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Band1: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ...media.libri.de/shop/coverscans/135/13560592_lprob.pdfMARCEL PROUST FRANKFURTER AUSGABE HERAUSGEGEBEN VON LUZIUS KELLER WERKE II ·

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SV

MARCEL PROUSTFRANKFURTER AUSGABE

HERAUSGEGEBEN

VON LUZIUS KELLER

WERKE II · BAND 1

MARCEL PROUSTAUF DER SUCHE

NACH DER

VERLORENEN ZEIT 1

UNTERWEGS

ZU SWANN

SUHRKAMP

Originaltitel:À la recherche du temps perdu.

Du côté de chez SwannAus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens;

revidiert von Luzius Keller.

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010© für diese deutschsprachige Ausgabe

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1994Alle Rechte vorbehalten

www.suhrkamp.deeISBN 978-3-518-74261-7

UNTERWEGS ZU SWANN

Für Monsieur Gaston Calmette.Zum Zeugnis fürtiefe und herzliche Dankbarkeit.1

ERSTER TEIL

COMBRAY

i

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.1 Manchmal,die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen sorasch zu, daß keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafeein. Und eine halbe Stunde später weckte mich der Ge-danke, daß es Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wolltedas Buch fortlegen, das ich noch in Händen zu haltenwähnte, und das Licht ausblasen; im Schlaf hatte ichweiter über das eben Gelesene nachgedacht, diesesNachdenken aber hatte eine eigentümliche Wendunggenommen: mir war, als sei ich selbst es, wovon das Buchsprach – eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwi-schen Franz i. und Karl v.2 Diese Vorstellung hielt nocheinige Sekunden nach meinem Erwachen an; mein Ver-stand stieß sich nicht an ihr, doch lag sie mir wie Schup-pen auf den Augen und hinderte diese zu erkennen, daßdie Leuchte nicht mehr brannte. Dann wurde sie mirimmer unbegreiflicher, wie nach der Seelenwanderungdas in einer früheren Existenz Gedachte; das Themades Buches löste sich von mir, ich war frei, mich damitzu befassen oder nicht; bald gewann ich mein Sehvermö-gen zurück und war höchst erstaunt, um mich her eineDunkelheit vorzufinden, die für meine Augen, abermehr noch vielleicht für meinen Geist angenehm underholsam war, dem sie wie etwas Grundloses, Unbe-greifliches, wie etwas wahrhaft Dunkles erschien. Ich

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fragte mich, wie spät es wohl sei, ich hörte das Pfeifender Züge, das bald nah, bald fern wie der Gesang einesVogels im Wald die Entfernungen deutlich machte undmir die Weite des öden Landes beschrieb, wo der Rei-sende der nächsten Station entgegeneilt; und derschmale Weg, dem er folgt, wird sich seinem Gedächtniseinprägen durch die Erregung, die er neuen Orten ver-dankt, ungewohnten Handlungen, dem eben stattgefun-denen Gespräch und dem Abschied unter der fremdenLampe, der ihm in der Stille der Nacht noch nachgeht,dem bevorstehenden Glück der Heimkehr.

Zärtlich drückte ich meine Wangen an die schönenWangen des Kissens, die rund und frisch sind wie dieWangen unserer Kindheit. Ich strich ein Zündholz anund schaute auf die Uhr. Bald Mitternacht. Dies ist derAugenblick, da der Kranke, der verreisen und in einemunbekannten Hotel übernachten mußte, wenn er voneinem Anfall geweckt wird, sich freut, unter der Türeinen Lichtstreifen zu bemerken. Gottlob, schon Mor-gen! Gleich wird das Hauspersonal auf sein, wird erschellen können, wird man ihm Hilfe bringen. Das Hof-fen auf Erleichterung gibt ihm Mut zu leiden. Hat ernicht eben Schritte gehört? Die Schritte kommen näher,entfernen sich wieder. Und der Lichtstreifen unter derTür ist verschwunden. Es ist Mitternacht; man hat so-eben das Gaslicht gelöscht; der letzte Dienstbote ist fort,und nun gilt es, unabänderlich die ganze Nacht hindurchzu leiden.

Ich schlief wieder ein und wachte dann manchmal nurnoch für Augenblicke auf, gerade lang genug, um dasorganische Knacken der Täfelung zu vernehmen, dieAugen zu öffnen und auf das Kaleidoskop der Dunkel-heit zu richten, dank einem kurzen Aufschimmern desBewußtseins den Schlaf zu kosten, in den die Möbelversunken waren, das Zimmer, dies Ganze, von dem ich

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nur ein kleiner Teil war und in dessen Fühllosigkeit ichgleich wieder einging. Oder ich war im Schlaf mühelosin eine für immer vergangene Zeit meines frühesten Le-bens zurückgekehrt, hatte irgendeine meiner Kindheits-ängste wiedergefunden, wie jene, mein Großonkelwürde mich an den Locken ziehen, eine Angst, die derTag, an dem man sie mir abschnitt – für mich der Beginneiner neuen Ära –, zum Verschwinden gebracht hatte.Während des Schlafs hatte ich dieses Ereignis vergessen;sobald es mir gelungen war aufzuwachen, um den Fän-gen meines Onkels zu entwischen, kam mir die Erinne-rung daran wieder, doch vorsichtshalber grub ich denKopf tief in mein Kissen, bevor ich in die Welt derTräume zurückkehrte.

Wie Eva aus einer Rippe Adams, so entstand manch-mal, während ich schlief, aus einer falschen Lage meinerSchenkel eine Frau. Sie war ein Gebilde der Lust, die inmir hochstieg, doch stellte ich mir vor, diese Lust würdemir von ihr geschenkt. Mein Körper, der in dem ihrenmeine eigene Wärme spürte, wollte sich damit vereinen,ich wachte auf. Die übrige Menschheit erschien mir weitin die Ferne gerückt im Vergleich zu dieser Frau, die ichvor Sekunden erst verlassen hatte; meine Wange glühtenoch von ihrem Kuß, mein Körper war wie zerschlagenvon der Last ihrer Gestalt. Wenn sie, wie es bisweilenvorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im Leben ge-troffen hatte, gab ich mich ganz dem einen Ziel hin: siewiederzufinden, wie jene, die sich auf eine Reise bege-ben, um mit eigenen Augen die Stadt ihrer Sehnsuchtzu schauen, und sich einbilden, man könne irgendwoin der Wirklichkeit den Zauber des Traums erleben. All-mählich verblaßte die Erinnerung an sie, ich hatte dasGeschöpf meines Traums vergessen.

Im Schlaf versammelt der Mensch um sich im Kreiseden Lauf der Stunden, die Ordnung der Jahre und der

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Welten.1 Er zieht sie instinktiv zu Rate, wenn er auf-wacht, und liest in einer Sekunde daraus ab, an welchemPunkt der Erde er sich befindet, wieviel Zeit bis zuseinem Erwachen verflossen ist; doch können ihre Ord-nungen durcheinandergeraten, sie können zusammen-brechen. Wenn ihn beispielsweise gegen Morgen, nach-dem er eine Weile schlaflos dagelegen hat, beim Lesender Schlummer in einer ganz anderen als der normalenSchlafstellung überf ällt, dann genügt das Heben einesArms, um die Sonne in ihrem Lauf anzuhalten und rück-wärts gehen zu lassen2: er verliert sein Zeitgefühl, und inder ersten Minute seines Erwachens wird er meinen, ersei eben erst zu Bett gegangen. Oder wenn er in einernoch unüblicheren und ausgefalleneren Stellung ein-schlummert, etwa nach dem Abendessen in einemLehnstuhl, dann ist das Durcheinander in den aus derBahn geworfenen Welten vollkommen, der Zauberses-sel trägt ihn in Windeseile durch Zeit und Raum dahin3,und in dem Augenblick, da er die Lider öffnet, ist ihm,als liege er einige Monate früher in einer anderen Ge-gend. Doch es genügte, daß ich in meinem eigenen Betttief schlief und mein Geist sich dabei völlig entspannte,damit ihm der Lageplan des Ortes entglitt, an dem icheingeschlafen war; und wenn ich mitten in der Nacht er-wachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand und des-halb im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war;ich verspürte nur, ursprünglich, elementar, jenes Daseins-gefühl, wie es in einem Tier beben mag; ich war entblöß-ter als ein Höhlenmensch; doch dann kam mir dieErinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich michbefand, wohl aber an einige andere, an denen ich ge-wohnt hatte und wo ich hätte sein können – gleichsamals Hilfe von oben her, um mich aus dem Nichts zuziehen, aus dem ich von selbst nicht herausgefundenhätte; in einer Sekunde überflog ich Jahrtausende der

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Menschheitsgeschichte, und die verschwommen undflüchtig geschauten Bilder von Petroleumlampen undvon Hemden mit Umlegekragen fügten nach und nachdie originären Züge meines Ich wieder zusammen.

Vielleicht wird die Unbeweglichkeit der Dinge umuns diesen durch die Unbeweglichkeit unseres Denkensihnen gegenüber aufgezwungen, durch unsere Gewiß-heit, daß sie es sind und keine anderen. Jedenfalls, wennich in dieser Weise erwachte und mein Geist erfolglosherauszufinden suchte, wo ich mich befand, kreiste inder Dunkelheit alles um mich herum, die Dinge, dieLänder, die Jahre. Noch zu benommen vom Schlaf, umsich zu rühren, suchte mein Körper nach der Art seinerMüdigkeit die Stellung seiner Glieder auszumachen,um daraus die Richtung der Wand, den Platz der Möbelabzuleiten, um die Wohnung, in der er sich befand, imGeiste wiederherzustellen und zu benennen. Sein Ge-dächtnis, das Gedächtnis seiner Rippen, seiner Knie,seiner Schultern, zeigte ihm nacheinander mehrereZimmer, in denen er geschlafen hatte, während ringsum ihn her die unsichtbaren Wände je nach der Form desvorgestellten Raums ihre Lage änderten und sich wir-belnd in der Finsternis drehten. Und bevor noch meinDenken, das an der Schwelle der Zeiten und Formenzögerte, die Umstände zusammengebracht und damitdie Räumlichkeiten bestimmt hatte, erinnerte er – meinKörper – sich von einer jeden an die Art des Bettes, dieLage der Türen, die Fensteröffnungen, das Vorhanden-sein eines Flurs, zusammen mit dem Gedanken, den ichdort beim Einschlafen hatte und beim Erwachen wie-derfand. Wenn meine versteifte Seite ihre Lage zu be-stimmen suchte und sich zum Beispiel längs der Wandausgestreckt in einem großen Himmelbett wähnte,sagte ich mir: Schau, nun bin ich am Ende doch einge-schlafen, obwohl mir Mama nicht gute Nacht gesagt

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hat; ich war auf dem Lande bei meinem Großvater, derseit langen Jahren tot ist; und mein Körper, die Seite,auf der ich lag, treue Bewahrer einer Vergangenheit,die mein Geist niemals hätte vergessen sollen, riefenmir die Flamme der urnenförmigen Nachtlampe ausböhmischem Glas, die an dünnen Ketten von der Zim-merdecke hing, ins Gedächtnis zurück, den Kamin ausSienamarmor in meinem Schlafzimmer in Combraybei meinen Großeltern, aus fernen Tagen, die mir in die-sem Augenblick gegenwärtig schienen, ohne daß ich siemir genau vorstellte, und die ich etwas später, wenn ichvöllig wach wäre, wieder genauer vor mir sähe.

Dann tauchte die Erinnerung an eine weitere Stellungauf; im Nu nahm die Wand eine andere Richtung; ich warin meinem Zimmer bei Madame de Saint-Loup auf demLande. Mein Gott!1 Es ist mindestens zehn Uhr, sichersind sie längst mit dem Abendessen fertig! Ich habe wohldie allabendliche Siesta zu sehr ausgedehnt, die ich nachmeinem Spaziergang mit Madame de Saint-Loup halte,bevor ich mich für den Abend umkleide. Denn vieleJahre sind vergangen seit Combray, wo ich, so spät wirauch nach Hause zurückkehrten, stets noch den rotenWiderschein des Sonnenuntergangs auf den Scheibenmeines Fensters erblickte. In Tansonville, bei Madamede Saint-Loup, führt man ein anderes Leben, finde icheine andere Art von Vergnügen, wenn ich nur des Nachtshinausgehe, im Mondschein jenen Wegen folge, auf de-nen ich einst im Sonnenschein spielte; und das Zimmer,in dem ich wohl eingeschlafen bin, anstatt mich zumAbendessen umzukleiden – von weitem erkenne ich es,wenn wir nach Hause zurückkehren, vom Lichtstrahlder Lampe durchdrungen, dem einzigen Leuchtfeuer inder Nacht.

Diese verworrenen, ineinanderkreisenden Erinne-rungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an;

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meine kurze Unsicherheit über den Ort, an dem ichmich befand, unterschied ebensowenig die einzelnenVermutungen, aus der sie bestand, wie wir die einanderablösenden Stellungen eines laufenden Pferdes isolieren,die das Kinetoskop1 uns zeigt. Doch ich hatte bald daseine, bald das andere der Zimmer, die ich in meinem Le-ben bewohnt hatte, vor mir gesehen, und in den langenTräumereien nach meinem Erwachen rief ich sie mirschließlich alle ins Gedächtnis zurück; Winterzimmer2,wo wir uns zusammenrollen, wenn wir im Bett liegen,den Kopf in einem Nest, das wir uns aus den verschie-denartigsten Dingen flechten: einer Ecke des Kopfkis-sens, dem oberen Teil der Bettdecke, dem Zipfel einesSchals, dem Bettrand, einer Nummer der Débats roses3,die wir schließlich zusammenkitten, indem wir uns ge-mäß der Technik der Vögel unablässig dagegenpressen;wo bei Eiseskälte das besondere Vergnügen darin be-steht, sich von der Außenwelt getrennt zu fühlen (wiedie Seeschwalbe, die ihr Nest tief in einem Gang in derWärme der Erde hat), und wo wir dank dem die ganzeNacht hindurch unterhaltenen Kaminfeuer in einemgroßen Mantel aus warmer, rauchiger Luft schlafen,durch den der Schein frisch aufflammender Scheitedringt, in einer Art von ungreifbarem Alkoven, vonwarmer Höhle, die sich im Inneren des Zimmers auftut,einer heißen Zone mit veränderlichen thermischen Kon-turen, durchzogen von Luftzügen, die uns das Gesichterfrischen und aus den Ecken kommen, von Stellen nahedem Fenster oder fern vom Feuer, die sich schon abge-kühlt haben; – Sommerzimmer, wo wir uns gerne mitder lauen Nacht vereinen, wo das Mondlicht auf denhalbgeöffneten Läden liegt und seine Zauberleiter bisans Fußende des Bettes wirft, wo wir fast im Freienschlafen wie die Meise, die sich im Hauch des Windes aufder Spitze eines Strahles wiegt; – manchmal das Louis-

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Seize-Zimmer, das etwas so Heiteres hatte, daß ich darinselbst am ersten Abend nicht allzu unglücklich war, undin dem die kleinen Säulen, die mühelos die Decke tru-gen, so anmutig auseinanderrückten, um den Platz fürdas Bett anzugeben und freizuhalten; manchmal dagegenjenes kleine mit der so hohen Decke, das sich pyrami-denförmig über zwei Stockwerke hin wölbte und teil-weise mit Mahagoni verkleidet war, wo ich von der er-sten Sekunde an durch den unbekannten Vetivergeruchseelisch vergiftet wurde, überzeugt von der Feindselig-keit der violetten Vorhänge und der unverschämtenGleichgültigkeit der Pendeluhr, die ganz laut vor sichhin schwatzte, als wäre ich gar nicht da; – wo ein seltsa-mer und unerbittlicher viereckiger Standspiegel schrägeine Zimmerecke verstellte und sich in der angenehmenAusgefülltheit meines gewohnten Gesichtsfeldes einenPlatz eingrub, der nicht vorgesehen war; – wo in stun-denlangen Versuchen, sich zu verrenken, sich in dieHöhe zu recken, um die genaue Form des Zimmers an-zunehmen und dessen gigantischen Trichter bis zuoberstauszufüllen, mein Denken manche harte Nacht durchlit-ten hatte, während ich in meinem Bett lag mit erhobe-nem Blick, ängstlich gespanntem Ohr, widerspenstigerNase und klopfendem Herzen; bis die Gewohnheit dieFarbe der Vorhänge verändert, die Pendeluhr zumSchweigen gebracht, den schrägen und grausamen Spie-gel Mitleid gelehrt, den Vetivergeruch zwar nicht völligverjagt, aber doch überdeckt und die scheinbare Höheder Decke beträchtlich vermindert hatte. Ja, die Ge-wohnheit! Sie ist eine geschickte, aber sehr langsameEinrichterin, die unseren Geist zunächst einmal wo-chenlang in einem Provisorium schmachten läßt; dochist er trotz allem froh, sie vorzufinden, denn ohne dieGewohnheit, nur auf sich selbst gestellt, wäre er außer-stande, uns eine Behausung bewohnbar zu machen.

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Gewiß war ich nun völlig wach, mein Körper hatteeine letzte Drehung vollzogen, und der gute Engel derGewißheit hatte alles um mich her zum Stillstand ge-bracht, mich unter meine Decken gebettet, in meinemZimmer, und hatte in der Dunkelheit meine Kommode,meinen Schreibtisch, meinen Kamin, das Fenster zurStraße und die beiden Türen annähernd an ihren Platzgebracht. Mochte ich jetzt auch noch so gut wissen,daß ich mich nicht in den Wohnungen befand, von de-nen mir die Benommenheit im Augenblick des Erwa-chens zwar kein deutliches Bild gegeben, aber ihre mög-liche Gegenwart doch glaubhaft gemacht hatte, meinGedächtnis war in Bewegung geraten; meist versuchteich nicht, gleich wieder einzuschlafen; ich verbrachteden größten Teil der Nacht damit, an unser Leben vonfrüher zurückzudenken, in Combray bei meiner Groß-tante, in Balbec, in Paris, in Doncières, in Venedig undanderswo1, mir die Stätten in Erinnerung zu rufen, dieMenschen, die ich dort gekannt, was ich von ihnen ge-sehen und was man mir von ihnen erzählt hatte.

In Combray2 wurde Tag für Tag mein Schlafzimmer,sobald der Abend näher rückte, doch lange bevor ichmich zu Bett begeben und, ohne einschlafen zu können,von Mutter und Großmutter fernbleiben müßte, vonneuem zum schmerzvollen Punkt, auf den sich meineGedanken fixierten. Wohl war man, um mich abzulen-ken, wenn ich abends allzu unglücklich dreinschaute,auf die Idee gekommen, mir eine Laterna magica zuschenken, die – bis das Abendessen bereit war – auf mei-ner Lampe befestigt wurde; und wie die ersten Baumei-ster und Glasmaler der Gotik ersetzte sie nun die massiveMauerfläche durch ungreifbare, irisierende Lichtspiele,übernatürliche und buntfarbige Erscheinungen, die Le-genden darstellten wie auf einem schwankenden undnur für einen Augenblick sichtbaren Kirchenfenster.

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Meine Betrübnis aber wurde dadurch nur noch größer,denn allein schon der Beleuchtungswechsel zerstörtedie Vertrautheit, die ich meinem Zimmer gegenüber ge-wonnen hatte und dank der es mir – abgesehen von derQual des Zubettgehens – erträglich geworden war.Nun vermochte ich es nicht wiederzuerkennen undwar darin so unruhig wie im Zimmer eines Hotels odereines Ferienchalets, das ich gleich nach der Ankunft mitder Eisenbahn zum ersten Mal betreten hätte.

Ruckweise und Schreckliches sinnend kam Golo ausdem dreieckigen Wäldchen herausgeritten1, dessendunkles Grün sich wie eine Samtdecke über den Abhangeines Hügels legte, und näherte sich in zuckender Bewe-gung dem Schloß der bedauernswerten Genoveva vonBrabant.2 Dieses Schloß hörte wie abgeschnitten an ei-ner krummen Linie auf, die nichts anderes war als derRand eines der Glasovale im Rähmchen, das man durchdie Führung der Laterne schob. Es war nur eine Eckevon einem Schloß, und vor ihm lag eine Heide mit dervor sich hin träumenden Genoveva, die einen blauenGürtel trug. Schloß und Heide waren gelb, doch hatteich sie nicht erst zu sehen brauchen, um ihre Farbe zukennen; denn lange vor den Glasscheiben des Rähm-chens hatte der braungoldene Wohlklang des NamensBrabant mir diese schon deutlich vor Augen geführt.Golo hielt einen Augenblick inne, um mit kummervol-ler Miene die Legende anzuhören, die meine Großtantevortrug und die er völlig zu verstehen schien, paßte erdoch – mit einer Gefügigkeit, die eine gewisse Würdenicht ausschloß – seine Haltung den Angaben des Textesan. Dann entfernte er sich auf die gleiche ruckartigeWeise. Und nichts vermochte seinen langsamen Ritt auf-zuhalten. Wurde die Laterne verschoben, so gewahrteich Golos Roß, wie es sich über die Vorhänge des Fen-sters hin weiterbewegte und sich in ihrem Faltenspiel

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hinaufwölbte und hinunterkrümmte. Selbst Golos Kör-per, von ebenso übernatürlichem Wesen wie der seinesReittiers, kam mit jedem materiellen Hindernis, jedemstörenden Gegenstand auf seinem Weg zurecht, indemer ihn sich einverleibte und sich seiner wie eines Kno-chengerüstes bediente, bis hin zum Türknopf, um densich plötzlich und unwiderstehlich Golos roter Mantellegte oder sein bleiches Gesicht, immer gleich edel,gleich melancholisch, doch scheinbar unbeeindrucktvon dieser Entrückung.1

Gewiß, sie waren nicht ohne Reiz, diese glitzerndenProjektionen, die aus merowingischer Vorzeit zu kom-men schienen und Bilder längst vergangener Zeiten anmir vorüberziehen ließen.2 Aber ich kann gar nicht sa-gen, wie unheimlich mir dennoch dieses Eindringen desMysteriums und der Schönheit in ein Zimmer war, dasich endlich so sehr mit meinem Ich erfüllt hatte, daß ichihm nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte als eben die-sem. Nun aber, da der anästhesierende Einfluß der Ge-wohnheit aufgehört hatte, begann ich zu denken, zufühlen – beides traurige Dinge. Dieser Knopf an der Türmeines Zimmers, der sich für mich von allen anderenTürknöpfen der Welt dadurch unterschied, daß er dieTür ganz von alleine zu öffnen schien, ohne daß ich ihnzu drehen brauchte, so unbewußt betätigte ich ihn –nun diente er Golo als Astralleib. Und kaum wurde zumAbendessen geklingelt, rannte ich eiligst ins Eßzimmer,wo die schwerf ällige Hängelampe nichts von Golo undBlaubart wußte, dafür aber meine Eltern und den Bœufà la casserole kannte und wie jeden Abend ihr Lichtspendete, um mich in die Arme Mamas zu werfen, diemir durch Genoveva von Brabants trauriges Schicksalnoch lieber wurde, während mich Golos Verbrechen an-hielten, mein eigenes Gewissen mit noch mehr Sorgfaltzu durchforschen.

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Nach dem Abendessen, ach! mußte ich bald Mamaverlassen, die blieb, um mit den anderen zu plaudern,bei schönem Wetter im Garten, bei schlechtem in demkleinen Salon, in den sich dann alle zurückzogen. Alle,außer meiner Großmutter, die fand, es sei »ein Jammer,wenn man auf dem Lande war, in der Stube zu hocken«,und die endlose Diskussionen mit meinem Vater hatte,weil er mich an Tagen, wo es allzusehr regnete, auf meinZimmer lesen schickte, anstatt mich zum Draußenblei-ben zu veranlassen. »Auf die Weise wird er nie robustund energisch werden«, pflegte sie traurig zu äußern,»gerade dieser Kleine, der es so nötig hätte, zu Kräftenzu kommen und seinen Willen zu stählen.« Mein Vaterzuckte dann die Achseln und schaute prüfend das Baro-meter an, denn er hatte eine Schwäche für Meteorolo-gie, während meine Mutter, die sich möglichst leiseverhielt, um ihn nicht zu stören, ihn mit zärtlichem Re-spekt anblickte, allerdings nicht zu aufmerksam, damites nicht aussähe, als wolle sie in das Geheimnis seinerÜberlegenheit eindringen. Meine Großmutter aberkonnte man bei jedem Wetter, selbst wenn es in Strömenregnete und Françoise hinausgestürzt war, um die kost-baren Rohrmöbel hereinzuholen, damit sie nicht naßwürden, im leeren, vom Platzregen durchfegten Gartensehen, wie sie ihre zerzausten grauen Haare zurückstrich,damit ihre Stirn die heilsamen Kräfte von Wind und Re-gen um so tiefer in sich aufnehme. »Endlich kann maneinmal frei atmen!« pflegte sie dann zu sagen und eiltedurch die aufgeweichten Wege – die ihrer Meinung nachvon dem neuen Gärtner, der kein Naturgefühl besaßund den mein Vater seit dem Morgen schon befragthatte, ob das Wetter sich aufklären würde, allzu symme-trisch angelegt waren – mit enthusiastischen, ruckar-tigen, kurzen Schritten, die sich nach den verschiede-nen Empfindungen regelten, wie sie in ihrer Seele durch

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den Rausch des Unwetters, die Macht der Hygiene, dieTorheit meiner Erziehung und die Symmetrie des Gar-tens hervorgerufen wurden, nicht aber nach dem ihrunbekannten Wunsch, ihrem prunefarbenen Rock dieSchlammspritzer zu ersparen, unter denen er bis zu einerHöhe verschwand, die für ihr Zimmermädchen stets einProblem und ein Gegenstand der Verzweiflung war.

Fanden Großmutters Rundgänge durch den Gartennach dem Abendessen statt, dann vermochte nur einessie ins Haus zurückzubringen: wenn nämlich in einemder Augenblicke, da ihre Umlaufbahn sie in regelmäßi-gen Abständen wie ein Insekt an die beleuchteten Fen-ster des kleinen Salons führte, wo gerade auf demSpieltisch die Liqueurs serviert wurden, meine Groß-tante ihr zurief: »Bathilde! Sieh doch zu, daß dein Mannkeinen Cognac trinkt!«1 Um sie zu necken (sie hatte indie Familie meines Vaters einen so anderen Geist hinein-gebracht, daß sich alle über sie lustig machten und siequälten), veranlaßte meine Großtante nun tatsächlichmeinen Großvater, dem die Schnäpse verboten waren,ein paar Tropfen zu trinken. Meine arme Großmutterkam herein und beschwor ihren Mann, keinen Cognaczu trinken; er wurde böse, trank trotzdem sein Gläschen,und meine Großmutter ging traurig, entmutigt undgleichwohl lächelnd davon, denn sie war so demütigenHerzens und so sanftmütig, daß ihre Zärtlichkeit fürdie anderen und die geringe Wichtigkeit, die sie ihrer ei-genen Person und ihren Leiden beilegte, sich in ihremBlick in einem Lächeln versöhnten, das ganz im Gegen-satz zu dem, was man auf den meisten Gesichtern liest,Ironie nur gegen sich selbst enthielt; uns aber streiftenihre Augen alle wie mit einem Kuß, denn sie konnte ihreLieben nicht anschauen, ohne sie leidenschaftlich mitdem Blick zu streicheln. Die Marter, die meine Groß-tante ihr auferlegte, das Schauspiel der vergeblichen

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Bitten meiner Großmutter und ihrer Schwäche, die sichim voraus geschlagen gab, wenn sie umsonst versuchte,meinem Großvater sein Glas Liqueur auszureden, dasalles waren Dinge, an die man sich später so weitgehendgewöhnt, daß man sie lachend mitansieht und wohlauch entschieden und in aller Heiterkeit die Partei desVerfolgers ergreift, um sich selbst zu überzeugen, daß essich eigentlich nicht um eine Verfolgung handelt; da-mals flößten sie mir solches Grauen ein, daß ich meineGroßtante am liebsten geschlagen hätte. Sobald ich aberhörte: »Bathilde, sieh doch zu, daß dein Mann keinenCognac trinkt!« tat ich, an Feigheit bereits ein Mann,was wir, wenn wir groß sind, angesichts von Leidenund Ungerechtigkeiten alle tun: ich wollte sie nicht sehen;um meinen Tränen freien Lauf lassen zu können, stiegich im Haus bis unter das Dach, wo neben der Studier-stube eine kleine Kammer lag, die nach Iriswurzel rochund außerdem von einem wilden schwarzen Johannis-beerstrauch durchduftet wurde, der draußen zwischenden Mauersteinen wuchs und einen Blütenzweig durchdas halboffene Fenster schob. An sich für einen speziel-leren und alltäglicheren Gebrauch bestimmt, diente mirdieser Raum, von dem aus man bei Tag bis zum Turmvon Roussainville-le-Pin blicken konnte, lange Zeit,zweifellos weil er der einzige war, in dem ich mich ein-schließen durfte, als Zuflucht für all meine Beschäf-tigungen, die unverletzliche Einsamkeit erforderten:Lesen und Träumen, Tränen und Lust. Ich wußte nicht –Gott sei’s geklagt! –, daß weit mehr als die kleinenVerstöße ihres Gatten gegen seine Diät meine Willens-schwäche, meine zarte Gesundheit sowie die Ungewiß-heit, mit der sie meine Zukunft überschatteten, meineGroßmutter während ihres rastlosen nachmittäglichenund abendlichen Umherwandelns mit Besorgnis erfüll-ten, wenn man ihr schönes Antlitz immer wieder schräg

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