Treppe zumParterre.Oder angenommen, George der Dritte sieht mich. Daswürde bedeuten, daß George, so wie Sieben, das Haus inseiner Vergangenheit wahrnahm. Oder? Oder- Siebenschüttelte sich- beide, George der Dritte und Mrs. Norway,sehen mich gleichzeitig. Oder angenommen...Er betrat die Eingangshalle. Mrs. Norway und George derDritte näherten sich zur gleichen Zeit, obwohl der Raumsolides 19. Jahrhundert war. »Wieder da«, verkündeteGeorge. »Alles erledigt. Super!« Er begab sich insWartezimmer, lockerte seine Krawatte und warf seinSommerjackett über einen Lehnstuhl des neunzehnten

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Jahrhunderts, so sah es zumindest aus. »Hab auch einpaar großartige neue Witze gehört«, sagte er.»Sapperlot«, sagte Sieben.»Was?« fragte George überrascht.»Äh, ich meine super«, erwiderte Sieben, seinen Fehlerbemerkend, und errötete. »Äh, kommt Ihnen an diesemHaus irgend etwas anders vor? Oder an diesem Stuhl?«Sieben war schwindlig. Während er mit George sprach,der ihn offensichtlich sah, beugte sich Mrs. Norway (dieoffensichtlich weder Sieben noch George sah) über dieVasenscherben auf dem Teppich und murmelte: »Wie istdenn das passiert?« In wahrer Verzweiflung schloßSieben für einen Moment die Augen.»Was stimmt mit dem Sessel nicht? Sieht doch ganz okayaus. War ein Supertag, Abfalltonnen hin oder her.«George ließ sich nieder (für Sieben im Lehnstuhl desneunzehnten Jahrhunderts) und sagte: »Nun, und washaben Sie getrieben?«Sieben schüttelte den Kopf und brach plötzlich inschallendes Gelächter aus. Tränen rannen ihm übersGesicht. George Brainbridge der Dritte war sopragmatisch, so in seiner Zeit und an seinem Ortfokussiert, daß ihm jede andere Konstellation, nun, un-möglich erscheinen würde. Und während Sieben lachte,mischte sich ein Teil seines Bewußtseins mit demBewußtsein Georges, und Sieben sah durch dessenAugen das Zimmer des zwanzigsten Jahrhunderts, so wiees, was George anging, immer gewesen war, Und indiesem Moment war George der Dritte Sieben, ohne daßer es wußte, für immer ans Herz gewachsen.

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»Was ist so lustig«, fragte George und fing auch an zulachen. »Habe ich Ei im Gesicht oder was? Oder habenSie ein bißchen Lachgas geschnüffelt?«Sieben lachte noch lauter. Hier saß der bodenständigeGeorge in seiner Gegenwart und nahm seine gewohnteUmgebung wahr, und wenn der Himmel einstürzte.Während oben und fünfundneunzig Jahre entfernt seinGroßvater seine Zeiten auch nicht annähernd auf dieReihe bringen konnte.»Ich weiß nicht«, japste Sieben. »Sie haben mich zumLachen gebracht, irgend etwas, das Sie sagten oder nichtsagten...« Und während sich auf Georges Gesichtneuerlich ein fröhliches Grinsen breitmachte, verschwandMrs. Norway, verflüchtigte sich der Teetisch, und Siebenwar wieder ganz und gar da, wo er sein sollte, in Georgeszwanzigste Jahrhundert.

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Kapitel 5Ein Möchtegerndieb in der Nacht

Sie saßen am Küchentisch. »Der ganze erste Stockbesteht aus privaten Räumen«, sagte George.»Normalerweise ist es höllisch laut hier, aber wenn Jeanund die drei Jungs im Wochenendhaus sind, wird's ganzschön still.«Sieben grinste und stellte sich George von jungen Söhnenumringt vor.»Mist«, sagte George. »Letztens hab ich angefangen,zwei von den Zimmern im Wochenendhaus zu vergrößern,aber man könnte die ganze Hütte in dieses Haus hierstellen, und es wäre immer noch Platz. Niemand bautmehr Häuser wie das hier.«Dem Himmel sei Dank, dachte Überseele Sieben undgenoß seinen privaten Scherz. Das Abendessen warausgezeichnet. George betrachtete sich mehr oderweniger als Feinschmecker. Er trug eine alte Schürze überseinen sommerlichen Shorts, die er sich nach der Arbeitangezogen hatte. Sieben betrachtete Georges massigeSchenkel mit einer gewissen neidischen Bewunderungund fragte sich, ob er seine eigenen nicht etwas kräftigerhatte machen sollen.»Meine Eltern und Großeltern müssen hier am selbenPlatz zigtausendmal zu Abend gegessen haben«, sagteGeorge nachdenklich.

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Sieben hätte beinahe geantwortet: »Ich wünschte, Siehätten nicht davon geredet«, denn kaum hatte Georgeseine Großeltern erwähnt, stieg vor Sieben ein Bild auf,wie sie im Sommer 1890 beim Abendbrot saßen.»Ich muß schon sagen, der Gedanke daran ist irgendwieunheimlich«, sprach George weiter. »Und diese altenHäuser. Überall in der Stadt werden sie abgerissen.Dieses hier ist allerdings wirklich noch gut erhalten. Auchdas ganze Viertel hier. Aber alles verfällt langsam. DieStadt würde liebend gern ein Sanierungsprojekt drausmachen.«Sieben nickte und rutschte unbehaglich hin und her. EinGefühl der Bedrohung attackierte ihn plötzlich. Er sah sichum. Das Eßzimmer hinter ihm war hell erleuchtet. Jenseitsseiner Fenster verlor sich der Garten in der Dämmerung.Dann sagte jemand: »Das ist das Haus von diesemKlugscheißer«, und Sieben blickte überrascht hoch.»Was?« fragte er.George zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Ich habnichts gesagt.«»Ach, dann muß ich wohl schon Stimmen hören.« Siebenlächelte strahlend.In seiner Verwirrung brauchte er eine Minute, bis ihm klarwurde, was passiert war. Er hatte vergessen, daßMenschen nur eine gesprochene Unterhaltung hören.Zwar hatte er versucht, das im Kopf zu behalten und denRegeln entsprechend nur auf die gesprochenen Worte zuachten, aber im Moment, da er es vergaß, hatte er dieGedanken von jemand anders aufgefangen -und es warennicht Georges Gedanken gewesen...

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»Äh, ich dachte, ich hätte unten etwas gehört.«»Aber nein. Das ist nur das Haus, es macht dauerndGeräusche.« George bediente sich vom Nachtisch.»Was könnte jemand da unten stehlen wollen?« fragteSieben vorsichtig.»Ein paar Drogen in meiner Praxis, das ist alles. Eskommt ab und zu vor, daß irgend so ein Witzbold in eineZahnarzt- oder Arztpraxis einbricht.« George bliebunbekümmert. »Kommen Sie. Da unten ist niemand.Außerdem steht der Wagen vor dem Haus. Also kann sichjeder ausrechnen, daß wir zu Hause sind...«Doch Sieben folgte den bedrohlichen Gedanken vonZimmer zu Zimmer im Parterre, vom hinteren zumvorderen Teil des Hauses. Schließlich lokalisierte er sie inGeorges Praxis.Und dieses Mal hatte er auch nicht die geringste Ahnung,was er tun sollte. Die Gedanken, die er »hörte«, sagtenihm, daß dieser Mann da unten voller Haß und Wut war,aber auch unentschlossen und zu Tode verängstigt. Wennich George auf den Eindringling aufmerksam machen will,muß ich nach irdischen Regeln vorgehen, überlegte ersorgenvoll. Die Polizei würde gerufen, der Diebfestgenommen werden, denn es war ein Dieb... der jetztgerade am Schloß von Georges Arzneischrank herum-fummelte. Sieben begann zu husten, um seine Verwirrungzu verbergen und sich Zeit zum Nachdenken zuverschaffen.»Oh, ich werde Ihnen etwas Wasser bringen«, sagteGeorge. Sieben hustete stärker. Als George aufstand undihm auf den Rücken klopfte, merkte er plötzlich, wie sich

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ein Körper anfühlte, der geschlagen wurde, und hörte aufzu husten. »Ah, es geht schon wieder«, sagte er errötend.»Hören Sie«, sagte George. »Lassen Sie mich denAbwasch erledigen. Sie gehen nach unten und ruhen sichaus. Hab Ihnen schon das Gästezimmer hergerichtet.Danach genehmigen wir uns noch ein paar Bier.«»Super!« Sieben sprang so rasch auf, daß George ihnetwas verwundert anstarrte. Doch Sieben spürte immernoch die Präsenz des Eindringlings.Ziemlich erfreut darüber, sich so schlau losgeeist zuhaben, schlich er leise und etwas selbstgefällig die Treppeins Parterre hinunter. Sicher würde er auf einfallsreicheWeise mit dem Einbrecher fertigwerden. Doch dann blieber plötzlich erschrocken und voller Vorahnung stehen.Eine verdächtige Verschiebung ging da vor. Dieharmlosen Gemälde an der Wand... begannen sich an denRändern aufzulösen, und die alten Ölgemälde aus demneunzehnten Jahrhundert erschienen darunter. Was füreine absolut unpassende Zeit für einen neuerlichenZeitwechsel, dachte Sieben, und dabei fiel ihm etwas ein,das ihm in seinem Wunsch, Georges sterbliche Hülle zubeschützen, gänzlich entfallen war. Er, Sieben, hatte jaauch einen physischen Körper, was bedeutete, daß esvielleicht gar nicht so einfach sein würde, wie er sich dasvorgestellt hatte, mit dem unbekannten Einbrecherfertigzuwerden.Noch während er darüber nachdachte, sah er, im unterenFlur angekommen, einen jungen Mann hektisch GeorgesSchreibtisch durchstöbern. Die Tür zur Praxis stand offen,

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und der Dieb arbeitete mit einer Taschenlampe, die er nunausknipste, als er Siebens zögernde Schritte vernahm.Und wieder schienen alle Gegenstände des Hauses zuschimmern. Der junge Mann duckte sich, aber Sieben sahihn deutlich im Licht der Straßenlaternen - bevor es dentrüberen Schein von Gaslicht annahm. Sieben stöhnteunhörbar auf. Er machte sich bereit, trotz allemeinzugreifen, als er hinter sich jemanden die Treppeherunterpoltern hörte. »Sapperlot. Wer ist da?« donnerteGeorge der Erste, eine Schrotflinte in der Hand.Sieben knipste rasch den Lichtschalter an, und Gaslichterhellte den Raum. Da stand Gregory Diggs und glotztemit offenem Mund, zu verblüfft, um sich zu bewegen oderirgend etwas zu sagen. Das Zimmer sah aus wie eineFilmkulisse, und der Mann, der da unten an der Treppestand, war einfach unglaublich. Er trug seinen Morgenrockmit Quasten an der Kordel, einen Zwicker, der uraltaussah - und er hatte eine Flinte.»Wow, das ist ja irre«, sagte Gregory und schüttelte heftigden Kopf. »Ich will keine Scherereien...«»Du Lump«, brüllte George und stürmte auf ihn zu. »Wasist in dieser Tasche?« Er stieß Gregory beiseite und zogwahllos Fläschchen und Röhrchen heraus, mit denen dieTasche bis zum Rand vollgestopft war.Sieben sah benommen zu. Wie konnte George der Ersteden Dieb im zwanzigsten Jahrhundert sehen? Wie konnteder Dieb George sehen? Und warum sah keiner vonbeiden ihn"?»Setz dich da hin«, verlangte George Brainbridge derErste und deutete auf den Behandlungsstuhl,

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Gregory zitterte. »Muß wohl das falsche Haus erwischt ha-ben. Wollt es eigentlich nem Typen heimzahlen.«»Nem Typen heimzahlen, hah. Was ist denn das für einGerede?« donnerte George der Erste.»Wußte nicht, daß noch irgendwer Gaslicht benutzt«, mur-melte Gregory und starrte auf die Lampen. »Und dieseKlamotten! Mann, auf was für einem Trip sind Sie denn?«Er fühlte sich jetzt etwas sicherer, da George die Flintebeiseite gestellt hatte, allerdings in Reichweite.»Sieht oder hört mich denn keiner von euch beiden?«fragte Sieben und blickte George ins Gesicht.»Sie haben ja alles zurück«, stotterte Gregory. »Ich wolltdas Zeug doch bloß verkaufen.«»Mach den Mund auf«, fuhr ihn George an.»Was?«»Den Mund auf«, wiederholte George. »Dein Atem stinkt.Irgend etwas stimmt da drin nicht. Das Haus einesMannes ist seine Burg, Bürschchen. Weißt du das nicht?Mach weiter auf!«»Wollen Sie mich foltern?« schrie Gregroy. »Sind Sieirgend so ein Perverser oder was? O Jesus.« Er war denTränen nahe.Uberseele Sieben gab auf. Er setzte sich in die Ecke,während George der Erste brüllte: »Zum Teufel, nein. Ichbin der gutwilligste Mensch, wenn man mich nicht ärgert.Schau dir das an! Was ißt du eigentlich? Dein Zahnfleischist in einem scheußlichen Zustand.«»Mein Zahnfleisch?« japste Gregory. Mit Georges Fingernzwischen den Zähnen konnte er nur mühsam sprechen,und außerdem war er noch nicht davon überzeugt, daß

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dieser Kerl da ihm nicht alle Zähne ziehen würde oder sowas.»Kommst wohl aus einer armen Familie, was?« fragteGeorge der Erste.»Ah.«»Niemand ist durch und durch schlecht. Das ist mein Leit-spruch«, sagte George, sich für das Thema erwärmend.»Das ist nicht der Moment für eine Predigt«, schrieUberseele Sieben, ohne von irgend jemandem gehört zuwerden.Gregory Diggs, der seine Chance witterte, stammeltetraurig: »Aus einer sehr armen Familie. Wir haben nichts.«Er fühlte sich nun immer sicherer, da er etwas hatte, wo erbei George ansetzen konnte. Ein Liberaler mit blutendemHerzen, mit so einem war lässig fertigzuwerden.Prüfend versuchte Überseele Sieben, eine Schere voneinem Tischchen aufzunehmen. Seine Hand ging durch.Aber der Dieb hatte einen Körper - und er gehörte demzwanzigsten Jahrhundert an. Sieben mußte herausfinden,wie es kam, daß George und der Dieb sich überhauptsehen konnten.»Danach wirst du dich besser fühlen«, erklärte George derErste jetzt und holte ein Fläschchen aus einer Schublade.Er öffnete den Verschluß, und der starke Geruch vonNelkenöl benahm Sieben fast den Atem.»Hey«, schrie Gregory, aber George war schon dabei,damit sein Zahnfleisch mit erfahrenen Fingerneinzumassieren, so daß Gregory in seinem Stuhlzurückwich. Er war nun wieder völlig verängstigt. Hier saßer in einem Zahnarztstuhl, wie er ihn noch nie gesehen

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hatte - Gaslicht schien ihm ins Gesicht -, und der Druckder Finger von irgend so einem verrückten Zahnarzt ge-gen sein Zahnfleisch trieb ihn zum Wahnsinn. Außerdemsammelte sich Spucke in seinem Mund, und seine Augenbrannten. »Empfindlich, was?« bemerkte George derErste.Sieben geriet in Panik. Es wollte ihm nicht gelingen, wederdie eine noch die andere Umgebung zu beeinflussen, undsein eigener Körper fühlte sich seltsam losgelöst an.

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Kapitel 6Wahrscheinlichkeiten -eine Herausforderung

Immer wieder versuchte Sieben, sich bemerkbar zumachen, aber niemand hörte oder sah ihn. Schlimmernoch, diese merkwürdige Verschiebung schien sich allerDinge zu bemächtigen - nicht nur der Möbel wie zuvor,sondern auch das Haus selbst schien davon betroffen zusein. Es war, als ob der Raum immer schneller durch dieZeit raste... oder die Zeit durch den Raum. Sieben konntenicht sagen, was es war. Und die Wände begannen wie...hölzerne Vorhänge zu flattern, dann in Kügelchen undschließlich in Punkte zu zerfallen.Die Wände waren verschwunden. Sieben stand in einerwarmen, dunklen Nacht allein auf einem Grashügel. DasHaus, Dr. Brainbridge und der Dieb - ja das ganze Viertel -waren verschwunden. Er war sich jedoch sicher, amselben Ort zu sein, obwohl er nicht sagen konnte, woherer es wußte. Ein sanfter Wind streifte sein Gesicht, und ersah, daß der Fluß (derselbe Fluß?) immer noch in gleicherEntfernung dahinfloß.Sieben war verstörter, als er sich eingestehen mochte,denn seine Erlebnisse schienen keinerlei Struktur zuhaben - oder besser gesagt, er konnte zwar einebestimmte Ordnung erkennen, hatte aber keine Ahnung,wie sie funktionierte. Das Haus hatte ihm bislangwenigstens eine gewisse Orientierung gegeben. Jetzt wares verschwunden. Und auch schien ihn Kypros verlassen

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zu haben, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Jedemgegenwärtigen Zeitpunkt, dachte er niedergeschlagen.Er sah sich um. So weit sein Blick reichte, war die ganzeGegend bewaldet, von dem kleinen Grashügel, auf dem erstand, abgesehen. Wo oder in welchem Wann war er?»Kypros« rief er innerlich, aber es kam keine Antwort.War das die Stelle, an der Dr. Brainbridges Hausgestanden hatte? Wenn ja, befand er selbst sich dannvom Standpunkt der Existenz des Hauses aus gesehen inder Zukunft oder in der Vergangenheit? Sieben blicktezum Himmel. Drei Kugeln glommen weit oben über derErde. Er stöhnte auf und versuchte sich die Geschichteder Erde ins Gedächtnis zu rufen. Die erste schwebendeStadt war bereits im dreiundzwanzigsten Jahrhundert inBetrieb gewesen. Das wußte er, weil eine seinerPersönlichkeiten — Proteus - dort lebte. Die zweiteschwebende Stadt war im vierundzwanzigstenJahrhundert entstanden und die dritte war erst... erst imspäten fünfundzwanzigsten Jahrhundert bewohnbargewesen. Überseele Sieben ließ sich auf den unebenenBoden nieder, als ihm seine mißliche Lage klar wurde.Seiner Berechnung nach mußte es somit ungefähr dasJahr 2485 sein. Wenn er sich also auch am richtigen Ortbefand, so war er doch ein halbes Jahrtausend vonseinem Ziel entfernt!Zudem wagte er es nicht, das Gelände, wo das Hausstand -oder gestanden hatte -, zu verlassen, denn dasHaus mußte der Fokus all dieser Ereignisse sein.Vielleicht würde sich die Zeit von allein wieder verkehren,wenn er nur dasaß und sich aufs zwanzigste Jahrhundert

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konzentrierte. Doch das, was er sah, trug nicht gerade zuseiner Beruhigung bei. Hier unten gab es keinerlei Licht,und von seiner Position aus gesehen, leuchteten dieschwebenden Städte nicht heller als Sterne. Ein sehrfeiner Regen fiel, so fein, daß er wie Nebel schien. DasGras war naß, und an den Bäumen fielen die Tropfen miteinem murmelnden Geräusch von Blatt zu Blatt. Sonstherrschte Stille.Warum also nun ein halbes Jahrtausend in der Zukunft,wenn ich vorher nur zwischen dem neunzehnten undzwanzigsten Jahrhundert hin- und hergesprungen bin?»Kypros«, rief Sieben, doch auch diesmal kam keineAntwort.Sieben zitterte. Wenn die Luft auch warm war, so hatteder Regen doch seinen Polyesteranzug durchdrungen undihn bis auf die Haut durchnäßt. Kein Wunder, daß dieIrdischen immerzu Regenschirme mit sich herumtragen,dachte er unglücklich. Er wagte es auch nicht, seinenKörper zu verlassen, aus Angst, daß wieder einZeitwechsel einsetzen und seinen Körper ohne ihnwegfegen könnte. Wie kommt es, daß all das geschieht,während ich noch einen Körper besitze?Kypros existiert in jeder Zeit und ich auch, überlegteSieben, ich kann also nicht verlorengehen. Aber er fühltesich verloren. Wenn er sich der Geschichte richtigentsann, dann war die Erde in diesem Jahrhundert in einerder Wahrscheinlichkeiten eine weitgehend unbewohnteglobale Reservation, ein Naturschutzgebiet mit begrenzterBesucherzahl. In einer anderen Wahrscheinlichkeitallerdings war der Planet fast tot, verpestet vom tödlichen

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Abfall zahlloser atomarer Kriege. Und wiederum in eineranderen Wahrscheinlichkeit entwickelte sich gerade eineneue Zivilisation.Aber Sieben hatte keine Möglichkeit festzustellen, inwelcher Zukunft er sich befand, er wußte nur, daß sie ausder Gegenwart der Brainbridges - beider Brainbridges -»erwuchs«.Trotz seiner mißlichen Lage bemerkte er, daß die Gegendvon einer weichen, geheimnisvollen Atmosphäredurchdrungen war, die durch den Nieselregen nochverstärkt wurde. Auf seltsame Weise schien dieLandschaft verzaubert und verzaubernd. Andererseits warda auch so etwas wie ein stilles Warten - wie eine leereBühne wenige Augenblicke vor Beginn eines Theater-stücks. ... Oder, dachte Sieben plötzlich, als war ich Zeugeeiner gerade entstehenden Wahrscheinlichkeit.Und war das die Erde der Brainbridges?Noch bevor Sieben sich seine Frage beantworten konnte,explodierten am Himmel Bilder, und er sah ein Panoramavon solch multidimensionalen Ausmaßen, daß er nichtwußte, wohin er zuerst blicken sollte - von einer Deutungdessen, was er sah, ganz zu schweigen. Eine sounermeßliche und erstaunliche Vision, daß seinBewußtsein um Erweiterung rang, um die Bilder in sichaufnehmen zu können. Die Szenerie zeigte eine Welt mitverschiedenen Bereichen unterschiedlicher Zeitepochen.Architektur und Landwirtschaft und Technologie ändertensich in jedem Segment, und die Menschen trugen diejeweils einzigartige Kleidung ihrer Zeit - und bewegten

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sich doch (wie Sieben sah) von einer Zeit zur ändern, wiedie Irdischen sich gewöhnlich von Ort zu Ort bewegten.Da waren glanzvolle Städte und ärmlichste Hütten, alle inihren leuchtenden Bildern. Da waren Fabriken undWerkzeuge aus Stein - und die Embleme und Fahnen vonLändern und Religionen und Zielen, von denen er niegewußt hatte.Dann geschah es zuweilen, daß in einem der Bilder —ganz plötzlich - die Gestalt einer bestimmten Person inden Vordergrund trat. Diese (manchmal männliche,manchmal weibliche) Person machte eine einfacheBewegung - nahm eine Vase auf, hob einen Arm, wandtesich ab. Und wie m Reaktion darauf veränderten sich auchalle anderen Segmente. Andere Bauten erschienen odereine Armee oder paradierende Soldaten setzten sich inMarsch. Wenn diese Personen ihre einfachen Bewegun-gen ausführten, wurde das ganze Panorama auf die eineoder andere Weise verändert.Sieben versuchte seine Erfahrungen zu deuten und verlorsich fast in seiner Konzentration. In einem der Bilder zumBeispiel nahm eine Frau 13000 v. Chr. ein einfachesWerkzeug auf- und in einem anderen Bild startete einRaumschiff. Dann jedoch verkehrte sich der Ablauf. DerAstronaut drückte einen einfachen Knopf auf einerInstrumententafel - und wie in Reaktion darauf nahm dieFrau ihr Werkzeug zur Hand.Jetzt sah Sieben so blitzschnell, daß er kaum folgenkonnte, George Brainbridge den Ersten in seinerStudierstube unterm Dach. Ein winziges Bild, aberleuchtend vor Intensität. Und der viktorianische George

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lugte aus seinem Fenster und betrachtete dieselbeSzenerie, die Sieben beobachtete. Zu gleicher Zeit er-schienen George der Dritte, ebenfalls in Miniaturform, undseine aseptisch weiße Zahnarztpraxis, ein winziges,strahlend helles Kämmerchen, am Himmel. Und Georgeder Dritte sah hinunter in das Gesicht von Gregory Diggs,dem Dieb. Die beiden schienen für immer in dieserPosition erstarrt, wenngleich Sieben das Gefühl hatte, daßihre Beziehungen zueinander ständig wechselten. Undwiederum zur selben Zeit hielt in einem anderen Bild derPatient in der Nervenheilanstalt, der glaubte, er seiChristus, die Hand hoch, als wollte er diese ganzekosmische Produktion stoppen. Und sofort verschwandalles — bis auf die Landschaft, die wieder vonNebelschleiern erfüllt war.Der Wind trug ein ungewöhnliches Gemurmel mit sich, alsseien in ihm irgendwo Stimmen verborgen - einhypnotischer, unwiderstehlicher, doch ferner Klang.Sieben lauschte und wußte, daß das, was er da »hörte«,keine Laute im normalen Sinn waren. Es war ein inneres,molekulares Knistern und Rauschen, als ob die Atome vonFelsen und Bäumen und Gras alle zugleich zu sprechenversuchten oder Zungen formten. Die »Laute« ver-änderten sich mehrmals, bis Sieben schließlich ihreBotschaft verstand: Die Kodizille. Aber was bedeutetedas? Die inneren Laute waren eigentlich von ihm in Worteübersetzte Schwingungen, so daß selbst der Boden unterseinen Füßen vibrierte, und so auch die in Nebelschleiergehüllten Bäume, bis von überallher diese inneren Worte,Die Kodizille., in Siebens Bewußtsein einströmten.

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»Was ist das?« fragte Sieben mit innerer Stimme. Aber imMoment, da er die Frage stellte, hörten die Schwingungenauf, und Kypros stand neben ihm.Sie sah strahlender aus, als er sie je gesehen hatte. Auchschien sie ein ganzes Kaleidoskop von Gestalten zurVerfügung zu haben, so daß, als sie erschien, andereGestalten ihrer Hauptgestalt entströmten. Gestalten vonMännern und Frauen allen Alters, aller Völker und Zeitenblitzten in der Landschaft auf und explodienen wieKnallfrösche. Angesichts von Kypros' Fähigkeiten warSieben fast beschämt. Inmitten einer solchen Vorführungfühlte er sich nichts als machtlos, während er in seinemknitterfreien Polyesteranzug dastand, völlig durchnäßtvom nächtlichen Nieselregen, der wieder eingesetzt hatte.Und er fühlte sich, als Kypros schließlich bei einer Gestaltblieb - der uralten Frau mit jungem strahlenden Aussehenoder der jungen Frau mit uraltem vielfältigen Wissen - sehrniedergeschlagen.»Ich bin wirklich froh, dich zu sehen«, sagte er. »Aber ichhabe nicht die geringste Ahnung, was hier passiert ist.Obwohl ich doch sogar einen Körper habe, scheine ichnicht imstande zu sein, in der richtigen Zeit zu bleiben.Und hast du die Weltvision gesehen, die ich eben sah?«»Ich habe sie gesehen«, antwortete Kypros sanft. »Unddu hast mehr wahrgenommen, als ich dachte. Einen Teildavon wirst du dir mit der Zeit deuten können.«»Aber in letzter Zeit scheint keine meiner Erfahrungenirgendeine für mich erkennbare Struktur zu haben«, riefSieben. »Ich weiß, es gibt eine Ordnung! Aber sie kommtmir immer wieder abhanden...«

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»Sie kommt nicht abhanden«, sagte Kypros weich. »Sieist da. Du schiebst es nur auf, sie wahrzunehmen, ausGründen, die dir später wieder einfallen werden. Aber ichgebe dir ein paar wichtige Anhaltspunkte, die dir helfenkönnen.Es nähert sich da ein bedeutsames Dilemma odervielmehr: eine wichtige Periode der Veränderung... Nun,einerseits hat sich diese Veränderung natürlich schonereignet und andererseits, vom Standpunkt des GeorgeBrainbridge im zwanzigsten Jahrhundert aus, ist sie nochnicht geschehen. Er nähert sich einem entscheidendenKreuzungspunkt von Wahrscheinlichkeiten, und du mußtlernen, deinen Persönlichkeiten sowohl in denwahrscheinlichen Bereichen ihres Lebens zu helfen, wieauch bei den Problemen, derer sie sich bewußt sind...«Sieben war entsetzt. »Du meinst, ich muß mich mit einerganzen Gruppe von wahrscheinlichen Georgesbefassen?« schrie er.Kypros ignorierte lächelnd seinen Ausbruch. »Denk andeine Vision«, mahnte sie in eindringlichem Ton, auf denzu hören Sieben gelernt hatte. »Auch da finden sichwichtige Anhaltspunkte. Denk an die Persönlichkeiten, diedu gesehen hast, und ganz besonders an Diggs. Ichmöchte dich auch noch einmal daran erinnern, daß sichauch für die Irdischen nicht alle Erfahrung physischmanifestiert. Jede Person, Sieben, ist zum Teil für die Ge-burt von wahrscheinlichen Welten verantwortlich... Dubrauchst gar nicht die Stirn zu runzeln. Du machst dassehr gut. Auch dein Anzug ist sehr angemessen.Exquisites zwanzigstes Jahrhundert. Sehr sinnig.«

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»Das sagst du nur, um mich aufzumuntern«, protestierteSieben. Aber Kypros unterbrach ihn: »Jetzt kehr in dein fürden Moment vorrangiges Jahrhundert zurück, sonst wirstdu noch konfuser, als du es sowieso schon bist. Undvergiß nicht, daß es einen Grund dafür gibt, daß Georgeder Erste Diggs wahrgenommen hat.«»Ich bin schon konfuser, als ich es je war«, jammerteSieben. »Und wie kommt es, daß mein Körper all dieseWahrscheinlichkeiten durchreist?«»Du beförderst besser diesen jungen Dieb aus dem Haus,bevor George aus dem zwanzigsten Jahrhundert etwasmitkriegt«, sagte Kypros. »Über den Rest kannst du dirspäter Sorgen machen.«Kypros verschwand und ebenso die nächtliche Landschaftaus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Sieben stand(voll sichtbar, wie er merkte) vor George Brainbridge demErsten und dem Dieb aus dem zwanzigsten Jahrhundert.Das Haus hatte noch immer sein viktorianischesAussehen. »Donner und Doria, wer sind Sie denn?«brüllte George Brainbridge der Erste, der ihn nun sah.Sieben konzentrierte sich, so gut er konnte. »Raus, raus«,schrie er Gregory Diggs an und schob ihn aus der Tür imzwanzigsten Jahrhundert. Diesmal fühlte er wirklich, wiesich seine Muskeln bewegten.Und fast gleichzeitig wandte er sich George dem Erstenzu und befahl ihm, schleunigst die Treppe im neunzehntenJahrhundert hinauf zu verschwinden. Völlig verdutzt tatGeorge, wie ihm geheißen.

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Kapitel 7Die Transformation des Gregory Diggs

Gregory Diggs überquerte die Straße vor GeorgeBrainbridges Haus, ging, eine Abkürzung durch dieHinterhöfe wählend, einen halben Block weiter zum Flußund ließ sich an seinem Grasufer nieder, umnachzudenken. Rechts oben fuhren ein paar Autos überdie Brücke, aber sonst war die Nacht still, die Luft nochwarm und ein wenig feucht, und Nebel stieg über demWasser auf. Links in der Ferne war der weicheLichterschein des Geschäftsviertels der Stadt zu sehen.Gregory zündete sich eine Zigarette an und ging mit sichzu Rate.Er hatte vorgehabt, den Giftschrank dieses Zahnarztes zuleeren und das Zeug in klingende Münze zu verwandeln.Das hatte nicht geklappt, was nicht sein Fehler gewesenwar. Nicht mal ein Genie hatte etwas von diesemVerrückten ahnen können, der ihn entdeckt hatte. InErinnerung daran brach Gregory in so heftiges Gelächteraus, daß er sich auf dem Boden kugelte. Ein Haus mitGaslicht und ein Clown, der sich wie ein Laffe aus einemanderen Jahrhundert herausputzte. O Gott! Er japste nachLuft. Jetzt, da alles vorüber war, kam ihm die ganze Komikder Situation zu Bewußtsein. Der andere Typ, der denVerrückten schließlich die Treppe hinauf gescheuchthatte, mußte sein Betreuer sein oder so was.

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So plötzlich, wie es gekommen war, verging ihm auch dasLachen. Auch wenn der Deal mit den Drogen nichtgeklappt hatte, so hatte er doch verdammtes Glückgehabt, so leicht davongekommen zu sein. Und erbrauchte tatsächlich dringend Geld.Wenn nicht ewig diese verdammten Schmerzen wären,dann wäre er einfach abgehauen. Der Sozialarbeiter hatteihm erzählt, daß man sich in der Klinik um seine Zähnekümmern würde, aber alles, was dieser blöde Zahnarztdazu zu sagen hatte, war: »Nichts zu machen.«Großartige Hilfe. Bei dem Gedanken daran stieg inGregory wieder die Wut hoch. Ich werde es dem Bastarddoch noch heimzahlen. Wenn ich nur wüßte, wo zumTeufel der wohnt. Beide Kerle mußten denselben Namenhaben. Der verrückte Alte hatte sein Zahnfleischwenigstens mit Nelkenöl eingerieben, was etwas half.Ziemlich niedergeschlagen machte er sich nun auf denWeg in Richtung Stadtmitte und dem etwas dahintergelegenen Kommunalen Psychiatriezentrum. Er hattenichts, wo er sonst hätte hingehen können, was also soll's,verdammt? Er war sich noch nicht einmal sicher, welchenStatus er dort hatte. Er war kein ambulanter Patient, aberauch kein... Insasse. Ich werde mich hineinschleichen,überlegte er, und vielleicht nach dem Frühstück endgültigabhauen. Obwohl er auf Bewährung frei war. WegenDiebstahl im Supermarkt. Wie war das noch gewesen?Der Richter hatte nur gesagt, daß er ein paar Tage unterBeobachtung bleiben müßte... Beobachtung?Er grinste. Niemand schenkte ihm irgendwelcheBeachtung. Er war auch nicht im Sicherheitstrakt

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untergebracht, obwohl sie einen hatten. Und untertags wardas Haus gesteckt voll mit ambulanten Patienten. Wenn erwollte, brauchte er nur einfach hinauszuspazieren.Er marschierte an der Rückseite einigerInnenstadtgebäude vorbei, sah an den wackligenFeuerleitern hoch und dachte, daß hier leichteinzubrechen wäre - nur, daß es kaum der Mühe wert war.Wer hier wohnte, hatte nichts, das zu stehlen sich lohnte.Noch zwei Blöcke weiter und der Psychiatriekomplex kamin Sicht: niedrige Gebäude, einige hatten kleine Innenhöfe,Bäume davor, streng geometrisch gepflanzt, einSpielplatz, ein riesiger klinikähnlicher Bau mit verziertenGitterstäben an den oberen Fenstern. Es sieht aus wie einideales, sauberes, modernes Dorf, dachte Gregory undhielt plötzlich den Atem an, weil das ganze Gelände in einsanftes Licht getaucht war, in den von den Wolkenreflektierten Widerschein der Lichter der Innenstadt.»Dreckige Bastarde!« murmelte er, ohne genau zuwissen, wen er damit meinte, doch dieser friedliche,aufgeräumte Ort mit seinen Bäumen und schmalen,schattigen Gehwegen schien verdammt noch mal was zuversprechen, das bestimmt nicht geliefert wurde.Vor seinem geistigen Auge sah sich Gregory bereits überdie große Wiese gehen bis hin zur Rückseite desGebäudes, das er heimlich verlassen hatte, und untendurchs Fenster in das kleine Zimmer steigen, das man ihmzugewiesen hatte. Vielleicht hofften sie ja auch, daß ersich davonmachte, in eine andere Stadt—ein Problemweniger für die Ämter.

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»Verdammter Mist!« sagte Gregory. Gegen seinen Willenhob die weiche Juninacht seine Stimmung. Er setzte sichauf eine der rotgestrichenen Bänke neben einem kleinenBlumenbeet und schnupperte die feuchte Luft, die vomFluß herkam. Ein lausiges Leben ist das, dachte er trotzseiner gehobenen Stimmung. Aber die Nacht war sotröstlich, daß er beschloß, zu bleiben, wo er war. Wennihn jemand fragte, so würde er erklären, daß er nicht hatteschlafen können und einen Spaziergang gemacht hatte.Und schläfrig wurde er sich wieder seiner schmerzendenZähne bewußt, doch plötzlich war er zu müde, um sichdarum zu bekümmern. Er schlief auf der Bank ein.Als er erwachte, war es bereits hellichter Tag. Nicht nur,daß ihn sein Zahnfleisch schmerzte, offensichtlich hattensich, während er schlief, auch zwei kleine Geschwüre amGaumen gebildet, und seine Zungenspitze fühlte sichwund an. Gregory grinste und versuchte, seine Problemezu vergessen. Die Ereignisse der gestrigen Nacht fielenihm wieder ein. Das Beste von allem war, daß er nichtsgestohlen hatte, auch wenn er es vorgehabt hatte, unddas hieß, daß nicht noch jemand hinter ihm her war. Under war auf Ehrenwort in dieser Nervenheilanstalt. Immernoch grinsend schlenderte er hinüber zum Hauptgebäude,kletterte durchs Fenster in sein Zimmer und setzte sichaufs Bett.Aus dem Sicherheitstrakt des Gebäudes, wo die schwerGeisteskranken untergebracht waren, drangenfrühmorgendliche Geräusche, und von irgendwoherduftete es nach Kaffee. Gregory stand auf, wandertedurch den Korridor, dessen Wände Hochglanzfotos von

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der Stadt und dem Tal zierten, und gelangte schließlich ineinen großen Raum. Das frühe Sonnenlicht flutete durchfünf nach Osten gelegene Fenster und malte fünf leuch-tende Pfade auf den Linoleumboden. In einer Ecke lief einFernseher, obwohl niemand zusah. Verschiedene Stühlestanden im Raum verstreut, einige gepolstert und mitBlumenstoff bezogen, ein paar Rohrsessel, mehrereTische und Lampen.Erst dachte Gregory, er sei allein, aber ein lautesGeräusch am anderen Ende des Raums zog seineAufmerksamkeit auf sich. In dem strahlenden Sonnenlichtkonnte er zunächst kaum etwas erkennen, bis er diedünne Gestalt eines Mannes ausmachte. »Hi«, sagteGregory. »Irgendeine Ahnung, wo ich hier etwas Kaffeeoder Aspirin bekommen könnte?«Die Gestalt kam näher. Der etwa vierzigjährige Mann trugArbeitshosen, ein Hemd und Turnschuhe und hatte einenBesen in der Hand. »Pförtner«, sagte er.»Die lassen dich hier wohl schon m aller Herrgottsfrüheantreten, was?« erkundigte sich Gregory.»Wahrlich«, antwortete der Mann.»Wahrlich? Quatschst du immer so komisch?« fragte Gre-gory. »Zigarette?«»Hab nichts dagegen.« Der Mann lehnte seinen Besen andie Wand.Gregory grinste. Er hatte sich einsam gefühlt, und dieserMann schien auf eine Art anziehend, die er sofort mochte.Er gab ihm Feuer. »Hältst den Laden sauber, was?«

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Sie setzten sich einander gegenüber, ein schmaler Tischstand daneben. »Ich bin Gregory Diggs«, stellte sichGregory vor, von seiner Höflichkeit selber überrascht.»Mein richtiger Name ist John Fenster, aber ich denke,daß ich Christus bin«, sagte der Mann lächelnd. »Daskannst du ebensogut auch gleich erfahren.«»Machst du Witze?« fragte Gregory und wurde widerWillen rot. »Ich meine, der ist doch tot. Und du siehst mirnicht gerade tot aus.«»Es ist eine Tatsache«, antwortete der Mann.»Und du siehst auch nicht so aus, als hättest duzweitausend Jahre auf dem Buckel.« Gregory lachteverkrampft, aber er war fasziniert. »Heh, ich hab vorn paarTagen von dir gehört. Warum glaubst du, daß du Christusbist? Was sagen die Hirnklempner dazu? Wieso lassendie dich einfach so frei herumlaufen? Ich meine, dukönntest ja hier einfach rausspazieren.«»Und wohin sollte ich gehen?« fragte Christus. »Ich habeeinen Trumpf. Ich kenne nämlich die Geschichte vonChristus. Wenn ich hier weggehe, werden sie michkreuzigen. Die Ärzte wissen also, daß ich nirgendwohingehe. Außerdem habe ich hier einiges zu tun.«Gregory riß die Augen auf. »Tatsächlich? Was denn zumBeispiel?« Die Sonne blendete seine Augen, und ermußte das Gesicht abwenden.»Oh, ich tue die Werke meines Vaters«, antwortete derMann. Gregory glaubte einen gewissen Unterton in seinerStimme zu hören und drehte sich wieder um, um seinGesicht genauer zu betrachten.

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Auch der Mann machte eine Drehung, so daß ihm dieSonne fast direkt ins Gesicht schien, und für einenMoment sah dieses Gesicht verschwommen, ungeformt,leuchtend aus. Wortlos sprang Gregory auf und zog dieJalousien an allen Fenstern herunter. »Konnte nichtssehen«, brummte er.»Selig sind die Blinden, denn sie werden Gott schauen«,sagte der Mann mit gütiger Stimme.»Hör mal, laß es jetzt gut sein«, sagte Gregory, nun dochetwas verunsichert. »Weißt du, wo ich ein Aspirin kriegenkönnte? Mein Zahnfleisch macht mich fertig. Habirgendeine Krankheit, sagt der Zahnarzt hier.«»Er hat mir einen Zahn gezogen«, bemerkte der Pförtnermitfühlend, und Gregory, nun nicht mehr verschreckt, fingan zu lachen. »Na, das beweist doch, daß du nichtChristus sein kannst. Christus hätte seine Zähne selbstreparieren können, oder? Dann könntest du doch jetzt indie Welt rausgehen und müßtest dich nicht sorgen, daßsie dich an irgend so ein Brett nageln.« Plötzlich schlugsein Ton um. »Sie werden dich wohl nicht an ein ver-dammtes Kreuz hängen, obwohl sie sich jedenschnappen, den sie kriegen können. Weißt du, man mußnicht Christus sein, um in dieser Welt gekreuzigt zuwerden.«»Auch das ist eine Tatsache, denke ich«, antwortete derPförtner, und einen Moment lang hatte Gregory dasGefühl, daß er und dieser merkwürdige Fremde aufirgendeine Weise eng miteinander verbunden waren. Daßdieser Mann zumindest die Welt auch so sah wie erselbst, oder irgendwas. Doch dieses plötzliche

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Verständnis zwischen ihnen verunsicherte ihn auch, undso sagte er in brüskem Ton: »Mein Zahnfleisch... ichglaub, meine verdammten Zähne werden ausfallen.«Gregory wußte später nie ganz sicher, was als nächstesgeschehen war, oder wer zuerst gesprochen hatte, er oderder Pförtner. Er erinnerte sich nur, daß die Sonne ihnwieder geblendet hatte. Alle möglichen Farben waren vorseinem inneren Auge durcheinandergewirbelt. Undgleichzeitig war da auch ein Muster gewesen, weißer alsweiß... Und durch all das hindurch hatte er das Gesichtdes Pförtners gesehen, oder es war ihm so vorgekommen,in Nahaufnahme, mit dem mitfühlendsten Lächeln, dasman sich vorstellen konnte.Der Pförtner sprach, und Gregory fühlte die Worte, ohnesie zu verstehen. Im nächsten Moment breitete sich einekribbelnde Wärme über sein Gesicht, in seinem Mund, imKiefer und in den Augen aus. Die Wärme machte ihn fastschwindlig, und er fühlte, er fühlte, wie sich seine Zähnefestigten.Er spürte einen sehr warmen Druck mit jeder Wurzel, diesich tiefer eingrub, und ein zartes, heißes Schnappen, alssich das Zahnfleisch enger um die Zahnhälse legte. Soviele Gefühle bemächtigten sich seiner, daß er sie nichtbenennen konnte. Seine Zunge tastete im Mund herum -keine Geschwüre mehr! Und auch die Zungenspitzeschmerzte nicht mehr. Er öffnete die Augen. Dannbemerkte er, daß das Licht im Raum bei weitem nicht sohell war, wie es ihm noch vor einem Augenblickerschienen war. Schließlich hatte er ja auch die Jalousien

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heruntergelassen. Aber woher kam dann dieses Licht?»Das... das... Licht«, murmelte er.»Nicht so hell, wie es eben noch war. Es hat sich etwasbezogen«, sagte der Pförtner und sah mehr oder wenigeraus wie ein Mann in den Vierzigern, wie Gregory dachte.Kein Heiligenschein, bei Gott, keine... Macht, wie er siegerade noch gespürt hatte.»Fühlst dich besser? Was ist mit dem Zahnfleisch?« fragteder Pförtner. Und als Gregory jetzt seine Stimme hörte,hatte er keinen Zweifel mehr, daß dieser Mann aufirgendeine Weise sein Zahnfleisch geheilt hatte. »Wie...hast du das gemacht?« stotterte er. »Ich weiß nicht, wasich sagen soll. Niemand hat je irgendwas für mich getan,schon gar nicht...«»Ab und zu kann ich Wunder bewirken«, sagte derPförtner. »Ich möchte mich nicht brüsten, aber so ist daseinfach mit mir. Jetzt muß ich hier aber fertig werden.Erzähl niemandem davon. Wunder bringen einen immer inSchwierigkeiten.« Er nahm seinen Besen auf und begannmit allem Nachdruck den Boden zu kehren.»Aber... aber du solltest nicht hier sein, wenn du so wastun kannst«, schrie Gregory. »Du hast mein Zahnfleischgeheilt! Du könntest damit ein Schweinegeld machen. Dukönntest... Mein Gott, wie hast du das gemacht? Ich fühlemich phantastisch...«»Was gemacht?« fragte der Pförtner blinzelnd, als ob dieSonne ihn plötzlich blendete. »Aspirin und Kaffee gibt'szwei Türen weiter.«»Zum Teufel, wer braucht schon Aspirin?« schrie Gregoryglücklich. »Ich hab mich in meinem Leben nie besser

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gefühlt. Du hast mich geheilt oder so was.« Und noch malfragte er beinahe ehrfürchtig: »Aber wie hast du dasgemacht?«»Schsch. Ich bin jetzt nur der Pförtner«, sagte JohnFenster, und doch strafte ein heimliches Lächeln seineUnschuldsmiene Lügen. Er schlenderte zum Fernseherund vertiefte sich in die laufende Sendung.»Vor einer Minute dachtest du noch, du seist Christus«,brüllte Gregory. »Du hast gerade... das Unmöglichegeschafft. Wie kannst du jetzt so tun, als sei nichtspassiert?« In seiner Aufregung packte Gregory FenstersArm und zerrte ihn herum.Fenster sah plötzlich verängstigt aus. »Erzähl esniemandem«, bat er nun mit leiser, gedrückter undbebender Stimme. »Wenn ich denke, daß ich Christus bin,kann ich manchmal Dinge tun, die man nicht tun kann.Aber ich weiß, wer ich jetzt bin. Ich bin John Fenster, unddas ist eine Tatsache.«Das Sonnenlicht hatte jetzt einen harten, gelben,unangenehmen Schein. Gregory zog sich mit finsteremBlick von Fenster zurück. Fenster spielte ein Spiel, wurdeihm klar - und kein besonders nettes. Fenster fürchtetesich vor... nun... der eigenen Macht, worin auch immer siebestand. »Geht in Ordnung«, sagte Gregory. »Ich spiel so,wie du's willst. Mach dir keine Sorgen, alles geht okay.Reg dich ab. Kein Grund zur Aufregung.«John Fensters Augenlider flatterten leicht. Gregory hattedas Gefühl, daß ein einziger mächtiger Strahl der Kraftoder des Ver-stehens - oder des Mitgefühls - aus FenstersAugen drang, bevor sich der Pförtner jetzt abwandte und

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da von schlenderte. Nein, dachte Gregory, der ihnbeobachtete. Fenster schlurfte davon, wohingegen seineSchritte zuvor rasch und sicher gewesen waren.Gregory konnte nicht glauben, was geschehen war, und erkonnte es auch nicht nicht glauben. Wovor hat FensterAngst? fragte er sich, denn er erkannte echte Angst, wenner sie sah, er hatte sie oft genug am eigenen Leiberfahren. Das heuchelte Fenster nicht. Aber wovorfürchtete er sich so sehr, und warum sollte jemand miteiner solchen Macht überhaupt irgend etwas fürchten?Er sah zu, wie Fenster durch den Hauptflur ging und ineinem anderen Raum verschwand. Dann schlenderte erselbst hinaus auf die Wiese. Den Kaffee hatte ervergessen. Grinsend zog er an seinen Zähnen, zog, undsie wurzelten so fest, wie Zähne es eben tun sollten.Er konnte es noch immer nicht fassen. Diese quälendenSchmerzen hatten ihn nun schon seit einigen Jahrenbegleitet. Jetzt, da sie verschwunden waren, fühlte er sichfast schwindelnd leicht. Mehr noch, er wollte rennen,wirklich rennen - nicht wie sonst vor etwas davonrennen,sondern einfach aus Freude rennen. Und so stand er aufund lief, so schnell er konnte, über die Straße und hinunterzum Flußufer. Auf eine Weise, die er nicht ergründenkonnte, schien alles, die Bäume und der Himmel und dasFlußufer, ihm zu gehören - ihm und allen anderen auch.Voller Ungestüm rannte er am Ufer hin und her und lachteso laut, daß er schließlich völlig erschöpft war - und bereit,nachzudenken. Ohne es zu registrieren, überquerte er vonneuem die Straße und ließ sich auf der Bank nieder, aufder er schon in der Nacht zuvor gesessen hatte.

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Inzwischen war es fast acht Uhr. Ambulante Patienten undPflegepersonal trafen ein. Der Parkplatz linkerhand fülltesich. Gregory besah sich die Leute. Von außen betrachtet,sehen sie okay aus, dachte er, aber sie wären nicht hier,wenn sie keine Probleme hätten. Und da drinnen, vonÄrzten oder Psychologen oder Zahnärzten unerkannt, liefein Typ herum, den sie alle für einen Verrückten hielten.Nur konnte dieser Verrückte wunderbare Dinge tun...Gregory überprüfte noch einmal seine Zähne. Was tue ich,wenn sie plötzlich wieder wackeln sollten ? Aber siewerden nicht wackeln, dachte er triumphierend, und hattenoch immer dieses Gefühl einzigartiger Gewißheit, das erempfunden hatte, als... als der Pförtner tat, was immer erda getan hatte. Da war er, der Gedanke, den er verdrängthatte: Er war sich nicht ganz sicher, ob der Mann ihntatsächlich berührt oder nur angesehen hatte. Aber wasfür einen Unterschied machte das schon? Dieser Christushatte etwas vorzuweisen!Er atmete tief, frei und bemerkte noch etwas. Bis jetzthatte er immer nur flach geatmet. Jetzt hatte er dasGefühl, mehr Platz in seinen Lungen zu haben, oder alshätten seine Lungen mehr Platz unter den Rippen, oder...Und dieser Gedanke führte Gregory zu einer weiterenErkenntnis: Ich habe keine Angst mehr. Hier saß er aufeiner Bank, wie viele andere auch, und fragte sich nicht,was die Leute von ihm dachten, oder ob er wie ein Penneraussah, oder ob ihn irgendein Bulle anmachen würde, weiler immer so aussah, als hätte er schon eine Woche inseinen Klamotten geschlafen, was normalerweise auch

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der Fall war. Er ertappte sich sogar dabei, daß erVorübergehende offen und ohne zu heucheln anlächelte.Das erfüllte ihn mit fast so viel Ehrfurcht wie seine festenZähne. Und dieser Gedanke wiederum löste eineverzögerte Reaktion des Sinneswandels bei ihm aus, derschon im Gange gewesen war, als er den Pförtnerverlassen hatte. Nun war Gregory taumelig vorHochstimmung: Zum ersten Mal in seinem Leben, dachteer, hat jemand etwas Großartiges für mich getan... undohne daß er etwas dafür haben wollte... und ohne von mirdarum gebeten worden zu sein. Er war immerselbstverständlich davon ausgegangen, daß sehrwahrscheinlich das Schlimmste eintreten würde, sofernman nicht etwas unternahm, um es zu verhindern, undseine einundzwanzig Jahre Lebenserfahrung schienenseine These zu belegen - bis jetzt. Fast verlegen gestander sich ein, daß das Universum oder Gott oder das Glückoder einfach das Schicksal seinem Dasein fraglosirgendwie ihren Segen gegeben hatten. Und nicht nur miteinem belanglosen Klaps auf die Schulter, sondern indemer plötzlich einen Beweis erhalten hatte für... SeineGedanken gerieten ins Schleudern. Beweis für was? Erglaubte zum Beispiel nicht, daß dieser Typ Christus war..,aber wenn Fenster glaubte, daß er Christus war - wow!Und dieser Typ hockte verängstigt in der Klapsmühle undfürchtete sich davor, daß man seine Fähigkeitenentdecken und ihm etwas antun würde. Was konnten sieihm antun? Ihn mit einem Tritt in den Hinternhinausbefördern, nahm Gregory an. Aber dann entsann er

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sich: Der Pförtner war sich, da er glaubte, Christus zusein, auch sicher, daß er gekreuzigt werden würde.Nun, das würde er nicht, und er, Gregory, würde dafür sor-gen. In diesem Augenblick hatte Gregory zum ersten Maldas Gefühl, ein wirkliches Ziel in seinem Leben zu haben.Er würde dem Pförtner helfen. Es fiel ihm nicht auf, daß erauch zum ersten Mal in seinem Leben an jemand andersdachte. Was ihn beschäftigte, war: Wie konnte er helfen?Ich geh einfach zu einer Zeitung und erzähl ihnen meineGeschichte, dachte er, und stellte sich die staunendeReaktion vor, die Reporter, die Fenster interviewten,Fenster, der Massen von Menschen heilte, die ihnaufsuchten... Dann erlosch Gregorys Lächeln. Das würdeden Pförtner zu Tode erschrecken. »Mist«, murmelte er.Und plötzlich fühlte er sich geradezu inspiriert -wenigstensfiel ihm die Lösung ein. Vor allem anderen mußte erdiesem Zahnarzt zeigen, was sich da in seinem Mundgetan hatte. Jesus! Gregory lachte Tränen, als er sich Dr.Brainbridge vorstellte, wie er seine festen Zähne imgeheilten Zahnfleisch betrachtete. Was würde der wohlsagen? Was konnte der arme Bastard wohl überhauptdazu sagen?

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Kapitel 8Dr. Brainbridge wird mit einem Beweis für das Unmöglichekonfrontiert. Oder doch nicht?

Gregory Diggs stellte fest, daß Dr. Brainbridge nur zweiVormittage in der Woche im Psychiatriezentrum arbeitete,und so stand er erst zwei Tage später vor denBehandlungsräumen im Hauptgebäude. Er war nervösund hatte ein schlechtes Gewissen, denn schließlich hatteer den Mann erst vor ein paar Tagen berauben wollen.Auch wußte er immer noch nicht, ob er nun im richtigenHaus gewesen war, oder ob dieser seltsam altmodischgekleidete Typ ein geistesgestörter Verwandter diesesZahnarztes gewesen war oder was auch immer. Und wer,so fragte er sich voller Unruhe, war dieser junge Mann,der ihn schließlich laufen ließ? Trotz seines innigenWunsches, seine Geschichte zu erzählen und den Beweisfür John Fensters Fähigkeiten zu erbringen, hatte er esdoch nicht gewagt, den Zahnarzt in seiner Privatpraxisaufzusuchen. So wartete er voller Ungeduld auf Dr.Brainbridge, der nun, Sieben smart an seiner Seite, denFlur entlangkam.Sieben und Gregory erkannten einander sofort. Gregorywollte sich schon aus dem Staub machen, davonüberzeugt, daß die Geschichte seines Einbruchs dieRunde gemacht hatte - aber Sieben grinste, streckte dieHand aus und sagte: »Ein Patient, der es nicht erwartenkann, dranzukommen, was?«

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Verwirrt brachte Gregory ein halb schuldbewußtes, halbdankbares Lächeln zustande.Dr. George Brainbridge bemerkte nur: »Sie sind nicht fürheute angemeldet, oder?«Er schloß die Tür auf, und Gregory schob sich hinterSieben hinein. »Ich muß mit Ihnen reden. Nur eine Minute.Sie müssen sich was ansehen.«Er flehte geradezu und seine Haltung gegenüber Georgewar so respektvoll, daß dieser halb spöttisch, halb lachendfragte: »Heute nicht drauf aus, mich niederzumachen?«»Damit bin ich fertig. Sehen Sie sich das an«, rief Gregoryund riß den Mund auf, so weit er konnte. George zucktedie Achseln, rückte die Brille zurecht und wollte sagen:Was ist los? Haben Sie einen Zahn verloren? Abernachdem er einen Blick in den Mund seines Patientengeworfen hatte, schnappte er nach Luft. »Jesus Christus!Setzen Sie sich dort hin«, und er drängte Gregory zumBehandlungsstuhl.»Machen Sie noch weiter auf«, verlangte er, und Gregorytat es. George stieß einen langgedehnten Pfiff aus.»Sehen Sie bitte in den Mund dieses Burschen«, wandteer sich an Sieben, »und sagen Sie mir, was Sie sehen.«Etwas verwundert kam Sieben seiner Bitte nach. »Allesschön und prächtig«, sagte er. »Ah, super.«Und George Brainbridge sagte mit gerötetem Gesicht:»Ich habe befürchtet, daß Sie so reagieren würden.«»Überrascht, was?« rief Gregory und lachte, als Georgedie Finger in seinen Mund steckte und prüfend an seinenfesten Zähnen zog.

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»Jesus«, sagte George. »Vor ein paar Tagen noch warendiese Zahne verdammt kurz davor, auszufallen. Es war soschlimm, daß ich dachte, man könnte Greg hier keinengrößeren Gefallen erweisen, als sie genau das tun zulassen.« Er schüttelte den Kopf und sah Gregory an.»Was ist passiert? So was hab ich mein Lebtag noch nichtgesehen. Wenn der Prozeß erst einmal eingesetzt hat,wird das Gewebe immer stärker befallen, und derZustand, in dem Sie waren, war irreversibel. So was gibtes gar nicht.«»Das sagten Sie mir bereits.« Gregory genoß dieSituation.Überseele Sieben versetzte sich kurz in GeorgesBewußtsein und war verblüfft über dessen innereReaktion. Es war, als ob Gregorys geheiltes Zahnfleisch inGeorge eine Reihe psychischer Erdbeben ausgelöst hatte.George glaubte, was er da in Gregorys Mund sah, undwollte es doch nicht glauben. Er suchte nachMöglichkeiten, das Offensichtliche zu negieren. Seineeigensinnige Weigerung verwirrte Sieben völlig.Und Gregory stellte nach einem lauten triumphierendenLachen fest, daß ihm der Zahnarzt nun leid tat.»Was ist passiert?« fragte George wieder mit hochrotemKopf.»Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben«, begannGregory.»Nach dem hier glaube ich alles«, murmelte George.Jetzt, da der Zeitpunkt gekommen war, seine Geschichtezu erzählen, war Gregory plötzlich verlegen. Nur seineEntschlossenheit, dem Pförtner zu helfen, hinderte ihn am

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Weglaufen. »Ich weiß es nicht wirklich«, begann er. »MeinZahnfleisch schmerzte höllisch. Seit meinem letztenBesuch bei Ihnen hatten sich noch zwei Geschwüreentwickelt. Dann traf ich gestern morgen den Pförtner imGemeinschaftszimmer. Er fegte den Boden und wirunterhielten uns...« Gregory schluckte und sah Georgedirekt in die Augen. Seine Stimme klang plötzlich piepsig,verängstigt und unsicher. »Dieser Typ sah mich an odermachte irgendwas, und plötzlich fühlte ich, wie meineZähne fest wurden. Ich meine, ich habe es gefühlt. Mirwurde überall heiß und ich sah Lichter...« Er verstummte,als ob ihm die Geschichte erst jetzt, da er sie erzählte, inihrer ganzen Bedeutung zu Bewußtsein kam: in ihrerUnmöglichkeit - und ihrer unumstößlichen Wahrheit. Dannhob er kurz den Kopf und rief: »Es ist dieser Typ, von demich Ihnen erzählte, der, der denkt, er sei Christus. Er hatdas gemacht, ich meine, er hat es wirklich getan.«Überseele Sieben bemühte sich, beeindruckt auszusehen,hielt aber den Mund, um nichts Falsches zu sagen. EinKörper und ein Polyesteranzug machte einen noch nichtunbedingt zum Men-66sehen, dachte er einigermaßen verwirrt. Und ganz gewißwurden manche menschlichen Ansichten dadurch nichtleichter verständlich. »Wunder, wie ihr sie nennt,passieren ständig«, wollte er rufen. »Das ist dieunbehinderte Natur.« Doch er sagte nichts dergleichen.Vielmehr versuchte er zu verstehen, warum beide, Georgeund Gregory Diggs, so geschockt schienen, und warumGregory den Tränen nahe war.

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George Brainbndge rieb sich die Nasenspitze, schneuztesich, rückte seine Brille zum zehntenmal binnen wenigerMinuten zurecht, setzte sich und warf in verblüffterBestürzung seine rundlichen Arme m die Luft. »Gut, wennes geschehen ist, dann ist es geschehen! Ich meine, nichtmal in zehn Jahren hätte Sie ein Zahnarzt von dieserParodontose heilen können, von zwei Tagen ganz zuschweigen. Und es gibt nichts, wie Sie mich da hattenaustricksen können.« In seinem letzten Satz schwang eineverzweifelte Frage, so als wünschte er sich fast, gelinktworden zu sein. Und tatsächlich sagte er: »Mir wäre fastlieber, es wäre ein Trick, und ich müßte mich nicht mit den- nun, Implikationen dieser.,. dieser Heilung konfrontiertsehen...« Er nahm die Zellophanhülle von einem fürPatienten bestimmten Wasserglas, füllte es mit Wasserund kippte es in einem Zug hinunter.Gregory sah ihm zu und versuchte, seine Fassungwiederzugewinnen. Dann sagte er fast entschuldigend:»Das ist noch nicht alles. Seitdem fühle ich michkörperlich wunderbar. Ich meine, ganz phantastisch. Undich bin nicht mehr, nun ja, so verrückt mit Leuten.« Er sahverlegen drein.»Na ja, jeder Silberstreif hat seine Wolke«, erwiderteGeorge in verzweifelter Scherzhaftigkeit.Gregory brachte ein mattes Grinsen zustande und schieltezu Sieben hinüber. »Ich habe ein paar Dinge gemacht, aufdie ich nicht besonders stolz bin«, sagte er mit leichtfragendem Ton in der Stimme.Jetzt, da er seine Geschichte erzählt hatte, machte er sichSorgen, daß Sieben Dr. Brainbridge von seinem

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versuchten Diebstahl erzählt haben könnte... Doch Siebenlächelte Gregory nur strahlend an und sagte: »Das istdoch jetzt alles Vergangenheit.«Sieben war so still gewesen, daß George seineAnwesenheit fast vergessen hatte. Aus seinen Gedankengerissen, sagte er mit allem Nachdruck: »Richtig, richtig.«Dann, nach einer Pause, neuerliches verwirrtesKopfschütteln. »Es muß Suggestion gewesen sein. Das istdie einzig mögliche Antwort. Ich meine, dieser JohnFenster ist ein Verrückter. Jedenfalls ist er mit Sicherheitnicht Christus. Aber Suggestion - zum Teufel -, wie kanndenn Suggestion in einer Minute eine Parodontose, wieSie sie hatten, heilen? Völlig unmöglich!«Mit einem Mut, den er bei sich gar nicht kannte, sagteGregory: »Dieser Typ mag ja nicht Christus sein, aber erist okay. Ich meine, er weiß, daß er manchmal denkt, ersei Christus. Und er ist harmlos. Aber nicht nur das, Mann.Denken Sie doch nur, wie viele Leute er heilen könnte.Vielleicht könnte er sogar Krebs heilen!«»Hurra, hurra. Super! Eine Handbewegung und man istgeheilt!« George stemmte die Hände in die Hüften. »Sogeht's ja wohl nicht!« Und dann wirklich verzweifelt:»Machen Sie noch mal den Mund auf. Und Sie, Sieben,reichen mir die Unterlagen von diesem Knaben rüber. Ichwill noch mal schwarz auf weiß die erste Diagnosesehen.«Sieben suchte die Karteikarte heraus. George nahm siemit spitzen Fingern, als sei sie glühend heiß, überflog sieund schüttelte ungläubig den Kopf: »Da steht's. Datiert vorvier Tagen. Parodontose in fortgeschrittenem Stadium.«

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Nachdem nun seine schlimmsten Befürchtungen bestätigtworden waren, nämlich daß sich tatsächlich etwasUnmögliches ereignet hatte, beschloß George, sich demUnmöglichen mit Entschlußkraft und Humor zu stellen.Sein Pragmatismus brachte ihn dazu, der Tatsache einesüberaus ungewöhnlichen Geschehens ins Gesicht zusehen. Darauf läuft es hinaus, entschied er, gerade alsGregory ihn besorgt fragte: »Was wollen Sie tun?«»Tun?« wiederholte George. »Teufel, was gibt's da zutun? Es ist getan. Allerdings werde ich mich vielleicht malmit diesem Pförtner unterhalten. Oder vielleicht auch nicht.Lassen Sie mir ein bißchen Zeit, darüber nachzudenken.Außerdem möchte ich Sie mir morgen noch malansehen...«»Sie werden Fenster doch nicht in Schwierigkeitenbringen, oder?« fragte Gregory noch besorgter. »Ichmeine, seine Fähigkeiten stellen ja wohl eine Bedrohungfür die'Medizin dar, oder?«»Da können Sie verdammt sicher sein«, antworteteGeorge. Er war hin- und hergerissen, da er zwar demEstablishment angehörte, seine Sympathie aber meist aufSeiten der Unterprivilegierten war -, einer der Gründe,warum er überhaupt in diesem Zentrum arbeitete. Aber...für ihn mit seinem herkömmlichen akademischen Wissenüber Medizin und Zahnheilkunde war diese unzweifelhafteHeilung ein Schock - sie widersprach aller Vernunft undlogischer Erkenntnis. Außerdem erinnerte er sich nunwieder an seine eigene Begegnung mit diesem Christus,was ihn noch nervöser machte. »Schauen Sie, ich habenoch drei Patienten für diesen Morgen vorgemerkt«, sagte

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er. »Ich werde darüber nachdenken und mich mit Ihnen inVerbindung setzen. Irgendwie werden wir in diese SacheLicht bringen...« Gregory wollte noch nicht gehen, aberSieben schob ihn freundlich zur Tür. »Ich melde mich, ichverspreche es«, versicherte George.Nachdem Gregory gegangen war, zog George zwei Zähneund plombierte einen weiteren. Zu Sieben sagte er nichtsaußer etwa: »Reichen Sie mir dies magische Ding da.« Erdeutete auf ein Instrument, dessen korrekten NamenSieben zwar gelernt hatte, nicht aber Georges höchstpersönliche Bezeichnungen. So wurde Sieben in Atemgehalten, erahnte mehr, was George als nächstes wollteund hielt sich an Georges Armbewegung, dessen Fingerganz allgemein in die Richtung wiesen, wo das Instrumentbereitlag.»Jetzt den Löffelbagger«, sagte er und murmelteabwesend und mechanisch »super«, als Sieben ihmprompt das richtige Instrument reichte. Auch waren seineMahnungen an die Patienten, den Mund weiteraufzumachen, nicht wie üblich von einem Lächelnbegleitet.Als der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, blickteGeorge Sieben kopfschüttelnd an. »Es ist mir völligrätselhaft. Zum erstenmal in meinem Leben weiß ich nicht,wie ich reagieren soll. Was halten Sie denn davon...?«Sieben, in seinem Wunsch zu helfen, vergaß sich selbstund sagte: »Was ist das Problem? Die Parodontose desJungen wurde definitiv geheilt. Wunder sind dieunbehinderte Natur.«

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George riß die Augen auf. »Das ist aber ein merkwürdigerSpruch. Wunder sind die unbehinderte Natur, was?Quatsch! Hier ist noch was anderes im Spiel als dieHeilung einer Parodontose. Sagen Sie schon, glaubenSie, wir sind hypnotisiert worden?«»Hypnotisiert?« Sieben war verblüfft. Wie kam Georgedenn auf die Idee?»Oder vielleicht haben wir halluziniert?« George klangnicht sehr überzeugt. »Nein. Ich weiß ja nicht, wie esIhnen geht, aber ich bin an der Angel. Ich mußherausfinden, was da passiert ist. Da muß irgendein Trickdabei sein.«George und Sieben schlössen während ihrer Unterhaltungdie Praxis ab, verließen das Gebäude und gingen auf denParkplatz zu. Der Juninachmittag war warm, ein lindergrün-grauer Tag. George nahm stets den Weg, der amSpielplatz vorbeiführte, und heute blieb er stehen und ließsich auf einer Schaukel nieder. Sieben nahm auf derSchaukel daneben Platz. Um diese Tageszeit spielten hierkeine Kinder, und nur ein paar Patienten spazierten aufdem Gelände herum. Die vielen Büsche dämpften einwenig den Verkehrslärm von der nahen Hauptstraße.Sieben und George saßen für einen Moment schweigend.Dann sagte George: »Sie sind ein seltsamer Mensch,wissen Sie das? Sie nehmen das alles verdammtgelassen.«»Was ist, ist«, sagte Sieben leichthin.»Liegt vielleicht daran, daß Sie jünger sind. Ich weiß nicht,aber während meines Studiums sagte man uns, daßeinige Dinge, bestimmte Prozesse absolut irreversibel

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sind. Verdammt noch mal, ich bin der Vorsitzende derKrebskampagne.«»Der Kampagne für Krebs?« fragte Sieben ungläubig.»Wer will denn so was?«»Das ist jetzt nicht der Moment für Witze«, erwiderteGeorge. »Wenn sich auch nur eine Heilung wie dieseereignen kann, dann ist das ein Tiefschlag für dengesamten Arztestand. Statt Geld für die Apparatemedizinaufzutreiben, sollten wir... zum Teufel, ich weiß nicht,unsere ganzen Theorien und Vorstellungen vom Körperneu überprüfen oder Heiler finden oder...«»Na, wo Sie einen Heiler finden können, wissen Sie ja«,sagte Sieben mit Unschuldsmiene.»Ja, in der Klapsmühle, wo er meiner Ansicht nach auchhingehören würde - wenn ich nicht das Zahnfleisch diesesBürschchens mit eigenen Augen gesehen hätte.« Plötzlichrichtete sich George kerzengerade auf. »Ich hab's«, schrieer. »Es sind zwei. Ja, das ist es! Es sind Zwillinge, einerohne und einer mit Parodontose. Ein verdammterSchwindel, das ist es!Zwillinge«, japste er und schüttelte sich vor Lachen.Sieben starrte ihn nur an.»Himmel! Wie konnte ich nur auf so was reinfallen?« stießGeorge hervor. »Dieser kleine Schwindler will michreinlegen, nur weil ich ihn nicht heilen konnte. Ich meine,er hält uns alle für Blödmänner, Angehörige desEstablishments, und denkt, es ist uns alles völlig egal. Wirwerden ja so oder so bezahlt.«Überseele Sieben war bei allem guten Willen GeorgesReaktion unverständlich. Warum war es ihm lieber, daß

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alles Betrug war? Und warum wurde er zugleich mit jedemMoment vergnügter? »Sie glauben also nicht, daß hier einWunder passiert ist?« erkundigte er sich schließlich.»Verdammt, nein, Sie sind zu gutgläubig und gutherzig.«George lachte noch immer, wenn auch gedämpfter. Erschaukelte sacht hin und her und studierte seine rechteSchuhspitze, als sei da die Antwort zu finden. »SehenSie«, sagte er. »Dieser Christus-Typ muß mitgemachthaben. Zwilling Eins zeigt mir sein von Parodontosebefallenes Zahnfleisch, dann kommt Zwilling Zwei, beidem alles in Ordnung ist, und erzählt mir, >Christus< hatteihn geheilt. Aber was haben die weiter vor? Wunder!Mann, bin ich reingelegt worden.«»Ich nehme an, Sie glauben auch nicht an die Seele?«fragte Sieben ein bißchen traurig.George stand auf und reckte sich. »Ich glaube an Zahneund Zahnfleisch«, grinste er. »Die lügen nicht.«Im Rahmen ihrer offiziellen Beziehung konnte Sieben nurgewisse Dinge ansprechen. Und auch da weiß ich nicht,wie ich sie sagen soll, dachte er bekümmert. Mit einemleichten Anflug von Strenge blickte er George an: »ImLeben gibt es aber mehr Dinge als nur Zähne undZahnfleisch.«Damit hatte er Georges Gefühle verletzt, wie er sogleichbemerkte, denn George setzte sich wieder auf dieSchaukel, gab Sieben einem leichten, aber dochmißbilligenden Klaps auf die Schulter und sagte:»Tatsächlich? Jetzt hören Sie mal zu. Der Zahnarztberufmag ja nicht der heroischste aller Berufe auf der Welt sein- was Sie auch bald entdecken werden. Aber eines sage

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ich Ihnen: Die Leute sind verdammt dankbar, wenn ihnenein schlechter Zahn gezogen wird oder sie ihreSchmerzen loswerden. Und das ist real. Es ist vielleichtkeine philosophische Angelegenheit, aber es hilftleidenden Menschen ganz praktisch. Die Frage nach derSeele überlasse ich Predigern oder Priestern oder sonstwem. Und ich behaupte nach wie vor, Zahnfleisch istetwas Ehrliches. Es lügt nicht.«Wieder konnte Sieben George nur anstarren, mit jederMinute erfuhr er mehr über ihn.George lächelte: »Sie sind überrascht? Jedenfalls ist dasder Grund, warum mich so ein Schwindel auf die Palmebringt. Er weckt bei den Leuten falsche Hoffnungen. ZumTeufel, ich kann ja die Motive dafür verstehen! Ich denke,ich spiel erst mal mit, um zu sehen, was sie als nächstesplanen, bevor ich den Hammer schwinge.«»Erst müssen Sie Gregorys Zwilling finden«, warf Siebenein.»Und ich dachte noch, wie großartig es sei, daß sich derJunge so zum Besseren verändert hat, Wunder hin oderher.« George brach wieder in Gelächter aus. »Stattdessen - zwei Jungs. Na, der Scherz ging wohl auf meineKosten.«Doch plötzlich schlug Georges Stimmung um. Er bohrtemit einer Schuhspitze im Sand herum und sagte hart:»Aber so komisch ist der Scherz nicht, wenn man esgenauer betrachtet. Zum Teufel, ich weiß nicht. Ich habeneulich die Zähne dieses Pförtners behandelt. Gut, ersagte, er sei Christus, doch er schien ein netter Typ zusein. Und als ich fertig war, sagte er: »Gott segne dich

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oder so was...« Offensichtlich verlegen verstummteGeorge.»Und?« fragte Sieben.»Mist!« George grinste geringschätzig. »Und einigeAugenblicke lang fühlte ich mich großartig, erfrischt, vollerEnergie, voller Leben oder was immer. Die Pflegerinsagte, daß das ab und zu passiert, schrieb es Suggestionzu. Und das muß es gewesen sein - Suggestion. Aberverdammt noch mal, ich bin nicht besonders anfällig fürSuggestion, jedenfalls glaubte ich das bisher.«George schien für den Moment Siebens Anwesenheitvergessen zu haben und grübelte laut vor sich hin. »Ichhab an alles mögliche gedacht, Dinge, über die ich schonjahrelang nicht mehr nachgedacht hab... und jetzt das.Eine verdammte Schande, wenn Leute so wasausnutzen...«»Was so was?« fragte Sieben, der nicht an sich haltenkonnte.»Na, auf solche Weise falsche Hoffnungen zu wecken!«rief George und warf die Arme in die Luft. »Gehen wir.Das Leben ist kein Spielplatz, das kann ich Ihnenversichern... Und ich kriege diese Kerle.«George stand entschlossen auf und schritt dem Parkplatzzu. Überseele Sieben, etwas alarmiert, rief: »Könnte sein,daß Sie mehr Überraschungen erleben, als Sieglauben...«Aber George antwortete nicht. Er war von rechtschaffenerEntrüstung erfüllt, seine braunen Augen blitzten, die Armeschwangen resolut. »Ein Scherz ist ein Scherz, und wasgenug ist, ist genug«, sagte er. Und Sieben dachte, daß er

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plötzlich eine beunruhigende Ähnlichkeit mit seinemGroßvater George Brainbridge dem Ersten hatte.

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Kapitel 9George erfährt weitere Enthüllungen, und sein Dilemmawächst

George hatte sich mit Gregory Diggs in der Zahnarztpraxisim Psychatriezentrum verabredet, um ungestört mit ihmreden zu können. Diggs verspätete sich ein paar Minuten,und George brummte: »Wetten, daß er nicht kommt.Wahrscheinlich ahnt er schon, daß wir ihm auf dieSchliche gekommen sind. Verdammt! Warum ist dasLeben nur so kompliziert?«»Vielleicht ist er aber auch ganz obenauf.« Sieben grinste,als zöge er diese Möglichkeit eigentlich nicht in Betracht.»Schließlich haben wir keine Unterlagen über einenZwilling gefunden. Ich meine, die von der Polizeiüberprüften Akten können nicht manipuliert worden sein.«»Akten oder keine, es ist die einzig mögliche Erklärung«,erwiderte George eigensinnig. »Es sei denn, Sie glaubenan Wunder.«»Vielleicht sind Wunder Vorgänge, die wir nur nicht verste-hen«, gab Sieben zu bedenken. »Schließlich räumt dieWissenschaft ein, daß es eine Menge unerklärlicherPhänomene gibt-«»Aber Zahnfleisch bleibt Zahnfleisch!« sagte George, alssei damit jegliche Diskussion erledigt.Noch bevor Sieben etwas erwidern konnte, marschierteGregory Diggs herein und schloß die Tür hinter sich.George wartete nicht einmal ab, bis sich Diggs gesetzt

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hatte, sondern schoß auf ihn zu: »Also gut, wo ist IhrZwillingsbruder? Wir wissen, daß Sie einen haben.«»Zwillingsbruder?« rief Gregory völlig entgeistert.»Der Kerl mit der Parodontose! Es gibt zwei von euch. Siezeigen mir Ihr gesundes Zahnfleisch und erzählen mir eineverrückte Geschichte von einer Heilung. Und ich falledrauf rein — oder beinahe. Wir haben die Unterlagen überIhren Zwillingsbruder gefunden«, log er im Gefühl,vollkommen im Recht zu sein.Gregory Diggs starrte George mit so ehrlicher Empörungan, daß sogar George merkte, daß er nicht heuchelte, under, der im Grunde ein gutherziger Mensch war, bekamsofort Gewissensbisse.»Ich hab keinen gottverdammten Zwillingsbruder«,stotterte Gregory völlig ungläubig. »Wie kommen Sie dennauf so was? Stimmt, ich hab in meinem Leben nicht immerfair gespielt, aber ich schwöre, in dieser Sache bin ichvöllig koscher. Ich sage Ihnen, dieser Typ hat mich geheilt.Richtig, ich hab ein paar Einzelheiten ausgelassen, aberdie hatten nichts mit meinen Zähnen zu tun.« Gregorywarf einen schuldbewußten Blick auf Sieben.Leicht alarmiert sagte Sieben: »Vergessen Sie's. Dr.Brainbridge hat für heute genug. Ich werde es ihm morgenerzählen.«»Nein, ich will's hinter mich bringen«, beharrte GregoryDiggs genauso eigensinnig wie George vorher. »Ich hab'sIhnen gesagt. Ich fang neu an. Für mich hat sich die Weltgeändert.«

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»Mir was erzählen?« fragte George mit einer töricht komi-schen Miene, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er esüberhaupt hören wollte.Sieben hob die Arme und bereitete sich darauf vor,notfalls ein paar Erklärungen improvisieren zu müssen,und Gregory begann zögernd:»Das war vor meiner Heilung. Ich hatte Sie am Morgenaufgesucht, und Sie sagten, daß da nichts mehr zumachen wäre. Mein Zahnfleisch tat höllisch weh, und ichwar nicht mehr ich selbst. Ich dachte wie üblich, daß esallen völlig egal ist, und beschloß, noch in derselbenNacht aus der Stadt zu verschwinden. Aber ich hatte keinGeld, und da hab ich Ihre Adresse im Telefonbuchnachgesehen und ging zu Ihrem Haus.« Diggs hielt inne,warf George, der ihn mit großen Augen ansah, einen fastflehenden Blick zu und fuhr fort: »Na ja, ich hatte vor, einbißchen was zu klauen und es auf der Straße zuverhökern. Ich dachte, Sie kriegen das Zeug ja sowiesoumsonst...« Er verstummte und sah noch verunsicherterdrein.»Sie können mir auch gleich alles erzählen«, sagteGeorge, schüttelte den Kopf und blickte Sieben fragendan.»Verdammt, ich weiß nicht.« Gregory geriet ins Stottern.»Ich ging hinein. Im Parterre war's dunkel. Ein Wagenstand in der offenen Garage, und im hinteren Teil desoberen Stockwerks war Licht. Ich dachte mir, daß diePraxis unten bereits geschlossen sein würde, und daß ich,wenn ich leise war, die Sache durchziehen könnte. Die

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hintere Tür war nicht mal abgesperrt, also ging ichhinein...«»Wo ich ihn entdeckte«, fiel ihm nun Überseele Sieben insWort.Georges Augenbrauen schössen nach oben. »Warumhaben Sie mir das nicht erzählt?«»Nun, er hat ja nichts genommen, das ist dasWesentliche«, erklärte Sieben. »Wir hatten ein Gespräch.Ich wollte ihn nicht in noch mehr Schwierigkeiten bringen,als er ohnehin schon hat...«»Bei Gott«, sagte George.»Als Sie sich um den Abwasch kümmerten«, sagte Siebenclever, »ging ich hinunter, um nachzusehen, was los war,und entdeckte Gregory, wie er nach Drogen suchte.«George starrte Sieben ehrfürchtig an: »Mein Gott, das warmutig. Dumm, aber mutig.«Sieben errötete, wie es sich gehörte. »Aber warum?«fragte George. »Ich wäre mit der Sache durchausfertiggeworden.«Sieben gab keine Antwort und überließ es George, sichselber einen Reim drauf zu machen.Gregory, der nur dagestanden hatte, sagte nun: »Das istaber noch nicht alles. Was jetzt kommt, ist irre.«Sieben war sich sicher, daß das, was jetzt kommen sollte,Gregorys Geschichte war, wie plötzlich das Gaslicht imRaum aufleuchtete, das Haus aussah wie zu Zeiten vonGeorges Großvater und noch schlimmer — er sich mitGeorge dem Ersten konfrontiert sah. Sieben wappnetesich und betrachtete George etwas unsicher.

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»Irre?« donnerte George los und hörte sich ein wenig anwie sein Großvater. »Das ist es genau, was die ganzenletzten Tage waren. Irre. Also weiter im Text.«Gregory schluckte. »Na ja, bevor Dr. Sieben mich fand,fand mich noch jemand anders - ein Herr in einemaltmodischen roten Morgenmantel mit ner Flinte. Er zieltedirekt auf mich. Aber erst hat er das Licht angemacht, unddas war kein elektrisches Licht, es war Gaslicht...«Schweigen. George stand der Mund offen. Er rieb sich dieAugenbrauen. »Ich glaub's nicht, was ich da höre«, sagteer.»Ich hab's auch nicht geglaubt.« Gregory brüllte fast.Seine Erregung nahm zu, als ihm alles wieder einfiel. »Ichmußte mich hinsetzen, und er hielt mir eine Predigt, und erwar auch Zahnarzt. Er hat mein Zahnfleisch mit Nelkenöleingerieben. Nur... alles sah aus wie in nem verdammtenFilm, als ob das Zimmer aus dem letzten Jahrhundertstammte oder so. Ich dachte... er sei ein verrückterVerwandter von Ihnen oder so. Er sagte, er sei Dr. GeorgeBrainbridge. Ich überlegte gerade, was ich tun sollte, alsDr. Sieben hier hereinkam. Er brüllte, und der Typ imMorgenmantel nahm seine Flinte und verschwand dieTreppe hinauf. Dann hat mich Dr. Sieben gehen lassen.Ich rannte zurück zum Zentrum, und niemand hat meineAbwesenheit bemerkt. Am nächsten Morgen hat Fenstermich geheilt.«George Brainbridges Augen waren ein einziger Ausdruckabgrundtiefen Erstaunens. Er wollte in Gelächterausbrechen, überzeugt, daß Sieben und Gregory ihn aufden Arm nahmen. Dann aber, als er Gregorys resolute

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Miene sah, japste er nur: »Ihr macht Witze!«, wußte aberim Grunde seines Herzens, daß er gerade die zweiteallererstaunlichste Geschichte seines Lebens gehört hatteund daß sie die nackte Wahrheit war.Sieben sagte: »Ah, vielleicht hatte Gregory Angst und hatden Mann mit der Flinte halluziniert.«»Sie haben ihm doch gesagt, daß er verschwinden soll«,rief Gregory.»Äh, stimmt«, gestand Sieben errötend ein.George Brainbridge setzte sich, stützte den Kopf in dieHände und stöhnte. Dann sah er grinsend auf: »Okay,angenommen, ich tu für einen Moment so, als sei allesmöglich. Beschreiben Sie mir den Mann imMorgenmantel.«»Er hatte rötliches Haar - buschige Augenbrauen -ungefähr einsachtzig groß«, antwortete Gregory prompt.»Sein Morgenmantel war aus Samt, und - ich konnt's nichtglauben - mit Quasten an der Kordel. Und, warten Sie - ja,da war ein Monogramm, G. B.«George starrte ihn nur an. Sein Gesicht wurde bleich, seinungläubiges Grinsen blieb. »Mein Großvater sah so aus,als er noch lebte. Und er hatte einen solchenMorgenmantel, wie ich mich aus meiner Kindheiterinnere.«Gregory starrte ungläubig zurück. »O nein, nee nee. Daswar kein Gespenst«, sagte er mit zittriger Stimme. »Ichkonnte nicht durch ihn durchsehen oder so was. Und erhat mein Zahnfleisch mit Nelkenöl eingeschmiert. So waskann kein Gespenst! Ich könnte Ihnen zeigen, wo er esaufbewahrt hat.«

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»In meiner Praxis gibt's kein Nelkenöl«, erwiderte Georgenüchtern. »Mein Großvater war ein Zahnarzt. Er benutzteNelkenöl. Ich erinnere mich noch an den Geruch.«»Genau!« schrie Gregory. »Mir brannten die Augen.«»Und Sie haben wirklich keinen Zwillingsbruder? Daswaren Sie'?« fragte George mit ruhiger Stimme.Gregory nickte. »Der Mann, den ich gesehen habe, waraber wirklich echt. Dr. Sieben hat ihn gesehen. Und auchdas Gaslicht.«»Ich habe ihn schon davor gesehen«, gab Siebenerrötend zu. Und an George gewandt: »Er scheinttatsächlich Ihr Großvaterzu sein.«»Sie auch?« brüllte George. »Warum haben Sie mir dasnicht erzählt? Na egal. Sie konnten sich wohl nichtvorstellen, daß ich Ihnen glauben würde, was ich auchnicht tue.« Er ließ sich in seinen Behandlungsstuhl fallenund starrte aus dem Fenster. »Jedenfalls hätte ich Ihnenvor ein paar Tagen nicht geglaubt. Jetzt schon, weiß Gott,warum. Ist Ihnen beiden klar, was das mit meinem Lebenanstellt? Der Geist meines Großvaters... und ein Mann,der sich für Christus hält und Parodontosen heilt! Was sollich denn damit anfangen? Ich frage Sie ganz ehrlich.«»Die Ereignisse als Teil der Realität akzeptieren«, warSiebens rasche Antwort. »Da sie geschehen sind, habensie auch Gültigkeit, ob sie nun geschehen dürften odernicht. Sie waren doch noch nie ein Drückeberger.«»Woher wollen Sie denn das wissen?« fragte Georgemißtrauisch.

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»Nun, Sie benehmen sich nicht so«, beschwichtigte ihnSieben rasch.»Zufällig haben Sie recht«, antwortete George. »Undwenn diese Dinge passiert sind - na, dann sind sie ebenpassiert. Aber warum das alles gerade mir, verdammt?«»Und was ist mit mir?« rief Gregory Diggs. »Wissen Sie,ich hab in letzter Zeit ne Menge nachgedacht, undvielleicht hab ich so was wie ne Antwort gefunden.« Erverstummte.»Na, kommen Sie schon, raus damit. Zum Teufel, esinteressiert mich wirklich«, sagte George.Gregory sah zu Boden und begann dann: »Na ja, mirgeht's hier nicht um Mitleid, aber meine Kindheit warlausig. Arm. Vater Säufer. Mutter nicht viel besser. FünfKinder. Dachte, daß sich niemand auch nur einenPfifferling um mich schert. Ich meine, kein Aas... Und einpaar Jahre hab ich manchmal nachts -weiß nicht, wie ich'ssagen soll - zum Himmel gestarrt und gedacht: >DuMiststück von einem Universum, du könntest irgendwaswinziges bißchen Nettes nur für mich tun, wenn duwolltest.< War mir egal, wie klein. Aber ich wolltewenigstens ein ganz kleines Wunder nur für mich, um mirzu zeigen, daß das Leben oder das Universum oderirgendwas weiß, daß ich lebe. Und daß es sich drumkümmert.«Die letzten Sätze murmelte Gregory nur noch, so daßGeorge und Sieben Mühe hatten, ihn zu verstehen. Als ergeendet hatte, sagte George: »Verdammt, es tut mirleid...«

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»Aber verstehen Sie nicht«, fiel ihm Gregory ins Wort. Ersprach nun mit fester Stimme: »Ich denke, das war esirgendwie. Ich meine, damals wollte ich unbedingt einWunder. Vielleicht hat es eben so lang gedauert, bis esmich eingeholt hat.«Sieben vergaß sich und rief: »Natürlich! Ich hattevergessen, wie wichtig du bei alldem bist. Jetzt sehe ich,warum. Deine Absicht -«»Ich wollte, jemand würde mir mal all das erklären«, unter-brach ihn George. Und fragte dann an Gregory gewandt:»Gaslicht, sagten Sie?«Gregory nickte.»Was ist also zu tun?« fragte Sieben.George Brainbridge stand mit entschlossener Miene auf,Zielstrebigkeit in den schmalen Augen, die Hände in dieHüften gestemmt: »Ich werde mir John Fenstervorknöpfen«, verkündete er. »Und wenn er Parodontoseoder irgendwas anderes heilen kann, dann sollte die Weltoder irgend jemand davon erfahren. Der Ärztebund. Gottweiß wer.«»Nein. Das können Sie nicht tun!« protestierte Gregory.»Sie machen ihm das Leben zur Hölle. Sie verstehennicht. Wenn Fenster denkt, er sei Christus, dann kann erheilen, wenigstens hat er mich geheilt, aber er ist verrückt.Er hat Angst, daß er... gekreuzigt wird. Ich meine, er kriegtPanik. Ich geb zu, es klingt irre, aber Fenster wirdTodesangst kriegen, wenn man das den Behörden oderÄrzten erzählt.«»Na gut, was schlagen Sie dann vor?« fragte Georgeentnervt. »Ich dachte, Sie wollten Öffentlichkeit.«

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»Ich weiß auch nicht, was man tun soll. Vielleicht nichts«,murmelte Gregory bedrückt.»Und wie kommt es, daß, wenn dieser Typ zum Beispielschon andere Patienten geheilt hat, die Sache noch nichtrum ist?« fragte George.»Sind ja alles mehr oder weniger Verrückte, wie manglaubt!« Gregory schrie fast. »Ich meine, Sie wollten jaschon mir nicht glauben. Wer glaubt denn einem vondenen?«»Tja, nun -« sagte George.»Mann, tut mir verdammt leid, daß ich überhaupt wasgesagt hab«, murmelte Gregory. »Ich wollte Ihnen nurbeweisen, daß Sie nicht recht hatten. Jetzt tut's mir echtleid. Ich will nicht, daß ausgerechnet der Typ inSchwierigkeiten kommt... der mir geholfen hat. Es ging janicht nur um meine Zähne. Alles ist jetzt besser. Meinganzes Leben...« Er sah aus, als sei er den Tranen nahe.»Hören Sie«, sagte George begütigend. »Ich werde nurmit Fensters Arzt sprechen und mit Fenster. Mit sonstniemandem, ohne mich vorher mit Ihnen abzusprechen.Okay?«»Jaa.« Gregory wirkte nicht sehr überzeugt.»Trauen Sie meinem Wort?« fragte George.»Ja, schon«, antwortete Gregory zu seiner eigenenÜberraschung. Er stellte fest, daß er George Brainbridgemochte, und Dr. Sieben, und daß er überhaupt das Gefühlhatte, zum erstenmal in seinem Leben Freunde gefundenzu haben. Nur- Fenster war auch ein Freund. Und erwürde es nicht zulassen, daß man ihm irgendwie weh tat.

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»Natürlich gibt es keinen Beweis dafür, daß es meinGroßvater war«, sagte George mit verlegenem Lachen.»Ich kann Ihnen nur glauben. Und ich sehe auch keinenGrund, warum Sie mich anlügen sollten. Können Sie denRaum beschreiben?«»Sicher kann ich das«, sagte Gregory. »Er waraltmodisch, so wie auch die Praxiseinrichtung. Ich meine,es standen komische kleine Holztische drin, an denFenstern hingen Spitzenvorhänge, und da war dieserwitzige Zahnarztstuhl, ganz anders als dieser hier. Dawaren, ah, viktorianische Möbel, nennt man das wohl. Undein riesiger Farn in einem Topf beim Fenster. Ich hab michdahinter versteckt, bin aber trotzdem erwischt worden.«So gleichmütig wie möglich sagte George: »In einem altenAlbum habe ich ein Foto von der Praxis meinesGroßvaters, und darauf ist genau so ein Farn beimFenster zu sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Sachefängt an, einen ganz speziellen Sinn zu ergeben, hab ichdas Gefühl. Aber ich kann den Finger nicht drauf legen.Was ist mit Ihnen, Sieben?«»Ich glaube nicht, daß er ein Gespenst ist«, antworteteSieben, der entschieden hatte, daß es an der Zeit war,George mit einigen weiteren Tatsachen des Lebensvertraut zu machen. »Ich denke, daß sich auf die eineoder andere Weise, wenn Sie nicht da sind, die Zeitverändert und die Vergangenheit in Erscheinung tritt. Oderso was Ähnliches.«»Sie meinen, ich geh raus und schließ die Tür und - bang,im Haus ist's 1900 oder so?«

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Sieben nahm an, daß George nun ungläubig schnaubenoder lachen würde, aber statt dessen wechselte seinGesichtsausdruck von anfänglichem Erstaunen zuErleichterung. Er nahm die Brille ab, säuberte sie miteinem Papiertaschentuch und schüttelte den Kopf. »Alsich ein Kind war, hatte ich ab und zu Angst, verrückt zuwerden. Verdammt, ich hatte das alles vergessen. Oderhab es aus meinen Gedanken verbannt. Ich hab mich niemit meinem Vater vertragen, aber mein Großvater war einIdol für mich. Er starb, als ich neun war. Manchmal dachteich, ich sähe ihn, gewöhnlich war das im oberenStockwerk. Aber manchmal sah ich ihn, im hellenTageslicht, unten im Wartezimmer. Wenn ich als Kind dieTreppe herunterkam, dann hatte ich diesen verrücktenEindruck, daß die Zimmer da unten... anders waren, unddaß ich, wenn ich ganz vorsichtig war, sie dabei erwischenkönnte, daß sie so waren wie vor... Vor was ? Verdammt,ich wußte es nicht. Aber ich habe mich zu denmerkwürdigsten Zeiten die Treppe hinuntergeschlichen,und ich schwöre, eines Nachts sah ich das Wartezimmer,so wie es zur Glanzzeit meines Großvaters aussah. Undes hatte Gaslicht. Als ich älter wurde, redete ich mir ein,es seien alles Kinderträume gewesen...«Georges Stimme wurde träumerisch. »Großpapa war alsseltsamer Vogel bekannt. Seine Patienten beteten ihn an.Er steckte bis zum Hals in irgendwelchen wohltätigenAktivitäten. Er hat Tagebücher hinterlassen. Müssenirgendwo im Dachgeschoß sein. Und er beschäftigte sichmit... Bewußtseinserweiterung oder so und hielt sich andie Theorien von William James. Er machte ein paar

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merkwürdige Experimente und berichtete James darüber,glaub ich. Mein Vater sagte, er sei übergeschnappt, undich sollte den Unsinn meines Großvaters ja nicht ernstnehmen.« George kam wieder zu sich und errötete: »Sowurde ich also dazu erzogen, ein guter, tüchtigeramerikanischer Junge zu sein.« Dann: »Zum Teufel, ichweiß nicht, warum ich mich entschuldige. Ich bin einverdammt guter Zahnarzt.«»Das war Ihr Großvater auch.« Sieben lächelte. »Und alsich ihn sah, hat er Lachgas geschnüffelt...«George Brainbridge sprang auf. »Nein, so was!« schrie er.»Das ist ein Familiengeheimnis. Ich meine, es wurdewirklich als ein tiefes, dunkles Geheimnis betrachtet. MeinVater schärfte mir ein, niemals darüber zu sprechen. Ichhab Großpapa ziemlich oft dabei erwischt, wie er Lachgasschnüffelte. Im Sommer verreisten meine Eltern oft insAusland. Mein Vater war so etwas wie ein Dandy, umehrlich zu sein, und an gesellschaftlichem Aufstieginteressiert. Wir hatten eine Haushälterin, und im Sommerblieb ich zu Hause bei ihr und Großvater, so lange, bis erstarb. Später verreiste ich mit meinen Eltern oder ging insSommerlager. Es muß mein Großvater gewesen sein, denSie gesehen haben. Verdammt, er hat mich auch einmalschnüffeln lassen, aber da war er schon ziemlich alt. Daswar ein Vergnügen!«»Dann haben wir also doch ein Gespenst gesehen?«fragte Gregory Diggs. »Jetzt nehmen Sie mich auf denArm. Ich sag Ihnen, er war ganz und gar echt.«»Es muß mit Relativität zu tun haben«, rief George. »OderZeitschleifen. Irgend so etwas. Einsteins

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Relativitätstheorie. Nicht, daß ich sie verstehe. Irgendwasmit Zeit und Raum, die relativ sind. Jedenfalls muß es einewissenschaftliche Erklärung dafür geben. Zum Teufel. Ichwerde das alles nicht so einfach hinnehmen. Ich werdeder Sache auf den Grund gehen. Waren Sie nichtordentlich erschüttert, Sieben, als Sie meinen Großvaterherumspazieren sahen?«Sieben grinste. »Nein, ich mochte ihn. Und ich nehme dieDinge, wie sie sind. Das heißt, ich bin pragmatisch, oder?Ich meine, was passiert, das passiert. Ist doch dumm, sozu tun, als sei es nicht passiert.«»Super, super«, dröhnte George. »Genau meineEinstellung. Wenn es den Leuten nicht gefällt, sollen siedoch zum Teufel gehen.« Doch dann schüttelte er denKopf. »Klingt großartig, aber warum muß mir daspassieren? Ich kann das unmöglich jemand anderemerklären, aber ignorieren können wir es auch nicht. Vorallem nicht Gregorys Heilung... Ich kann immer nochdieses von Parodontose befallene Zahnfleisch vor mirsehen - und dann, wumm, ist es vollkommen gesund. Ichmuß mit John Fensters Therapeuten sprechen.«»Vielleicht erlaubt er Ihnen gar nicht, mit Fenster zureden«, sagte Gregory geradezu hoffnungsvoll.»Das möchte ich erleben, daß der mich daran hindert«,sagte George. »Jetzt, da ich davon überzeugt bin, werdenwir die Sache auch zu Ende bringen.«»Genau das habe ich befürchtet«, sagte Gregory. UndÜberseele Sieben begann allmählich seine Befürchtung zuteilen.

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Kapitel 10Sieben und George treffen Dr. Josephine Blithe, undChristus verschwindet

George Brainbridge fühlte sich eindeutig im Nachteil. Ihmwar heiß, und er schwitzte. Es war zwar sein freierNachmittag, aber er hatte bereits zwei Patienten besucht,die nicht in die Praxis kommen konnten, und nun sehnteer sich nach einem kalten Bier. Er trug Shorts und einkurzärmeliges Sporthemd, dazu seine alten Turnschuhe,die er immer anzog, sobald sein Dienst in der Praxisbeendet war.Dr. Josephine Blithe vom Psychiatriezentrum hingegenschien auf Äußeres Wert zu legen. Ihr sommerlicherblauer Hosenanzug war makellos. Nicht eineSchweißperle zeigte sich am Ansatz ihres schwarzenHaares, unter den Achseln waren keine feuchten Fleckenzu sehen. George stöhnte innerlich auf. Wahrscheinlichwar sie eine dieser professionellen Frauen, die ständigbeweisen mußten, daß sie, nun, eben professionell sind.In ihrem Lächeln drückten sich freundliche Höflichkeit,Kühle und Reserviertheit aus.»Dr. Brainbridge? Auf die Minute pünktlich«, sagte sie undzog die Augenbrauen hoch, als sie seiner ziemlichbehaarten und fast fett zu nennenden nackten Schenkelansichtig wurde. »Wenn ich richtig verstehe, möchten Sieüber einen unserer Patienten, Mr. John Fenster,sprechen.«

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Ungeachtet dessen, daß sie ihn noch nicht zum Setzenaufgefordert hatte, ließ sich George auf einemgepolstertem Stuhl direkt vor ihrem Schreibtisch nieder,schlug die Beine übereinander und bedachte sie miteinem gewinnenden Lächeln. »Ich bin Zahnarzt, mitZähnen kenne ich mich aus. Nichts Geheimnisvolles dran.Die Psyche allerdings ist etwas anderes, und das ist IhrGebiet.«»Einen Moment mal«, unterbrach sie ihn. »Und das ist?«Sie wies auf Überseele Sieben, der im Gefolge vonGeorge schüchtern den Raum betreten hatte. Wieder eingewinnendes Lächeln von George: »Ah, mein Mitarbeiter.Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen, aber wenn doch,dann natürlich...« Er hatte Sieben im letzten Momentgebeten, mitzukommen, wußte allerdings immer nochnicht, warum. Und so war Sieben unangemeldet er-schienen.Josephine Blithe warf einen prüfenden Blick auf Sieben,lächelte dann, als ob sie es ehrlich meinte, und sagte:»Gut, Sie können bleiben.« George grinste innerlich. Ausirgendeinem verdammten Grund schien jeder diesenSieben zu mögen. Sieben verbeugte sich höflich undsetzte sich.»Sie wissen natürlich, daß auch ich an die ärztlicheSchweigepflicht gebunden bin«, sagte Josephine zuGeorge.»Selbstverständlich«, erwiderte George und setzte sichbequemer hin. Josephine schien etwas zurückzuweichen,was George nicht entging. Was ist los mit ihr? fragte er

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sich leicht irritiert. Hat sie noch nie einen Mann in kurzenHosen gesehen?»Sie interessieren sich für den Patienten John Fenster.Mehr haben Sie am Telefon nicht gesagt. Wie wäre es,wenn Sie mir nun Näheres mitteilten?« Josephine sprachetwas förmlich und distanziert.»Zum Teufel, ich dachte eigentlich, Sie könnten mirNäheres mitteilen.« George zündete sich eine Zigarettean. »Ich muß zugeben, ich sitze in der Klemme, sonstwäre ich nicht hier. Dieser Typ glaubt, er ist Christus,richtig? Nun, das ist eine Sache. Ich habe aber noch einanderes Problem, und ich möchte Ihnen, bevor ich damitherausrücke, ein paar... ungewöhnliche Fragen stellen.«»Oh!«»Hat dieser Typ je... irgend jemanden von irgend etwasgeheilt? Zum Teufel, ich weiß nicht, wie ich es anderssagen soll.« George wurde so verlegen, daß er noch mehrins Schwitzen geriet.»Jemanden geheilt"? Oh, das ist ja köstlich.« Ihrplötzliches Lachen war so gekünstelt, daß George inAlarm versetzt fast aufgesprungen wäre, denn es verrietihm, daß sie zutiefst erschrocken war.Er kannte sich aus mit Leuten, die Angst vor demZahnarzt hatten. Manche lachten und wurden im nächstenMoment hysterisch. Und Josephine Blithe lachte diesesLachen. Aber warum? Und wovor hatte sie Angst? Dochsie fing sich wieder und ging nun von ihrer falschenHeiterkeit zu einer gleichermaßen falschen simplenErklärung über, die sie, wie jeder sah, selbst nicht glaubte.

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»Bitte, verzeihen Sie«, sagte sie und tupfte zierlich ihreLachtränen mit einem Leinentaschentuch ab. »Sie habenalso diese herrlich unmöglichen Geschichten gehört! Ichmuß schon sagen.« Sie beugte sich vor und lächelte mitgespielter Offenheit. »An einem Ort wie diesemverwischen sich häufig die Grenzlinien zwischen Fakt undFiktion.« Josephine schlug wieder ihren professionellenTon an. »Die Leute bilden sich natürlich Dinge ein. Undwenn da einer ist, der sich für Christus hält, dann ent-stehen selbstverständlich Gerüchte. Suggestion ist wohlhier für vieles verantwortlich, fürchte ich. Aber ist das derGrund, warum sie über John Fenster sprechen wollen? Ichkann Ihnen versichern, er ist vollkommen harmlos.Deshalb haben wir ihn hier auch als Pförtner eingestellt...«Ihr ging die Luft aus. Mit freundlicher Genugtuungentdeckte George ein paar winzige Schweißperlen überihren Lippen. »Das glauben Sie doch selbst nicht«, sagteer.Sie riß die Augen auf. Trotz blitzte in ihnen auf. »Wiebitte?«Sieben hatte bisher geschwiegen. Nun schaltete er sichein. »Dr. Brainbridge meint wohl, daß Sie über genügendWahrnehmungsvermögen und Wissen verfügen, um sichselbst ein paar Fragen zu John Fenster zu stellen. Äh, wirsind hier nicht in offizieller Mission«, setzte er mitverschwörerischem Unterton hinzu. »Uns ist klar, daß Siehier in Ihrer Funktion als Psychologin sehr vorsichtig seinmüssen.«George schüttelte den Kopf. Wieso vorsichtig? Woraufwollte Sieben hinaus? Was es auch war, Josephine Blithe

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reagierte darauf. Sie entspannte sich plötzlich, ihreverkrampften Schultern lockerten sich. »Ja, ich mußvorsichtig sein«, gab sie zu. »Danke, daß Sie diesen Faktberücksichtigen.«»Ich falle immer mit der Tür ins Haus«, sagte George mitreumütigem Grinsen. »Dr. Sieben ist da etwasdiplomatischer, nehme ich an. Ich möchte Ihnen alsofolgende Frage stellen. Glauben Sie, Fenster könnte einenBetrug begehen oder sich an irgendeinem Schwindelbeteiligen?«Sie war ehrlich erschrocken. »Ganz entschieden nicht.«Ihr Ton wurde wieder streng. »Vielleicht sollten Sie mirjetzt doch erzählen, um was es hier eigentlich geht.« Siedrehte sich mit ihrem Sessel halb um und sah einenMoment aus dem Fenster. Dann richtete sie ihren Blickwieder auf ihr Gegenüber: »Nun?«»Okay, es geht um Folgendes.« George musterte seineHände. »Ich hatte einen Patienten mit fortgeschrittenerParodontose. Zwei Tage später war sein Zahnfleisch völliggesund und seine Zähne fest. Der Patient sagt, JohnFenster hätte ihn hier in dieser Anstalt geheilt. Nun weißich nicht, was ich damit anfangen soll.«Sieben ergänzte: »Dr. Brainbrigde dachte zunächst, es seiBetrug im Spiel. Er glaubte, der Patient hätte einenZwillingsbruder, der eine mit, der andere ohneParodontose. Nun wissen wir, daß es kein Schwindelwar.«George schüttelte wieder den Kopf. Es mußte die Hitzesein, dachte er, denn er hatte Mühe, Siebens Worte zuverstehen, aber der Ton seiner Stimme war tröstlich. Und

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übte wohl auch seine Wirkung auf Josephine aus, dennihre Miene entspannte sich.»Wir werfen Fenster gar nichts vor«, fuhr Sieben imselben Ton fort. »Wir dachten nur, daß Sie es wohlwüßten, wenn Fenster tatsächlich über außerordentlicheFähigkeiten verfügt. Und Dr. Brainbridge nahm an, daßSie das in eine sehr schwierige Lage bringen könnte.«Seine Worte drangen zu George durch, und er starrteSieben mit beschämter Bewunderung an. Sein Assistentwar der geborene Psychologe!»Deshalb beschlossen wir, uns in dieser Sache an Sie zuwenden und nicht an jemand anders«, fuhr er nun fort, zuerklären.»Ich wußte es, ich wußte, daß es eines Tages passierenwürde«, rief Josephine Blithe. Und dann brach es aus ihrheraus. »Wenn Sie wüßten, unter welchem Druck ichstand. Es ist ein Wunder, daß ich noch bei Verstand bin!Ich wußte, daß die Sache einmal rauskommen würde, daßJohn die falsche Person heilen würde-jemanden, der mitden Behörden spricht oder ähnliches. Ich glaube, jetzt binich aber doch erleichtert. Jedenfalls kann ich endlich dieseunglaubliche Bürde mit jemandem teilen.« Sie schritterregt auf und ab.George war völlig baff. Auf seinem Gesicht zeigte sich einrosiges, verschwitztes, fragendes Grinsen. »Was teilen?Welche Bürde? Wollen Sie damit sagen, daß Fenstertatsächlich heilt? Ich meine, er macht das wirklich?« Jetztwar die Reihe an ihm, schockiert zu sein. Wie konnte einegestandene Psychologin so etwas von sich geben? »Ichging davon aus, Sie würden mich davon überzeugen, daß

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es sich doch um Suggestion handelt.« Er schrie fast. »Ichkann zwar nicht verstehen, wie das verdammt noch malmöglich ist, aber ich dachte doch, eine Psychologin würde-« Er hielt beschämt mitten im Satz inne.Josephine Blithe baute sich dicht vor ihm auf und sagtemit harter Stimme: »Da kommen Sie jetzt nicht wiederraus, selbst, wenn Sie es wollten, denn ich werde Ihnenjetzt mehr erzählen, als Sie überhaupt wissen wollen.«Schweigen.Dr. Josephine Blithe stand in der Mitte ihres Büros undstarrte George Brainbridge an. Ihre Haltung war eineeinzige Herausforderung. In der plötzlichen Stille war dasSummen der Bienen in den Büschen draußen vor demFenster deutlich zu hören. George sah Patienten undBesucher auf den schattigen Pfaden spazieren. ÜberseeleSieben hustete.»Ich habe das verdammte Gefühl, ich sollte mich hierdavonmachen, solange ich noch kann«, sagte George. Erwarf Sieben einen fragenden Blick zu und wischte sichdas verschwitzte Gesicht mit einem Papiertaschentuch ab.»Was meinen Sie, Herr Kollege?«»Warum die Sache nicht zu Ende bringen?« fragte Siebenzurück, war sich aber, was George betraf, nicht ganzsicher. Abgesehen davon fühlte er am Rande seinesBewußtseins faszinierende Einsichten warten, konnte sieaber nicht einfangen.»Nun? Entscheiden Sie sich«, sagte Josephine. Siestemmte die Hände in die Hüften, und ihre Augen warengroß vor Erwartung oder vor Ärger, George wußte es nichtgenau.

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»Okay.« Er grinste. »Wahrscheinlich werd ich's bereuen,aber was soll's, zum Henker.«Dr. Blithe setzte sich und schien in einen geradezuträumerischen Zustand zu verfallen.»Wissen Sie, ich weiß eigentlich gar nicht, wo ichanfangen soll.« Ihre Stimme war sanft und fern. »Ichwerde Ihnen also zunächst von meiner ersten Begegnungmit John Fenster erzählen und später auf die Einzelheitenzurückkommen.« Sie zog in einer ruckartigen, nervösenBewegung die Augenbrauen hoch, machte eine Pauseund fuhr dann rasch fort, als hätte sie Angst, die ganzeGeschichte nie zu erzählen, wenn nicht jetzt.»Dies hier ist eine kleine kommunale Einrichtung. Wir wid-men allen Patienten viel Aufmerksamkeit, bemühen unsaber vorrangig darum, die leichter Gestörten sozial zurehabilitieren. Für sie haben wir sogenannte >offeneHäuser<, und manche Patienten können schließlichdraußen wohnen und werden nur noch ambulant betreut.John und einige andere hingegen, die nie Problememachen, wurden mit Jobs innerhalb der Anstalt betraut.Aus verschiedenen Gründen dachte man, daß siedraußen nicht zurechtkämen. Mit der Zeit hat man siewahrscheinlich auch etwas aus den Augen verloren. Wieauch immer, ich war schon ein paar Wochen hier, bevorich dazu kam, mich mit Johns Unterlagen zu befassen undihn mir persönlich anzusehen.An diesem Tag hatte ich eine schreckliche Migräne. Ichhatte Tabletten genommen, die aber nicht viel halfen. Eswar kurz nach dem Mittagessen. Mir war etwas übel. Dannkam John Fenster zu seinem ersten Treffen mit mir herein.

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Ich hatte seine Krankengeschichte durchgelesen. Ichwerde sie Ihnen später zeigen, sie tut jetzt nichts zurSache. Sind Sie ihm begegnet? Ach ja, natürlich, Siehaben ihn ja behandelt. Na ja, da war er, ein ganzgewöhnlicher Mann, durchschnittlich in jeder Hinsicht,Größe, Farbe, Gewicht. Nichts Auffälliges. Ich wundertemich geradezu, daß er die Phantasie besaß, sich fürChristus zu halten. Ich stellte mich vor. Er saß da, wo Siejetzt sitzen, Dr. Brainbridge. Darf ich Sie Georgenennen?«George nickte.»Also George«, sagte sie, »wie dem auch sei, Christuskam nicht zur Sprache. Er sagte, er sei John Fenster. Beimeinem ersten Gespräch mit einem Patienten bin ichimmer vorsichtig und bemühe mich um eine möglichstgute Verständigung. Wir sprachen also nur kurz überunverfängliche Themen. Ich muß aus dem Fenster oderauf die Uhr gesehen haben, jedenfalls bekam ich denWechsel überhaupt nicht mit. Als ich wieder aufblickte,war etwas geschehen. Er sagte ganz sanft: >Christus isthier. Sorgen wir jetzt dafür, daß Sie Ihre Kopfschmerzenloswerden. Sehen Sie? Sie sind schon fast weg.< Undalles an ihm hatte sich verändert. Die Durchschnittlichkeitseines Äußeren hatte sich so intensiviert, daß er alleMenschen zu repräsentieren schien. Es war, als hätte sichdiese Dttrchschnittlichkeit in einem unglaublichen Maßegesteigert, womit sie natürlich keine Durchschnittlichkeitmehr war.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenenLippen. »Und in diesem Moment verschwanden meine

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Kopfschmerzen. Und bedenken Sie, ich hatte ihm nichtgesagt, daß ich Migräne hatte.«George Brainbridge stand auf und ging auf und ab. Er undauch Josephine Blithe taten Sieben leid. Wie schwer esfür sie sein mußte, wenn Wunder für sie so unakzeptabelwaren.Josephine schwieg und wurde rot. »Ich war schockiert. Ichmeine, man möchte annehmen, ich sei zunächst erfreutgewesen, nicht wahr? Aber mein erster Gedanke war: Dasist ja schrecklich. Das kann er doch nicht tun. Und er -John Fenster oder Christus oder wer auch immer-lächelte, als wüßte er genau, was ich dachte. Nochwährend mir diese Gedanken durch den Kopf gingen,wurde John wieder zu John. Und er schien nicht zu wis-sen, was passiert war. Erst dachte ich, er macht mir wasvor, aber das tat er nicht. Er heuchelte nicht. Aber ich war,so unglaublich es klingt, fast wütend. Ich sagte, daß wirunser Gespräch beenden müßten, weil ich einen wichtigenTermin vergessen hätte, und drängte ihn fast zur Türhinaus.«Sie verstummte atemlos. Wieder war das Gesumme derBienen draußen in den Büschen zu hören. George sahverlegen aus und schüttelte den Kopf.»Na ja, hier könnte es sich tatsächlich um Suggestiongehandelt haben«, sagte er. »Ich weiß nicht viel drüber,aber haben Migränen nicht seelische Ursachen?«Josephine funkelte ihn wütend an, stemmte die Hände indie Hüften, stand auf, die Beine gegrätscht, so daß dieSchuhspitzen ihrer Sommersandalen fast in diametraleRichtungen wiesen: »Ich bin mir über die psychischen

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Aspekte einer Migräne durchaus im klaren.« Ihre Stimmeklang kalt und neutral. »Und bis zu diesem Zeitpunktdauerte sie stets ein paar Tage. Ich bekam sie mehr oderweniger alle zwei Wochen. Aber seither hatte ich keinemehr, und das ist nun sechs Monate her.« Ihre Stimmewurde etwas weicher, und sie stand nun wieder mitgeschlossenen Beinen da. »Ich sollte Ihnen allerdingskeinen Vorwurf machen. Ich war über die ganze Sache soaufgebracht, daß ich eine Weile lang John Fenster wie diePest mied. Immer wieder erfand ich Ausreden, um es zukeiner weiteren Begegnung kommen zu lassen, bis ich esschließlich natürlich selbst satt hatte...«Sie senkte die Stimme: »Es gab noch andere Vorfälle,aber für den Moment sind das hier die wesentlichstenPunkte. Wenn ich die Flure entlang ging, fand ich stetsJohn Fenster von einer kleinen Gruppe umringt oder auchnur mit einem Patienten dastehen. Sie schützen ihn. Ichhabe Beweise dafür, von denen ich Ihnen spater erzählenwerde... Aber es gibt einige Patienten, mit denen ich ohnenennenswerte Resultate gearbeitet habe - na ja, undplötzlich verbesserte sich ihr Zustand auf bemerkenswerteWeise, so sehr, daß sie entlassen werden konnten. Ichhabe gesehen, wie John mit diesen Patienten sprach. Ichkann Ihnen nicht sagen, woher ich wußte, was er mitihnen macht. Es umgab sie alle immer eine Atmosphäredes Geheimen oder der Verschwörung, wenn ichdazukam. In jedem Fall - es geschah dreimal -war JohnChristus, während er sprach. Im Moment, in dem ichdazustieß, wurde er wieder zu Fenster und hatte diesen

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verdammten Ausdruck von Unwissenheit oderUnschuld...«»Nichts, womit sich das eine oder andere beweisenließe«, murmelte George.Ohne Vorwarnung brach Dr. Blithe in schallendesGelächter aus. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Georgesprang auf und fragte sich, was zum Teufel mit ihr los war.Mit halb geschlossenen Augen tastete sie nach ihremLeinentaschentuch. »Oh, es tut mir leid. Ich habe das allesso lange für mich behalten. Verstehen Sie? Ich habe esniemandem erzählt. Aber-« Für einen Moment sah sieGeorge direkt an, bevor sie wieder in Gelächter ausbrach,»Beweise?« japste sie. »Es gibt keine Beweise. Aber seitJohn hier ist, haben wir die höchste Heilungsrate imOsten. Die Patienten verbringen hier weniger Zeit undkönnen viel schneller ins normale Leben entlassenwerden, als in den Anstalten, die über weitaus größereMöglichkeiten und mehr Personal verfügen. Und...« Siehörte abrupt auf zu lachen. »Es wird nicht mehr langedauern, bis sich jemand fragt, woher das kommt.«George starrte sie ungläubig an. »Sie wollen mir dochnicht weismachen, daß dieser Mann... geistesgestörtePatienten heilt?«Josephine nickte heftig. »Nicht nur das, sondernunangenehmerweise wird mir auch noch ein guter Teildavon zugeschrieben. Ich bin die einzige voll beschäftigtePsychologin in dieser Abteilung für die minder gestörtenPatienten. Die wirklich schweren Fälle sind in einemanderen Flügel untergebracht, und wir sprechen hiernatürlich nicht von den schwer Geisteskranken.«

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George und Josephine hatten Sieben fast vergessen, wieer auch gehofft hatte. Er saß nur still da, hörte zu, undsein Erstaunen über die menschlichen Reaktionen wuchsmit jeder Minute. Warum waren für sie die WunderFensters so erschütternd und unwillkommen? Konnten sienicht sehen, daß sie Probleme schufen, wo gar keinewaren ? Offensichtlich nicht, was hieß, daß es ihm selbstnicht gelang, ihrer menschlichen Logik und Motivation zufolgen.Wenn ich nur nicht so konfus wäre, dachte Sieben, dannwüßte ich wahrscheinlich auch, warum George undJosephine so viel anderes, das um sie herum geschieht,nicht zur Kenntnis nehmen. Zum Beispiel diesenphantastischen Juninachmittag, in den er selbst sichimmer wieder verlor. Was für ein hinreißender Winkel desUniversums, dachte er immer wieder, wenn er sich füreinen Moment aus der Unterhaltung ausblendete. DasZimmer war vom Duft der Rosen erfüllt, die sich draußenvor dem Fenster an dem dekorativ geschmiedetenEisengitter emporrankten. Die Büsche waren voller Lebenmit Insekten, Bienen und Vögeln. Ein feuchter und dochsüßer Geruch trieb unsichtbar vom Fluß herein, undSieben, der all das genoß, vergaß darüber fast dieSituation, in der sich George und Josephine befanden.Allerdings nicht lange. Als er wieder zu sich kam, sahSieben, daß Josephine die Tränen nur noch mit Mühezurückhalten konnte. George stand daneben und sahmitfühlend und verlegen aus. Sieben sprang auf, ganzflotte Effizienz. »Für all das wird sich eine Klärung finden«,sagte er zu Dr. Blithe. »Sicherlich hat die Wissenschaft

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noch nicht alle Antworten parat.« Josephines Gesichthellte sich sofort auf, und George Brainbridge dachte: »Erhat genau das Richtige gesagt.« Wieder war er überraschtvon Siebens Empfindsamkeit.»Ich weiß«, sagte Josephine. »Das läßt mich natürlichauch weitermachen, die Chance, etwas zu entdecken...Vielleicht einen psychischen Mechanismus, der Heilungbewirken kann. Und wenn Fenster glaubt, er sei Christus,dann heilt er. Fenster selbst kann nicht heilen. Wie kannalso diese Obsession Fähigkeiten freisetzen...?« Verwirrtverstummte sie.»Sie machen Witze«, polterte George Brainbridge. Dannfing er an zu lachen. »Ich hab die Lösung. Befreien SieFenster von seiner Obsession, und wir haben keineProbleme mehr!« Er grinste mit geheuchelterBoshaftigkeit, schielte sie an und fügte dann etwas lahmhinzu: »Doch keine schlechte Idee! Könnten Sie das?«Sieben war von seinem Vorschlag so schockiert, daß erGeorge entsetzt anstarrte.»Das... könnte ich nicht tun«, erwiderte Josephinestirnrunzelnd. »Ich habe daran gedacht... ich meine, ichhabe daran gedacht, den Versuch zu machen.« Sie hieltinne, warf trotzig den Kopf zurück, und ihr Blick wurdeherausfordernd. »Er hat die Fähigkeit zum Heilen. IhrErlebnis mit dem Jungen mit der Parodontose ist Beweisgenug. Was für ein Recht hätte irgend jemand von uns,ihm das zu nehmen, nur damit er in unsere vorgefaßtenVorstellungen von Normalität paßt? Deshalb war ichblockiert... und Sie reden daher, als wüßte dieWissenschaft tatsächlich, wie man Obsessionen heilt.«

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»Tja«, sagte George und wurde rot. Er schämte sich undmerkte, wie er ms Hintertreffen geriet. Doch dann kam ihmsein Pragmatismus zu Hilfe. »Na gut, wenn wir schondamit konfrontiert wurden, dann können wir es uns aucheingestehen. Solange wir mit den Füßen auf dem Bodenbleiben... irgendeinem Boden. Kann ich diesen Fenstersehen? Irgendwo muß ich ja anfangen.«Dr. Josephine Blithe wirkte inzwischen ziemlich gedämpft.Sie nickte. »Da ist allerdings eine Sache. Ich will dabeisein. Und wir müssen sehr behutsam sein. Wenn Johnsich für Christus hält, dann ist er ziemlich paranoid.«»Jeesus...«, murmelte George gedehnt.»Warten Sie hier«, sagte Josephine. »Ich sehe nach, obich ihn herholen kann. Im Grunde bin ich froh, nicht alleinmit ihm sprechen zu müssen.« Sie verließ den Raum.George zündete sich eine Zigarette an und schüttelte denKopf. »Ich kann's nicht glauben«, sagte er zu Sieben.»Warum nicht?« fragte Sieben mit seltsam klarer Stimme,die in George ein unbehagliches Gefühl auslöste. Warumnicht? Er fing an, alle Gründe aufzuzählen, die die ganzeSache so unglaublich erschienen ließen, als Dr. Blithe insZimmer stürzte. Ihr Gesicht war weiß.»Fenster ist nirgendwo zu finden«, rief sie. »Niemand hatihn seit dem frühen Morgen gesehen.«»Jesus«, sagte George.»Er geht sonst nicht mal auf die Plaza hinaus, wohin ergehen dürfte. Er fürchtet sich viel zu sehr vor Fremden.«Josephine war besorgt. »Ich muß natürlich Berichterstatten. Aber wohin könnte er gehen? Und warum? Ichmeine, er war gern hier.«

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»Tatsächlich?« fragte George ironisch. »Besser, wir findenihn ganz schnell.« Und ohne genau zu wissen, warum,bekam George Brainbridge plötzlich große Angst. Er hattedas Gefühl, daß eine beträchtliche Krise in sein Lebeneingetreten war, eine, die alle seine Überzeugungen undWerte bedrohte.

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Kapitel 11Das Museum der Zeit

Während Sieben sich auf George Brainbridges Problemekonzentrierte, war er natürlich auch gleichzeitig mit allseinen anderen Persönlichkeiten befaßt. Dies erforderte,da er sich gegenwärtig auch noch mit seinem physischenKörper abzugeben hatte, eine vielfache Fokussierung,etwas, das Sieben noch perfektionieren mußte. Außerdemkommunizierte er mit Kypros, seiner Lehrerin, die seineHandlungen von ihrer untadeligen Warte aus überwachte.So hörte er, als George Brainbridge gerade zu Dr.Josephine Blithe sagte: »Vielleicht können wir JohnFenster finden, bevor jemand merkt, daß er verschwundenist«, Kypros Stimme. Sieben blieb zwar in JosephinesBüro anwesend (an den richtigen Stellen zustimmendnickend, wie er hoffte), sein Hauptbewußtsein aber wurdezu einem an der Decke spielenden Lichtpunkt. AuchKypros war ein Lichtpunkt, der oben am Fenster tanzte.»All das führt zu nichts«, sagte sie. Wie Sieben auch,bewegte sie sich natürlich mit Lichtgeschwindigkeit, undihre Unterhaltung nahm praktisch keine Zeit in Anspruch.»Ich weiß«, rief Sieben. »Wo bist du gewesen ? Sag mirnur, wo Fenster ist, das ist alles, und ich bring die Dingedann schon in Ordnung.«Kypros seufzte. »Du weißt, daß ich dir das nicht sagendarf. Das wäre Mogelei -«

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»Dann mogle«, sagte Sieben. »Schau dir George an. Erist schon fast nicht mehr bei Sinnen. Er begreift nicht malWunder.«Kypros lächelte, sah hinunter auf den zerknautschtenGeorge, der sich den Schweiß vom Gesicht wischte undsagte: »Ich wette, der verdammte Gregory Diggs hatFenster irgendwohin entführt, um ihn zu schützen.«Sieben in seiner physischen Gestalt nickte heftig, aber fürKypros und Sieben in ihrem Bewußtseinszustand nahmensich die Bewegungen und Laute im Raum unglaublichlangsam aus.»Aber warum?« fragte Josephine gerade.»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Kypros mitfühlend.»Ich gebe dir ein paar Hinweise. Erstens, erinnere dich andie Botschaft über die Kodizille. Sie sind überaus wichtig.Und dann denk daran, daß alle deine Persönlichkeiten aufdie eine oder andere Weise in die Aktivitäten einer jedenvon ihnen einbezogen sind. Und unter irdischenBedingungen mußt du dich natürlich an einen zeitlichenTermin halten.«»Einen zeitlichen Termin?« Sieben war verunsicherterdenn je.»Ach Sieben. Sieh einfach zu, daß du Fenster findest«,sagte Kypros sanft. »Ich geb dir noch einen Wink: Folgedeinen Impulsen. Und beeil dich - physisch gesprochen!Du weißt, wo er ist.«»Ich weiß es?« fragte Sieben verwundert. Aber schon warer wieder ganz in seinem Körper, während GeorgeBrainbridge ihn mit dem Ellbogen anstieß.»Los. Gehen wir!«

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Auf ihren hohen Absätzen wippend, sagte JosephineBlithe sarkastisch: »Ja, laßt uns Merlin einen Besuchabstatten.«»Super«, sagte Sieben und beglückwünschte sich zuseinem passenden Kommentar in einer etwasverwirrenden Situation.Im Laufe des Nachmittags sollte die Situation sogar nochverwirrender verworrener werden. Erst suchten sie - sounauffällig wie möglich - das Psychiatriezentrum nachFenster oder Gregory Diggs ab. Vergeblich. Danachquetschten sie sich in Georges Porsche und fuhren dieStraßen ab, in der Hoffnung, den einen oder den anderenzu sichten.»Wenn wir noch ein einziges Mal an diesemGeschäftszentrum vorbeifahren, werd ich wahnsinnig«,sagte Josephine schließlich. »Wir sind überall in der Stadtherumgefahren, ohne auch nur das kleinste Zeichen vonihnen zu entdecken. Vielleicht sitzen sie schon im Busnach Timbuktu oder sonst wohin. Wir wissen ja nicht malsicher, ob sie überhaupt zusammen sind.« Sie seufzte. IhrMake-up hatte unter der Hitze gelitten. Ihre Schuhe drück-ten und sie mochte es nicht, vorn so eng neben GeorgeBrainbridge zu sitzen.Sieben, der auf dem schmalen Hintersitz hockte, sagte:»Parken wir doch und sprechen die Sache in Ruhe durch.Vielleicht fällt uns ein Plan ein, wie wir vorgehen könnten.Parken Sie doch vor Ihrem Haus, George. Im Schatten.«Sieben wußte nicht, warum er diesen Vorschlag machte,erinnerte sich aber dann sofort an die merkwürdigenZeitwechsel, die sich am Standort von Georges Haus

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ereignet hatten. Folge deinen Impulsen, hatte Kyprosgesagt. War es das, was sie damit gemeint hatte?»Ist mir recht«, erwiderte George erschöpft und resigniert.Josephine streifte einen Schuh ab und rieb sich die Fersemit dem anderen Fuß. George fuhr vor seinem Haus vor.»Ich sehe nicht, wohin das führen soll«, sagte Josephinebesorgt. »So kommen wir nicht weiter.«Sieben war versucht, ihr beizupflichten.»Zum Teufel, mit der Zeit werden wir ihn schon finden«,erwiderte George ohne rechte Überzeugung. »Das heißt,wenn er überhaupt noch in der Stadt ist.«Sieben wurde plötzlich hellhörig. Georges Worte ergabenwunderbaren Sinn - mit der Zeit finden wir ihn. Natürlich!»Ihre Wagenfenster könnten auch mal eine Reinigungvertragen«, sagte Josephine, um irgend etwas zu sagen,und Sieben starrte sie an. Wußte sie, was ihre Worte nochbedeuteten? Wahrscheinlich nicht. Aber als Josephine»Fenster« sagte, erinnerte er sich plötzlich an etwas, daser ganz vergessen hatte. (»Na ja, natürlich nicht ganz«,sagte er später zu Kypros.) Er entsann sich eines anderenMannes, der Fenster hieß - eine seiner Persönlichkeiten,die sich, als Sieben zuletzt nach ihm gesehen hatte, imdreiundzwanzigsten Jahrhundert aufgehalten hatte. UndJohn Fenster war wie eine unklare Version dieses Fensteraus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert. Er war wie einFenster, dachte Sieben in plötzlicher Inspiration, dasgereinigt werden mußte, weil es die Sicht unklar machte...»Ja, ich weiß. Ich werde sie putzen, bevor Jean kommt«,antwortete George. »Sie beklagt sich auch immerdarüber.«

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In diesem Augenblick wußte Sieben, daß etwasgeschehen würde, und er wollte George und Josephinenicht dabei haben, wenn es passierte. Spontan öffnete erdie Wagentür und drängte sich hinaus. »Ich denke, ichwerde mich eine Weile auf die Veranda setzen«,entschuldigte er sich. »Die Hitze macht mir wirklich zuschaffen. Es wird allmählich Zeit, zu Abend zu essen, aberich bin überhaupt nicht hungrig. Warum eßt ihr beide nichteinen Happen und holt mich dann wieder ab? In derZwischenzeit werde ich heftig nachdenken«, sagte er, sicheiner von Georges Lieblingsredewendungen bedienend.Josephine schüttelte den Kopf. »Ich möchte nichts essen.Aber ich glaube, wir sollten noch mal im Zentrumnachsehen. George kann sich draußen umsehen, und ichwerde noch mal unter irgendeinem Vorwandhineingehen...«Sieben nickte ungeduldig, denn schon konnte er den Zeit-wechsel spüren. Der Porsche bog gerade um die Ecke,als auch schon die ganze Straße verschwand.Sieben sprang auf. Auch das Haus hinter ihm verschwandund praktisch alles andere. In einem Verwirrspiel tauchtenGegenstände auf, verschwanden, wurden durch andereersetzt...Schließlich erinnerte sich Sieben an einen Trick beimUmgang mit derartigen Ereignissen, den er (wo? wann?)gelernt und wieder vergessen hatte. Er blickte direkt vorsich, und als der nächste Gegenstand - ein kleiner Baum -dort auftauchte, hielt er seinen Blick stetig auf diese Stellegerichtet. Alles verschwand wieder, und dann war derBaum größer. Es ging also in die Zukunft. Und er wollte

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den Fenster im dreiundzwanzigsten Jahrhundert finden,um zu sehen, welche Verbindungen zwischen ihm undseinem Namensvetter im zwanzigsten Jahrhundertbestanden. Würde er, wenn er den künftigen Fensterausfindig machte... automatisch den Fenster imzwanzigsten Jahrhundert finden?Sieben blinzelte heftig. Der Baum war ausgewachsen,dann abgestorben, dann war die Stelle leer. Eine Hüttetauchte auf, dann war wieder nichts mehr zu sehen. Dannneues Wachstum... Sieben ächzte. Der Platz sah mehroder weniger so aus wie damals, als er sich imfünfundzwanzigsten Jahrhundert wiedergefunden hatte,mit den schwebenden Städten am Himmel. Wenn dasstimmte, dann war er zwei Jahrhunderte zu weitgegangen. Aber bevor er noch überlegen konnte, was zutun war, begann sich die Umgebung zu stabilisieren. Ersah auf und fand sich in seiner Ahnung bestätigt. Dieganze Gegend sah mehr oder weniger verlassen aus, undam Himmel fingen die schwebenden Städte dasSonnenlicht wie glitzernde, runde Drachen ein.Sieben schluckte. In diesem letzten Zeitwechsel hatte sichetwas ganz entschieden Unerfreuliches ereignet. Statt mitGras war der Boden von einer kränklich braunenVegetationsschicht bedeckt, die fast so aussah wie dieletzten dünnen Haarsträhnen auf dem Kopf einesglatzköpfigen Mannes. Und darunter war die Erde fastgrau. Die wenigen Bäume waren zwergenhaft verkrüppelt,höchstens einen knappen Meter hoch. Und obwohl eswarm war (was bedeutete, daß es Sommer war) gab eskeine Blumen oder Vögel oder - Sieben lauschte

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angestrengt - Insekten. Und wenn es sie doch gab, dannwaren sie unheilvoll still.Und während er sich so umsah, überkam ÜberseeleSieben ein immer stärker werdendes Gefühl derVerzweiflung. Hier, an der Stelle, wo George BrainbridgesHaus in Hörweite des geschäftigen Verkehrs der WaterStreet stand, wo im zwanzigsten Jahrhundert die Luft vonumtriebiger Aktivität erfüllt war - war jetzt, imfünfundzwanzigsten Jahrhundert, all das verschwunden.Die Erde war eine verlassene, unfruchtbare Welt. Trostlosließ Sieben sein Bewußtsein schweifen. Sein Geistwanderte über eine so gut wie nackte Landschaft undsprang binnen eines Augenblicks von Kontinent zuKontinent. Selbst die Meere waren bewegungsloseWasser, und die Berge hatten alle Vegetation abgeworfen,so daß nur hier und dort ein einsamer verkrüppelter Baumübriggeblieben war. Was war passiert?Die Verzweiflung wollte Sieben überwältigen, schließlichwar er eine Erden-Seele. Was war es schon, wenn einigeMenschen in künstlichen Städten über der Erde hausten?Was für ein Erbe war verlorengegangen? Welchephysischen Echos waren im Blut verstummt?Hier würde er Fenster nicht finden, wurde Sieben plötzlichklar. Diese Welt hatte keine Bewohner. Wo war denndiese präzise künftige Wahrscheinlichkeit, der Fensterangehörte? Abgesehen davon lebte Fenster doch imdreiundzwanzigsten und nicht im fünfundzwanzigstenJahrhundert, oder?Warum bin ich dann hier gelandet? fragte er sich. Kyproswürde jetzt sagen: Hab Vertrauen in dich. Aber was half

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ihm das? Nervös sah sich Sieben nochmals um. Er wollteso rasch wie möglich raus aus dieser Wahrscheinlichkeit.Aber vielleicht stimmte zumindest das Jahrhundert,obwohl er sich sicher war, daß Fenster sich bei ihrerletzten Begegnung im dreiundzwanzigsten Jahrhundertaufgehalten hatte.Finster blickte Sieben wieder gerade vor sich hin, diesmalauf einen dürren, grauen, toten Zweig.Wahrscheinlichkeiten, das wußte er, waren wieTangenten, die sich aus einer bestimmten Zeiterstreckten... so etwas wie horizontale Ausdehnungen. Erstarrte auf den Zweig und starrte und starrte. Schließlichverschwamm er ein ganz kleines bißchen. Gleichzeitighatte er das Gefühl, nur durch sein rechtes Auge zublicken oder sich ganz leicht nach rechts zu neigen oderpsychisch nach rechts zu tendieren. Jedenfalls versuchteer es sich so zu erklären, als plötzlich alles - Boden,Himmel, Sieben und all seine Gedanken - eine Wendungin der einen Wahrscheinlichkeit machten und sich in eineandere verlagerten. Es war immer noch dasfünfundzwanzigste Jahrhundert, denn die dreischwebenden Städte hingen am Himmel. Der Zweig (odersein Doppel oder Tripel?) befand sich nun fast unmerklichrechts vom ersten Zweig. Die Entfernung war so gering,daß sie physisch nicht meßbar war. Aber Sieben wußte,daß er sich in einer anderen Welt befand.Dies wurde auch sofort offensichtlich, denn überalltauchten immer neue Gegenstände auf, so rasch, daßSieben einen Satz zurück machte. Dabei stieß etwas an

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seinen Fuß oder er stieß mit dem Fuß gegen etwas, erwirbelte herum und rieb sich ungläubig die Augen.Da stand George Brainbridges Haus des zwanzigstenJahrhunderts, wie es auf den ersten Blick schien, und erwar gegen den Pfosten gestoßen, an dem zu dessenZeiten immer die Pferde angebunden worden waren.George hatte ihn aus dekorativen Gründen stehen lassen.Nur befand er sich jetzt rechts von der Veranda, nebender Treppe, statt draußen bei der Auffahrt. Das Hausselbst war noch verwirrender, denn es ähnelte GeorgesHaus fast vollkommen, und doch waren überallVeränderungen oder Unterschiede deutlich bemerkbar. Essah aus, als sei es aus Backstein, schien aber doch aussehr viel leichterem Material gebaut zu sein. Rechts warenganz richtig die drei Fenster des vorderen Wartezimmers,aber auch links waren drei Fenster, wo sich doch, Siebenwar sich sicher, in Georges Haus nur zwei Fensterbefanden. Abgesehen davon sah dieses Haus neu gebautaus oder zu gut, um echt zu sein, oder irgendwieunbenutzt.Sieben trat zurück, um es sich besser ansehen zu können,und entdeckte eine säuberliche Tafel, auf der zu lesenstand: »Das alte Haus der vielen Fenster. Die vermutlichexakte Nachbildung des Gebäudes, das von 1860 bis2010 an dieser Stelle stand. Die ursprüngliche Fundstätte,im dreiundzwanzigsten Jahrhundert erforscht, brachteFunde ans Licht, die dazu führten, mit einer detailliertenRekonstruktion des Gebäudes zu beginnen spätereAusgrabungen lieferten weitere Informationen. Dieoriginalen Kodizille wurden erst vor fünf Jahren entdeckt,

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als der alte Schutzbunker in einer tieferen Schichtfreigelegt wurde. Dieses Museum ist der Öffentlichkeitzugänglich. Weitere Informationen über die Kodizillefinden sich im Innern.«Die Kodizille? Sieben platzte fast vor Aufregung. Doch warer auch etwas verunsichert, weil niemand zu sehen war.Er ließ sich auf den Stufen nieder und blickte auf denFluß.Flußbett und Flußufer hatten sich verändert. Die alten, zuGeorges Zeit gebauten Dämme lagen nun unter frischerErde begraben. Der Fluß mußte viele Male über die Ufergetreten sein und sich irgendwie verbreitert haben, dennnun floß er unterhalb eines neuen, mit Büschen undBäumen bewachsenen Damms dahin. Sieben sah keineStraßen, nur natürliche, gut gepflegte Pfade und merkte,daß er sich inmitten eines Parks befand. Die ganzeUmgebung war so angenehm, daß er fast versucht war,zum Fluß hinunterzugehen, aber er stand seufzend aufund ging die Stufen zur Veranda des Museums hinauf.Zögernd öffnete er die Eingangstür. Sie war weitausleichter als Georges Tür im zwanzigsten Jahrhundert,obgleich sie aus demselben Material zu bestehen schien.Sieben hatte kaum die Tür geöffnet und einen Blick auf dieLage der Räume zu beiden Seiten des Flurs geworfen, alseine Gestalt am oberem Treppenabsatz auftauchte undherunterkam.»Guten Tag«, sagte der Mann. »Sie haben die letzteBesichtigungstour gerade versäumt. Ich kann Ihnenjedoch einen privaten Rundgang anbieten. Er wird

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allerdings nicht ganz so ausführlich sein wie der für eineGruppe. Wollen Sie mir bitte folgen?«Sieben war verwirrt. Der Mann erinnerte ihn mit seinerlangen Nase und den intensiven Augen vage an denFenster im dreiundzwanzigsten Jahrhundert. Doch indieser Gestalt, obwohl sie dreidimensional war, war keinBewußtsein.Noch bevor Sieben sich äußern konnte, kam der Mannnäher, drehte sich, einen anmutigen Kreis beschreibend,um, so daß sein Rücken sichtbar wurde, und wandte sichdann wieder Sieben zu. Mit ruhiger Würde sagte er: »Ichbin Monarch, trete als Hologramm in Erscheinung undstelle mich Ihnen als Führer zur Verfügung.«»Ein Hologramm! Das hätte ich gleich merken müssen«,sagte Sieben. Unmöglich, dieses Hologramm nicht zubewundern: Haut, Haare, Augen, kurzum alles war perfektund die Illusion von Tiefe makellos. Sieben war sich beider Betrachtung von Monarchs Gesicht (oder vielmehrseines Abbildes) fast sicher, daß der Fenster desdreiundzwanzigsten Jahrhunderts die Originalvorlagedafür abgegeben hatte. Die Gesichtszüge waren nichtidentisch, vielmehr sah Sieben Fensters Gesichtszügedenen des Hologramms immer wieder überlagert.Als Sieben keine Anstalten machte, ihm zu folgen, fragteder Hologramm-Mann: »Haben Sie eine Frage? DieTechnologie ist so weit fortgeschritten, daß ich Ihnen fastjede Frage, die ein Tourist stellen könnte, beantwortenkann, obwohl...«»Wo ist der wirkliche Fenster, ich meine Monarch?«

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»In seinem Arbeitszimmer. Er ist die treibende Kraft hinterden Ausgrabungen und dem Aufbau dieses Museums. EinTreffen läßt sich arrangieren. Sein Amtsgebäude ist etwaeine Meile von hier entfernt, wenn Sie dem deutlichmarkierten westlichen Pfad folgen. Nun, wenn Sie indiesen Raum hier treten wollen: Man nimmt an, daß dieseine alte Zahnarztpraxis gewesen ist.«Sieben warf einen verblüfften Blick durch die offene Türund erblickte eine rekonstruierte Version von GeorgesBehandlungsstuhl. Sofort merkte er, daß es sich hier umeine schlechte Kombination von Stühlen aus mindestensvier verschiedenen Epochen handelte, die zu einemGebilde zusammengestückelt worden waren. Auf einemTisch waren zahnärztliche Instrumente sowohl aus demneunzehnten wie dem zwanzigsten Jahrhundertversammelt. Auf einem Schildchen stand: »ZahnärztlicheInstrumente.«Sieben blieb stehen. »Sir?« fragte der Hologramm-Mann.»Ich habe jetzt keine Zeit für eine Besichtigungstour.« InSiebens Stimme lag Ungeduld. »Ich muß Fenster finden.Äh, danke für Ihre Mühe. Super.«»Wie bitte?« fragte der Hologramm-Mann. »Ich bin mit derBedeutung des letzten Wortes in diesem Zusammenhangnicht vertraut...« Aber Sieben war schon fort. Als sich dieTür hinter ihm schloß, wurde der Hologramm-Manndeaktiviert, die Laserstrahlen, die seine Gestalt formten,verschwanden.Beim Verlassen des Museums fragte sich Sieben, ob ernicht hätte herausfinden sollen, wo die Kodizille waren.Kypros hatte gesagt, daß sie von entscheidender

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Bedeutung waren. Aber er mußte unbedingt John Fensterfinden. Und wenn er sich nicht irrte - ein großes Wenn,dachte Sieben -, dann konnte ihm Fenster (oder Monarch)in seiner künftigen Wahrscheinlichkeit vielleicht behilflichsein, den Fenster im zwanzigsten Jahrhundert ausfindigzu machen.Sieben entdeckte den westlichen Pfad ohne Mühe. Undwährend er ihm so schnell wie möglich folgte, dachte erimmer wieder daran, daß sich dieses Gelände mit seinenWegen und hohen, schattigen Bäumen an der Stellebefand, wo sich in Georges Zeit Water Street und WalnutStreet kreuzten. Nein, stellte er fest: In der Realität deszwanzigsten Jahrhunderts wäre er nun bereits abgebogenund die Walnut Street hinaufgegangen. Und irgendwo indieser Gegend fuhren George Brambridge und Dr.Josephine Blithe im Auto herum und suchten nach JohnFenster.Sieben hoffte, die ganze Sache auf der Reihe zu haben.Er hörte sich schon selber später Kypros berichten, daßdies das komplizierteste Unternehmen gewesen sei, indas sie ihn je geschickt hatte. Doch dieser Gedankeverschwand, als er sich einem großen Gebäude mit vielenErkern näherte. Sieben schüttelte den Kopf... dies wareine schöne, aber wenig getreue Rekonstruktion der altenChristian Science Kirche, die sich in Georges Zeit an derEcke von Church und Walnut Street befand. Auf einemkleinen Schild stand: Verwaltungsbehörde.War Fenster, Sieben verbesserte sich: Monarch dadrinnen? Es gab nur eine Möglichkeit, das

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herauszufinden. Sieben schritt die Stufen hinauf... und dieTür öffnete sich von allein.Als er über die Schwelle trat, sah er Monarch am Endeeines langen breiten Korridors sitzen. Sieben erkannte ihnsogleich als die Vorlage für den Hologramm-Mann. Abermehr noch: Sofort verband sich Siebens Bewußtsein mitdem Monarchs, und voller Freude merkte er, daß Monarchund Fenster tatsächlich ein und dieselben und dochverschieden waren. Sie waren komplementäre Aspekteein und derselben Persönlichkeit, die in unterschiedlichenZeiten lebten, einander enger verbunden als Geschwister.Und das bedeutete... natürlich! John Fenster war ebenfallseine seiner eigenen Persönlichkeiten, ein komplementärerAspekt der anderen - und er hatte diese Verbindungen ab-sichtlich vergessen, damit diese unterschiedlichenPersönlichkeiten frei waren, sich ihren eigenen Weg zusuchen, es sei denn, sie brauchten seine Hilfe. Und diebrauchten sie jetzt.Aber sobald Sieben Monarch als den Fenster imfünfundzwanzigsten Jahrhundert erkannt und alle dieseVerbindungen hergestellt hatte - und Monarch seinerseitsmit einem höflich fragenden Blick aufsah -, begannen dieGegenstände und der ganze Raum zu schimmern, sich insich zusammenzufalten, immer wieder aufzublinken undzu verlöschen, bis sich der selbst blinkende Sieben imLeseraum der Christian Science Kirche des zwanzigstenJahrhunderts stehen fand, einen verblüfften John Fensterund Gregory Diggs anstarrend.

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»Wie um alles auf der Welt haben Sie uns denn hiergefunden. Ich bin doch mein Leben lang noch nie in einerKirche gewesen«, sagte Gregory Diggs.»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Sieben. Er warüberrascht, erleichtert und etwas außer Atem.»Wahrlich«, sagte Fenster.»Er ist wieder Christus«, erklärte Gregory, »und ich passeauf, daß sich niemand an ihm vergreift.«Sieben schüttelte den Kopf. Es war noch immer heiß, undsein Polyesteranzug war trotzdem nicht im geringstenzerknittert. »Was macht ihr denn hier?« fragte er.Diggs verteidigte sich mit finsterem Blick: »Ich zeigeChristus hier, daß einige Leute das Heilen für eine ganznatürliche Sache halten. Er muß sich auch nicht fürchten,weil... na ja, weil diese Leute sagen, daß es das Böse garnicht gibt. Sie haben im Zentrum Broschüren ausgelegt,und da dachte ich mir, schaun wir doch mal, was sieanzubieten haben. Und dich wird niemand kreuzigen,weil...« Diggs hatte sich an John Fenster gewandt.Fenster hingegen starrte traurig Überseele Sieben an:»Bist du Judas? Bist du gekommen, um mich zuverraten?«»Jesus Christus«, murmelte Diggs. »Da sehen Sie, wasSie angerichtet haben! Verschwinden Sie von hier!«Doch Sieben rief: »Beeilen Sie sich. Laufen Sie zur Türund nehmen Sie Fenster mit. Wenn ich mich nichtverkalkuliert habe, fährt George gerade mit dem Wagenhier vorbei.«Brummend schob Diggs den unglücklichen John Fensterzur Tür. Sieben riß sie auf. Und Georges Wagen war zu

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sehen - genau an der Stelle, wo sich Monarchs Tür imfünfundzwanzigsten Jahrhundert geöffnet hatte.Josephine sah das Trio und sagte George, er solleanhalten. Alle quetschten sich in den Porsche und fuhrendavon.

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Kapitel 12Fenster spricht für Monarch, und Sieben ist besorgt

Immer noch dachte Fenster, er sei Christus, starrte jetzttraurig auf George und fragte unablässig: »Bist duJudas?«»Nein, er ist ein Freund«, versicherte ihm Gregoryjedesmal wieder. Sie saßen eng zusammengedrängt imWagen, und Josephine rümpfte die Nase über Georgesbehaarte, verschwitzte nackte Schenkel. Über denMotorenlärm hinweg brüllte sie: »Ich hab mir JohnsUnterlagen ausgeliehen.«Obwohl alle Fenster heruntergedreht waren, war es stickigim Wageninnern. George sah verstört aus. Das Gesichtvon Fenster Christus wirkte ruhig, aber resigniert. Georgefuhr die Church Street entlang und fragte rhetorisch: »Undwas jetzt?«»Essen wir was«, schlug Sieben vor. »Warum gehen wirnicht in ein Restaurant und laden Fenster zu eineranständigen Mahlzeit ein? Er hat doch das Essen imZentrum versäumt, oder? Und dann können wir unsüberlegen, was als nächstes zu tun ist.«»Ich weiß nicht«, sagte Josephine zweifelnd.»Warum nicht?« fragte Gregory. »Er konnte eineanständige Mahlzeit vertragen. Und er wird niemand inVerlegenheit bringen, wenn es das ist, was Siebefürchten.«

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»Was soll's, zum Teufel. Genau!« George grinste. »MitChristus hab ich noch nie gespeist.«Josephine warf ihm einen finsteren Blick zu. Siebenlächelte. Fenster sagte mit seiner Christusstimme:»Hoffentlich wird es nicht das Letzte Abendmahl. Es istnicht leicht, in diesen Tagen Christus zu sein.«»Du glaubst doch nur, daß du Christus bist«, belehrte ihnGregory vorwurfsvoll. »Ich dachte, wir hätten uns dageeinigt.«»Na gut, das ist auch nicht leicht«, erwiderte Fenster,ziemlich intelligent, wie Sieben fand. »Ihr alle werdetetwas essen«, fuhr Fenster in herzlichem Ton fort. »Ichwerde fasten.«George war erleichtert, als alle mit dem nächstenRestaurant, an dem sie vorbeikamen, einverstandenwaren. Er war müde und fragte sich, in was um alles in derWelt er da hineingeraten war, und John Fenster verstörteihn. Zum einen sah dieser Mensch ganz harmlos aus, under hatte sich eigentlich einen wilder blickenden Typenvorgestellt. Obwohl, eigentlich war er ja auch in seinemBehandlungsstuhl lammfromm gewesen. Da hatte er nurnoch nichts von dieser Heilung gehört... Jetzt, da er davonwußte, erwartete er, daß Fenster ein etwas bizarresVerhalten an den Tag legte. (Verdammt noch mal, dachteer, jeder kann sagen, daß er Christus ist. Aber warum tutFenster, wenn er das glaubt, nicht irgend etwas, solangeich ihn im Auge habe?)Sie betraten das Restaurant. Und im Moment, als sie sichsetzten, wurden alle von einem Gefühl der Erwartunggepackt - alle bis auf Fenster, der freundlich lächelte und

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zu Gregory Diggs sagte: »Ich wußte doch, daß es nichtsnützt, mich aus dem Zentrum rauszuholen. Ich wußte, daßsie uns finden werden.«»Jaa«, sagte Gregory etwas sauer.»Bestellen wir erst was und reden wir dann«, schlugSieben mit forschem Lächeln vor, denn er war selbstetwas verunsichert und wollte herausfinden, warum, bevorirgend etwas passierte, das er nicht unter Kontrolle hatte.Sie studierten schweigend die Speisekarte. Es waren nurwenige Gäste da, und im Restaurant war es still. »Hier istin allen Restaurants nicht viel los«, sagte George einbißchen zu laut. »Die Leute hocken alle in ihrenFerienhäusern.«Josephine Blithe ging nicht darauf ein. Sie befeuchteteihre Lippen, zeigte ein aufrichtiges Lächeln und sagte zuFenster: »John, glaubst du im Moment, daß du Christusbist?«»John?« murmelte George und grinste plötzlich.»Natürlich John. Wir müssen hier nicht so förmlich sein.Wir sind Freunde, nicht wahr John? Du erinnerst dichdoch, daß wir uns schon einmal unterhalten haben.«Und mit Josephines Frage verlagerte sich plötzlich dasallgemeine Interesse auf John Fenster. Er hatte die Bühnefür sich, und er wußte es. Er lächelte sogar bestätigend.Bis zu diesem Moment war er für sie alle fast irrealgewesen, kein konkreter Mensch. (»Er schien einegeradezu anonyme Person zu sein, was seltsam war, vorallem wenn man bedenkt, wieviel Aufruhr er verursachthat«, erzählte Sieben später Kypros. »Natürlich«, er-

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widerte sie. »Und es ist schade, daß du damals nichtverstanden hast, warum.«)»Wahrlich«, sagte John Fenster, »ich bin John Fenster,der denkt, er ist Christus. Oder ich bin Christus, der denkt,er ist John Fenster. Das ist ein Dilemma für mich und fürandere, wie ich verstehe. Ich bin ein Mensch mit einerseltsamen Ausbildung. Das heißt, wie es scheint, hat manmich das, was ich gelernt habe, von einem anderen Ortaus gelehrt. Und ich kann mich ganz gut ausdrücken.Gregory hat mich dazu ermuntert, mich aus meinemVersteck zu wagen. Ich war sozusagen ein versteckterChristus. Oder ein versteckter John Fenster. Ich bin mirnicht sicher, was. Beantwortet das eure Fragen?« Mitdiesen Worten wandte er sich seinem Essen zu. Er hatteFisch und Chips bestellt, nachdem ihn Gregory dazuüberredet hatte, erst am nächsten Tag mit dem Fastenanzufangen.Dr. Josephine Blithe lächelte ihr professionelles Lächeln.»Das machst du gut, sehr gut«, sagte sie.George war ziemlich überrascht. »Für mich klingst duüberhaupt nicht verrückt«, sagte er. »Es hört sich zwaralles verdammt seltsam an, aber bei dir klingt es so, alssei da irgendwo Sinn drin.«»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht«, sagte Fensterund sah George an. »Ich befinde mich tatsächlich in einermerkwürdigen Situation, vor allem, da ich der Meinungbin, daß das Christentum ebensoviel Schaden angerichtethat, wie es Gutes getan hat. Seine Zeit ist vorbei. Warumsollte also irgend jemand in diesen Zeiten Christus seinwollen?«

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»Sag's mir«, erwiderte George ein wenig verlegen.Fenster hielt immer noch den Blick auf ihn gerichtet.Schließlich schneuzte sich George die Nase.Sie alle hatten schon zuvor John Fenster wenigstenseinmal kurz reden gehört, aber nun waren sie allebetroffen von der klaren Transparenz seiner Stimme, soals sei jedes Wort, das er sprach, unausweichlich und anjeden einzelnen von ihnen gerichtet, und nur an ihn.Josephine kämpfte um ihre professionelle Attitüde. »Sehrgut, John«, bemerkte sie herablassend.»Verdammt«, murmelte George.»Was hab ich euch gesagt?« Gregory Diggs wandte sichan alle.John Fenster trug Jeans, ein Sporthemd und Sandalen.George starrte ihn an. Er sah nicht anders aus alsirgendeiner der anderen Männer hier im Raum.Tatsächlich hatte George, als er die anderen männlichenGäste und dann wieder Fenster betrachtete, das seltsameGefühl, daß sich etwas von deren Gesichtern in FenstersGesicht spiegelte. Und doch hatte Fenster seine ganzeigenen Gesichtszüge: hellblaue Augen, durchschnittlichweiße Hautfarbe, eher dünne Lippen, normaleProportionen. Aber da war etwas in Fensters Gesicht, dasGeorge noch nie zuvor gesehen hatte - und deshalb auchnicht benennen konnte.Fenster sagte: »Ich weiß es, wenn ich denke, ich binFenster, und ich weiß es, wenn ich denke, ich binChristus. Was mich aber wirklich nachdenklich macht, istdie Frage: Wer ist dieses Ich, das denkt, ich bin Christusoder Fenster?«

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»Eine tiefe Frage, John!« sprudelte Josephine hervor.Aber es war sinnlos, sich etwas vorzumachen. Wer oderwas immer John Fenster war, für ihn hatte die Psychologievon heute keine Erklärungen. Josephine runzelte die Stirn.Noch etwas war merkwürdig. Sie waren inzwischen mitdem Essen fertig. Normalerweise würde nun eineKellnerin an ihren Tisch kommen, aber auf unerklärlicheWeise schien ihre Runde irgendwie isoliert. Sie war fastversucht, die anderen zu zwicken, um festzustellen, ob sielebendig waren.»Noch etwas«, sagte Fenster. »Christus hat die Fähigkeit,Menschen zu heilen, aber er ist paranoid. Er glaubtwirklich, daß er gekreuzigt wird. Fenster kann nicht heilen,er weiß aber, daß er über Christus Zugang zu dieserFähigkeit hat. Und Fenster ist geistig gesund. Er hatAngst, aber er ist nicht verrückt.«»Wer spricht jetzt?« Überseele Sieben stellte rasch dieFrage, bevor sich jemand anders einmischen konnte. »Duhast von Christus und Fenster gesprochen. Wer also bistdu?«Schweigen. George hielt den Atem an. Josephine kratztesich nervös am Bein. Fenster-Christus sah nochverblüffter aus als alle anderen. Er hob an zu sprechen,stockte, begann von neuem. »Ich bin nicht ganz sicher.Ich glaube, mein Name ist Monarch. Oder ich glaube, erkönnte es sein. Ab und zu denke ich mich selbst als diesePerson.«Monarch? Sieben schluckte. Natürlich. Es war möglich,daß so etwas passierte. Eine psychische Durchlässigkeit.Josephine öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber

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Siebens plötzlich gebieterischer Blick hielt sie davon ab.»Also gut, Monarch. Kannst du Fenster oder Christushelfen?« fragte er.George und Gregory waren so fasziniert, daß sie ihreAugen von Fenster nicht losreißen konnten.»Sie meinen, er ist noch jemand anders?« murmelteGeorge.»Schsch. Hören Sie zu«, zischte Gregory.»Ich bin Fenster und Christus«, sagte Monarch mit fernerStimme. Und plötzlich zeigte sich auf Fensters Gesicht einAusdruck von »irgendwo anders«. »Oder ich war es.Christus ist ein John Fenster, der heilt.« Seine Stimmewurde nun zögernd, als kämen die Worte von weit her undmüßten erst übersetzt werden, und doch war jedeseinzelne Wort klar und seltsam transparent - sotransparent, dachte Sieben (zu spät), daß sie alle durchdiese Stimme hindurchfallen konnten, wenn sie nichtachtgaben.Niemand von ihnen konnte später genau sagen, was alsnächstes passierte, obwohl Sieben eine ganz guteVorstellung davon hatte, allerdings eine, die zuakzeptieren auch ihm Schwierigkeiten machte.Zuerst veränderte sich ihre Wahrnehmung. DieGegenstände um sie herum blieben dieselben, doch fürGeorge, Josephine, Gregory und Sieben wirkte jedes Dingim Restaurant plötzlich intensiver, leuchtender, war mehres selbst, war eigenständiger und doch zugleich mehr Teildes Ganzen. George zum Beispiel sah gerade auf einegläserne Zuckerdose, und seine Augen weiteten sich, alsdie Dose plötzlich von einer ganz anderen Realität zu sein

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schien als noch vor einem Moment. Der Zucker glitzerte -winzige, blitzende Kristalle, ein jeder auf seine Weiseindividuell und vollkommen und zugleich mit den anderenverbunden. Jeder Kristall in Berührung mit anderen, inandere einströmend und doch seine funkelndeEigenständigkeit bewahrend. Auch die Lichtreflexe derZuckerdose blendeten fast, schienen Teil der Dose zusein, das Glas zu färben und zugleich darüberhinweg-oder auch darin zu tanzen. George hatte dasGefühl, hypnotisiert zu werden.Gregory hatte gerade seine rechte Schuhspitze betrachtet.Plötzlich sah er sie auf eine Weise, wie er sie nie zuvorgesehen hatte, so als sei sie das wichtigste Ding auf derWelt, einfach nur deshalb, weil sie existierte. Der Schuhschien in Zeit und Raum... eingepflanzt zu sein, solidesLeder, das auf dem Holzboden ruhte. Und doch schien ersich auch aus Tausenden von Lichtpunktenzusammenzusetzen, jeder für sich und zugleichBestandteil der gesamten Struktur; verwobenes, in sichtanzendes Licht, das sich im Einklang mit denreflektierenden Restaurantlichtern bewegte, die auchirgendwie zum Schuh zu gehören schienen.Josephines Augen ruhten auf einer Speisekarte, diezwischen einem Serviettenhalter und einer Ketchupflaschelag. Und unversehens schienen die Buchstabenhochzuspringen, so als würden sie in die Luft über demPapier geschrieben. Sie hätte sogar schwören können,daß sie für einen Moment Schatten auf das Papier warfen,bevor die ganze Speisekarte eine andere Form annahm.Sie schien sich nun um die Buchstaben zu legen, so daß

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etwa das Wort Schinken nicht nur auf seltsame Weiselebendig zu werden, sondern auch den Rest derSpeisekarte um sich zu versammeln schien. Jedes Wortließ die Karte sich kräuselnd zusammenziehen, sichverwandeln, so daß nach und nach jedes Wort in denVordergrund trat und die anderen Worte fast völlig ver-schwanden. Dann - Josephine schnappte nach Luft -traten alle Worte zugleich in den Vordergrund, so intensiv,daß sie es kaum ertrug, hinzusehen, und jedes Wort trugzur Gestaltung der Speisekarte bei, auf die esgeschrieben war.George Brainbridge hatte ziemlich unhöflich auf John Fen-sters Zahnlücke gestarrt, die der von ihm gezogene Zahnhinterlassen hatte. Er hatte gerade darüber nachgedacht,daß er ihm noch den Zahn daneben ziehen mußte, umihm dann eine Brücke verpassen zu können. Sein Blickwanderte hinüber zum guten Zahn auf der anderen Seiteder Zahnlücke, und was dann geschah, raubte Georgebuchstäblich den Atem. (»Fast hätte ich mir in die Hosengemacht«, sagte er später zu Josephine, die angewidertden Mund verzog.)Dieser eine Zahn nahm sofort seine ganzeAufmerksamkeit gefangen. Er fühlte das Leben in seinenWurzeln, seinen Nerven, im Zahnfleisch, aber mehrnoch... der Zahn schien ebenso das Zahnfleisch zuformen wie das Zahnfleisch ihn. Nein, das ist es nicht,dachte er und rang um Verstehen. Es war, als wäre derZahn ebenso an der Bildung des Zahnfleischs beteiligt, indas er später so gemütlich eingebettet sein würde... als

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fordere der Zahn in Kenntnis seiner Realität schon vor derZeit einen Mund, der ihn beherbergte.Alle diese Veränderungen begannen, als der Mann, dersich nun Monarch nannte, sagte: »Christus ist ein JohnFenster, der heilt.« Und Sieben schien es, als hätte dieserMann zwei Paar Augen oder als könnte er doppelt sehen.Sieben sah das Restaurant sehr genau und klar, dochschien er auch durch ein Teleskop zu sehen, einTeleskop, das in die Zeit statt in den Raum gerichtet war.Und dort sah er den Monarch des fünf und zwanzigstenJahrhunderts leibhaftig und in voller Lebensgröße auf dieLandschaft vor dem Museum blicken und mit sich selbersprechen. Nur daß es John Fensters »Monarch« imRestaurant war, der die Worte aussprach, die Sieben nunhörte:»Wie merkwürdig, mich an einem solchen Ort und in einersolchen Zeit zu finden! Ich habe das Gefühl, zugleich inder Zeit von Christus, im zwanzigsten und imfünfundzwanzigsten Jahrhundert zu leben, als wäre icheine Reihe verschiedener Selbst, und eines davon ist nichtganz richtig fokussiert. Wie viele andere Menschenkennen dieses Gefühl noch?«Pause. Im doppelten Blick, den Sieben in Fensters Augensah, konnte er Monarch lächeln sehen, so wie sich nunauch Fensters scheinbares Miniaturgesicht im selbenMoment zu einem Lächeln verzog. »Vielleicht ist Monarchfür andere Teile, andere Aspekte meiner Persönlichkeitein künftiges Selbst. Vielleicht machen Christus undFenster meine Existenz möglich.«

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»Und umgekehrt«, flüsterte Sieben und fragte sich, obbeide Monarchs oder nur ein Monarch ihn hörten.»Natürlich«, sagte der Monarch im Restaurant und sprachdie Worte aus, die der Monarch im fünfundzwanzigstenJahrhundert bei sich dachte. »Vielleicht war ich sogar amVerfassen der Kodizille beteiligt, die ich in meiner Zeitausgrub.«»Die Kodizille«, sagte Sieben eindringlich. »Rasch, erzählmir davon.«»Sie sind die Grundlage unserer Zivilisation. Ohne siehätte die Welt nicht überlebt«, sann Monarch vor demMuseum, während der Monarch im Restaurant die Worteaussprach.Sieben überkam fast ein Gefühl der Panik, als ihm dieImplikationen von Monarchs Antwort bewußt wurden.»Wann?« fragte er schnell. »Wann wurden sie verfaßt?«»In der Zeit >Des George««, kam die Antwort.Und damit hörten die Wahrnehmungsveränderungen auf.»Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe«, sagte JohnFenster.George Brainbridge schüttelte den Kopf und murmelte:»Was zum Teufel war denn hier gerade los?« Er starrteauf John Fensters Mund, alles schien ganz normal zusein.»Ich weiß nicht«, sagte Josephine und blickte blinzelndauf die Speisekarte, an der nun auch nichtsUngewöhnliches mehr war. Und Gregory Diggs schüttelteverwundert den Kopf, als seine Schuhspitze ihre Magieverlor.

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Fenster hielt sich wieder für Christus. »Wißt ihr nicht, daßdas hier eine moderne Version des Letzten Abendmahlssein könnte«, sagte er grämlich. Und an George gewandt:»Ich weiß, daß du mein Zahnarzt bist. Aber bist du sicher,daß du nicht auch Judas bist?«»Jetzt hör schon auf damit«, brummte George, aber nichtunfreundlich, er wollte keine Szene machen. »Ich bin ganzsicher. Ich geh dir mein Wort. Reicht das?«»Wahrlich«, sagte Christus.»Super«, erwiderte George mit einem Seufzer.»Erinnerst du dich daran, daß du gesagt hast, du bistMonarch?« fragte Sieben. Er bemühte sich, nicht besorgtauszusehen, hatte aber so eine Ahnung, daß hier mehrZeitdurchlässigkeiten am Werk waren, als er handhabenkonnte, und er wollte Fenster oder Christus oder Monarchbefragen, solange er noch konnte.»Ich denke, Fenster muß so eine Art Katalysator sein«,bemerkte Josephine zu George. »Ich muß Ihnen erzählen,was mir eben passiert ist.«»Ich Ihnen auch«, sagte George. »Ich meine, Siewerden...«»Fenster, hast du gerade eben was mit meinem Schuhgemacht?« fragte Gregory Diggs.Sieben versuchte sich in die Unterhaltung einzumischenoder sie vielmehr für den Moment zu unterbrechen, damiter Fenster befragen konnte, aber der antwortete Gregorynun prompt: »Nein, du hast ihn nur so gesehen, wie erist.« Sein Ton war geradezu entschuldigend. »Die Dingewaren schon kompliziert genug. Ich meine, sie sind es.Manchmal denke ich, ich bin ein zukünftiger Mann

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namens Monarch. Wenn ich denke, daß ich er bin, dannsehen die Leute manchmal die Dinge, wie sie wirklichsind. Manchmal«, sagte er zögernd, »habe ich so eineAhnung, daß ich über Christus hinaus zu etwas anderemkommen muß.«»Aber du hättest etwas sagen sollen«, meldete sich nunJosephine. »Ich hätte es, äh, verstanden. Ehrlich, John.«Sie langte hinüber und berührte seine Hand.Fenster sah für einen Moment verwirrt aus. Er hob dieandere Hand und hielt sie in der Luft, als wüßte er nicht,was er mit ihr tun sollte, dann legte er sie leicht aufJosephines Hand. Sie wurde so rot, daß George dachte,sie hätte einen plötzlichen Fieberanfall bekommen. Siegab einen komischen unterdrückten Laut von sich, zog dieHand zurück und starrte Fenster an. »Ich habe nurversucht, zu helfen«, sagte er.»Ich brauche keine Hilfe«, zischte sie wütend. »Was zumTeufel ist denn jetzt los?« fragte George.»Lang ins Feuer und du verbrennst dich«, antworteteGregory Diggs mit einem gutmütigen Grinsen.»Seht ihr?« sagte Fenster. »Ich habe ihre Gefühle verletzt.Das ist noch so etwas. Wenn ich Leute berühre, dannberühren sie sich manchmal selbst oder kommen mit sichin Berührung, und das macht sie wütend. Und ich weißnie, wann das passiert.«Josephine griff sich ihr weißes, perlenbesetztesHandtäschchen, sprang auf und stöckelte zur Tür. Ganzoffensichtlich kämpfte sie mit den Tränen. GeorgeBrainbridge sah verwirrt drein und folgte ihr. »Was jetzt«,fragte er, während sie die Tür öffnete.

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Sie lehnte sich an die Hauswand und betupfte die Augenmit einem Taschentuch. »Er hat es schon wieder getan«,stieß sie hervor. »Nur hat er diesmal, na ja, er... hat einGeheimnis von mir mitgekriegt und mir gesagt, ich sollemir deswegen keine Sorgen machen...«»Aber er hat doch gar nichts gesagt! Er hat doch nur IhreHand berührt.«»Tatsächlich? Na, jedenfalls hat es gelangt«, sagte siefast grob, gar nicht mehr ganz Dame. George lächelte.»Und das ist ja noch nicht alles. Was sollen wir denn mitihm tun? Ich fühle mich gedemütigt. Ich habe heute abendmehr über ihn erfahren als in unseren drei offiziellenBegegnungen zusammengenommen. Und ich seh nun,wie ich ihn heruntergemacht habe... und ihn dazuprogrammiert habe, das zu sagen, was ich hören wollte.George -er ist nicht verrückt! Das ist es, was mich soerschreckt. Und als er mich berührte, da wußte ich, daß...ich ihm leid tat, weil ich nicht weiß, wie ich mit alldemumgehen soll. Es tat ihm leid, daß ich Angst bekam, als ermich von dieser verdammten Migräne heilte.«»Ah, das hatte ich ganz vergessen«, gestand George.»Aber zum Teufel, was soll's, das war doch super.«»Gregory denkt auch so über seine Heilung. Aber michmacht es nervös. Wenn mich jemand heilen kann - dannmuß er auch irgendwie Macht über mich haben, oder?Das jagt mir Angst ein.«»Ach kommen Sie! So schlimm kann es doch nicht sein,von Kopfschmerzen geheilt zu werden«, sagte Georgescherzhaft. Und dann mit gespielt lüsternem Blick: »Waswar das denn für ein Geheimnis, das er entdeckt hat?«

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»Das ist nicht komisch«, erwiderte sie düster. »Und nochetwas. Er war erst drei Monate im Zentrum, als ich kam.Aus seinen Unterlagen geht hervor, daß er freiwilliggekommen ist. Seine Eltern sind tot. Ich weiß nicht, woherer stammt, aus welchem Staat oder irgend etwas. Das istalles verdammt merkwürdig, finde ich.«Sie standen im Dunkel der Sommernacht undbeobachteten, wie der Verkehr vorbeirauschte. Die Luftwar nun etwas kühler. Josephine kroch tiefer in ihr Jackett,und Georges Beine überzogen sich mit einer Gänsehaut.»Verdammt, mir wird kalt«, sagte er. »Ich weiß zum Teufelauch nicht, was wir mit Fenster tun sollen. Wir müssen ihnvor elf zurückbringen, war's nicht so?«Josephine errötete. »Ehrlich gesagt habe ich ihn, umseine Abwesenheit zu kaschieren, als Gast in Ihrem Hauseingetragen. Ich meine, er ist ein Mann... Ich wollte nichtmeine Adresse angeben, das könnte Gerede geben.«»Pfiffig, pfiffig«, sagte George grinsend. »Was meinenSie? Sollen wir ihn zu mir nach Hause bringen? Wir sind jagedeckt.«Sie nickte.»Ich hoffe nur, Jean fällt nicht plötzlich ein, mich zu Hauseüberraschen zu wollen. Je weniger Leute von dieserSache erfahren, desto besser.« George blickte etwasbesorgt.»Sie meinen, Sie haben Ihrer Frau nichts davon erzählt?«fragte Josephine mißbilligend.»Ihr erzählt? Zum Teufel, ich hab sie schon drei Tagenicht mehr gesehen. Sie und die Kinder sind imWochenendhaus.« Seine Augen wurden groß, denn zum

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erstenmal erschien dieses eingefahrene Arrangementmerkwürdig.»Sie verbringen da jeden Sommer«, verteidigte er sichfast.Vor seinem geistigem Auge sah er das Gesicht seinerFrau und gleichzeitig wurde er sich mit Unbehagen eineszunehmenden Gefallens an Josephine Blithe bewußt.»Ah, wir gehen besser wieder zu den anderen undverschwinden dann von hier.«»Mmmm. Da ist noch etwas. Ich weiß nicht, was Ihnen dadrinnen passiert ist, aber ich hatte Visionen, wie ich sienormalerweise Drogen zuschreiben würde. Aber ich habekeine genommen. Mein Gott, meine Kollegen würden michfür verrückt erklären, wenn sie das hörten!«»Die Macht der Kollegen, was?« antwortete George. Erwurde sich ihrer Nähe zunehmend bewußter, und sodrehte er sich fast abrupt um und öffnete die Tür.George konnte am Gesicht seines Assistenten Siebenablesen, daß irgend etwas vor sich ging. In keinemMoment hatte er ihn bis dahin so ernst gesehen. GregoryDiggs lauschte offensichtlich ganz vertieft. George rückteJosephine den Stuhl zurecht (zum ersten Mal) und setztesich dann selbst.»Fenster ist wieder Monarch. Es ist irre. Hört mal«,flüsterte Gregory ihnen zu.Fenster, als Monarch, sah etwas gedankenverloren drein.Er blickte Sieben an und schien gleichzeitig durch ihnhindurchzusehen, als sei er in einem spektakulärenTagtraum gefangen. Der Monarch im fünfundzwanzigstenJahrhundert schlenderte langsam auf das Museum zu,

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von einer merkwürdigen Unruhe erfaßt. Er fragte sich, wieschon hundertmal zuvor, woher ihm der Gedankegekommen war, überhaupt an dieser speziellen Stelle zugraben. Und Fenster als Monarch im Restaurant gabdiesem Gedanken Ausdruck: »Ich frage mich, woher mirder Gedanke kam, überhaupt an dieser speziellen Stellezu graben.«»Wovon redet er?« fragte George Gregory. Diggsbedeutete ihm, still zu sein. Im Hintergrund räumte eineKellnerin die Tische ab, und George beugte sich vor, umbesser zu hören.»Der Ursprung der Kodizille hätte im dunkeln bleiben kön-nen«, sann Monarch und wurde noch unruhiger. »Odernoch schlimmer, sie wären vielleicht nie entdeckt worden.Aber was wäre dann mit unserer Welt? Gott weiß, welchesSchicksal die Menschheit ereilt hätte, wenn es dieKodizille nicht gäbe.« Und wieder setzte Fenster alsMonarch diese Gedanken in Worte um.Dann schien ihn plötzlich irgend etwas anzutreiben. Ichmuß noch mal nach den Kodizillen sehen. Ich weiß auchnicht, warum, dachte Monarch und hatte es auf einmaleilig. Und auch der Monarch, der die Worte zu ÜberseeleSieben sprach, wurde aufgeregt - und auch Sieben. DasMuseum im fünfundzwanzigsten Jahrhundertkorrespondierte mit dem Platz, an dem Georges Hausstand. Sieben wußte, daß er sofort dorthin mußte — unddaß Fenster mitkommen mußte.»Alles in Ordnung«, sagte er zu Fenster, der nunverstummt war. »Wir werden das alles regeln. Wir müssenes.«

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»Was regeln?« fragte George irritiert.Sieben hatte sich so stark auf Monarchs Wortekonzentriert, daß ihm Georges und Josephines Rückkehrentgangen war. Nun sah er in plötzlicher Verlegenheit auf.Wie konnte er ihnen das, was er gerade erfahren hatte,erklären? Was für liebenswerte menschliche Gefährten siedoch waren - er sah sie mit großer Zuneigung an, unddiese Zuneigung war in seinem Gesicht zu lesen. Georgesah verlegen drein, Gregory verstand, und Josephme er-rötete. Aber der offene Ausdruck eines solchen Gefühlsmachte George angst. »Stimmt was nicht?« fragte eralarmiert.»Alles bestens«, sagte Sieben rasch. »Wir müssen nur inIhr Haus zurück. Schnell. Ich werde es später erklären. ImMoment haben wir keine Zeit zu verlieren.«George zuckte die Achseln. »Sie übernehmen dieFührung. Mich kann jetzt nichts mehr überraschen.«Josephine griff nach ihrem Täschchen. Diggs nahmschützend Fensters Arm, und Sieben, obwohl erversuchte, sich nichts anmerken zu lassen, war fast außersich vor Sorge. Wenn sie die Kodizille nicht rechtzeitigfanden, konnte es sein, daß diese Welt von Josephine,George, Gregory und Fenster gar nicht existierte - odersich in eine andere Wahrscheinlichkeit verwandelte oderzu einer künftigen wahrscheinlichen Welt führte, in der dieErde in Trümmern lag und Monarch selbst nicht existierte.Fenster kam ganz fügsam mit. Aber würde er auch starkgenug sein, das zu tun, was zu tun war? fragte sichSieben.

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Doch auch Siebens Gefühl der Dringlichkeit konnte dieGruppe nicht ganz zusammenhalten. Josephine Blithebestand darauf, sich ausruhen zu müssen. Sie fuhr ineinem Taxi heim.George nahm alle anderen mit zu sich nach Hause. Dannverschwand er in seinem Schlafzimmer. Überseele Siebenwartete nervös, während Diggs und Fenster in der KücheKaffee tranken. Alles war ruhig. Doch nicht lange.

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Kapitel 13Eine komplizierte außerkörperliche Erfahrung und einvolles Haus

Während George Brambridge der Dritte schlief und Siebensich mit Fenster und Diggs in der Küche des zwanzigstenJahrhunderts unterhielt, hockte George Brainbridge derErste in einem rotseidenem Morgenmantel auf seinerBettkante im Dachgeschoß und blickte durchs Fensterhinunter auf das Kutschenhaus, die Auffahrt und dieWiese. Sein Geist war wunderbar klar. So still wie dernächtliche Junihimmel, dachte er, dessen Mondlicht dieSzenerie vor seinem Fenster zart und kunstvoll erhellte. Erunternahm gerade den Versuch, seinen Körper zuverlassen.Es ist das Jahr 1895, sagte er sich. Und gleichwieunzweideutig und unwiderruflich dies klang, gleichwievollkommen seine Sinnesdaten es bestätigten, er mußtedoch versuchen, sich klarzumachen, daß andere Zeiten -andere Jahre, Jahreszeiten und sogar Jahrhunderte -irgendwie mit dieser Zeit zusammenfielen. Soviel wußte erbereits. Und ungeachtet der Tatsache, so ermahnte ersich, daß seine Frau und sein Sohn bald aus Europaheimkehren würden, mußte er begreifen, daß die ihmnoch verbleibende Zeit so »lang« sein konnte, wie er eswünschte. Denn nach ihrer Rückkehr würde er seineExperimente drastisch einschränken, wenn nicht ganzabbrechen müssen.

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Dieser Gedanke erinnerte ihn daran, daß er Ablenkungenvermeiden und seinen mentalen Fokus klar und offenhalten mußte. »Vergiß alles bis auf diesen gegenwärtigenMoment, so wie du ihn erfährst«, sagte er sich. Er blicktesacht, ganz sacht aus dem Fenster. Beobachtete, wie sichder weiße Spitzenvorhang sanft in der Luft der Juninachtbewegte. Beobachtete, wie das Mondlicht auf dem Pfahlzum Anbinden der Pferde aufblinkte und schimmerte ...und auf den dunklen Blättern der Fliederbüsche und...George runzelte die Stirn und zwirbelte nervös an denSpitzen seines schönen Schnurrbarts. Alles war ruhig,aber erfühlte, daß sich dahinter irgend etwas regte. Erblickte auf das Rollpult in der Ecke, das heißt, er blickteauf die Stelle, wo es stand, denn in der Dunkelheit war eskaum zu erkennen. Sein Tagebuch lag dort in derSchublade. Er wollte ein paar Eintragungen machen,wollte sich aber andererseits auch nicht bewegen, umnicht die Trance zu brechen, in die sich zu bringen er sichbemühte. Es schien, als pulsierte die weiche Luft mit einergewissen Dringlichkeit, als sei da etwas, das er tun müßte.Und er hatte keine Ahnung, was es sein könnte.Geduldig und beharrlich versuchte er es mit einer anderenTaktik, einer, die oft funktioniert hatte. Die Gasschnüffeleihatte er weitgehend aufgegeben, seit er entdeckt hatte,daß er auch ohne Gas mit seinem Bewußtseinexperimentieren und es übrigens so auch besserkontrollieren konnte. Nun probierte er es mit MethodeEins, wie er sie nannte.Er legte sich aufs Bett, entspannte sich völlig, schloß dieAugen und ertastete in seinem Innern die unsichtbaren

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Muskeln seines Astralkörpers. Dann versuchte er sichaufzusetzen, während sein physischer Körper still auf demBett lag. Er versuchte, die Arme seines Astralkörpers zubewegen, während seine physischen Arme über der Brustgekreuzt waren. Und er versuchte, die Beine seinesAstralkörpers in Bewegung zu setzen, während seinephysischen Beine reglos blieben.»Uh, ah«, ächzte er vor Anstrengung. Es klang wieDonnergetöse. Sein Körper erschauerte. »Donner undDona«, rief er, als ihm klar wurde, daß er zuviel Krafteinsetzte, sich zu sehr anstrengte. Nun mußte er wiederganz von vorn anfangen! Dann wurde er müde. Er gähnte,über sich selbst verärgert. Ein neuer Gedanke kam ihm.Er würde es mit Methode Fünf probieren, wenn er sienoch zusammenbekam. So konnte er seine Schläfrigkeitin einen Vorteil ummünzen.Gewöhnlich maß George Brainbridge der ErsteWillenskraft, Entschlossenheit und Bemühen größteBedeutung bei. Er lernte aber allmählich, daß dieseEigenschaften zuweilen seinen besonderen mentalenAktivitäten in die Quere kamen. So gab er jetzt widerwillignach und versuchte es mit einer Methode, die sich desKörpers sklavisches Bedürfnis nach Schlaf voll zunutzemachte (so schien es ihm jedenfalls). Er ließ seineSchläfrigkeit zu, ja, er lockte sie geradezu mit allen Tricksherbei. Er gähnte ausgiebig, als wollte er den Schlafeinladen. Seine Augen waren geschlossen, sein Körperruhte schwer auf dem Bett.Er ließ den Schlaf kommen, ließ ihm seinen Willen. Unddas war der Trick: Gleichzeitig beschwor er ein Bild, eine

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Gestalt von sich selbst herauf, wie er draußen vor seinerTür im Flur stand. Im Moment, in dem er einschlief, genauin dem Moment, bevor sein Bewußtsein »untertauchte«,mußte er sein Bewußtsein (und sich selbst) in dieseandere Gestalt transferieren.Sein Atem wurde tiefer. War es schon Zeit? Sein Geist be-gann ... taumelig zu werden, aber er war immer noch... zuwach. Da war noch eine Spur von Wachheit der falschenArt. Sein Atmen wurde noch tiefer - und tiefer. Er war demSchlaf so nah. Gleichzeitig hielt er geschickt seine Gestaltvor seinem geistigen Auge intakt. Er überprüfte sie. Siewar perfekt: schütter werdendes rötliches Haar,Hakennase, roter Morgenmantel. Er versuchte, sich nichtvon Details ablenken zu lassen und spürte nun, wie inseinem Bewußtsein eine sanft rollende Bewegung ein-setzte, die zu erkennen er inzwischen gelernt hatte. Eswar, als ob sein Bewußtsein einen Hügel hinunterrollenwollte, in das Vergessen des Schlafs. Und in demMoment, in dem dieses Gefühl einsetzte, rollte George(Heureka! rief er innerlich) sein Bewußtsein hinüber in dieandere Gestalt, in der er nun völlig wach dastand. Erbeglückwünschte sich selbst und widerstand der Ver-suchung, zurückzugehen und sich seinen physischenKörper anzusehen, denn wenn er das tat, fiel er zuweilenwieder in ihn zurück, und das war's dann gewesen.Und was jetzt? überlegte er. Er lauschte und sah sich um.War alles so, wie es sein sollte? Es war noch immerNacht. Er stand noch immer im Flur und ging nun hinunterin den ersten Stock.

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Was für ein köstlicher heimlicher Triumph, außerhalb desKörpers herumzuspazieren! George dachte daran, seinerLieblingsbeschäftigung zu frönen, nämlich nachts imaußerkörperlichen Zustand um den Block herum zuwandern oder zu fliegen. Nur das Wissen, daß sich, wenner die Haustür einmal durchschritten hatte, die äußereUmgebung häufig veränderte, und er dann sehr wach undin guter Form sein mußte, um die Situation im Griff zuhaben, hielt ihn davon ab. Und so in Gedanken wanderteer nun den Flur im ersten Stock entlang und blieb dannstehen. Die Schlafzimmertüren waren geschlossen.Plötzlich wußte er, daß er nicht allein war.Vorsichtig durchschritt George Brainbridge der Erste dieerste Tür, die ins westlich gelegene Schlafzimmer führte.Der Mond schien durchs Fenster, und George fielen sofortmehrere Dinge zugleich auf. Das ihm vertrauteSchlafzimmermobiliar war verschwunden. An den Wändenhingen keine Gasleuchten mehr, und auf denNachttischen standen Lampen ohne Dochte.Was ist denn jetzt los? fragte er sich. Aufgeregt beugte ersich über eine der Lampen, um sie sich genaueranzusehen. Eine Schnur führte aus der Lampe hinunter zueiner Art Öffnung in der Wand. Er mußte in der Zukunftsein. Dies mußte das künftige elektrische Licht sein, eineWeiterentwicklung jener einfachen ersten Modelle, überdie er in Fachzeitschriften gelesen hatte. Was für eineWohltat für den Zahnarztberuf.Er frohlockte geradezu, wußte aber, daß er, wenn er zuaufgeregt wurde, leicht die Kontrolle verlieren und sichunversehens in seinen Körper zurückversetzt finden

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konnte. War das sein Haus in der Zukunft? Wer schliefdann in dem Bett, das da stand, wo sich das seine hättebefinden sollen? Er beugte sich hinunter.Das Mondlicht fiel auf das Gesicht eines Mannes. GeorgeBrainbridge starrte es an: Da war eindeutig eineFamilienähnlichkeit zu erkennen. Der Mann sah ihmähnlicher als sein eigener Sohn. Sapperlot! Er beugte sichnoch weiter hinunter.Zu spät bemerkte er die Drähte an der leichten Bettdecke.Er berührte die Decke sanft — und winzige Schocksdurchzuckten ihn, Schocks, die irgendwie in dieseseltsamen knisternden Laute übersetzt wurden, die er somerkwürdig fand. Da mußte irgendwo diese Elektrizitätsein - in der Bettdecke? Völlig verblüfft stieß er einenFluch aus. Aber was sollte ihm die Elektrizität in seinemaußerkörperlichen Zustand schon anhaben können, wennes Elektrizität war! Sein Bewußtsein begann zu wandern.Die Szenerie verschwamm.Verzweifelt konzentrierte sich George auf denNachtkasten vor seinen Augen und versuchte, den Fokuszu halten. Der Geruch von verblühendem Flieder strömtevom Garten herein. Der Nachtkasten wurde wiederdeutlicher sichtbar. Dann vernahm George ein seltsamesSummen in seinen Ohren oder ein Geräusch wie vonknisternden Flammen, und eine plötzliche,schwindelerregende Verlagerung in seinem Bewußtseinließ ihn schwanken. Er hatte das Gefühl, durchunermeßliche Weiten zu fliegen, obwohl er ganz deutlichsehen konnte, daß er sich nicht einen Zentimeterwegbewegt hatte.

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Diesmal fegte die Aufregung ihn tatsächlich fast in seinenKörper zurück, aber seine Neugier war stärker. Sienagelte ihn an seinem Platz fest, obgleich seinBewußtsein beim Versuch, an zwei Orten zugleicheinzurasten, einen Moment schwirrte wie ein überdehntesGummiband.Das Zimmer war dasselbe, aber von neuem hatte sich dasMobiliar verändert. Weiches Licht schien von der Decke,dessen Quelle George nicht ausmachen konnte. EineGruppe von Leuten, die aussahen, als seien sie bei einerBesichtigungstour, sah sich das Zimmer an. Sie machtenoh und ah, aber niemand sah ihn. Halluziniere ich? fragtesich George. »Alle Halluzinationen sollen verschwinden«,gab er mit mehr Zuversicht, als er in sich spürte, dengeistigen Befehl.Nichts passierte. George schnappte nach Luft. Wenn ersich nicht irrte, dann hätten, wenn er sie selbst erschaffenhatte, die Leute und das Zimmer nun verschwindenmüssen. Er mußte sich tatsächlich selbst übertroffenhaben. Aber wo war er, und was ging hier vor?Aus den Wänden ertönte eine Stimme, und Georgemachte einen Satz zurück. »Dies ist eine Nachbildung desSchlafzimmers Des George. Sie finden hier Kopien oderRekonstruktionen jener Gegenstände, die an derursprünglichen Ausgrabungsstätte gefunden wurden. Seingenaues Alter ist ungewiß, aber mit Sicherheit war diesesMobiliar vor Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Mode.Sie sehen hier noch eine alte elektrische Bettdecke. DieLampen wurden noch mit der Hand ein- und ausge-schaltet.«

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Dies war die intensivste außerkörperliche Erfahrung, dieGeorge je gemacht hatte. Er jubilierte. Er versuchte, sovielwie möglich für seine späteren Tagebucheintragungen insich aufzunehmen. Gleichzeitig ängstigten ihn aber auchdie Deutlichkeit und Klarheit der ganzen Ereignisse. Alleswar fast zu klar. Angenommen... er konnte nicht mehrzurück?Doch noch bevor er dazu kam, sich ernsthaft Sorgen zumachen, bemerkte George etwas, das ihn bis ins Markerschütterte. Die Besucher, Männer wie Frauen oder wasimmer sie waren, trugen kurze, farbenprächtige Tuniken,überall blitzen nackte Arme und Beine auf, undniemandem schien das auch nur im geringsten etwasauszumachen. Einen Moment lang fragte er sich, ob ernicht in ein - etwas merkwürdiges - Hurenhaus geratenwar. Aber nein, ganz offensichtlich sahen sich dieBesucher dieses Zimmer an wie einen... Museumsraum.Die unsichtbare Stimme sprach weiter: »Wer weiß, wieviele Abende Der George in jenen Zeiten damit verbrachthat, mit verschiedenen Bewußtseinszuständen zuexperimentieren, bis er schließlich auf die Kodizille stieß?Und ohne die Kodizille würde unsere Welt mit Sicherheitnicht existieren. Zu diesem Zeitpunkt waren dieVorstellungen und Überzeugungen der Menschheit soselbstzerstörerisch geworden, daß sie nur noch zu ihrerVernichtung führen konnten.«»Der GEORGE?« George war schwindlig, und als er dasWort Kodizille hörte, zuckten aufs neue kleine Schocksdurch seinen Traumkörper. Jeder Teil seines Bewußtseins

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wurde mehr als hellwach. Das Wort schien sein ganzesBewußtsein auszufüllen. KODIZILLE...Wieder knisternde Laute, Dunkelheit, Licht, Dunkelheit.Als nächstes wurde George bewußt, daß er wieder inseinen physischen Körper eintrat und laut rief: »DieKodizille! Die Kodizille!« Seine eigene Stimme klang sodröhnend, daß er erschrak.Er blickte sich um und sah auf die Uhr. Es war elf Uhrnachts. Er war hellwach und so aufgeregt, wie schonJahre nicht mehr. Rasch schlüpfte er in seineHausschuhe, ging hinaus in den Flur und hinunter in denersten Stock. Er öffnete die Tür zum westlichenSchlafzimmer. Alles war so, wie es sein sollte. Da standsein ihm vertrautes Bett, leer. Die Gaslampen hingen anihrem Platz an der Wand. Er strich sich über denSchnurrbart und seufzte. »Vielleicht spukts in diesemHaus.«Und genau das dachte auch George der Dritte, als seinGroßvater die Tür hinter sich schloß. Er erwachte miteinem Prickeln der Kopfhaut und schüttelte benommenden Kopf. Er hätte schwören können, daß eben nochjemand im Zimmer gewesen war. Mist. Er setzte sich auf,schaltete die elektrische Bettdecke ab, die auf niedrigsteTemperatur eingestellt war, weil es auch in den wärmstenNächten in diesem alten Haus feucht wurde, zog sichHosen über den nackten Körper und Schuhe über dieFüße und wanderte in Richtung Küche. Nie in meinemLeben habe ich eine derart verrückte Woche erlebt,dachte er. Er wünschte sich Jean und die Kinder zurück,

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damit das Leben wieder seinen normalen Gang gehenkonnte.In der Küche war Licht. George hörte Stimmen. Mist,dachte er wieder. Alles, was er wollte, war ein Sandwichund einen Moment Ruhe, statt dessen aber unterhielt sichSieben wohl mit diesem verdammten Fenster, denn nunkonnte er die Stimmen deutlich unterscheiden.»Was ist hier unten los?« rief er gespielt verdrießlich undging auf die Küchentür zu.

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Kapitel 14Grauenhafte Wahrscheinlichkeit

»HI«, wurde er von Sieben heiter begrüßt.»Wer ist da bei dir? Fenster, Monarch oder Christus?«fragte George grinsend, unbewußt zum Du übergehend.»Wahrlich. Jetzt bin ich Christus«, antwortete Fenster.»Das ist ja super!« rief George. »Mehr brauchen wir nicht,würd ich sagen.« Dann wandte er sich an Sieben. »Waszum Teufel ist hier eigentlich wirklich los? Weißt du's? Ichbin so froh, wenn ich mich morgen wieder an meine Zähnemachen kann, daß ich meine Patienten glatt dafürbezahlen könnte.«Sieben lächelte mitfühlend, aber George sagte: »Das istkein Witz. Es ist mein völliger Ernst. Dieser ganze Scheißmacht mich langsam verrückt. Nichts davon hättepassieren dürfen. Christus, der Diggs heilt. Alle dieseHalluzinationen oder was das war da im Restaurant.Fenster, der denkt, er sei zwei Personen, Christus undirgend so ein Typ in der Zukunft. Morgen geht's zurück insZentrum. Und damit basta.«»Bist du Judas?« fragte Christus mit milder Neugier.»Nein, verdammt!« rief George. »Ich bin nur ein armer,benebelter Zahnklempner.«»Wenn sie mich kreuzigen...« fing Christus an.»Willst du wohl damit aufhören!« fiel ihm George ins Wort.»In diesem Land werden keine Leute mehr gekreuzigt...«»Sei gesegnet«, antwortete Christus.

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»Verdammt«, sagte George. »Ich mag dich lieber, wenndu Fenster bist.«Seine Stimme hatte jetzt einen fragenden Untertonangenommen. Wenn Fenster dachte, er sei Christus, undwenn man mal von seinen Lieblingssprüchen über Judasund die Kreuzigung absah, dann hatte er tatsächlich soetwas wie eine Aura um sich. Plötzlich beugte sich Georgevor. »Du fürchtest dich doch nicht wirklich davor,gekreuzigt zu werden, stimmt's?« fragte er heftig. »Und duweißt, daß ich nicht Judas bin. Was für ein Ding versuchstdu da eigentlich zu drehen? Es ist mir völlig schleierhaft,ich geb's zu.«»Na?« ertönte eine Stimme. »Sagst du's ihm nun odernicht?«George sah überrascht auf Gregory Diggs, der in deroffenen Tür stand. »Was ist das, eine Tagung?« fragte er.»Du konntest wohl auch nicht schlafen?«»Ich werd euch Typen doch nicht mit Mr. Fenster hierallein lassen«, grinste Gregory. »Na?« wandte er sich anSieben.»Na ja, es ist eine ziemlich verrückte Geschichte«, sagteSieben etwas unsicher.»Probier's mal«, erwiderte George trocken. Er ließ sich amKüchentisch nieder und seufzte in gespielter Verzweiflung.»Los Jungs«, grinste er dann. »Macht schon. Das hier istdoch nichts als ein ausgeklügelter Bluff.«Diesmal war es Sieben, der seufzte. Er legte seinErdnußbuttersandwich nieder, breitete die Hände aus undbegann: »Hier kommt sie, die Wahrheit, soweit wir sieverstehen, nachdem wir uns die halbe Nacht mit

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Fenster-Christus-Monarch unterhalten haben. Kannslosgehen?«»Schieß los«, sagte George und schlug die Beineübereinander. »Mich kann nichts mehr überraschen.«»Okay«, erwiderte Sieben. »Fenster, unterbrich mich,wenn ich irgend etwas sage, womit du nicht einverstandenbist. Die Sache sieht so aus. Dieser Mensch hier (erdeutete auf Fenster) ist eine Kombination ausEigenschaften von Fenster, Christus und Monarch. Nurmachen sich diese Eigenschaften aus irgendeinem Grundvoneinander getrennt bemerkbar. Er bringt sie nichtzusammen. Er kann heilen, das wissen wir. Er behauptetauch, aus der Zukunft zu kommen oder in die Zukunft zusehen, wenn er Monarch ist.«»Tatsächlich?« fragte George mit einem törichten,ungläubigen Grinsen.»Ich bin Monarch«, ließ sich Fenster plötzlich mit sanfterStimme vernehmen.»O Jesus«, jammerte George, bevor ihm Siebenzuvorkommen konnte.Gleichzeitig stieß Gregory George an und deutete aufseinen Schoß, wo er einen kleinen Kassettenrecorder aufden Knien balancierte. Er drückte die Aufnahmetaste.Fenster-Monarchs Gesicht war tiefernst. Leise sagte er:»Ich würde gern glauben, daß ich auf die eine oder andereWeise mit George spreche, Dem George, der die Kodizillein die Welt einführte. Bist du Der George?«George konnte seine verlegene Verwirrung nichtverbergen. Er wollte sagen: »Nein, und ich bin auch nichtJudas!« Aber zu seiner Überraschung hörte er sich ganz

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andere Worte sprechen: »Teufel auch, ich weiß von denKodizillen.«Und während er noch sprach, hörte er Sieben nach Luftschnappen. Gleichzeitig schienen Fensters Augen einemanderen zu gehören. Sie blickten George eindringlich an.»Ich hatte das entsetzliche Gefühl, daß... irgend etwas inder Vergangenheit passiert ist«, sagte Monarch wieder mitleiser Stimme. »Als veränderten sich dieWahrscheinlichkeiten. Als müßte ich dich in deinergegenwärtigen Zeit kontaktieren... Ich werde es bald nocheinmal versuchen. Ich bin in diesen Dingen nicht so gut,wie ich sein sollte —« Er verstummte, und Fensters Augenverloren an Intensität. Wieder er selbst, sagte er:»Diesmal habe ich fast etwas gesehen... durch die Augeneines anderen —«Sieben war aufgesprungen. »George, was weißt du überdie Kodizille?« fragte er. »Schnell!«»Was ist das?« George war verwirrt. »Als er >Kodizille<sagte, fiel mir nur ein, daß ich dieses Wort auf demEinband eines der alten Tagebücher meines Großvatersirgendwo oben im Dachgeschoß gesehen habe. Das waralles - Die Kodizille. Mein Großvater hat seine Tagebücheralle beschriftet. Ich weiß nicht mal, ob sie noch da obensind.«»Das müssen sie!« rief Sieben.Wenn Sieben mit Irdischen zusammen war, dann mußteer sich auch möglichst so benehmen wie sie, um sich nichtzu verraten. Und so sauste er mit beträchtlicherErleichterung ins Dachgeschoß hinauf, um, nachdem erGeorges Erlaubnis erhalten hatte, nach den alten

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Tagebüchern zu suchen. George, Fenster und Diggsverzogen sich in die Schlafzimmer im ersten Stock.Sieben betrat das Dachzimmer, knipste das Licht an undschloß die Tür hinter sich. Das stete Klopfen seinesHerzens lenkte ihn ab, und so verließ er seinen Körper,nachdem er ihn ordentlich auf dem alten Bett abgelegthatte. Und er fragte sich, ob dieses Bett in einer anderenZeit von einem anderen Körper belegt gewesen war - vonGeorge dem Ersten zum Beispiel?Sieben blickte sich um. Was er sah, war ein schmutziges,vollgestopftes Mansardenzimmer im zwanzigstenJahrhundert, überall waren Kisten gestapelt und standenalte Möbel kreuz und quer. Durch das offene Fensterdrang der Duft von Flieder herein, der sich mit demGeruch von Staub mischte. Dann entdeckte er den altenSchreibtisch. Es war derselbe, der glänzend poliert imStudierzimmer von George dem Ersten gestanden hatte.Rasch stöberte Sieben die Schubladen durch und fandschließlich, was er suchte. Mehr kann man nichtverlangen, dachte er freudig, als er auf die ordentlichgestapelten alten Tagebücher stieß.Aber er hielt inne, noch bevor er das erste, das ihm in dieHand fiel, aufschlug. War der Autor, George der Erste,unsichtbar hier? Und wenn er es war, würden sich danndie Schubladen seines Schreibtisches wie vonunsichtbarer Hand gezogen öffnen? Oder würde nichtsdergleichen geschehen? Sieben fühlte sich George demErsten sehr nahe - nahe genug, um ihn zu berühren.Sieben sah auf die Tagebücher, die nun auf dem Bodenverstreut lagen, und betrachtete die staubige Oberfläche

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des Schreibtisches. Alles sah genau nach demzwanzigsten Jahrhundert aus bis auf, er kniff die Augenzusammen, einen einzigen winzigen Kreis in der Luft.Dieser Kreis ist nicht wirklich winzig, dachte er, und er warsich auch nicht sicher, woher er wußte, daß er sich vonder Luft im Raum unterschied, aber er tat es.Sieben starrte mißtrauisch und hoffnungsvoll zugleich aufdieses helle Segment im Raum. Er mußte einfachherausfinden, was George der Erste über die Kodizillewußte! War dieser Kreis vollkommener Transparenzirgendwie mit derselben räumlichen Stelle in den 1890erJahren verbunden? Sieben fühlte sich George dem Erstennoch näher als vorher, und mehr noch, er roch einenUnterschied zwischen dieser besonderen Stelle in der Luftund dem Rest des Raums.Sieben lächelte: Er hatte es! Seine inneren Sinne warennatürlich weitaus schärfer als die physischen Sinne, undjetzt merkte er, daß sich der Geruch von Staub undFlieder überall im Dachgeschoß ausgebreitet hatte - außerin jenem räumlichen Kreis, auf den er starrte. Er gingnäher heran und überlegte, daß sich hier aus irgendeinemGrund die Zeiten beider Georges kreuzten.Doch im nächsten Moment trat Sieben so rasch zurück,daß er fast gestolpert wäre, denn plötzlich erschieninmitten des Kreises ein sehr realer, solider rotärmeligerUnterarm mit rotemÄrmelaufschlag und einer Hand, diehinausreichte und das nächstliegende Tagebuch aufnahm,das Sieben noch nicht zu den anderen gelegt hatte. Undwährend die Hand (die von George dem Ersten?) dasTagebuch ergriff, verschwand sofort der Staub, der darauf

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lag. Die Farbe seines Einbandes intensivierte sich, und essah plötzlich wie neu aus.»George? George?« schrie Sieben geistig. Keine Antwort,Statt dessen schlug die Hand das Tagebuch auf undbegann mit einem Federhalter zu schreiben. »George,was wissen Sie über die Kodizille?« rief Sieben. Wiederkeine Antwort.Dann, fast gleichzeitig, erkannte Sieben völlig verblüfft,was da passierte. Das Ganze wirkte wie ein runderMonitor, auf dem die Orte und Zeiten der Programmeautomatisch synchronisiert wurden. Das heißt, der Kreisim Raum schimmerte. Georges Hand und das Tagebuchverschwanden. Im Rund erschienen schwankende Linienund Krümmungen, dann wieder Georges Hand, nur daßsie diesmal offensichtlich Teil einer Statue war -der Statuevon George, die im Museum des fünfundzwanzigstenJahrhunderts stehen mußte.In Siebens Kopf drehte es sich. Er konzentrierte sich sointensiv wie möglich auf den George des neunzehntenJahrhunderts, und nach einigen weiteren Wellenlinien tratvon neuem eine Veränderung ein. Georges agile Handwar wieder da, und er hatte schon ein paar Sätze insoffene Tagebuch geschrieben.Das Bild stabilisierte sich. Und so rasch er konnte, begannSieben zu lesen, während Georges Hand säuberlichweiterschrieb:4. Juni 1895Heute nacht fand ich mich, nachdem ich schließlich einenäußer-körperlichen Zustand erreicht hatte, im westlichenSchlafzimmer wieder, allerdings in irgendeiner zukünftigen

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Zeit, wie es schien. Ich hin überzeugt, einige elektrischeVorrichtungen vorgefunden zu haben, dem gegenwärtigenStand des Wissens auf diesem neuen Gebiet weitüberlegen. Ich war aber nicht schnell genug, um ihrenMechanismus zu ergründen. In einer seltsamen Vision sahich auch einen Mann in einem Bett schlafen, wo dasmeine hätte stehen sollen. Meine Intuition sagte mir, daßes sich um einen zukünftigen Verwandten handelte. DieseEpisode erinnert mich daran, daß ich vor ein paar Tagen,als ich Lachgas nahm und mich in einem verändertenBewußtseinszustand befand, einem Mann begegnete, dermir sagte, ich hätte einen Enkel. Aber ich habe keinenEnkel, und mein Sohn ist auch nicht verheiratet. Und...was wäre, wenn ich tatsächlich einen künftigen Enkel indem Zimmer schlafen sah, das nun mein Schlafzimmer ist(wenn ich es benutze)? Ich lebe, natürlich wenn Sarahweg ist, praktisch in diesem Versteck im Dachgeschoß,außer in den Morgenstunden, wenn ich mich um meinePatienten kümmere, und das sehr ordentlich, muß ichsagen.Sieben runzelte die Stirn. Soweit war George auf dieserSeite vorangekommen, und nun war dessen Hand imWege. Was war mit den Kodizillen? Und wo war Kypros?Ganz offensichtlich hatte sie ihm seine Missionbeträchtlich erleichtert. Er machte sich über alles Sorgen.Georges Hand war ein paar Zeilen nach unten gerutscht.Ungeduldig las Sieben:Das andere Abenteuer war gleichermaßen mysteriös, undich bin nicht sicher, ob hier Halluzinationen im Spielwaren. Wieder fand ich mich, wie es schien, im westlichen

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Schlafzimmer in einer fernen Zukunft, nur daß das Zimmerzu einer Ausstellung in einem Museum gehörte. DasMobiliar war eine höchst eigenartige Mischung ausEinrichtungsgegenständen, die sich jetzt in meinemSchlafzimmer befinden, und Dingen, die ich in dervorherigen Episode darin gesehen hatte. Menschen, diegewiß sehr lebendig schienen, besahen sich das Zimmer.Sie waren äußerst leicht gewandet, und obwohl ich allesandere als engstirnig und kein Moralapostel bin, war ichdoch etwas schockiert und dachte zunächst, ich befändemich in einem Bordell.Wieder war Georges Hand im Wege, und Sieben schriefast auf vor Ungeduld. Spürte George, wenn er, Sieben,Georges Hand sah, daß jemand ihn beobachtete? Konnteer, Sieben, in diesen magischen Raum hineinreichen unddas Tagebuch herausziehen? Sieben mußte grinsen, alser sich Georges überraschte Reaktion vorstellte.(Wahrscheinlich würde er »Sapperlot!« brüllen.) Aber waswürde das nützen? Nichts. Also wartete er.Georges Hand zitterte. Er schrieb nun schneller und warsehr aufgeregt.Und nun kommen wir zum Kern der Sache. Die Stimmeeines Mannes drang mittels einer mir unbekanntenApparatur aus der Wand. Diese Stimme sprach über »dieKodizille" mit einer Betonung, die dem Ausdruck »dieKodizille« eine große Bedeutsamkeit zumaß. Wenn ichmich recht entsinnet wurde etwas über »Den George*oder »in der Zeit von George« oder etwas in diesem Sinngesagt. Aber der Eindruck, den diese Worte auf michmachten, ist nur schwer zu beschreiben. Sie drangen mir

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bis ins Innerste meiner Seele. Die ganze Angelegenheitmag natürlich eher symbolisch als buchstäblich zuverstehen sein, und ich habe bereits genügend Erfahrungmit verschiedenen Bewußtseinszuständen, um zu wissen.,wie heimtückisch Halluzinationen sein können - wenn mansie als real ansieht. Aber seither (und hier zeigte dieHandschrift große Erregung) begann ich mit meinenBewußtseinsabenteuern. Ich fühle, daß sie einen Grundhaben. Und heute nacht wußte ich, daß ich Die Kodizilleentdecken muß, was immer das ist.Mein einziger Anhaltspunkt ist die eben erwähnte ferneZukunft. Und ich habe keine Gewißheit, daß ich dorthinzurückkehren kann. Ich habe verschiedene Methodenausprobiert, um meinen Körper zu verlassen, bis ich dasletzte Mal Erfolg hatte. War es auch diese letzte Methode,derer ich mich bediente, die mich in diese andere Zeitversetzte? Natürlich werde ich weiterexperimentieren,denn selbst, während ich jetzt schreibe, bin ich von einemGefühl der Dringlichkeit erfaßt, das ich nicht verstehe.Bald werden meine Frau und mein Sohn aus Europa zu-rückkehren, was meine Gelegenheiten zumExperimentieren drastisch einschränken wird.Und Sieben dachte daran, daß demnächst Jean und dieKinder zu George dem Dritten zurückkehren würden.Er konnte nicht glauben, was er da las. George hatte dieKodizille noch gar nicht entdeckt! Und er haue gehofft,alles über sie von George zu erfahren, um sie an Fensterim zwanzigsten Jahrhundert weitergeben zu können.Reichlich entsetzt starrte er wieder auf die Tagebuchseite.Der Kreis im Raum war kaum groß genug dafür, und

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wieder war Georges Hand im Wege. Aber Sieben konntegerade doch jenes Datum oben auf der Seite erkennen -4. Juni 1895 - und verwirrt schüttelte er den Kopf. Es warder 4. Juni 1985 im Dachgeschoß und in der Welt vonGeorge, Josephine, Gregory und Fenster. Somit hatteGeorge der Erste offensichtlich seine außerkörperlicheErfahrung gemacht, als Fenster, Gregory und er noch vorkurzer »Zeit« in der Küche saßen, und bevor Georgewieder aufgestanden war, um nachzusehen, was los war.Siebens Gedanken kamen und gingen, aber seit ihmklargeworden war, daß George die Kodizille noch gar nichtentdeckt hatte, ließ ihn ein Gefühl dunkler Vorahnungnicht mehr los. Dieses Gefühl wurde zunächst nur tieferund schneidender. Dann jedoch verdunkelte sich der Kreisim Raum, in dem das Tagebuch zu sehen war,schimmerte auf, erzitterte und schien schließlich ganz inDunkelheit hineinzuwirbeln. Er wurde zu einem dunklenKreis aus Raum, dunkler als der Raum selbst undirgendwie bedrohlich. Welche wahrscheinlichen Welten,so fragte sich Sieben, würden, wenn die Kodizille nicht»rechtzeitig« entdeckt wurden, ausgelöscht werden?Konnten sie wirklich völlig verschwinden? Und wiekonnten die Kodizille im fünfundzwanzigsten Jahrhundertauftauchen und die Grundlage für eine ganze Welt bilden,wenn ihr Keim nicht schon in der Vergangenheit gelegtworden war? Sieben sah sich ängstlich um. Der schwarzeKreis... erweiterte sich, während er zugleich nochschwärzer wurde und intensiver. Und anziehend.Sieben glaubte Kypros rufen zu hören: »Schau weg!Schnell!« Aber es war schon zu spat. Ereignisse traten ein

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und hoben sich selbst wieder auf mit solch rasenderGeschwindigkeit, daß Sie-140ben instinktiv wußte, daß er in Schwierigkeiten war.Blitzartig entließ er seine mentale Gestalt aus seinemphysischen Körper, so daß er nur noch unsichtbaresBewußtsein war. (»Gerade noch rechtzeitig«, sagteKypros später. »Denn dieser Kreis oder dieses Loch —oder was immer - war wie ein... multidimensionalerFleischwolf. Jegliche Form würde von ihm... na ja,zermanscht werden.«)Sein Bewußtsein wirbelte herum, kopfüber, von innennach außen gestülpt, seitwärts verkehrt... wennBewußtsein eine Form hatte, dann wurde es aus dieser»herausgezogen«. Sieben fühlte sich erst lang, dann kurz,dann groß, dann klein, dann ganz und gar »nicht da«. DerKreis, der sich, wie es schien, durch das ganze Universumhindurch aufgetan hatte, war wie ein ewig gierigesRaubtier des Raums. Sieben hatte das Gefühl, in einenunendlichen Tunnel zu fallen. Aber auch diese Vorstellungpaßte nicht, denn er hatte auch das Gefühl von so starkverdichteter Zeit, daß, während ein Teil von ihm durchdiesen Tunnel fiel, ein anderer Teil ewig an dessenSchwelle verharrte, unfähig, sich zu bewegen. Und dieserTeil wußte nichts vom Selbst, das durch den Schachttrudelte.Schlimmer noch: So rasch diese Ereignisse aucheintraten, sie machten sich zur selben Zeit ungeschehen,so daß ein anderer Teil von ihm das Gefühl hatte, alstaumelte er zurück aus dem Loch, in das er geradeeingetreten war. Und nicht nur das. Irgendwo unterwegs

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war auch der Raum verschwunden, das heißt, Sieben war,als hätte sich der Raum in sich selbst verknotet... oder alsverknote er sich selbst im Raum, so daß selbst seine Ge-danken keinen psychischen Raum mehr hatten, sondernständig ineinander stießen, aneinander klebten, bis sie nurnoch ein Klumpen von Gedanken waren wie Stachelneines Stachelschweins - und dann verschwand auch das.Inneres Schweigen.Sieben wußte, daß er rasend schnell dachte - aber er regi-strierte keine Gedanken. Er war er selbst, und er fühltesich seltsam ruhig und gelassen, obwohl da nichts war,woran er sich hätte messen können. Er existierte... ohneBezug zu etwas. Woher weiß ich also, daß ich existiere?Auch diesen Gedanken dachte er, registrierte ihn abernicht. Er wußte nur, daß... das Denken offensichtlichunabhängig von ihm existierte, keine Verbindung mit ihmhatte. Und »zu gleicher Zeit« fühlte er sich in diesemSchweigen, in dieser Stille, von einer schier unerträglichenEnergie umgeben, von Energiefällen wie Wasserfällen.Und diese Energie fühlte sich solide an, wenn ihreBewegung auch die Ränder seines Bewußtseins zumVerschwimmen brachte.Diese Erfahrung schien kein Ende zu haben. Er fiel undfiel durch diesen Schacht mit beweglichen Wänden ausEnergie. Und obwohl er das wußte, hatte er doch nichtdas Gefühl zu fallen. Vielmehr fühlte er sich in derSchwebe, unbewegt und sich zugleich bewegend. Sogardie Dunkelheit um ihn herum bewegte sich, wechselte inihrer Intensität, erzitterte, nahm Formen der Dunkelheit inder Dunkelheit an.

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Sieben war jenseits von Furcht. Er begann sich als Teildessen zu fühlen, was immer an seltsamen Vorgängensich auch hier ereignete, so als seien er und dieseVorgänge eins.Seine Gedanken hatten sich für ihn komprimiert und unzu-gänglich angefühlt. Jetzt begannen sie innerhalb seinesBewußtseins zu kreisen. Gleichzeitig fühlte er einephantastische Anziehung aus einer Ferne »vor ihm«, undnun hatte er das Gefühl zu fallen. Schnell zu fallen. Im»nächsten Moment« sah er einen Lichtstreif von solcherHelligkeit, daß ihn, so dachte er, physische Augen nichtertragen könnten. Und bevor er sich noch darüberwundern konnte, war da ein anderes Licht, ein schweben-des Gefühl, ein merkwürdiger ploppender Laut - und erfand sich in etwas wieder, das, wie er wußte, ein anderesUniversum war.Er schluckte (bildlich gesprochen). Er befand sicheindeutig in einem anderen Universum oder vielmehrNichtuniversumy denn überall spürte er Negation. DieAtmosphäre war merkwürdig, die Luft schwer und reglosstickig. Und doch war diese Welt durchaus physisch.Überall häßliche, verkrüppelte Büsche, meilenweit grauerSand, und der Himmel war von einem bedrohlichenPurpurgrau. Eine sich endlos erstreckende Nebeldeckehing fast bewegungslos ein paar Fuß über dem Bodenund traf sich in der Ferne mit den dichten Schichten despurpurgrauen Himmels.Es war schwer zu sagen, ob es Tag oder Nacht war- dieseWelt schien in ewiges Zwielicht getaucht zu sein. Die inder Ferne sichtbaren Berge waren bar jeder Vegetation,

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ihre kahlen Felsen und Vorsprünge wirkten wieunheimliche Stufen ins Nichts. Je länger Sieben so stand,desto stärker spürte er die drückende Atmosphäre.Obwohl ohne Körper, hatte er das Gefühl, Tonnen zuwiegen. Oder - nein, es war, als ob seine GedankenTonnen wögen. Als ob sein psychisches Wesen an sicheine zu schwere Bürde sei, um sie zu ertragen.Bang sah er sich genauer um. Er befand sich in einer Artalter Festung, im ersten oder zweiten Stock. Über sich saher jetzt weitere, halbzerstörte Stockwerke. Er stand aufeinem schmalen Sims, augenscheinlich alles, was indiesem Teil der Festung übriggeblieben war. Sie war ausHolz errichtet worden, das nun weitgehend verfault war.Und als Sieben blinzelnd in die Ferne sah, erkannte er,daß Überreste von Hunderten solcher Bauten in wirrerAnordnung auf dem grauen Boden herumlagen, so gut indiese verwitterte Welt eingepaßt, daß er sie zunächst nichtals ehemalige Gebäude erkannt hatte.Ein blinkendes Metallstück zu seinen Füßen nahm seineAufmerksamkeit gefangen. Es war der abgebrochene Teileiner Plakette, Und in verwitterten Buchstaben stand dazu lesen: »541. Schlacht, V. Weltkrieg«.Fünfter Weltkrieg? Sieben spürte, wie ihm schwindligwurde. Diese Bauten - oder was von ihnen übrig war-waren also Festungen gewesen. Und als ihm dieseErkenntnis kam, zeigten ihm seine inneren Sinne plötzlicheine Szene: Tausende von Männern und Frauen, die vorTausenden von Jahren in dieser Gegend lebten undkämpften, die Festungen errichteten und wiederaufbauten

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- eine buchstäblich zum Untergang verdammte Spezies,die starb an...An Verzweiflung. Es war ein so starkes Gefühl, daßSieben schrie. Ihm wurde nun klar, was diese Welt, diesesUniversum war. Es war geschaffen von der Verzweiflungdes Menschen, es war ein künftiges wahrscheinlichesUniversum, in dem der Mensch keine der Fragenbeantwortete, die ihn in Georges Zeit geplagt hatten.Sieben sah zum Himmel hinauf. Keine schwebendenStädte, kein Zeichen der Technologie des Menschen oderseiner Unternehmungslust. In dieser Realität hatte dieMenschheit nicht lange genug überlebt. Und in diesemMoment bemerkte Sieben dieses Schweigen. KeinVogelruf, kein Insektensummen. Kein Murmeln desWindes. Keine Ameisen auf dem Boden. Es war derEndpunkt jener Version, die er schon früher in seinenschrecklichsten Visionen erfahren hatte.Und Sieben wußte, daß niemand diese Atmosphäre derVerzweiflung ertragen konnte. Sie zerrte an seinemBewußtsein. Er fühlte, wie sich seine Gedankenverdunkelten. Trostlosigkeit trübte sogar sein inneresSehen, bis er fürchtete, es würde für immer durch einenSchatten verdunkelt sein. War es das, was die Menschenfühlten, wenn die Verzweiflung sie überkam? KannteGeorge dieses Gefühl? Oder Fenster? Oder Diggs oderJosephine? Dieses Gefühl, als ob nichts zählte und nichtseinen Sinn hätte? Sie sprachen nie darüber, nicht mit sichselbst und nicht untereinander, dachte Sieben verwirrt.Und Monarch, was war mit ihm?

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Und als Sieben jetzt an Monarch dachte, fielen ihm wiederdie Kodizille ein. Dies war ein Universum, so wurde ihmklar, in dem die Kodizille nie entdeckt worden waren undnicht existiert hatten. Sie waren der Menschheit psychischunsichtbar geblieben. Und was ist mit dem Christentum?fragte sich Sieben, während er gegen die immerbedrückender werdende Atmosphäre ankämpfte. Was istmit dem Christentum?Plötzlich sah Sieben vor seinem geistigen Auge hell unddeutlich Fenster als Christus sprechen, so wie er es inGeorges Küche getan hatte, und dann sah er ihn fürMonarch sprechen. Und Sieben schrie auf. DennFenster... war er selbst, Fenster, und doch war er aucheine irdische Personifikation in Georges Zeit. DasChristentum, so wie man es kannte, war in einerSackgasse. Die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts warnoch immer nicht erwachsen genug, um Wunder alsTatsachen zu akzeptieren. Und so wurde Christus zueinem Wahn. Und der Mensch mußte Schritte tun, die ihnüber das, was er war, hinausführen würden, um...Monarch zu werden. Der Mensch mußte die Kodizilleentdecken.Sieben hatte keine Erinnerung, sich je so hilflos undverloren gefühlt zu haben. Wie konnte eine einzelneSeele, selbst eine Überseele, eine Botschaft von soentscheidender Bedeutung entdecken - wo sie nichteinmal wußte, was die Kodizille genau beinhalteten oderwie sie zu finden waren? Und wenn er sie nicht fand,bedeutet das, daß diese schreckliche Welt die Zukunft vonGeorges Erde sein würde? Die Last der Verantwortung

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schien ihn schier zu zermalmen, aber Sieben sagte sich,daß er sie auf sich nehmen würde, wenn er mußte, wennes keinen anderen Weg gab, wenn...»Ich werde die Kodizille finden«, schrie er und schnapptegleich darauf überrascht nach Luft. Die Luft schien sichum ihn herum noch mehr zu verdichten und einen engenKreis um ihn zu bilden, der von einer neuen,magnetischen Dunkelheit erfüllt schien. Und bevor er nochverstand, was da vor sich ging, schien er wieder durchjene tunnelhaften Dimensionen zu fallen, aus denen ergerade erst aufgetaucht war.Raum wurde zu Zeit und Zeit zu Raum. SiebensGedanken waren plötzlich von einer unglaublichen Masse- und schienen dann ganz zu verschwinden. Dann wiedersagte er sich, daß es ihm gleich war, was passierte. Erwürde die Kodizille finden. Nur einmal, als seineGedanken in aller Deutlichkeit auftauchten, fragte er sichin sehnsüchtiger Erinnerung, wo Georges Welt nun war.Und wo das Zimmer im Dachgeschoß, in dem sich seineigener Körper im zwanzigsten Jahrhundert befand.Existierte Georges Welt überhaupt?War sie da, so daß er in sie zurückkehren konnte?

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Kapitel 15Kypros führt Sieben in Bezugssystem Zwei ein, undGeorge der Erste besucht das Museum der Zeit

»Natürlich existiert Georges Welt«, sagte Kypros.Sieben hatte, als er Kypros' Worte hörte, das Gefühl, (anden Haaren) am anderen Ende dieses mysteriösenTunnels herausgezogen zu werden. Wieder einmal fügtensich Zeiten und Orte zusammen und ergaben Sinn, wieauch seine Gedanken wieder in klaren Sätzen kamen.»Du hast die Grammatik der Energie noch nicht gelernt«,sagte Kypros. Sieben hörte sie, konnte aber ihreGegenwart noch nicht spüren.»Grammatik der Energie!« rief Sieben mit innerer Stimme.»Das war eine grauenhafte Erfahrung.«»Du bist nur mitten in einen Prozeß geraten, den Prozeß,durch den sich Energie in atomarer Struktur ausdrückt«,antwortete Kypros' Stimme.»Aber wo bist du?« fragte Sieben gereizt. »Und wo binich? Ich fühle mich irgendwie in der Schwebe...« Er hieltinne, denn plötzlich spürte er, wie Teile von ihmzusammenkamen und sich ihm anschlössen wieTausende von leuchtenden, hüpfenden Energiepfeilen, diesich mit seinem Bewußtsein vereinten. »Oh«, sagte er mitkläglicher Stimme. »Oh. Jetzt erinnere ich mich.«»Gut, erinnere dich an noch mehr, und dann bist du beimir in Bezugssystem Zwei«, erwiderte Kypros.

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»Woran erinnern?« dachte Sieben, aber noch während erdiese Frage stellte, versammelten sich diezurückkehrenden Energiepfeile so rasch in seinemBewußtsein, daß er die Frage vergaß. Er brauchte sienicht mehr. Und nun, da die Energie in sein Bewußtseineingetreten war, rief Sieben: »Natürlich«, und sofort kamihm eine ganze Serie von Bildern. Gleichzeitig sah erKypros auf ihn warten - und atmete schwer, als sichBezugssystem Zwei um ihn herum formierte.Sie standen in einem natürlichen Garten, in dem jedeBlume die schönste zu sein schien, die Sieben je anirgendeinem Ort in irgendeiner Zeit gesehen hatte. JedesBlatt schien ganz intensiv es selbst zu sein und dochzugleich mehr als ein Blatt. Der Garten war umgeben voneinem Wald so voller Leben, wie Sieben ihn sich nurvorstellen konnte. Jeder Baum von entzückender Anmut.Er wußte kaum, wo er zuerst hinschauen sollte. Und dieLuft schien von so süßem Duft erfüllt, als sei sie dieEssenz, aus der sich die Luft aller Sommer speiste.»Da du eine Erden-Seele bist«, sagte Kypros, »dachte ichmir, es würde dir gefallen, wenn Bezugssystem Zwei soaussieht.« Sieben war so bezaubert, daß er zu keinerAntwort fähig war. Die Landschaft schien sich ständig zuverändern, so als ob sich eine Million Sommer erschaffenwollte.Kypros hatte sich auch, was ihre eigene Gestalt anging,selbst übertroffen, wenn es Sieben auch unmöglich war,herauszufinden, was genau sie da mit sich veranstaltethatte. Nicht nur daß sie aussah wie das Urmodell allerweiblichen und männlichen Elemente - stattlich und von

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zarter Schönheit, athletisch und zierlich, verband sie alleMerkmale beider Geschlechter in einer Gestalt-, dieseEigenschaften schienen auch in einem unvorstellbarenMaß intensiviert zu sein...»Du bist auf der richtigen Spur«, sagte Kypros.»Aber... alles sieht so... brandneu aus«, rief Sieben. »Alsob es in diesem Moment erschaffen worden sei. Ichmeine, diese eine Rose - schau, dort, die dritte in derersten Reihe. Sie ist noch eine Knospe, also sieht sienatürlich neu aus. Aber daneben wächst eine viel größere,schon aufgeblühte Rose, und die sieht auchfunkelnagelneu aus!«»Genau!« Kypros zeigte ein ganz und gar unschuldigesund doch äußerst rätselhaftes Lächeln.»Und die älteren Baume sehen frisch... oder neu aus,genauso wie die jungen Bäume«, sagte Sieben nochverwunderter.»Genau.« Kypros* Lächeln war noch rätselhafter. »Gleichhast du es.«Und Sieben rief: »Und du siehst immer großartig aus,wenn du willst. Aber jetzt bist du so sehr... mehr duselbst... du siehst fast aus wie das Urmodell deiner selbst-« Siebens Gedanken wirbelten. Innere Einsichten stelltenatemberaubende Verbindungen her. Und er rief: »Dubist... die Quelle, aus der dein Selbst entsteht!«Und Kypros sagte sehr sanft: »Und hier, Sieben, bist dudas auch.« Und Sieben wurde klar, daß ihre Wortebuchstäblich wahr waren. Er fühlte, wie er selbst... ausseiner eigenen größeren Quelle erwuchs, die Quelle war,aus der er ewig hervorging.

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Und im selben Moment spürte er, wie er sich in reinebewußte Energie verwandelte - seine Identität sich demUniversum einprägte. Energie, die zu dem wurde, was erwar, in einem unendlichen Prozeß. Sein Bewußtsein warunermeßlich, doch jedes Detail war scharf und klar, als obnur es allein existierte. Und innerhalb dieses Bewußtseinssah Sieben George den Ersten und George den Drittenund Fenster, der auch Monarch im fünfundzwanzigstenJahrhundert war.»Sie sind eigenständig! Unverletzlich sie selbst, jeder wieniemand oder etwas sonst im Universum«, rief Siebengeradezu ekstatisch. »Aber sie sind auchKomplementäraspekte voneinander.«»Da ist noch mehr«, hörte er Kypros' Stimme, und dieStimme verwandelte sich in Energiewellen, die sieumspielten. Aus den Wellen wurden funkelnde Gestalten.Sieben schnappte wieder (bildlich gesprochen) nach Luft,denn vor ihm standen beide Georges und Fenster undMonarch... und Josephine und Gregory Diggs! Nur daßdiese Sterblichen - alles seine Persönlichkeiten, wie ihmnun klar war - mehr als Sterbliche waren, so wie auch dieRosen und Bäume mehr als Rosen und Bäume waren. Siewaren multidimensionale Urmodelle ihrer selbst, strahlendvor unerschöpflichen Potentialen und Fähigkeiten. Siewaren personale, psychische Urquellen, aus denen sie diepersonifizierte Energie des Universums schöpften.Und während dies geschah, nahm Siebens eigenesBewußtsein eine funkelnde mentale Form nach derändern an. Er war Fenster und Josephine und Diggs.Seine Energie formte automatisch, glanzvoll und ganz

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spontan ihre Leben. Sogar in diesem Moment fühlte ereinen Teil von sich in einer Zelle in Gregory Diggs Arm-beuge ruhen, während George in der Welt deszwanzigsten Jahrhunderts schlief -»Und noch mehr«, sagte Kypros. Und Überseele Siebenfühlte, wie seine Identität in eine neue, andereUnermeßlichkeit gewirbelt wurde - und war eingebettet inein klares psychisches Universum, überall unterstützt undgetragen. Sein Gedächtnis belebte sich sofort. Natürlich,dachte er (ohne im irdischen Sinn zu denken). Nunerinnerte er sich an seine eigene Geburt - und ständigeWiedergeburt - in diesem inneren, unbeschreiblichenUniversum, das sich selbst zur Individuation brachte.Bezugssystem Zwei. Und er fühlte sich selbst intakt, fühltein sich mehr Kräfte und Potentiale und Wünsche undZiele, als er wußte, daß er sie hatte. Und er wußte, daß ersich in der mentalen Realität von Kypros befand.Er glaubte nicht, noch mehr in sich aufnehmen undbegreifen zu können, aber nun öffnete sich auch Kypros'Realität, und er erahnte noch Großartigeres, von dem sienur wiederum ein Teil war. Und doch bewegte sich seineIdentität in alldem unangetastet, jubelnd, sicher, kühn undvoller Überschwang. Er hatte das Gefühl, das jüngsteWesen im Universum zu sein und das Modell für seineigenes künftiges Wachstum gezeigt zu bekommen.»Und da ist noch mehr«, sagte Kypros. »Paß gut auf.«Und für einen Moment verschwand alles, außer einerkleinen irdischen Hütte an einem Hügel, der plötzlich ausdem Nichts erschien. Und fast sofort schienen eine Millionanderer Gebäude an gleicher Stelle jener Hütte überlagert

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zu werden, und die Umgebung erweiterte sich stetig.Sieben zählte wenigstens hundert Städte, von denen einejede von der Hütte aus ihren Anfang nahm oder aus ihrhervorging. Und dann entstand aus jedem funkelndemGebäude, das er sah, ein neuer Bau. Er sah zu vieleverschiedene Stile und Kulturen, um sie noch zählen zukönnen. Er sah byzantinische Paläste mit ihrenPrachtstraßen, schwebende Städte desfünfundzwanzigsten Jahrhunderts, herrliche europäischeund indische Schlösser, Tempel und mittelalterlicheDörfer, arabische Basare. Und immer blieben dieseZivilisationen sie selbst, während doch in jeder von ihnenalle anderen enthalten waren.»Das Modell jeder möglichen Zivilisation existiert hier«, er-klärte Kypros. »Und jeder möglichen exzentrischenVariation wird Raum gegeben.«»Die Kodizille!« schrie Sieben. »Sie müssen einZivilisationsmodell sein.«Und lächelnd antwortete Kypros: »Genau.«»Gut, dann muß ich sie finden«, rief Sieben. »Und zwarsofort.«»Schscht«, sagte Kypros. »Ich werde es dir leichtmachenund alles weglassen, was nicht zu diesem Problem gehört.Schau.«Und Sieben sah George den Ersten in seinemStudierzimmer im Dachgeschoß wieder mal beimVersuch, seinen Körper zu verlassen. Das Bild war klarund detailliert und sinnlich wahrnehmbar, so daß Siebensogar den Flieder im Garten riechen konnte.

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Und George verließ seinen Körper. »Ich muß dieseKodizille finden, was immer das ist, bevor es zu spät ist«,murmelte er vor sich hin. Sein Traumkörper war in einementale Version seines roten Lieblingsschlafrocksgewandet. Halb ging, halb schwebte er den Flur entlangund dachte: »Ich muß in diese Zukunft gelangen, wo ichdas Museum sah.«Und als George diesen Gedanken dachte, hielt Siebenüberrascht den Atem an (bildlich gesprochen), dennGeorge ver-l schwand aus dem Bild des neunzehnten undtauchte in einem an-J grenzenden Bild desfünfundzwanzigsten Jahrhunderts wieder] auf. Dort stander nun vor dem Museum.»Ich gebe zu, ich bin verblüfft«, sagte Sieben. »Aber vonhier aus ist so leicht zu erkennen, wie es gemacht wird.Ich hätte mir gar nicht die Mühe machen müssen, mit derZeit herumzujonglieren oder von Atom zu Atom durch denRaum zu hüpfen. Ich brauche nur... meine Absicht zubekunden...«»Und in Bezugssystem Zwei kannst du jede Zeitperiodedurchreisen, die in Bezugssystem Eins existiert, was alleirdischen Dimensionen umfaßt«, fügte Kypros hinzu.George in seinem Traumkörper schüttelte in glücklicherVerwunderung den Kopf. »Und wie habe ich das nungemacht?« fragte er sich. »Und - Sapperlot - was macheich als nächstes?«Sieben grinste. Da war das Museum - die Version vonGeorges Haus im fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Undfür Sieben wurden die Wände plötzlich durchsichtig. Ineinem oberen Raum, der angeblich eine Nachbildung von

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Georges Arbeitszimmer war, stand eine Statue, den Blickaus dem Fenster gerichtet. Sieben sah auch die anderenRäume, die alle mehr oder weniger eine Ähnlichkeit mitden ihm vertrauten Räumen im zwanzigsten Jahrhundertaufwiesen. Aber ihm fiel noch etwas auf— ein Raum untenim Keller. Er wollte die Einzelheiten genauer erkennen,und schon rückte das Bild näher heran. Auf einemgoldfarbenen Schildchen las er: »Der alteLuftschutzkeller«. Im Innern des Raums standen ein paarGlasvitrinen. Sieben betrachtete sie eingehender. Aufeinem Schildchen stand: »Kopie des Mikrofilms mit denKodizillen, bei der Ausgrabung 2550 entdeckt«.»Mikrofilm?« wollte Sieben schon sagen, als er einegroße, mit Schriftzeichen bedeckte Tafel entdeckte. Obenstand: »Die Kodizille«. »Da sind sie ja«, rief er Kypros zu.»Jetzt muß ich nur noch...«Kypros schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht fürGeorge tun. Er muß sie allein finden... und ihre Botschaftin seine eigene Version übertragen.«Sieben fragte sich, was das wohl wieder zu bedeutenhatte, rief aber George geistig zu: »Geh in den Kellerrunter.«George zog seinen Schlafrock fester um sich. »Ich glaube,ich geh erstmal nach unten, falls ich hineinkomme«,überlegte er. Aber sein Bewußtsein schwankte. In einemAnflug von Angst dachte er an seinen Körper. Hatte ersich schon zu lange von ihm entfernt? Nein - resolut sagteer sich, daß alles in Ordnung war. »Es ist alles inOrdnung«., murmelte er zum zehntenmal, aber irgendetwas sagte ihm, daß es gar nicht in Ordnung war.

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Er merkte, daß er Kopfschmerzen hatte. Imaußerkörperlichen Zustand? Schon drauf und dran, durchdie Eingangstür des Museums zu driften, wurde er sichgleichzeitig eines weißen Lichts gewahr, anscheinend inseinem Kopf. Das Licht erschreckte ihn, und seinBewußtsein flog zu seinem Körper zurück.Verflucht! dachte George. Da hab ich nun ewig gebraucht,um mich in einen passablen außerkörperlichen Zustand zubringen, jetzt kann und will ich die Gelegenheit nichtverpassen! Ich muß die Kodizille finden. Das Gefühl vonDringlichkeit überraschte ihn nicht. Seit er diese Wortezum erstenmal gehört hatte, war er von ihnen besessen.Er konzentrierte sich, so stark er konnte.Und nun stand er im Innern des Museums. »Geh dieTreppe runter«, sagte er schwankend zu sich selbst.Wieder erschien das Licht, diesmal intensiver als zuvor -und sein innerer mentaler Raum schien sich... aufseltsamste, erschreckende Weise auszudehnen, und dieKopfschmerzen kehrten mit doppelter Wucht zurück. Soetwas war ihm noch nie passiert.Er schwebte nach unten. Treppensteigen war unter seinerWürde. Er nahm sich zusammen. Wenn er nur noch einbißchen weiterkam... Was konnte schließlich schonpassieren? Schlimmstenfalls würde er einfach in seinenKörper zurückplumpsen. Oder? War er nicht doch schonzu lange weg?Uberseele Sieben schrie ihm geistig zu: »Kehr in deinenKörper zurück«, aber George hörte ihn nicht, grimmigentschlossen, an die Kodizille zu kommen. »Er ist

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tatsächlich zu lange draußen gewesen«, sagte Sieben zuKypros. »Warum nimmt er die Warnung nicht ernst?«»Weil er stur ist - wie noch jemand, den ich kenne«,antwortete Kypros.George sah die Tafel. Das Licht wurde geradezublendend, und für einen Moment fürchtete er, er könnte indessen erahnter Unermeßlichkeit verschwinden. SeinBewußtsein fühlte sich mit unglaublicher Geschwindigkeitzu seinem Körper zurückgezogen. Er sah hinunter... SeinTraumkörper kreiste über seinem physischen Körper,dann einen Moment lang nichts mehr- und George setztesich blinzelnd auf.Kypros und Sieben wurden zu zwei kleinen Lichtpunktenauf Georges Gaslampe aus Messing.»Gut, er ist jetzt in Ordnung«, sagte Sieben. »Aber ich binnicht stur, falls du das gemeint haben solltest.«George langte nach seiner Pfeife.»Darüber unterhalten wir uns später«, sagte Kypros. »ImMoment will ich sichergehen, daß du weißt, was du wegender Kodizille unternehmen mußt.«»Klar doch.« Sieben grinste. »Ich denke zumindest, daßich es weiß. Auch wenn George es diesmal nicht geschaffthat, muß ich ihm irgendwie dabei helfen, sich die Kodizilleaus dem Museum im fünfundzwanzigsten Jahrhundert zubeschaffen und sie in seine Zeit zurückzubringen.«»Er kann die Tafel nicht zurückbringen«, fiel ihm Kyprosins Wort. »Dieser Gegenstand kann nicht in Georges Zeitexistieren, aber Ideen können es...«»Du meinst, er muß den Text auswendig lernen?« riefSieben.

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»Nicht unbedingt.«»Aber er kann sich unmöglich all das Zeug merken, dasich da auf dieser Tafel gesehen habe«, protestierteSieben. »Er würde auf jeden Fall einiges vergessen undsich an anderes falsch erinnern, und...«»Er wird alles ins Schema seiner Zeit übersetzen«, sagteKypros sanft. »Danach müssen die Kodizille allerdings inder Zeit von Georges Enkel entdeckt werden.«George klopfte seine Pfeife aus, legte sich hin, schliefprompt ein und begann zu schnarchen.»Aber wie?« rief Sieben. »Jetzt bin ich völligdurcheinander. Und wenn ich das nicht auf die Reihekriege, dann wird diese schreckliche wahrscheinliche Erdein der zukünftigen Welt von George dem DrittenWirklichkeit werden.« Er stieß einen Seufzer aus.»Kypros, diesmal hast du mir zuviel zugemutet.«»Unsinn.« Kypros Blick war auf nichts im Besonderengerichtet. »Du kannst immer mehr tun, als du glaubst. Duweißt jetzt über Bezugssystem Zwei Bescheid. Es ist docheigentlich ganz einfach. George muß die Kodizille imMuseum des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts finden undsie in sein Tagebuch der 1890er Jahre schreiben, damitsein Enkel sie im zwanzigsten Jahrhundert imDachgeschoß finden, auf Mikrofilm aufnehmen und sie imLuftschutzkeller deponieren kann. Dann können sie imfünfundzwanzigsten Jahrhundert von Monarch gefundenwerden, da sie sich tatsächlich in dieser wahrscheinlichenZukunft befinden. Nichts könnte einfacher sein!«»Aber was passiert, wenn ich es nicht schaffe? Für michhört sich das alles hoffnungslos kompliziert an!« Sieben

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nahm seine Gestalt eines Vierzehnjährigen an, um mitallem Nachdruck auf seine Unerfahrenheit in diesenDingen zu verweisen, und stand da, verzweifelt undniedergeschlagen. »Und was ist mit John Fenster undJosephine Blithe und Gregory Diggs und ihren Pro-blemen?« fragte er düster. »Was haben sie mit alldem hierzu tun?«Kypros nahm ihre Lieblingsgestalt einer Lehrerin an, undihr Gesicht wechselte von dem einer uralten, wissendenFrau zu dem einer jungen Frau, in dem die Weisheit desAlters aufschien. Sie lächelte und sagte sanft: »Sieben,alle Antworten bekommst du nicht von mir. Aber wenn ichdu wäre, würde ich jetzt etwas unternehmen. Zum einenhast du deinen Körper im Dachgeschoß des zwanzigstenJahrhunderts zurückgelassen, und zum ändern wirbeln imMoment die Wahrscheinlichkeiten nur so herum, dennGeorge der Dritte ist gerade dabei, die Tür zum Dachge-schoß zu öffnen. Du solltest dich also schleunigst in dierichtige Zeit zurückbegeben.«»Jetzt bin ich so konfus, daß ich nicht mehr weiß, wie«,klagte Sieben. »Ganz bestimmt will ich nicht wieder durchdiesen Tunnel, wenn es nicht unbedingt sein muß.«Kypros seufzte. »Denk an Bezugssystem Zwei. Esbefindet sich im Innern jeder Zeit und jeden Orts.Konzentrier dich auf,I die Zeit, die du willst, und dukommst in ihr heraus.« l»Bist du sicher?« fragte Sieben zweifelnd. »Und warumhast du mir nicht schon früher von Bezugssystem Zweierzählt?«

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»Das kann ich dir im Moment nicht erklären, aber ja, ichbin mir der Anweisungen, die ich dir gerade gab, ganzsicher. Sie funktionieren allerdings nicht, wenn du nichtauch sicher bist.«»Ich bin sicher«, antwortete Sieben schnell. Er stellte sichBezugssystem Zwei im Innern aller Zeiten und Orte vorund sagte dann mental: »Ich will dieses Zimmer unddiesen nächtlichen Zeitpunkt, aber am 4. Juni 1985.«Um sich besser konzentrieren zu können, schloß er seinementalen Augen und öffnete sie wieder, da nichts zupassieren schien. Es hatte funktioniert! Da war er ja, seinfamoser, leerer Körper aus dem zwanzigsten Jahrhundert.Sieben grinste und tauchte ein - gerade rechtzeitig.Die Tür öffnete sich, George der Dritte steckte den Kopfherein und polterte: »Es wird schon hell. Hast du dieverdammten Tagebücher gefunden?«

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Kapitel 16Geistesbrüder, Nachforschungen im Traum, und Paranoiaaus der Vergangenheit

Die Kodizille waren so sehr Teil von Monarchs geistigemLeben und so selbstverständlich, daß er sich nuraußerordentlich schwer vorzustellen vermochte, wie dieWelt ohne sie ausgesehen hatte. Er wußte, daß dieHistoriker in ihrer Darstellung des menschlichenFortschritts große Lücken hinterlassen hatten. Undwährend er nun mit Vorbereitungen für die Fünfhundert-jahrfeier der Kodizille beschäftigt war, dachte er mit großerUnruhe an diese Welt vor den Kodizillen.Er hatte darüber nachgesonnen, was für eine wahrhaftspektakuläre Leistung Der George in Anbetracht desgeistigen Umfelds seiner Zeit vollbracht hatte. Da war derUmstand, daß damals, wenn überhaupt, nur sehr wenigeLeute ernsthaft mentale Reisen unternahmen, und auchdie Tatsache, daß die ganze Erziehung undWeltanschauung Des George seinen persönlichenintuitiven Erkenntnissen absolut zuwiderlaufen mußten.Monarch, der in der Eingangshalle des Museums stand,fühlte nun diese vertraute, erregende Empfindung, dieimmer darauf deutete, daß er Informationen über eineandere neurologische Sequenz auffing. Er konnte dieGegenwart Des George fast spüren, jenes George, dernoch immer dabei war, die innere Mechanik mentalerFortbewegung zu erkunden, und in einer Welt her-

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umwanderte, die kein anderer seiner Zeitgenossen zufinden vermochte, bis er schließlich auf die Kodizille stieß.Aber wie? Diese Frage war nie beantwortet worden. Es isteine entscheidende Frage, überlegte Monarch, denn wenndie Kodizille nicht in dieser alten Vergangenheitaufgetaucht wären, dann hätten gewiß er, Monarch, undalle Menschen der Erde eine völlig andere Weltkennengelernt. Falls die Menschheit überhaupt in derLage gewesen wäre, ohne die Kodizille zu überleben, wasnicht sehr wahrscheinlich schien.Monarch fröstelte plötzlich. Das Museum in dieser Stillekam ihm fast unheimlich vor. Als ob es wartete. DieArbeiter waren alle gegangen, nachdem sie das Gebäudevon oben bis unten gereinigt und auf Hochglanz gebrachthatten. Sogar die Fenster hatten sie geputzt. Überall aufden Tischen standen Vasen mit frischen Blumen. Erst jetztschaltete sich der Staubsauger geräuschlos ab, nachdemer über alle Böden gegangen war. Dieser Ort sollte dasHeim Des George im zwanzigsten Jahrhundert zeigen -sein häusliches Ambiente, die fest installierten Fensterstatt beweglicher Fensterwände, die etwas beengte, dochgemütliche Atmosphäre. Monarch blickte auf die frischenBlumen, Blumen, wie sie hier in der Gegend wuchsen undvielleicht auch einmal im Garten Des George geblühthatten.Aber, dachte Monarch etwas verunsichert, diese Blumenwirken zweifellos irgendwie anders als das Haus selbst,sie scheinen ... seltsam modern. Es kam ihm fast so vor,als wären verwelkte Blumen angemessener. Monarchlächelte vor sich hin und fühlte gleichzeitig noch stärker

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eine... Fremdheit in dieser makellosen Eingangshalle, inder er noch immer stand.Seine auffällig große, schmale Nase zuckte. Wiederfröstelte er, leicht irritiert. »Ist jemand hier?« fragte ermental.Gleichzeitig tastete er in seinem Bewußtsein nachirgendwelchen, wenn auch noch so schwachenEmpfindungsmustern, nach irgendwelchen Informationen,die durch jene neurologische Passagen zu kommenschienen, die er für gewöhnlich nicht mit seinemBewußtsein in Verbindung brachte. Schwaches Gewisper.Seltsam - denn er begann Worte zu hören, die dannmental als Buchstaben aufschienen und die Gestalt einesMannes formten. Also, folgerte Monarch, mußte ein Mannin dieser Gestalt diese Worte sprechen.Ein Fensterrahmen tauchte nun auf und überlagerte sichder Gestalt des Mannes. Alles das war nur schwachwahrnehmbar, und trotz des Trainings, dem sich hier jedersein Leben lang unterzog, hatte Monarch Mühe, die Bilderlange genug zu halten, um sie zu studieren. Warum dieseungewohnten Schwierigkeiten? fragte er sich. Er schloßdie Augen, um die Bilder besser sehen zu können, undseufzte dann, als er die Botschaft entschlüsselt hatte: EinMann namens Fenster sprach. Aber zu wem? Über was?Und welche Verbindung bestand zwischen diesem Vor-gang und ihm selbst?Da war... etwas! Monarch überkam plötzlich einSchwächegefühl, und er mußte sich gegen den Tisch inder Halle lehnen. Der Kanal, der sich geöffnet hatte, fühltesich anders an... war irgendwie leer, als ob ein

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wesentlicher Bestandteil fehlte. Eine Botschaft aus einerdumpfen Welt- und Monarch hob ruckartig den Kopf -,einer Welt vor den Kodizillen. Einer Welt, die nach ihnensuchte. Und einer in dieser Welt lebenden Persönlichkeit...die... ein anderer Aspekt von ihm selbst war!Daran konnte kein Zweifel bestehen. Monarch kannte dasGefühl seiner eigenen Essenz. Und wenn die Kodizille denMenschen etwas gelehrt hatten, dann dieMulitidimensionalität seines Selbst, dessen Samen in allenJahrhunderten verstreut waren. Und er erkannte diesebesondere, aber ganz eindeutige Alter-Es-senz, diesespersönliche innere Erkennen und Wissen um ein anderesSelbst. Ein Selbst, dachte Monarch, das für mich immerein »anderes« sein wird, wie ich die Alter-Essenz für jenesSelbst bin. Und doch waren sie über neuorologischePassagen verbunden, die im Durchstreifen der Weltenihrer individuellen Gedanken geisterhaft schienen.Aber warum eine Welt vor den Kodizillen?Was versuchte dieses andere, alte Selbst ihm zu sagen?Monarch korrigierte sich. Dieses Selbst existierte mitseinem eigenen Leben simultan - zwanzigstes undfünfundzwanzigstes Jahrhundert koexistierten.»Geistesbruder, sprich«, rief Monarch mental.Keine Antwort. Nur ein stetig zunehmendes Gefühl vonAngst und Sorge. Aber weshalb? Jetzt hörte Monarch dieWorte »die Kodizille«. Sie wurden mehrmals in einerwarnenden Stimme wiederholt, die er nun als seine eigeneakzeptierte. Soll-ten sie gestohlen werden? Die Kodizilleselber können nicht gestohlen werden, überlegteMonarch. Sie existieren im Bewußtsein der Menschen. Die

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kostbaren alten Mikrofilme hingegen können gestohlenwerden, doch wozu? Monarch runzelte die Stirn. Daskonnte es nicht sein. Er mußte sich irren.Noch immer grübelnd und besorgt ging er die Treppehinauf, die Bewegung tat ihm gut, und überprüfteautomatisch, ob für die Feier alles bereit war. Es sah allesperfekt aus. Das Haus Des George - erhalten, als könnteer jederzeit zurückkehren. Jederzeit? In einem anderenBezugsrahmen ist Der George hier, dachte Monarchplötzlich. Der Gedanke war ihm schon viele Male vorhergekommen, aber als vergnügliche theoretische Spielerei.Nun fiel ihm ein, daß nach den Prinzipien der Kodizille DerGeorge in diesem Haus oder in diesem Haus imzwanzigsten Jahrhundert lebte, während er, Monarch,diese Treppe im fünfundzwanzigsten Jahrhunderthinaufging. Und wenn das so war, was tat Der Georgejetzt? Und wer machte sich Sorgen um die Kodizille undwarum? Sie waren sicher untergebracht, und was konntejemand schon gewinnen, wenn er sie stahl? Die Leutewürden ein geliebtes Symbol verlieren...Über sich selbst überrascht brach Monarch seinenGedankengang ab und erreichte fast betäubt das Endeder Treppe. Seine Gedanken waren geradezu paranoidgewesen! Er hatte tatsächlich ernsthaft in Erwägunggezogen, daß jemand die Kodizille stehlen wollte - unddas in einer Welt, in der solche gesellschaftlichenKrankheiten schon über ein Jahrhundert ausgestorbenwaren! Was war über ihn gekommen? Soweit er wußte,war, solange er lebte, kein Diebstahl mehr vorgekommen.Die Gründe dafür hatten sich fast natürlich erübrigt, da die

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Kodizille den Menschen über seine eigenen Potentialeund Fähigkeiten unterrichteten. Die Ressentiments undHaßgefühle, die einzelne Menschen zum Verbrecherhatten werden lassen, gab es nicht mehr in dieser Weise.Nicht, daß aus den Menschen Heilige geworden wären,aber sie verhielten sich wenigstens wie Angehörige einerwürdevollen Spezies. Sie respektierten sich selbst undandere.Wie also kam es, daß er ernsthaft die Möglichkeit inBetracht gezogen hatte, die Kodizille könnten gestohlenwerden, und warum fühlte er eine so tiefe Angst?Natürlich, dachte Monarch. Es sind nicht meine eigenenGedanken! Wann werde ich endlich lernen, dieBotschaften, die in meinem mir vertrauten Bewußtseinaufsteigen, richtig zu deuten? Diese Paranoia kommt nichtaus meiner Zeit! Perplex ließ er sich auf einemviktonanischen Stuhl oben am Treppenende nieder. Erwußte, daß psychische Korrelationen zwischen ihm undseinen anderen Selbst existierten - unsichtbarepsychische Kreuzungspunkte. Und diese Angst um dieKodizille war aus einem solchen Kanal gekommen. Aberwarum habe ich diese besondere Botschaft gerade jetztaufgefangen, kurz vor Beginn der Fünfhundertjahrfeierund die Würdigung des Mikrofilmfundes? In zwei Stundenwürde es überall auf dem Museumsgelände vonBesuchern aus aller Welt nur so wimmeln.Das ganze Ereignis würde feierlich mittels Hologrammendargestellt werden - die Geschichte des Fundes derKodizille und auch des Lebens Des George.

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Monarch seufzte und beschloß, sich mit seinerLebensgefährtin Leona zu beraten und festzustellen, obihre Traumarbeit in letzter Zeit irgendwelche Resultateerbracht hatte, die Licht in seine merkwürdigen Ängstebringen konnten. Er und Leona waren beideTraumarchäologen. Aber Leona war schon immer diebessere Träumerin gewesen. Manchmal war siebuchstäblich in letzter Minute mit ausgezeichnetenTrauminformationen angekommen, so als ob ihreFähigkeiten durch eine Krise geradezu stimuliert würden.Er runzelte die Stirn. Seine Fähigkeiten funktioniertenanders. Er mochte Ruhe und Frieden. Aber damit konnteer erst wieder nach der Feier rechnen. Und währendMonarch nun den Flur entlang ging, versuchte er denplötzlichen, nagenden Gedanken zu verscheuchen, daßdie Feier bedroht war.Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer Des George. Leonaverbrachte hier ihre Traumzeit in der Hoffnung, der Ortkönnte sie zu neuen Informationen anregen. Sie sah ausdem Fenster und drehte sich, als Monarch eintrat, fastängstlich um.»Ich bin fertig«, sagte sie, »und das Zimmer ist auch inOrdnung.«»Aber?« fragte Monarch. Er kannte sie gut genug, um ihreAngst zu sehen, auch wenn sie diese mit einem Lächelnherunterzuspielen versuchte.»Na ja, ich habe möglicherweise ein paar neue Faktenerhalten... beunruhigende Fakten. Zumindest habe ichvielleicht ein paar Informationen, die einigen Dingenwidersprechen, die wir bisher zu wissen glaubten. Ich

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hasse es, wenn so was passiert.« In ihren großen braunenAugen waren noch immer Spuren ihrer Traumvisionen zusehen. Sie schien gebadet in einer Weichheit anderenBewußtseins. Es war nicht Verschwommenheit, sonderneher wie der Blick eines aus dem Schlaf gewecktenKindes. Sogar ihre Angst schien durch diese Aurasubjektiver Erfrischtheit gemildert. »Die Träume sindbereits aufgezeichnet«, sagte sie. »Ich habe sie sofortaufgenommen.« Sie wackelte mit ihren in Sandalensteckenden Zehen und tippte mit dem rechten Fuß leichtauf den Boden, was ihre Fußkettchen zum Klingelnbrachte. Eine anmutige Erscheinung in ihrem kurzenRock. »Denk nur. Diese Fenster ließen sich einst öffnen,jedenfalls in ihrem Originalzustand.« Und wieder starrtesie hinaus auf das Museumsgelände.»Und ließen all den Dreck vom Verkehr herein.« Monarchlachte wider Willen. Es war ein Spiel, das sie gewöhnlichgern spielten. Dann standen sie da, benutzten ihre innerenSinne und versuchten, die Geräusche der altenAutomobile bis zur Schwelle ihres Bewußtseins zubringen, das Quietschen der Reifen...»Spann mich nicht auf die Folter. Du bist die bessereTräumerin von uns beiden. Was hast du erfahren?«Sie wirbelte herum. »Bin ich das? Und wessen Träumehaben überhaupt erst zu dieser Ausgrabungsstätte unddem Aufbau des Museums geführt? Deine!«»Stimmt«, sagte Monarch. »Aber ich bin nie das Gefühllosgeworden, daß irgend etwas unvollständig ist...«»Vielleicht ist es das«, erwiderte Leona in ernstem Ton.»Du kannst meine Traumberichte später überprüfen. Aber

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ich hatte drei verschiedene, sehr klare Träume. In einemstand ich in einer alten Küche, ungefähr so wie die imMuseum, und da war ein Mann namens Fenster, und erversuchte, in unsere Welt zu sehen.«Aus Monarchs Gesicht schien alle Farbe zu weichen.»Stimmt was nicht?« fragte Leona beunruhigt.»Sprich weiter«, antwortete Monarch. »Ich sag's dir, wenndu fertig bist.«»Na gut«, sagte sie etwas zweifelnd, »hör dir den zweitenTraum an, obwohl er etwas kompliziert ist. Es war fast einAlptraum. In einer schrecklich intensiven Reihe vonEreignissen sah ich... wie die Welt aussehen würde, wennwir die Kodizille nicht hätten. Es war wirklich ziemlichgrauenhaft, aber ich blieb nüchtern und distanziert...« Sieschwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Einige - diemeisten - der Vorstellungen in jener Welt waren der reineWahnsinn. Es ist schwer zu begreifen, aber in diesemTraum glaubte man, durch Kriege zum Frieden kommenzu können. Ich meine, die Länder waren alle mit Armeenhochgerüstet, und man glaubte, je gewaltiger dieKriegsmaschinerie, desto größer die Chancen für denFrieden. Die reine Idiotie, wie ich dir schon sagte. Und indiesem Traum hatte die Menschheit überhaupt nichtgelernt, mit der Technologie umzugehen. Scheinbar wurdesie nur deshalb entwickelt und genutzt, um die Arsenaleder Nationen für einen möglichen Vergeltungsschlag zukomplettieren.« Leona schüttelte fast wütend den Kopf.»Die ganze Sache war einfach widerwärtig, und ich warsehr erstaunt, mich so direkt mit einem solchenSchwachsinn konfrontiert zu finden. Da war noch mehr,

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aber der dritte Traum ist der, den ich für denbedeutsamsten halte.«Monarch nickte, eingedenk dessen, daß sie in den zehnJahren, in denen sie nun ihre Träume protokollierten,deren Einzelheiten wieder und wieder geprüft und nochmal geprüft hatten.»In diesem dritten Traum war ich eine Frau, die mit jenemMann Fenster, dem aus dem ersten Traum, in Verbindungstand. Und mein Name war Josephine.« Leona machteeine Pause und buchstabierte dann den Namen inbedeutungsvollem Ton.Monarch starrte sie an. »Du meinst, daß wir dieGeschichte falsch dargestellt haben? Daß der Mann, denwir für Georges engsten Freund hielten, eine Frau war?«Leona nickte: »Nicht Joseph Ine<, sondern Josephine,eine Frau. Ich bin mir wirklich ziemlich sicher... obgleichich nicht weiß, wie dieser Mann Fenster in die Geschichtepaßt.«»Das kann ich dir sagen«, erwiderte Monarch. »Auf demWeg hierher hatte ich auch ein kurzes Erlebnis und glaubevon daher, daß Fenster einer meiner eigenen Aspekte imzwanzigsten Jahrhundert war - ist.«»Und wenn ich mich nicht irre und Josephine tatsächlichein Aspekt von mir ist...«»Dann waren wir beide mit Dem George verwickelt, in ir-gendeiner Hinsicht«, sagte Monarch. Und dannnachdenklich: »Das könnte der Grund dafür sein, daß wirüberhaupt auf diese Ausgrabungsstelle gekommen sind.«

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Leona blickte verloren drein. »Aber warum hattest duletzthin dieses gräßliche Gefühl, daß die Kodizille inGefahr sind?«Monarch seufzte. »Ich weiß es nicht. Das ganze Museum,die ganze Umgebung, der Park und der Fluß wirken inletzter Zeit, nun... nur temporär, so als könnten sie jedenMoment verschwinden.«»Dann sollten wir eine gemeinsame Traumreise unterneh-men!« rief Leona. »Was anderes können wir nicht tun. Wirwerden unsere eigenen Traumführer sein. Wir schlafen indiesem Bett... und versuchen, m aller Klarheit in dieVergangenheit zu reisen.«»Aber da sind so viele Variablen«, sagte Monarch. »UnterDruck bin ich, im Gegensatz zu dir, nicht gerade ambesten im Traumreisen... und wir haben auch nicht mehrviel Zeit vor der Feier. Die Techniker versammeln sichwahrscheinlich schon im Parterre und unten im Keller.«Sie grinste ihn an.Und er fing an zu lachen. »Richtig, richtig. Und wer weiß,was wir finden. Vielleicht bekommen wir auch noch mehrInformationen für die Feier.«Sie zogen ihre Kleider aus und legten sich auf dieNachbildung des Bettes Des George. Sie ließen ihreGedanken schmelzen, dann ihre Gedanken miteinanderverschmelzen, dann fühlten sie, wie sich ihre Körper imBett gleichsam auflösten - ihrer Empfindung nach zumBett wurden, obwohl ihrer beider physischen Gestaltendort lagen, kühl und ruhig wie schlafende Steine. Ihr Geisttraf sich dort, wo sich ihre Gedanken verbanden, und ihreTraumselbsts erhoben sich wie Gestalten aus Rauch. Zu-

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sammen verschwanden sie in die Vergangenheit desRaums - in die Vergangenheiten des Raums -,verflüchtigten sich in zahllosen Herbsten und Sommern,durchschwebten unermeßliche Winter und Frühlinge...folgten dem einladend winkendem Fokus ihrer ganzpersönlichen wie auch gemeinsamen Absichten.Monarch und Leona waren beide natürlich begabteTraumreisende, die ihre Fähigkeiten an der Universitätweiterentwickelt und verfeinert hatten. Sie liebten es,zusammen zu arbeiten, und bewahrten sich nun sehrsorgfältig ihr jeweiliges kritisches Bewußtsein, ganz klar,ganz sacht, das auf ihrem tieferen, stetigeren, sietragenden Traumbewußtsein dahinglitt. Die Liebe, die siefür einander empfanden, war eine zusätzliche Stütze. Sievertiefte ihre enge Verbundenheit, so daß sie jetzt ihrindividuelles Traumbewußtsein zusammenbringenkonnten. Ihre Absicht aber steuerte sie stetig in einebestimmte Richtung, nämlich in die der alten Welt DesGeorge.Ab und zu glitten ihre Traumkörper durch tiefsteDunkelheit. Dann wieder brachen Flammen aus und dasGeschnatter von einer Million Stimmen, wie es schien,aber beide waren erfahren genug, sich nicht davonablenken zu lassen - nicht von diesentraumatmosphärischen Zuständen berührt zu werden,ihnen nicht nachzugehen.»Ich liebe dich«, sagte Monarch mental. »Ich liebe dich«,antwortete sie mental. Dann fühlten beide diese plötzlicheErregung, dieses Fokussieren von Energie, diesesAufwallen von Triumph, als der Traumtrip sie genau in die

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gewünschte Zeit, an den gewünschten Ort zoomte -unglaublicherweise sein besonderes Ziel fand in einerUnendlichkeit von Wahrscheinlichkeiten.Jetzt war es an der Zeit, ganz besonders behutsam zusein.

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Kapitel 17Ein gemeinschaftlicher Traum

Das Gefühl von Bewegung ebbte ab. Monarch und Leonaversuchten, ihr Bewußtsein so gleichbleibend wie möglichzu halten, aber trotzdem war da ein kurzer Moment desBlackouts, den Bruchteil einer Sekunde lang. Dann war daein Gewirr von halbgeformten Bildern, als ihrTraumgesichtssinn zu funktionieren begann.Zunächst nahm Monarch nur vage Umrisse wahr, doch all-mählich gewannen die Gegenstände Kontur, wenn auchalles nur grau war. Auch all seine anderen Traumsinnefunktionierten, so daß er sich relativ stabil in einer Eckedes »Landeraums« stehend fand.Leona neben ihm schnappte nach Luft. Sie sah alles inleuchtenden Farben. Prüfend schnupperte sie die Luft -nichts! Ich bin also noch nicht ganz fokussiert, dachte sie.Versuchsweise machte sie ein paar Schritte und hobsofort vom Boden ab. Monarch lächelte, als sie wiederherunterschwebte. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich.»Jetzt bin ich in Ordnung. Kannst du schon irgend etwassagen?«Sie standen still da und sahen sich um. Allmählich warendie Details im Raum klar zu erkennen. An einem Tischsaßen ein paar Leute. »Wenn wir richtig liegen, dannmüßten unsere Aspekte hier sein. Sie müßten unsangezogen haben«, sagte Monarch. Und kaum hatte erden Satz beendet, begann sein Bewußtsein zu fluktuieren,

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wallte auf und zog ihn hinüber zu dem Mann, der geradesprach. Monarch stand nun unsichtbar neben ihm. Unddas Bewußtsein dieser Person öffnete sich ihm, fast so,als sei es sein eigenes. Natürlich war es das nicht, dochdas Gefühl von Vertrautheit und zugleich Fremdheit wargeradezu berauschend...»Paß auf dich auf«, rief Leona warnend. »Laß dich nichtso tief auf euch beide ein, Monarch!«Monarch hörte sie und hörte sie nicht. Warum, so fragte ersich, scheint mir dieser Mann und dieser Raum so innigvertraut? Als sei ich schon (und nicht in meinen Träumen)hier gewesen?Bevor Monarch dazu kam, sich seine eigenen Fragen zubeantworten, geriet er fast in Panik. Ein grauenhafterLärm, in dem alles andere unterging, attackierte plötzlichseinen Gehörsinn. Dem donnernden, klopfenden Dröhnenfolgte ein die Ohren seines Traumkörpers strapazierendesQuietschen und Quieken in hohen Frequenzen, währendsich in ihm der Rhythmus dieser verschiedenenGeräuscharten in eine schwer zu bändigende Angstübersetzte. Einen Moment lang schien dieser Krach über-all zu sein, dann hörte er plötzlich auf.Benommen öffnete Monarch wieder seinetraumkörperlichen Augen. Leona starrte ihn fassungslosan, auch sie hatte offensichtlich diesen Lärm gehört.Da war noch immer Geräusch im Zimmer, aber gedämpft,und Monarch und Leona ordneten nun dieunterschiedlichen Laute den einzelnen Personen zu, diesich am Tisch unterhielten. Monarch, dessen Bewußtseindurch den Tumult von eben von dem Mann, der ihn so

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fasziniert hatte, weggeschleudert worden war, versuchtejetzt behutsam, eine Art Beziehung herzustellen. »Ich binMonarch«, sagte er mit mentaler Stimme.»Ich bin Monarch«, sagte der in Georges Küche deszwanzigsten Jahrhunderts sitzende John Fenster.»Schon wieder?« grinste George.»Ich war immer Monarch«, antwortete Monarch verblüfft.Und wieder sprach John Fenster seine Worte aus.»Hier ist noch ein Bewußtsein anwesend«, sagte Sieben.»Willst du wohl damit aufhören? Du bist genauso schlimmwie Fenster. Langsam wird es wirklich unheimlich hier«,sagte George und trank auf einen Zug sein Bier aus. »Erist eine... gespaltene Persönlichkeit -«Sieben wandte sich an Fenster: »Wenn du wirklichMonarch bist, dann mußt du wissen, wo die Kodizillesind.«Schweigen.Monarch war so aufgeregt, daß er nicht zu sprechenwagte, nicht mal mental. Neben ihm sagte Leona: »Einervon ihnen ist nicht wirklich physisch! Schau, der Körperdort hat keine Geschichte, in dieser Hinsicht ist er ohneKontur. Sei vorsichtig. Der Raum und die anderen Leutescheinen allerdings real zu sein.«In diesem Moment schwoll diese schrecklicheKombination von Geräuschen zu neuem Höllenlärm anund vertrieb alle Gedanken aus Monarchs Kopf. Diesmalwar er noch gewaltiger als vorhin und schien in seinemKopf wie spitze Steine herumzukollern. Dann hörte erohne erkennbaren Grund wieder auf.

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Einer der Männer sagte: »Bei diesem verdammtenVerkehrslärm kann man kein Wort verstehen.« Monarchhörte ihn und lächelte Leona schwach an. Verkehr! Dasalso war Verkehr...George schloß das Fenster.Sieben hätte am liebsten seinen Körper verlassen, umsich mit diesen neuesten Ereignissen eingehenderbefassen zu können, aber er wagte es nicht. Sowiederholte er sanft: »Wenn du Monarch bist, dann wissenwir, daß sich die Kodizille in deiner Welt befinden, indeiner Wahrscheinlichkeit. Aber wir haben sie noch nichtin unsere Wahrscheinlichkeit, in deine Vergangenheit, ge-bracht. Verstehst du?«Monarch versuchte sich auf die Worte, die er hörte, zukonzentrieren, aber der Boden seines Bewußtseinsschwankte. Da bleibt nur eins, dachte er. »Hau mich raus,wenn's nötig ist«, signalisierte er Leona. Dann neigte ersein Bewußtsein dem von Fenster näher und näher zu.Auf einer bestimmten psychischen Ebene setzte einesubjektive Anziehung ein, und Monarch hatte das Gefühl,durch Welten von Emotionen und Empfindungen gewirbeltzu werden, bis er schließlich wieder seine Augen öffnete -und nun aus Fensters Perspektive in dieses Zimmerblickte. Doch er war immer noch er selbst, während dieSinne dieses Körpers die Sinnesdaten klar undunvermischt aufnahmen. »Ich glaube, ich verstehe«, sagteer mit Fensters Stimme.Einen Augenblick lang konnte Monarch nichtweitersprechen, da er versuchte, sich zu orientieren.Fensters Bewußtsein war... wahrhaft geräumig! Monarch

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erlebte die Aspekte von Fensters Persönlichkeit in dersymbolischen Form verschiedener großer Räume, anderen Schwelle er nun stand und starrte. Der Fenster deszwanzigsten Jahrhunderts sah sich seiner eigenen Zeitgegenüber- das war klar. Aber in einer gespiegeltenGestalt sah Monarch sich selbst wiederum in einemanderen Raum. (Wo seine eigenen Eigenschaften undMerkmale als Fensters Unbewußtes operierten? Ist dasmöglich? fragte er sich.) Und zwischen ihnen beiden standFensters Christus. Völlig überrascht, aber allmählichbegreifend sprach Monarch nun durch Fenster weiter:»Fenster kann heilen. Ich verstehe jetzt. Vor denKodizillen war euch nicht klar, daß ihr euch selbst oderandere heilen könnt... ohne Medizin.« Monarch wurde vonMitgefühl überwältigt, als Bilder aus Fensters Erinnerungin seinem eigenen Bewußtsein aufglommen. Fenster, derals Kind bestraft wurde, weil er eine Katze geheilt hatte.Das Kind, das versuchte, gegen allergrößte Widerständeseine Fähigkeiten zu benutzen... »Oh«, rief: Monarch,auch halb im Ärger, »Fenster hat sich mit Christusidentifiziert, weil wenigstens Götter heilen dürfen. Und sowürde ihn keine Schuld treffen...« Monarch fühlte sichschwindlig. Er rang um Kontrolle.»Alles in Ordnung. Ich bin bei dir«, sagte Leona.»Teufel auch, das macht Sinn«, sagte George und wischtesich den Schweiß vom Gesicht. »Das macht wirklichSinn!« Und dann fragte er an Sieben gewandt: »Aberwarum muß er in eine dieser verdammten Trancen fallen,um das herauszufinden?«»Sei still, George«, flüsterte Sieben, »du lenkst ihn ab.«

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»George?« fragte Monarch ungläubig. »Du bist George?Der George?«George, der sich immer für Fenster genierte, wenn er fürChristus oder Monarch sprach, konnte ihm nicht insGesicht sehen. Grinsend antwortete er: »Der George? Naja, ich bin jedenfalls George.«»Ich fühle mich zutiefst geehrt«, sagte Monarch.»Er ist Der George«, flüsterte ihm Leona mental zu, »under ist es nicht. Das kann ich sehen. Irgend etwas ist...verzerrt.«»Und dann versuchst du ganz offensichtlich nicht, dieKodizille zu stehlen«, fuhr Monarch erleichtert fort.Sieben schaltete sich ein. »Wir versuchen sicherzustellen,daß die Kodizille auch wirklich in deiner Zeit auftauchen.Ihr müßt Traumreisende sein. Ich spüre noch jemandenhier bei Monarch...«Aber Monarch gab einen keuchenden Laut von sich. DieZimmerwände verschwanden, die Gegenstände wurdenzu Bildern, die Bilder zu Umrissen, die sich langsamauflösten. »Leona, bist du bei mir?« rief er. Er fühlte ihreGegenwart- sogar noch, während ihn sein Körper insmuseale Schlafzimmer zurückrief.Für einen Moment war, als Monarchs Bewußtsein ihm -Monarchs Komplementäraspekt - entfloh, aller Ausdruckaus John Fensters Augen verschwunden. Und Fensterhatte das Gefühl, plötzlich in einer neuen Welt erwacht zusein, ohne zu wissen, was für eine Welt das war. Abernein, dachte er, die Welt ist dieselbe geblieben. George,Sieben und Diggs starren mich an. Nur ich habe michverändert. Christus ist verschwunden!

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Fast ungläubig durchstöberte Fenster sein inneresBewußtsein. Der paranoide Christus war nirgends zuentdecken. »Ich bin nicht mehr Christus«, sagte er. »Er istfür immer fort -«Beeindruckt murmelte George: »Jaa«, denn ganzzweifellos war es so. Vor seinen Augen verwandelte sichFenster in... jemand anders. Oder in sich selbst. SogarSieben hielt den Atem an. Fensters Augen schienen klick,klick, klick zu machen, als ob sie verschiedene Fokussedurchliefen oder reflektierten, bevor sie sich auf einenfestlegten... und dieser eine Fokus repräsentierte Fenstersneu gemischte und neu zusammengesetzte Eigenschaf-ten. Dann wurde sein Blick ruhig, entschlossen,selbstsicher, war nicht mehr abwesend oder teilnahmslosoder verängstigt.Der ganze Prozeß hatte kaum einen Augenblick gedauert.Als die Transformation Fensters begann, war GregoryDiggs gerade dabei, »mein Gott« zu sagen, und als er esgesagt hatte, war der Vorgang schon beendet.Und wie in einer Kettenreaktion gingen in John FenstersKörperhaltung, seinem ganzen Habitus, an seinen Lippen,seiner ^ Nase, seinen Ohren unzählige, entscheidendeund doch verein- |j zelte, winzige Veränderungen vor... alsob dieser Mann namens John Fenster plötzlich richtigzusammengesetzt würde und sich all die Spannungen undVerkrampfungen lösten, die ihn in sich f gespalten hatten.George, Diggs und Sieben wußten ganz einfach, daßFenster nun, gleich, was er vorher gewesen war, völliggesund war, und daß dieser Mann Fenster war, gleich wasfür f-eine Position Christus oder Monarch einnahmen.

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»Was geht hier vor?« fragte Diggs. »Was meinst du damit,daß du nicht mehr Christus bist? Nie wieder? Du kannstnicht mehr heilen?«Fenster grinste und schüttelte erleichtert den Kopf. »Ichweiß, was ich gerade erlebt habe«, sagte er. »Da, wo ichGedächtnislücken habe, müßt ihr mir aushelfen.Jedenfalls wußte ich, als es vorbei war, daß ich schonimmer heilen konnte und daß ich mir unbewußt eineChristuspersönlichkeit geschaffen habe, damit die ganzeSache akzeptabel wird - so verrückt sich das auch fürandere ausgenommen haben mag. Aber da ist noch soviel mehr.«Sieben spürte Kypros irgendwo in den Außenbezirkenseines Bewußtseins und hatte das Gefühl, daß überallpsychische Bewegung herrschte. Eine so starke, mächtigeBewegung, daß er sich ihr anschließen und seinen Körperverlassen wollte... den er immer mal wieder vergessenhatte, was aber niemandem aufgefallen war. Rasch sagteer: »Erzähl uns, was dir aus deiner Sicht passiert ist,Fenster.«Fenster grinste wieder. »Ich gewöhne mich geradedaran... ich selbst zu sein. Und was ich zu sagen habe,klingt wirklich verrückt, nehme ich an. Aber ich weiß, daßes das nicht ist.«George schüttelte den Kopf. Er wußte, daß das, was auchimmer Fenster sagen würde, wahr war. Aber woher wußteer das?Und Fenster begann: »Ich habe immer mal wieder für einePersönlichkeit namens Monarch gesprochen - wie ihr jawißt. Na ja, plötzlich haben sich sein und mein

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Bewußtsein vermischt. Ich kannte Monarchs Leben, erkannte das meine. Aber seine Welt ist eine Welt, die dieunsere wirklich krank aussehen läßt. Durch ihn konnte ichBilder aus seiner Welt sehen, und nie in meinem Lebenwar ich so glücklich. Und seine Welt gründet sich auf völligandere Ideen und Vorstellungen als die unsere...«Während Überseele Sieben angestrengt bemüht war, dieKodizille zu finden, klangen die Worte »die Kodizille«immer wieder in Josephines Bewußtsein auf. Sie schienenihr merkwürdig vertraut zu sein, als wären sie ihr schoneinmal in einem bedeutsamen Zusammenhanguntergekommen. Sie glaubte sich zu erinnern, daß einKodizil ein »Zusatz zu einem Letzten Willen« war. Aberangenommen, es bedeutete in diesem Zusammenhang»Anhang des Willens« - des menschlichen Willens?Ohne bestimmtes Ziel stieg sie die Treppe zu ihremkleinen Arbeitszimmer hinauf und studierte ihre ordentlichin Regalen aufgereihten Bücher. »Die Kodizille« murmeltesie wütend, unruhig. Und wie von allein zogen ihre HändeBücher heraus, blätterten Seiten durch. Doch bei allemhatte sie das merkwürdige Gefühl, daß ihre Händewußten, was sie taten, und daß sie, ohne es bewußt zukennen, ein ganz bestimmtes Ziel verfolgte.Über dem Regal befand sich ein Fenster. Sie blicktehinauf, und dann, als hätte das Fenster ihr einen Hinweisgegeben, gingen ihre Finger noch einmal nervös Buch umBuch durch, durchforschten ihre Augen Seite um Seite.Sie fühlte einen seltsamen Druck in sich, in ihren Händen,in ihrem ganzen Sein. Und dann kam der Moment, den sienie vergessen würde. Sie schrie auf in Triumph und

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Hochgefühl, als sie auf diesen einen Begriff, diese soentscheidenden Worte stieß. Sie fand sie in einem schonälteren Buch, Psycbic Politics, von einer gewissen JaneRoberts vor vielen Jahren geschrieben. Da war er - derBauplan für die Zukunft der Menschheit, der Bauplan, der,dessen war sie sich nun ganz sicher, auch ins Gewebeund m die Zellen der Menschheit eingeschrieben war. Undtriumphierend las sie rasch:Kodizille(Alternative Hypothesen als Grundlage individueller undallgemeiner Erfahrung) m1. Alle Schöpfung ist heilig und lebendig, ein jeder Teilverbunden mit allem anderen; und jeder teilt sich mit ineinem schöpferischen, kooperativen Austausch, an demKleinstes und Größtes gleichermaßen Anteil haben.2. Die körperlichen Sinne stellen eine einzigartige Versionvon Realität dar, in der Sein in einer bestimmtendimensionierten Sequenz wahrgenommen wird, die sichüber die neurologische Musterbildung aufbaut und dieFolge einer Art von neurologischem Fokus ist. Es gibtalternierende neurologische Bahnen, die biologischgesehen akzeptabel sind, und es gibt andere, bislangnicht erwählte Sequenzen.3. Unsere persönliche Selbst-Regierung und politischenOrganisationen sind Nebenprodukte derWahrnehmungsweise in Form von Sequenzen, undunsere äußeren Kommunikationsmethoden erstellenMuster, die mit unserem synaptischen Verhaltenssystemübereinstimmen und es duplizieren. Auf diese Weiseschließen wir uns in bestimmte Realitätsstrukturen ein,

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4. Unsere voreingenommene Wahrnehmungsweise inForm von Sequenzen ist jedoch in sich sehr viel flexibler,als wir erkennen. Es gibt Halbschritte, andere, nichtwahrgenommene Impulse, die zu schnell oder zu langsamfür unseren gewohnten Fokus von einem Nervenendezum ändern überspringen. Die Wahrnehmung dieserImpulse kann erlernt und gefördert werden und erbringtInformationen, die eine Veränderung in der gewohntenSinnesreaktion auslösen und potentielle Sinnesspektrenausfüllen, mit denen wir normalerweise nicht vertraut sind.5. Dieses größere mögliche Sinnesspektrum beinhalteteine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit in bezug auf dieinnerkörperliche Realität; die zellulare Individualität undVerhaltensweise automatisch bewußte Kontrolle derKörperprozesse; und sie beinhaltet eine erhöhteWahrnehmungsfähigkeit für äußere Bedingungen, da dienormalen Sinne geschärft werden (unser Sehvermögen istbeispielsweise bei weitem nicht so effizient, wie es seinkönnte. Unser Wahrnehmungsvermögen für Nuancen inFarbe, Struktur und Tiefe könnte erweitert und unsergesamtes Sehvermögen auf eine Weise geschärft werden,die gegenwärtig als außergewöhnlich oder paranormalangesehen wird).Josephines Blick wanderte die Seite hinunter. DenKodizillen folgten Kommentare der Autorin. Ein Abschnittwar überschrieben mit Kommentare zu den Kodizillen. Erschien sich auf Kodizill und auf die fünf Kodizille imallgemeinen zu beziehen. Rasch und voller Ungeduld lassie die entsprechenden Passagen.Kommentare zu den Kodizillen

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Die Annahme dieser ersten Kodizille würde zurErweiterung der praktischen Kenntnisse über das Selbstführen, Schranken niederreißen, die die Folge unserervoreingenommenen Wahrnehmungsweise sind, und siewürde unser persönliches, gesellschaftliches undpolitisches Lehen umstrukturieren.Die theoretischen Vorstellungen vom Selbst und diepraktische Erfahrung des Selbst müssen erweitert werden,wenn das Menschengeschlecht sein wahres Potentialentfalten soll. Nur eine Evolution des Bewußtseins kanndie Weltsicht verändern, wie sie in unserer offiziellenBewußtseinsausrichtung erscheint.Kommentar zu Kodizill 2Dieser nächste Schritt ist so wichtig, wie es die Geburt desChristentums in der Menschheitsgeschichte war. Er wirdeiner künftigen Zivilisation eine neue Struktur geben. DasChristentum repräsentiert die menschliche Psyche aneinem bestimmten Punkt; diese schuf zunächst innereEntwicklungsmuster, die dann als Mythos, Drama undGeschichte veräußerlicht wurden, wobei die jüdischeKultur des Talmud richtungweisend war. Die Unterschiedein der jüdischen und christlichen Tradition stellen mitein-ander verbundene, aber verschiedeneWahrscheinlichkeiten dar; die eine hatte sich aus deranderen abgespalten, doch beide sind durch gemeinsameWurzeln vereint und in verschiedenen Graden in der Weltverwirklicht.Die herkömmliche, personifizierte Gottesvorstellung standfür die Entwicklung des »alleinigen Ego« in der kollektivenPsyche; das Ego, das über das Selbst herrscht wie Gott

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über den Menschen; der Mensch, der den Planeten undseine anderen Geschöpfe beherrscht. Eine Vorstellung,die im Gegensatz steht zum Bild von vielen Göttern oderdes Wachstums eines multifokussierten Selbst und einertieferen Identifikation mit der Natur.Die uns bekannte Art neurologischer Musterbildungbegann mit den Juden des Alten Testaments (damals alsGottes Volk bekannt), die eine Zeit voraussahen undersehnten, in der das Selbst ganz und gar in einemalleinigen Ego fokussiert sein würde. Davor war dieseneurologische Funktionsweise noch nicht in dieser Formherausgebildet; und in unserer heutigen Welt existierennoch einige Völker und Stämme, Minoritäten, die diesenanderen neurologischen Impulsen nachgehen. Dieselassen sich auf unseren Meßinstrumenten nicht ablesen,weil wir buchstäblich blind dafür sind.Die jüdischen Propheten machten sich allerdings diesenanderen Wahrnehmungsfokus zunutze und waren aufneurologischer Ebene relativ unvoreingenommen. Siewaren daher zu alternativen Visionen von Realität fähig.Doch ihr großes Werk, das die Energie einer ganzenRasse bündelte und zum Christentum führte, hatte auchentscheidende Beschränkungen im potentiellenmenschlichen Wahrnehmungsbereich zur Folge.Die Propheten waren imstande, die Potentiale derkollektiven Psyche zu erspüren, und ihre Prophezeiungenzeichneten Wege in der Zeit vor und projezierten diejüdische Rasse in die "Zukunft. Die Prophezeiungengaben dem Volk große Kraft, eben weil sie der Rasse eine

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Zukunft in der Zeit gaben, einen kontinuierlichen Fadenund eine gewisse Unsterblichkeit in irdischer Hinsicht.Die Prophezeiungen waren psychische Gußformen, diedurch Körperlichkeit ausgefüllt werden sollten. Einigedieser Prophezeiungen erfüllten sich, andere nicht, aberdie unerfüllten wurden vergessen und erfüllten ihrenZweck, indem sie andere Wahlmöglichkeiten undRichtungen anboten. Die Prophezeiungen, die sich auf dieZukunft bezogen, zeichneten den wahrscheinlichen Kurseines Volkes vor und sahen die Triumphe und Kata-strophen voraus, die ein solches Abenteuer durch dieZeiten hindurch mit sich bringt.Sie lieferten psychische Netzwerke, Blaupausen undDramen, und lebendige Menschen trafen in vorskizzierteRollen ein, improvisierten aber auch, wenn sie sieausagierten. Diese Rollen hatten ihre Gültigkeit und warenin Reaktion auf eine innere Realität gewählt, in der sichschon die künftige Gestalt der Psyche des Volkesabzeichnete.Doch wie Schlangen ihre Haut abstreifen, so wirft auch diePsyche alte, erstarrte Muster ab, und wir brauchen einenneuen Satz an psychischen Blaupausen, reichlichversehen mit großen Taten, Heroen undHerausforderungen, damit sich das Menschengeschlechtweiterhin in die Zukunft erstreckt; ein neuesschöpferisches Drama, das aus der Psyche in diedreidimensionale Arena projiziert wird. Denn jetzt sehenwir die Realität nicht mehr unmittelbar, sondern durch denFilter von Glaubensstrukturen, denen wir entwachsensind. Diese Strukturen sollen an sich der Erfahrung nur

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einen Rahmen geben und sie ordnen, aber wir nehmenfälschlicherweise das Bild für die Realität, für die es steht.In dieser Hinsicht sind wir neurologisch erstarrt, gezwun-gen, nur ein Sequenzmuster der Sinneswahrnehmung zukennen, so daß wir glauben, das eine von uns gewählteMuster sei das einzig mögliche.Kommentar zu Kodizill 3Bislang haben wir die unerkannten Teile unsererumfassenderen Persönlichkeit in Gott, die Religion,Regierung und veräußerlichte Konzeptionen projiziert. Indieser Existenz ist die Eigenpersönlichkeit vonSinneswahrnehmungen abhängig, so daß unserneurologisches Vorurteil und starrer Fokus unsereVorstellungen von Identität begrenzt haben. Werden wiruns inoffizieller Informationen bewußt, die wir durchandere als die anerkannten Kanäle erhalten, dannscheinen sie von außen oder jedenfalls nicht aus demSelbst zu kommen.Es wurde sehr viel Energie darauf verwandt, Ebenen derEigenpersönlichkeit zu unterdrücken und diese aufreligiöse und nationalistische Heroen und gesellschaftlicheOrganisationen zu projizieren. Regierung und Religionversuchen, den Status quo aufrechtzuerhalten und ihreExistenz zu bewahren, nicht aus politischen oderreligiösen Gründen, sondern um das offizielle Bild desSelbst, um das sie sich formten, zu erhalten.Aber die strukturierte Realität, in der diese Art von Selbstexistieren kann, bricht zusammen. Das offizielle Bilderklärt und paßt nicht mehr in die persönliche Erfahrung,die darüber hinauswächst. Es entsteht ein momentaner

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Spalt zwischen der inneren Psyche und ihrenSchöpfungen.Abgesehen davon bleibt das Selbst* wie es als Seihsterfahren wird, über die Jahrhunderte hinweg nichtdasselbe. Das Selbst, wie es erfahren wird, ist eineSchöpfung der Psyche und reagiert auf die äußerenBedingungen, die es erschafft, während die Psyche in dieWasser ihrer Erfahrung von irdischer Eigenpersönlichkeiteintaucht. Nur ein Teil des potentiellen Selbst wirderfahren, wobei sich andere Teile in Form von Neigungenund Absichten wandeln. Es ist jedoch möglich, viel mehrvon unserem Potential zu verwirklichen,Kommentar zu Kodizill 4 und 5Die Antworten und Lösungen liegen darin, daß wir uns dieBewußtseinsebenen zunutze machen, die gegenwärtig alsexzentrisch oder zweitrangig angesehen werden. Diesbeinhaltet eine sehr viel umfassendere Arbeit mit denTraumzuständen und veränderten Bedingungen, diebislang für »Ausnahmezustände« des Bewußtseinsgehalten wurden. Diese Ausnahmezustände stellenandere Formen der Fokussierung dar, die wir unbedingtbrauchen, um die Vorstellung vom Selbst und unsereErfahrung von Eigenpersönlichkeit zu erweitern. Diesgeschieht, wenn wir unser Vorstellungsvermögenvertiefen, alternative Sichtweisen direkt erfahren und somitandere Informationen über die uns bekannte Welt wirksameinbeziehen. In der Vergangenheit brachte die Einstellunggegenüber solchen Wahrnehmungsweisen ihre eigenenSchwierigkeiten mit sich. Biologisch gesehen sind dieseFormen der Wahrnehmung jedoch akzeptabel und werden

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zu einer klareren Beziehung zwischen Geist und Körperführen.Josephine hätte vor Freude und Erleichterung weinenmögen. Es war, als hätten die Kodizille schon immer imHintergrund ihres Bewußtseins existiert und nur daraufgewartet, wieder in Erinnerung gebracht zu werden. Undwie war das mit diesem Buch gewesen? Sie hatte es voretwa einem Jahr in einem Antiquariat* gefunden und niezu Ende gelesen. Diese speziellen Seiten jedoch hatte siegelesen, allerdings ohne deren Bedeutung zu erkennenund sicherlich ohne sich darüber klar zu sein, wie sehr sieeines Tages ihr Leben verändern würden. Denn ihr Lebenveränderte sich - daran konnte kein Zweifel bestehen. Siehatte plötzlich das Gefühl, daß sie sofort zu Georges Hausfahren mußte.Zugleich merkte sie, wie ein Teil ihres Bewußtseins aufneue und ganz wunderbare Art aus sich herausreichte.Fast benommen ließ sie sich in einen Lehnstuhl fallen.Was geschieht hier? fragte sie sich, denn ein Teil ihresBewußtseins war bereits in Georges Haus. Und dieser Teilnahm vage die Küche wahr, und der Name LEONAleuchtete plötzlich blinkend und in Großbuchstaben vorihrem geistigen Auge auf. Was mochte das nun, wiederbedeuten?Und während sich Josephine wunderte, fühlte Leona inihrem Traumkörper in Georges Küche JosephinesGegenwart. Und sie rief Monarch zu: »Ich spüre hier nocheine andere Person - ein« Frau, die einKomplementäraspekt von mir ist, eine Frau, die et-| wasüber die Kodizille weiß. Ich bin mir nicht ganz sicher, was

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hier passiert, aber ich weiß, daß die Kodizille in Sicherheitsind.. Wir können jetzt nach Hause. Es ist alles inOrdnung. Die Kodizille sind in Sicherheit.«Ihr Bewußtsein fluktuierte. Sie und Monarch verbandensich wieder mental. Sie warfen noch einen letzten Blickauf die alte Küche und wußten, daß die Kodizille nunsicher in die Vergan

* Anmerkung: Interessierte Leser/innen brauchen nicht inAntiquariaten nach diesem bemerkenswerten Buch eineraußergewöhnlichen Autorin zu fahnden, sie erhalten esnoch in normalen Buchläden; deutsche Ausgabe: Dialogder Seele von Jane Roberts, Goldmann Verlag, München1989.

genheit eingepflanzt waren. Die Rhythmen desGeistreisens stabilisierten sich, und sie traten ihre mentaleReise nach Hause an, zufrieden, voller Freude und für dieFünfhundertjahrfeier bereit.Josephine, in ihrem Arbeitszimmer, nahm das Buchwieder zur Hand, warf einen Blick auf diese sobedeutungsvollen Passagen, und als sie das tat, blitztensie in Leonas Geist auf, und in Fensters und Monarchs,und in Gregory Diggs' und in dem beider Georges und inÜberseele Siebens.Aber Sieben war der einzige, der Kypros sah. Sie lächeltedas friedvollste und heiterste Lächeln, das UberseeleSieben je gesehen hatte. Sieben versuchte, alles zugleichim Auge zu behalten. Vor Aufregung und Erleichterungverschlug es ihm schier die Sprache.

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Gleichzeitig sagte Kypros: »Sieben, schau da.« Und ersah die schmale Hand George des Ersten, die anfing, indieses alte Tagebuch zu schreiben. Und er sah, daß dieseHand nun diese so entscheidenden Worte »Die Kodizille«niederschrieb. »Sapperlot«, rief George der Erste: »Wasfür ein Glück!«»Man kann nie wissen«, flüsterte Sieben George mentalzu. »Lebwohl, lieber Freund, jedenfalls für den Moment.«Und grinsend fügte er hinzu: »Es war eine - ah - superBeziehung. Du hattest bei deinen Bestrebungen undStudien weitaus mehr Erfolg, als du weißt.«Und Sieben wußte, daß alles in Ordnung war, immer inOrdnung gewesen war, daß es nur ihre Ängste undZweifel gewesen waren, die alles so falsch und verquerhatten erscheinen lassen. Sie alle waren eingebettet undgeschützt, waren immer in Sicherheit gewesen, vollerJubel im innersten Herzen ihres eigenen Seins. Da warnichts, wovor sie sich fürchten mußten, wenn sie nurdieser gütigen Sicherheit vertrauten, die ewig die Kraft unddas Lebensprinzip ihres Seins in sich barg, denn sie allewaren wahrhaft wunderbar. Sie waren Teil einesliebenden Universums, das sie auf immer in einerSicherheit und Liebe umfing, die buchstäblichunbegreiflich war.»Diese Liebe ist nun Teil von uns allen«, rief SiebenKypros zu. »Ich kann sie spüren, wenn ich mich nichtangestrengt darum bemühe. Angestrengtheit macht esschwierig, denn sie ist immer da. Sie ist immer hier« —Sieben lächelte ungläubig - »Oder da. Jedenfalls ist sieüberall und behütet und beschützt das Herz unseres

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Seins. So ist es also in Ordnung. Alles ist in Ordnung undwar es immer.«Und Kypros antwortete: »Was habe ich dir gesagt?«Laut sagte Sieben zu George und Gregory Diggs: »Ichmuß jetzt gehen, oder jedenfalls sehr bald. Aber auchwenn ihr mich nicht seht, bin ich da und in gewisser Weiseein Teil von jedem von euch.«Er tastete im Innern seines Bewußtseins herum und sahJosephine mit überhöhter Geschwindigkeit auf dunklenStraßen zu Georges Haus rasen. »Nimm das Lebenleichter«, sagte er sanft zu ihr. »Du leistest mehr, als dirklar ist, und wie ich den anderen schon sagte, alles ist imGrunde in Ordnung...« Sieben spürte die Nachtluft undroch den verblühenden Flieder und wußte, daß Josephinein den Hinterhof einbog. Er flüsterte noch mal ein Lebwohl,und Josephine lächelte, als sie vor Georges Garage zumStehen kam, ausstieg und ihr Kleid glattstrich.Sieben fühlte einen Kloß in seiner physischen Kehle. »Ichmochte diesen physischen Körper irgendwie«, sagte er zuGeorge. »Die Augen und die Hände und das Haar, dieOhren und all das passen mir wirklich gut. Aber ich gehörenicht wirklich in dieser Weise hierher, weißt du - und ichglaube, George, irgendwie hast du das immer gewußt. Ichwünsche euch allen viel Glück, aber ich fürchte, ihr werdeteuch nicht an mich erinnern. Nicht bewußt. Ich werdetrotzdem da sein...« Sieben sah sie alle der Reihe nach anund grinste das schönste, fröhlichste Grinsen, das erzuwegebringen konnte.Kypros sagte sanft: »Es ist jetzt Zeit, Sieben. Sie werdensich nicht erinnern und doch erinnern.«

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»An was nicht erinnern?« fragte George.