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Mit einem sprechenden weißen Kaninchen fängt alles an … Un-versehens und kopfüber landet Alice im Wunderland, wo höchst merkwürdige Dinge geschehen und ihr allerlei wundersame Ge-stalten begegnen. Sie trinkt Tee mit dem verrückten Hutmacher und dem Schnapshasen, triff t Spielkarten, die zum Leben er-weckt worden sind, und muss ein Duell der besonderen Art ge-gen die böse Herzkönigin austragen … Generationen von Lesern sind mit Alice und ihren Abenteuern im Wunderland herangewachsen; kein anderes Kinderbuch avan-cierte wie dieses zum Klassiker. Erschienen 1865, wurde es noch zu Lebzeiten des Autors zu einem ungeheuren Erfolg. Lewis Carroll, mit bürgerlichem Namen Charles Lutwidge Dodgson, wurde am 27. Januar 1832 in Daresbury (England) ge-boren. Er lehrte Mathematik in Oxford und schrieb neben seinen Hauptwerken Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln Erzählungen, Gedichte und auch wissenschaftliche Aufsätze. Alice im Wunderland, gewidmet der Tochter seines Dekans, Alice Plea-sance Liddell, wurde eines der meistzitierten Werke der Weltlite-ratur. Die Geschichte wurde mehrfach verfi lmt und dramatisiert. Lewis Carroll starb am 14. Januar 1898 in Guildford, im Alter von 66 Jahren.

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insel taschenbuch 4502Lewis Carroll

Alice im Wunderland

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Lewis CarrollAlice im Wunderland

Aus dem Englischen von Christian Enzensberger

Insel Verlag

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Umschlagabbildung: John TennielIllustration aus »Alice im Wunderland«© Private Collection / Th e Bridgeman

Art Library

insel taschenbuch 4502Erste Aufl age 2011

Insel Verlag Berlin 2011© Insel Verlag Frankfurt am Main 1963

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öff entlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografi e, Mikrofi lm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlaggestaltung: bürosüd, MünchenSatz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-36202-9

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Inhalt

. Hinab in das Kaninchenloch . Der Tränenteich . Ein Proporz-Wettlauf und eine weitschweifi ge

Geschichte . Was kommt da den Kamin herab? . Beratung durch eine Raupe . Ein gepfeff ertes Ferkel . Aberwitz und Fünf-Uhr-Tee . Königliche Croquetpartie . Die Erziehung einer Falschen Suppenschild-

kröte 10. Die Hummer-Quadrille . Wer war der Tortendieb? . Alice deckt die Karten auf

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Alice im Wunderland

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Gemach im goldenen Nachmittag Gleiten wir leis dahin,Da kleine Ärmchen ungeschickt Sich an den Rudern mühnUnd wenig achten, ob durchs Nass Einen graden Pfad sie ziehn.

Ihr schlimmen drei! Ach, lockt’s euch nicht, Die Stunde hinzuträumen?Erzählen? Wo mein Atem sich Fast selber möcht versäumen?Und doch – vor solcher Übermacht Muss ich das Feld wohl räumen.

Schon ordnet Prima hoheitsvoll Mir an: doch zu beginnen!Auch Unsinn, hoff t Sekunda drauf, Kommt doch wohl vor darinnen?Und Tertia lässt nicht einen Satz Ohne »Wieso?« verrinnen.

Doch bald wird’s still, und alles lauscht, Wie’s mit dem Kinde war,Das träumend durch ein Land gestreift, Gar neu und wunderbar,Und freundlich mit den Tieren sprach – Am Ende ist es wahr?

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Und wenn die Phantasie versiegt An sonderbarer KundeUnd müd der Dichter mehr verspricht Zu einer andern Stunde –»Die Stunde ist schon anders!«, heißt’s Dann wie aus einem Munde.

So trat das Wunderland gemach Ans Tageslicht heraus,Ward Stück für Stück euch vorgestellt: Nun ist das Märchen aus,Und fröhlich schaukelt jetzt das Boot Im Abendlicht nach Haus.

Alice! Ein kindlich Märchen nimm Und leg’s mit sanfter HandDorthin, wo sich um Kinderträum’ Geheim Erinnerung wand,Wie um den welken Pilgerstrauß, Gepfl ückt im fernen Land.

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kapitel eins

Hinab in das Kaninchenloch

Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bach ufer stillzusitzen und nichts zu tun; denn sie hatte wohl ein- oder zweimal einen Blick in das Buch geworfen, in dem ihre Schwester las, aber nirgends waren darin Bil-der oder Unter haltungen abgedruckt – »und was für einen Zweck haben schließlich Bücher«, sagte sich Alice, »in de-nen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkom-men?«Sie war infolgedessen gerade am Überlegen (soweit sich das machen ließ, denn vor lauter Hitze war sie schon ganz schläfrig und dumm im Kopf ), ob sich das Aufstehen wohl lohnte, wenn sie dafür Gänseblümchen pfl ücken und eine Kette daraus ma chen konnte, als plötzlich ein Weißes Ka-ninchen mit roten Augen dicht an ihr vorüberlief.Daran war an und für sich nichts Besonderes; auch fand es Alice noch nicht übermäßig seltsam, dass das Kaninchen vor sich hin murmelte: »Jemine! Jemine! Ich komme be-stimmt zu spät!« (als sie später darüber nachdachte, fi el ihr ein, dass sie sich eigentlich darüber hätte wundern müssen, aber im Augenblick erschien ihr das alles ganz natürlich); als daraufhin das Kaninchen aber wahrhaftig eine Uhr aus der Westentasche zog, nach der Zeit sah und dann weiter-lief, da war Alice mit einem Satz auf den Beinen, denn mit einem Mal war ihr klargeworden, dass sie noch nie zuvor

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ein Kaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, am allerwenigsten eines mit einer Uhr darin; und außer sich vor Neugier rannte sie ihm, so schnell sie konnte, über den Acker nach, wo sie es zum Glück noch gerade unter die Hecke in einen großen Kaninchenbau hineinspringen sah.Im Nu war ihm Alice nachgesaust, ohne auch nur von fern dar an zu denken, wie in aller Welt sie wohl wieder her-auskäme. Ein Stück weit führte der Bau wie ein Tunnel geradeaus, doch dann fi el der Gang plötzlich ab, so un-vermittelt, dass an ein Innehalten nicht mehr zu denken war und Alice auch schon in einen abgrundtiefen Schacht hinunterfi el.Dieser Schacht war nun entweder wirklich überaus tief, oder aber sie fi el ihn sehr langsam hinunter, denn sie konnte sich während des Sturzes in aller Ruhe umsehen und überlegen, was mit ihr jetzt wohl geschehen sollte. Als Erstes spähte sie in die Tiefe hinab, um zu erkennen, was ihr dort bevorstand, aber es war so dunkel, dass man nichts sehen konnte; dann betrach tete sie die Seitenwände des Schachts und bemerkte, dass sie aus lauter Bücherre-galen und Wandschränken bestanden; hie und da sah sie auch Landkarten und Bilder an Haken hängen. Aus einem der Regale nahm sie im Vorbeisausen ein Töpfchen mit; es trug ein Etikett mit der Aufschrift ›Orangenmarmelade‹, aber zu ihrer großen Enttäuschung war es leer. Einfach los-lassen wollte sie es nicht, denn dann fi el es womöglich je-mand auf den Kopf; aber dafür konnte sie es rasch in einen Schrank zurückstellen, an dem sie gerade vorbeistürzte. »Also wirklich!«, dachte Alice bei sich, »nach einem sol-

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chen Sturz macht es mir be stimmt nichts mehr aus, wenn ich einmal die Treppe hinunter falle. Da werden sie mich zu Haus aber für tapfer halten! Sogar nach einem Sturz vom Dach würde ich jetzt nicht einmal mehr Mucks sagen!«(Und da hatte sie wahrscheinlich recht.)Hinab, hinab, hinab. Wollte das denn nie ein Ende neh-men? »Wie viele Meilen ich wohl schon gefallen bin?«, sagte sie laut. »Weit kann es nicht mehr sein bis zum Erd-mittelpunkt. Das wären dann, ja: sechstausend Kilometer wären das, ungefähr wenigstens –« (denn, wohlgemerkt, Alice hatte mancherlei Dinge dieser Art in der Schule ler-nen müssen, und wenn dies auch keine sehr gute Gelegen-heit war, ihr Wissen anzubringen, weil ihr nämlich keiner zuhörte, so war es doch eine gute Übung) »– ja, das dürfte wohl die richtige Entfernung sein – aber dann möchte ich doch gerne wissen, welchen Längengrad ich wohl inzwi-schen habe und welchen Breitengrad?« (Was ein Längen- und ein Breitengrad war, davon hatte Alice keine Ahnung, aber zum Hersagen waren es schön lange und gelehrte Wörter.)Sogleich sprach sie weiter: »Es kann natürlich sein, dass ich durch die Erde einfach hindurchfalle! Das kann ja lustig wer den, wenn ich bei den Menschen herauskomme, die mit dem Kopf nach unten laufen! Die ›Antipathien‹ sagt man, glaube ich –« (und diesmal war sie recht froh, dass ihr wirklich keiner zuhörte, denn das Wort klang ganz und gar nicht richtig) »– aber ich werde mich erkundigen müs-sen, in welchem Land ich bin, darum komme ich nicht herum. Bitte, liebe Dame, können Sie mir sagen, ob hier

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Neuseeland oder Australien ist?« (Und bei diesen Worten versuchte sie einen Knicks zu ma chen – einen Knicks, wenn man durch die Luft saust! Glaubt ihr, das brächtet ihr auch fertig?) »Die werden mich dann aber für ein schön dummes Ding halten! Nein, das geht nicht an, dass ich mich erkun-dige; vielleicht steht es irgendwo ange schrieben.«Hinab, hinab, hinab. Etwas anderes gab es ja nicht zu tun, und also fi ng Alice bald wieder zu reden an. »Suse wird mich heute Abend sehr vermissen, möchte ich meinen!« (Suse, so hieß die Katze.) »Hoff entlich denkt auch jemand an ihr Milchschüssel chen beim Nachmittagstee. Suse, lie-be Katze, ich wollte, du wärst unten bei mir! Mäuse sind hier in der Luft zwar leider keine, aber vielleicht fi ngst du eine Fledermaus, das ist ja schließlich auch eine Art Maus. Die könntest du dann atzen – ich meine, sie könnte dich – also wie sagt man? Dass Katzen Fledermäuse atzen?« Und darüber wurde Alice auf einmal ganz schläfrig und sagte auf eine verträumte Weise vor sich hin: »Dass Katzen Fledermäuse atzen? Dass Fledermäuse Katzen atzen?« und manchmal auch: »Dass Fiederkatzen Mäuse at zen?«; denn weil sie die Antwort ja in keinem Fall wusste, müsst ihr verstehen, war es auch ganz gleich, wie herum sie fragte. Sie merkte noch gerade, wie sie einschlief, und hatte eben ange fangen von Suse zu träumen, wie sie mit ihr Hand in Hand spazieren ging und feierlich sagte: »Also, Suse, Hand aufs Herz: wie stehst du zu Fledermäusen?«, da fi el sie plötzlich bauz! par dauz! in einen Haufen dürrer Blätter, und ihr Sturz war zu Ende.Der Aufprall hatte Alice überhaupt nichts ausgemacht,

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und sie war sogleich wieder auf den Beinen; sie sah hin-auf, aber droben war alles dunkel; dafür führte auch von hier wieder ein gerader Gang weiter, und auch das Weiße Kaninchen war wieder zu sehen; gerade eilte es durch den Gang davon. Nun kam es auf jeden Augenblick an! Wie der Wind war Alice hinter ihm her und hörte es, bevor es um die Ecke bog, eben noch sagen: »Ohren und Bommel-schwanz, so spät schon!« Als sie die Ecke erreichte, hatte sie es schon fast eingeholt, aber dann war das Kaninchen auf einmal fort, und Alice stand mitten in einem langen, niedrigen Saal, der von einer Reihe von Hängelampen er-leuchtet war. Der Saal hatte ringsum lauter Türen, aber sie waren alle versperrt; und als Alice schließlich an jeder einzel nen gerüttelt hatte, zuerst auf der einen Seite, dann auf der an deren, ging sie traurig durch die Mitte zurück und fragte sich, wie sie hier wohl jemals wieder heraus-kommen sollte.Plötzlich stand sie vor einem dreibeinigen Tischchen, ganz aus Glas, und darauf lag als Einziges ein winziger goldener Schlüs sel; Alice dachte sogleich, der müsse zu einer der Türen im Saal gehören, aber ach! entweder wa-ren die Schlösser zu groß, oder das Schlüsselchen war zu klein: aufsperren ließ sich damit jedenfalls keine. Als sie aber die Runde zum zweiten Mal machte, kam sie an einen niedrigen Vorhang, den sie vorher übersehen hatte, und dahinter verbarg sich eine kleine, viel leicht zwei Spannen hohe Tür. Sie steckte das Schlüsselchen in das Schloss, und siehe da, zu ihrer großen Freude passte es. Alice öff nete die Tür und sah, dass sie in einen engen Gang führte, nicht

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viel höher als ein Mausloch. Sie kniete nieder, und als sie hineinschaute, fi el ihr Blick in den schönsten Garten, den ihr euch nur denken könnt. Da hätte sie freilich gern den düstern Saal hinter sich gelassen und sich zwischen den bunten Blumenbeeten und den kühlen Springbrunnen ge-tummelt; aber nicht einmal den Kopf bekam sie durch die Tür. »Und selbst wenn mein Kopf hindurchginge«, dachte die arme Alice, »könnte ich mit ihm ohne die Schultern auch nicht viel anfan gen. Ach, ich wünschte, ich könnte mich wie ein Fernglas zu sammenschieben! Ich glaube, ich brächte es auch fertig, wenn ich nur wüsste, wie man da-mit anfängt.« Denn seht ihr, Alice waren bis jetzt schon so viele ungewöhnliche Dinge zugesto ßen, dass sie langsam nur noch das wenigste für unmöglich hielt.Noch länger vor der Tür herumzustehen hatte nicht viel Sinn, und darum ging sie zu dem Tischchen zurück und hoff te dabei so halb, es könnte dort vielleicht inzwischen ein neuer Schlüssel liegen oder doch jedenfalls ein Buch mit Anleitungen, wie man sich als Mensch zusammen-schiebt; aber jetzt stand da nur ein Fläschchen (»das vorher bestimmt noch nicht dagestanden hat«, sagte Alice) mit einem Papierschild um den Hals, auf dem in großen, schö-nen Lettern geschrieben stand ›Trink mich‹.›Trink mich‹, das war ja nun leicht gesagt, aber das wollte sich die kluge kleine Alice denn doch lieber zweimal über-legen. »Nein, vorher will ich doch nachsehen«, sagte sie, »ob nicht irgendwo ›Vorsicht! Gift!‹ draufsteht«; denn sie hatte schon verschiedene schöne Geschichten von Kindern gelesen, die sich verbrüht hatten oder von wilden Tieren

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zerrissen worden oder in andere unangenehme Lagen ge-kommen waren, und alles nur, weil sie sich die leichten Regeln einfach nicht merken wollten, die ihnen freund-liche Menschen mit auf den Weg ge geben hatten, wie zum Beispiel: Wenn man einen glühenden Schürhaken lange in der Hand hält, verbrennt man sich, oder: Wenn man sich mit einem Messer besonders tief in den Finger schneidet, blutet es gewöhnlich; und so hatte sie sich auch fest einge-prägt, dass einem ein herzhafter Trunk aus einer Flasche mit der Aufschrift ›Vorsicht! Gift!‹ beinah mit Sicherheit frü her oder später nicht gut bekommt.Nun, auf diesem Fläschchen stand nirgends ›Vorsicht! Gift!‹, und deshalb nahm sich Alice ein Herz und kostete davon; und da es sehr gut schmeckte (genauer gesagt, nach einer Mischung aus Kirschtörtchen, Vanillesoße, Ananas, Gänsebraten, Kara mell und frischen Buttersemmeln), war sehr bald nichts mehr davon übrig.»Was für ein ulkiges Gefühl!«, sagte Alice. »Anscheinend schiebe ich mich jetzt zusammen wie ein Fernrohr.«Und so war es in der Tat: sie war höchstens noch eine Spanne groß, und ihre Miene hellte sich auf, als ihr einfi el, dass sie jetzt durch die kleine Tür passte, um in den herr-lichen Garten zu ge langen. Vorher aber wartete sie noch ei-ne Weile ab, ob sie nicht noch weiter am Schrumpfen war; dieser Gedanke beunruhigte sie etwas, »denn es könnte ja passieren«, sagte sich Alice, »dass ich am Ende völlig ausge-he, wie eine Kerze. Wie ich dann wohl aussähe?« Und sie versuchte sich vorzustellen, wie eine Kerzenfl amme aus-sieht, nachdem sie ausgegangen ist, denn sie konnte sich

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nicht erinnern, jemals etwas Derartiges gesehen zu haben. Nach einer Weile sah sie, dass sich nun nichts mehr mit ihr ver änderte, und sogleich beschloss sie, in den Garten hinüberzu gehen – doch ach! arme Alice: wie sie zu der Tür kam, da hatte sie das goldene Schlüsselchen vergessen, und als sie wieder zu dem Tisch zurückging, zeigte es sich, dass sie da unmöglich mehr hinaufreichen konnte: ganz deut-lich konnte sie ihn durch das Glas hindurch liegen sehen, und sie versuchte nach Kräften, an einem Tischbein hin-aufzusteigen, aber das war viel zu glatt. Schließlich war das arme Ding vom Klettern so müde gewor den, dass es sich hinsetzte und weinte.»Komm, das hat doch keinen Sinn, derart zu weinen!«, rief sich Alice in recht scharfem Tone zu. »Ich rate dir, da-mit aufzuhö ren, und zwar sogleich!« Die Ratschläge, die sie sich gab, waren im Allgemeinen sehr gut (obgleich sie sie nur sehr selten be folgte), und bisweilen schalt sie sich selbst mit solcher Strenge aus, dass ihr die Tränen kamen; sie konnte sich noch daran er innern, wie sie einmal ver-sucht hatte, sich selbst eine Ohrfeige zu geben, als sie mit sich selbst Croquet gespielt und sich dabei bemogelt hatte; denn sie war ein merkwürdiges Kind und liebte es über alles, so zu tun, als wäre sie zwei. »Aber jetzt hilft es gar nichts«, dachte die arme Alice, »wenn ich so tue, als wäre ich zwei! Was jetzt noch von mir übrig ist, das reicht ja kaum für eine anständige Person!«Nicht lange, und ihr Blick fi el auf ein Glaskästchen, das unter dem Tisch lag; sie öff nete es und fand darin einen kleinen Ku chen, auf dem mit Korinthen die Worte ›Iss

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mich‹ in Schön schrift eingebacken waren. »Nun, essen kann ich ihn ja«, sagte Alice; »wenn er mich größer macht, kann ich zu dem Schlüssel hinaufreichen, und wenn er mich kleiner macht, kann ich unter der Tür durchkrie-chen; in den Garten komme ich so oder so, und also ist es mir ganz gleich, wie herum ich wachse!«Sie biss ein kleines Stück davon ab und sagte dabei ängst-lich zu sich selbst: »Wie herum? Wie herum?«, wobei sie sich die Hand über den Kopf hielt, um zu sehen, wohin es mit ihr ging, und war recht überrascht, als alles beim Alten blieb: das geht zwar meistens so, wenn man Kuchen isst; doch Alice hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, von allen Dingen das Seltsamste zu er warten, dass ihr der gewöhnliche Lauf der Welt recht dumm und langweilig er-schien.Sie machte sich also über den Kuchen her, und sehr bald war nichts mehr davon übrig.

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kapitel zwei

Der Tränenteich

»Ülkiger und ülkiger!«, rief Alice (und in ihrer Überra-schung entging ihr, dass man das eigentlich gar nicht sagen kann); »jetzt schiebe ich mich auseinander wie das längs-te Fernrohr, das es jemals gegeben hat! Lebt wohl, Füße!« (denn als sie nach unten sah, waren ihre Füße schon kaummehr in Sicht, so weit versanken sie in der Tiefe). »Ihr ar-men kleinen Füße, wer wird euch jetzt wohl Schuhe und Strümpfe anziehen? Ich jedenfalls kann das bestimmt nicht mehr! Ich bin bald viel zu weit fort, als dass ich mich um euch noch kümmern könnte; ihr müsst eben sehen, wie ihr allein zurechtkommt – aber ich muss sie freundlich be handeln«, dachte Alice, »sonst gehen sie vielleicht nicht mehr dahin, wohin ich will! Ich hab’s schon: sie sollen von mir jedes Jahr zu Weihnachten ein Paar neue Stiefel ha-ben.«Und dann legte sie sich zurecht, wie sie das anfangen wür-de. »Sie müssen per Boten gesandt werden«, dachte sie; »und wie sonderbar das sein wird, Geschenke an die ei-genen Füße zu ver schicken! Wie seltsam sich die Adresse ausnehmen wird:

An S. Wohlgeb.Den Rechten Fuß von Alice Teppich beim Ofenschirm

Mit bestem Gruß!

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Ach, was rede ich für ungereimtes Zeug!« Und dabei stieß sie auch schon mit dem Kopf gegen die Saaldecke: sie war näm lich nun schon gute drei Meter groß, und sogleich griff sie nach dem goldenen Schlüsselchen und eilte zur Gartentür.Arme Alice! Wenn sie sich seitlich hinlegte, konnte sie mit einem Auge gerade noch in den Garten hinausbli-cken, aber mehr auch nicht, und dorthin zu gelangen war aus sichtsloser denn je; sie setzte sich auf und begann aufs Neue zu weinen.»Du solltest dich schämen«, sagte Alice, »ein so großes Mädchen wie du« (das konnte man wohl sagen!), »und in einem fort so zu weinen! Sogleich hörst du damit auf!« Aber sie weinte trotz dem weiter und vergoss viele Liter Trä-nen, bis um sie her ein großer, ungefähr zehn Zentimeter tiefer Teich entstand, der den halben Saal hinunterreichte.Nach einer Weile hörte sie Füße von ferne näher trappeln, und eilends wischte sie sich die Augen, um zu sehen, was da herangelaufen kam. Es war das Weiße Kaninchen auf dem Rück weg; es war prächtig gekleidet und trug ein Paar wei-ße Glacé handschuhe in der einen Hand und einen großen Fächer in der andern: so kam es in großer Hast angetrabt und murmelte da bei vor sich hin: »Oh, die Herzogin, die Herzogin! Oh, wie wüst wird sie sich auff ühren, wenn ich sie warten lasse!« Alice war inzwischen so verzweifelt, dass sie bereit war, jedermann um Rat zu fragen; als daher das Kaninchen näher gekommen war, begann sie mit leiser, schüchterner Stimme: »Bitte, lieber Herr, könnten Sie –« Das Kaninchen schrak heftig zusammen, ließ die weißen

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Glacéhandschuhe und den Fächer fallen und entwischte, so schnell es seine Beine trugen, in die Dunkelheit. Alice hob den Fächer und die Handschuhe auf, und da es im Saal sehr heiß war, fächelte sie sich zu, während sie weiter-sprach: »Nein, so etwas! Wie verquer doch heute alles geht! Und dabei war gestern noch alles wie gewöhnlich. Ob ich am Ende heute Nacht ausgewechselt worden bin? Also, wie steht es damit – war ich heute Morgen beim Aufstehen noch die selbe? Mir ist es doch fast, als wäre ich mir da ein wenig anders vorgekommen. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann? Ja, das ist das große Rätsel!« Und dar-auf ging sie in Gedanken alle Kinder in ihrem Alter durch, die sie kannte, um sich zu überlegen, ob sie wohl zu einem von ihnen geworden sein könnte.»Also Ada bin ich einmal sicher nicht«, sagte sie, »denn ihr Haar hat solche länglichen Kringel, und Kringel hat meines über haupt keine; und Mabel kann ich erst recht nicht sein, denn ich weiß alles Mögliche, und die, die weiß doch nun wirklich nur so wenig! Außerdem ist sie doch sie, und ich bin ich, und – lieber Himmel, wer soll sich denn da noch zurechtfi nden! Ich will einmal sehen, ob ich noch alles weiß wie früher. Also: vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – aber nein, auf diese Weise komme ich nie bis zwan zig! Aber das Ein-maleins zählt ja weiter nicht. Dann schon eher die Geo-graphie. London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, das ist be-stimmt alles falsch! Da bin ich also doch mit Mabel ver-

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tauscht worden! Ich will einmal aufsagen: ›Wie emsig doch das Bienelein‹«; und sie faltete die Hände im Schoß, wie wenn sie ihre Schulaufgabe hersagen müsste, und fi ng mit dem Gedicht an; aber ihre Stimme klang heiser und fremd, und die Worte ka men nicht so heraus wie sonst:

Wie emsig doch das Krokodil Den Schwanz sich aufgebessertUnd jede Schuppe, fern am Nil, Im Golde hat gewässert!

Wie freundlich blickt sein Auge drein, Wie klar quillt seine Träne,Wenn es die Fischlein lockt herein In seine milden Zähne!

»Nie und nimmer sind das die richtigen Worte!«, sagte die arme Alice, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, wäh-rend sie weitersprach: »Dann bin ich also jetzt wahrhaftig Mabel und muss auch in ihrem schäbigen kleinen Haus wohnen, wo es so gut wie gar kein Spielzeug gibt; und dann erst die ganzen Auf gaben, die ich da noch lernen soll! Nein, da gibt es gar nichts mehr zu überlegen: wenn ich Mabel bin, bleibe ich hier unten! Und sie brauchen dann gar nicht erst die Köpfe herunterzustrecken und zu sagen: ›Komm doch wieder herauf, liebes Kind!‹ Dann schaue ich sie nämlich nur an und sage: ›Wer bin ich denn dann? Das sagt mir erst einmal, und wenn es mir ge fällt, wer ich bin, komme ich herauf; aber wenn nicht, bleibe ich hier unten,

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bis ich jemand anders bin‹ – ach Gott!«, rief Alice, und wieder übermannten sie die Tränen, »ich wollte nur, sie streckten endlich ihre Köpfe herunter! Ich mag nun wirk-lich nicht länger hier alleine sitzen!«Wie sie das sagte, fi el ihr Blick auf ihre Hände, und da hatte sie zu ihrer Überraschung beim Reden einen von den kleinen weißen Glacéhandschuhen des Kaninchens ange-zogen. »Wie habe ich das nur fertiggebracht?«, dachte sie. »Das muss doch heißen, dass ich jetzt wieder kleiner wer-de!«Sie stand auf und ging zu dem Tischchen hinüber, um sich daran zu messen, und entdeckte, dass sie jetzt, so gut sie das ab schätzen konnte, ungefähr zwei Fuß maß und da-bei noch immer rasch in sich zusammenschrumpfte; sie erkannte bald, dass daran der Fächer schuld war, den sie in der Hand hielt, und ließ ihn schnell fallen, gerade noch rechtzeitig, bevor sie ganz zer gangen war.»Das war einmal knapp!«, sagte Alice, erschrocken über die plötzliche Veränderung und gleichzeitig sehr froh, dass sie noch immer da war, »jetzt aber auf in den Garten!« Und so schnell sie konnte, rannte sie zu der kleinen Tür zurück: aber ach! die kleine Tür war wieder verschlossen, und der kleine Schlüssel lag auf dem Glastisch wie zuvor. »Und alles ist überhaupt schlimmer denn je«, dachte das arme Kind, »denn so klein wie jetzt war ich noch gar nie! Das ist doch abscheulich! Abscheu lich ist das!«Bei diesen Worten glitt sie aus, und patsch! schwamm sie auch schon bis zum Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war, dass sie irgendwie ins Meer gefallen sein musste; »und

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wenn das so ist, kann ich ja mit der Eisenbahn zurückfah-ren«, sagte sie sich. (Alice war erst einmal an der See gewe-sen und dabei ganz all gemein zu dem Schluss gekommen, dass überall, wo das Meer ist, auch eine Anzahl Badewagen zu fi nden seien, einige Kin der, die mit ihren Holzschaufeln im Sand spielen, eine Reihe von Pensionen und dahinter dann die Eisenbahn.) Schließlich aber erkannte sie doch, dass sie in dem Teich aus Tränen schwamm, den sie ge-weint hatte, als sie noch drei Meter groß gewesen war.»Wenn ich doch nicht so viel geweint hätte!«, sagte Alice, wäh rend sie hin und her ruderte, um aus dem Wasser herauszukom men. »Zur Strafe dafür soll ich jetzt anschei-nend in meinen eigenen Tränen ertrinken! Wenn das nicht sonderbar ist! Nun, heute ist ja alles sonderbar.«Gerade da hörte sie, wie etwas in einiger Entfernung im Teich spritzte, und schwamm näher, um zu sehen, was es war: sie hielt es zuerst für ein Walross oder ein Nilpferd, aber dann fi el ihr ein, wie klein sie selbst geworden war, und es wurde ihr klar, dass es sich dabei nur um eine Maus handelte, die wie sie ins Wasser gefallen war.»Könnte es wohl einen Sinn haben«, dachte Alice, »diese Maus anzureden? Hier unten ist alles so ungewöhnlich, dass sie sehr wahrscheinlich sprechen kann; jedenfalls kann ein Versuch nicht schaden.« Sie begann also: »O Maus, weißt du, wie man aus diesem Teich herauskommt? Denn ich bin es leid, hier her umzuschwimmen, o Maus!« (Alice hielt es für das Schicklichste, eine Maus so anzureden: sie hatte zwar noch nie Gelegenheit dazu gehabt, erinnerte sich aber an die lateinische Grammatik ihres Bruders, in

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der zu lesen war: ›Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus – o Maus.‹) Die Maus sah sie etwas fra gend an und schien mit einem Äuglein zu zwinkern, sagte aber nichts.»Vielleicht versteht sie kein Deutsch«, dachte Alice; »ich könnte mir denken, sie ist eine französische Maus und mit Napoleon herübergekommen.« (Denn Alice war zwar sehr gut in Ge schichte, hatte aber doch nur recht ungefähre Vorstellungen davon, wie lange etwas zurücklag.) So be-gann sie also diesmal: »Où est ma chatte?«, denn das war der erste Satz in ihrem Fran zösischbuch. Mit einem Satz sprang die Maus hoch aus dem Wasser und begann vor Schreck am ganzen Leib zu zittern. »Ach, bitte verzeih!«, rief Alice schnell, aus Furcht, sie könnte das arme Tier ge-kränkt haben. »Ich hatte nicht daran gedacht, dass du Kat-zen nicht magst.«»Nicht magst!«, rief die Maus mit schriller, leidenschaft-licher Stimme. »Würdest du an meiner Stelle vielleicht Katzen mö gen?«»Nun, das vielleicht nicht«, sagte Alice einlenkend, »sei mir nicht böse deswegen. Und doch, ich wollte, ich könnte dir unsere Katze Suse zeigen; ich glaube, du würdest dir auch bald etwas aus Katzen machen, wenn du sie nur sehen könntest. Sie ist ein so liebes, ruhiges Tier«, fuhr Alice, halb zu sich selbst ge wandt, fort und schwamm dabei müßig im Teich hin und her, »und wenn sie so dasitzt am Ofen und schnurrt und sich die Pfoten leckt und das Köpfchen wäscht – so etwas Nettes, Wei ches zum Streicheln – und so eifrig im Mäusefangen – ach, bitte verzeih!«, rief sie

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wiederum, denn diesmal hatten sich der Maus alle Haare gesträubt, und Alice war überzeugt, dass sie nun end gültig beleidigt war. »Wir wollen nicht mehr über Katzen reden, wenn dir das lieber ist.«»Was soll das heißen: ›Wir‹!«, rief die Maus, bis in die Schwanz spitze erbebend. »Als ob ich jemals von etwas Derartigem spre chen würde! Katzen hat man in unserer Familie von jeher ver abscheut: garstige, niedrige, ekelhaf-te Geschöpfe! Dass du mir ja nicht noch einmal damit kommst!«»Nein, bestimmt nicht«, sagte Alice, eifrig darauf bedacht, das Gesprächsthema zu wechseln. »Magst du – magst du – dann vielleicht – Hunde?« Die Maus gab darauf keine Antwort, und Alice fuhr munter fort: »Nicht weit von un-serem Haus gibt es nämlich einen so netten kleinen Hund, den würde ich dir gerne zeigen! Einen kleinen Terrier, weißt du, mit wachen Augen, und die schönen braunen Locken, die der hat! Und außerdem kann er apportieren, wenn man etwas davonwirft, und Männ chen machen, da-mit er sein Fressen bekommt, und alle mög lichen Kunst-stückchen, die ich gar nicht alle aufzählen kann, und er gehört einem Bauern, weißt du, und der sagt immer, wie nützlich er außerdem noch ist, und tausend Mark wert, mindestens, denn er fängt die ganzen Ratten und – ach, mein Gott!«, rief Alice traurig, »ich glaube, jetzt habe ich sie schon wieder verärgert!« Denn die Maus schwamm da-von, so schnell sie konnte, so dass der ganze Teich davon in Aufruhr geriet.Alice rief ihr begütigend nach: »Liebe Maus! Komm doch

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wie der zurück, und wir wollen auch nicht mehr über Kat-zen oder Hunde sprechen, wenn du sie nicht magst!« Als die Maus das hörte, machte sie kehrt und kam langsam zurückgeschwom men; sie war ganz bleich im Gesicht (vor Zorn, dachte Alice) und sagte mit leiser, bebender Stimme: »Wir wollen ans Ufer schwimmen, und dort werde ich dir meine Geschichte erzäh len; dann wirst du begreifen, wie es kommt, dass ich Katzen und Hunde verabscheue.«Es war übrigens auch hohe Zeit zum Aufbruch, denn im Teich wurde langsam der Platz schon eng vor lauter Getier und Vö geln, die hineingefallen waren, und zwar waren das: eine Ente, ein Marabu, ein Brachvogel und ein Weih und verschiedene andere seltsame Wesen. Alice führte den Zug an, und die ganze Gesellschaft schwamm ans Ufer.

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kapitel drei

Ein Proporz-Wettlauf

und eine weitschweifi ge Geschichte

Es war wahrhaftig eine sonderbare Versammlung, die sich da am Ufer traf – die Vögel alle mit strähnigem Gefi eder, die Vierbeiner mit festgeklebtem Pelz, und alle zusammen tropfnass, verdrossen und unbehaglich.Das Wichtigste war natürlich, wieder trocken zu werden: man beriet sich darüber, und nach kurzer Zeit fand es Alice schon ganz selbstverständlich, mit den Tieren so ver-traulich zu reden, als wären es uralte Bekannte. Ja, es kam sogar zu einem längeren Wortwechsel zwischen ihr und dem Marabu, der schließlich mürrisch wurde und nichts anderes mehr sagte als: »Ich bin älter als du und muss es also besser wissen«; das wollte nun Alice nicht zugeben, bevor sie nicht wusste, wie alt er eigentlich war, aber da der Marabu diese Auskunft schlechterdings verwei gerte, gab es dazu nichts mehr zu sagen.Schließlich rief die Maus, die unter ihnen anscheinend als Respektsperson galt: »Setzt euch alle miteinander und hört zu! Ihr sollt es bald trocken haben, dafür will ich schon sorgen!« Alles ließ sich sogleich in einem weiten Kreis nieder, so dass die Maus in der Mitte stand. Alice ließ die Augen nicht von ihr, denn sie war sicher, sich eine ganz schlimme Er kältung zu holen, wenn sie nicht schleunigst wieder trocken würde.»Ahem!«, sagte die Maus mit gewaltiger Miene. »Seid ihr

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alle bereit? Es folgt nun das Allertrockenste, was mir be-kannt ist. Darf ich um allgemeine Ruhe bitten! ›Frühzeitig schon hatte Napoleon sich um die süddeutschen Fürsten bemüht. Dagegen waren die Unterhandlungen mit Sach-sen, Braunschweig und Sachsen-Wei– –‹«»Hm!«, sagte der Weih.»Brr!«, sagte der Marabu und fröstelte.»Wie belieben?«, sagte stirnrunzelnd, doch überaus höf-lich, die Maus. »Wolltet ihr etwas sagen?«»Ich?«, sagte der Weih.»Nein«, sagte der Marabu.»Es schien so«, sagte die Maus.»Ich darf fortfahren. ›Die Unterhandlungen mit Sachsen, Braunschweig und Sachsen-Weimar waren ins Stocken ge-kommen. Aber Kurfürst Max Joseph von Bayern lenkte voller Misstrauen gegen die österreichischen Absichten auf die Seite Napoleons. Er fand es klüger –‹«»Was fand er?«, fragte die Ente.»Es«, antwortete die Maus etwas spitz. »Was ›es‹ ist, wirst du ja wohl noch wissen.«»Wenn ich etwas fi nde, weiß ich ganz genau, was ›es‹ ist«, sagte die Ente, »nämlich im Allgemeinen ein Frosch oder ein Wurm. Aber hier geht es ja darum, was der Kurfürst von Bayern fand.« Die Maus überging diesen Einwand und sprach rasch weiter: »›Er fand es klüger, die baye-rischen Regimenter rechtzeitig dem österreichischen An-griff zu entziehen. Napoleon nun –‹ Wie fühlst du dich inzwischen, mein Kind?«, unterbrach sich die Maus und wandte sich Alice zu.

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»So nass wie zuvor«, sagte Alice niedergeschlagen. »Ich werde davon anscheinend kein bisschen trockener.«»Unter diesen Umständen«, sagte der Brachvogel und er-hob sich, »wird von mir hiermit ein Antrag auf sofortige Unter brechung eingebracht. Nur durch energische Initia-tive kann eine derart prekäre Situation –«»Sprich doch deutsch!«, sagte der Weih. »Ich weiß jeden-falls nicht, was diese gelehrten Wörter alle bedeuten, und ich glaube fest, du weißt es selber nicht!« Und dabei senkte der Weih den Schnabel, um ein Lächeln zu verbergen; auch einige andere Vögel glucksten vernehmbar.»Ich wollte ja nur sagen«, sprach der Brachvogel beleidigt, »dass das beste Mittel zum Trockenwerden ein Proporz-Wettlauf wäre.«»Und was ist ein Proporz-Wettlauf?«, fragte Alice; nicht et-wa, weil sie besonders neugierig darauf war, sondern weil der Brachvogel verstummt war, als ob hier eine Bemerkung am Platze sei und unter den übrigen Zuschauern dazu an-scheinend keiner Lust hatte.»Man kann es am besten erklären«, sagte der Brachvogel, »in dem man es macht.« (Und da ihr es vielleicht einmal an einem Wintertag ausprobieren wollt, will ich erzählen, wie der Brachvogel es anstellte.)Er legte zuerst die Rennbahn fest, eine Art Kreis (»auf die ge naue Form kommt es nicht an«, sagte er), und die Mit-spieler mussten sich irgendwo auf der Bahn aufstellen. Es gab kein »Eins – zwei – drei – los!«; jeder begann zu laufen, wann er wollte, und hörte auf, wie es ihm einfi el, so dass gar nicht so leicht zu entscheiden war, wann der Wettlauf

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eigentlich zu Ende war. Nachdem sie indessen ungefähr eine halbe Stunde lang gelau fen und wieder ganz trocken geworden waren, rief der Brach vogel plötzlich: »Ende des Wettlaufs!«, und alle drängten sich, noch ganz außer Atem, um ihn und fragten: »Aber wer ist Sie ger?«Dies konnte der Brachvogel nicht ohne tieferes Nachden-ken beantworten, und so saß er längere Zeit hindurch da und legte den Zeigefi nger an die Stirn (eine Haltung, in der ihr gewöhn lich Goethe auf den Titelbildern sitzen seht), während ringsum alles schwieg und wartete. Endlich sagte der Brachvogel: »Alle sind Sieger, und jeder muss ei-nen Preis bekommen.«»Aber wer soll die Preise stiften?«, rief ein ganzer Stimmen-chor zurück.»Nun, sie natürlich«, sagte der Brachvogel und deutete mit dem Finger auf Alice; und sogleich drängte sich die ganze Schar um sie und rief, wirr durcheinanderschreiend: »Preise! Preise!«, Alice wusste sich keinen Rat; in ihrer Ver-zweifl ung steckte sie die Hand in die Tasche, zog eine Tüte mit Fruchtbonbons her vor (die das Salzwasser zum Glück nicht aufgeweicht hatte) und verteilte sie als Preise. Sie reichten gerade aus, dass jeder eins bekam.»Sie selbst muss doch auch einen Preis bekommen«, sagte die Maus.»Gewiss«, sagte der Brachvogel sehr ernst. »Was hast du sonst noch in der Tasche?«, fuhr er, zu Alice gewandt, fort.»Nur noch einen Fingerhut«, sagte Alice bedrückt.»Gib ihn heraus«, sagte der Brachvogel.Und wieder drängten sich alle an sie heran, während ihr

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der Brachvogel feierlich den Fingerhut überreichte und da-bei sprach: »Habe die Güte, diesen zierlichen Fingerhut von uns entgegenzunehmen«; und nachdem er mit dieser kur-zen An sprache zu Ende war, brachen alle in Beifallsrufe aus.Alice fand die ganze Geschichte recht unsinnig, aber alle sahen so ernst drein, dass sie sich lieber das Lachen verbiss; und da ihr keine passende Antwort einfallen wollte, nahm sie den Finger hut mit einer bloßen Verbeugung an und versuchte ein feier liches Gesicht dazu zu machen.Nun mussten noch die Fruchtbonbons verspeist werden, und das rief einiges Geschrei und Durcheinander hervor, denn die großen Vögel beklagten sich, sie hätten nichts davon ge schmeckt, und den kleinen blieb der Bonbon im Halse stecken, so dass ihnen der Rücken geklopft werden musste. Schließlich aber war alles überstanden, und sie lie-ßen sich wieder im Kreis nieder und baten die Maus wei-terzuerzählen.»Du hast mir doch deine Geschichte versprochen«, sagte Alice, »und woher dein Abscheu kommt vor – K und H, du weißt schon«, fügte sie fl üsternd hinzu, um die Maus nicht aufs Neue zu verstimmen.»Meine Geschichte ist traurig«, sagte die Maus. »Aber ich bin von Natur aus weitschweifi g, und deswegen fürchte ich, meine Geschichte könnte es auch werden.«»Was deine Person angeht, so hast du recht«, sagte Alice und sah dabei mit Staunen auf den langen Schwanz der Maus hinunter. »Deine Geschichte also auch?« Und die-ser Gedanke beschäf tigte sie so sehr, dass sie sich die Ge-schichte der Maus etwa vor stellte wie folgt:

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Die Wut traf die Maus auf der Treppe im Haus und sprach: »Setz dich hin, ich mach dir den Prozess. Komm, ziere dich nicht, ich will halten Gericht, und zwar schnell,weil ich es sonst wieder vergess.« Sprach die Maus: »Gut und schön, doch Ihr werdet schon sehn, ohne Richter und Zeugen kommt dabei nichts heraus.« »Ich zeuge, ich richt«, sprach der listige Wicht, »erst mach ich das Urteil und dann dir den Garaus.«

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»Du passt nicht auf!«, sagte die Maus streng zu Alice. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Alice fügsam; »der Schweif war bei der fünften Krümmung angelangt, nicht wahr?«»Keine Spur!«, rief die Maus zornig.»Ich habe die Spur, glaube ich, selbst verloren«, sagte Alice, blickte unruhig in die Runde und fragte dann, weil sie sich im mer gern nützlich machte: »Kann ich dir viel-leicht suchen hel fen?«»Davon kann überhaupt keine Rede sein«, sagte die Maus, sprang auf und begann davonzugehen. »Ich lasse mich doch durch dein unsinniges Gerede nicht beleidigen!«»Ich meinte es doch nicht böse!«, sagte Alice fl ehentlich. »Du bist aber auch gleich so empfi ndlich.«Die Maus brummte nur.»Bitte komm doch zurück, und erzähle deine Geschich-te zu Ende!«, rief ihr Alice nach, und auch die anderen fi elen alle im Chore ein: »Ja, bleib doch!«, aber die Maus schüttelte nur un willig den Kopf und beschleunigte ihre Schritte.»Wie schade, dass sie nicht dableiben wollte!«, seufzte der Mara bu, als sie verschwunden war; und eine alte Krabbe benutzte die gute Gelegenheit, um ihre Tochter zu mah-nen: »Siehst du, mein Kind! Lass es dir eine gute Lehre sein und dich niemals vom Jähzorn übermannen!« – »Halt doch den Mund, Mama!«, antwortete die junge Krabbe et-was vorlaut, »mit dir könnte ja sogar einer Auster die Ge-duld reißen!«

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»Ich wollte, unsere Suse könnte hier sein, wirklich!«, sagte Alice, ohne sich dabei an jemand Bestimmten zu wenden. »Die hätte sie bald zurückgeholt!«»Und wer, wenn die Frage erlaubt ist, ist Suse?«, fragte der Marabu.Eifrig, denn über ihr Lieblingstier sprach sie immer gern, ant wortete Alice: »Suse ist unsere Katze. Wie scharf die auf Mäuse ist, das könnt ihr euch überhaupt nicht vorstellen! Und wenn ihr sie erst einmal sehen könntet, wenn sie hin-ter den Vögeln her ist! Sie braucht einen Vogel kaum anzu-schauen, und er ist schon so gut wie verspeist.«Dieser Bericht löste beträchtliche Unruhe in der Versamm-lung aus. Verschiedene Vögel liefen stracks davon; eine al-te Elster hüllte sich sorgsam ein und sagte beiläufi g: »Ich muss mich nun wirklich auf den Heimweg machen; die Nachtluft legt sich mir so leicht auf die Stimme!«, und ein Sittich rief seinen Kin dern mit bebender Stimme zu: »Auf, auf, ihr Kleinen! Höchste Zeit zum Schlafengehen!« Unter solcherlei Vorwänden mach ten sich alle hinweg, und bald war Alice allein zurückgeblieben. »Ich wollte, ich hätte nichts von Suse gesagt!«, klagte sie. »An scheinend kann sie niemand hier leiden, und dabei ist sie gewiss die beste Kat-ze auf der ganzen Welt. Ach, meine liebe Suse! Ob ich dich wohl jemals wiedersehe?« Und darauf begann sie wie der zu schluchzen, weil sie gar so einsam und niedergeschlagen war. Nach einer Weile aber hörte sie wieder kleine Füße näher trippeln und sah eifrig auf, denn sie hoff te so halb, die Maus hätte sich eines Besseren besonnen und käme zu-rück, um ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.

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kapitel vier

Was kommt da den Kamin herab?

Es war das Weiße Kaninchen, das da langsam zurückge-trottet kam und dabei ängstlich nach rechts und links Aus-schau hielt, als ob es etwas verloren hätte; und Alice hörte, wie es vor sich hin murmelte: »Die Herzogin! Die Her-zogin! Ach, meine schönen Pfoten! Mein Pelz und mein Schnurrbart! Sie wird mich köpfen lassen, oder ein Otter ist kein Otter! Wo kann ich sie nur verloren haben?« Alice hatte im Handumdrehen erraten, dass es den Fächer und die weißen Glacéhandschuhe suchte, und gutmütig, wie sie war, begann auch sie nach ihnen zu suchen – aber sie waren nirgends zu fi nden – alles schien sich seit ihrem Bad im Tränenteich verändert zu haben, und der weite Saal mit dem Glastischchen und der kleinen Tür war völ lig ver-schwunden.Das Kaninchen wurde sehr bald auf Alice aufmerksam, wie sie da herumsuchte, und rief ihr ärgerlich zu: »Aber Marie! Was hast du denn hier draußen zu suchen? Sogleich läufst du heim, und holst mir ein Paar Handschuhe und einen Fächer! Und dass du dich sputest!« Alice war so erschro-cken, dass sie spornstreichs in die Richtung lief, in die das Kaninchen gedeutet hatte, und gar nicht erst versuchte, den Irrtum aufzuklären.»Er hat mich für sein Dienstmädchen gehalten«, sagte sie sich, während sie dahinlief. »Der wird aber Augen ma-chen, wenn er merkt, wer ich bin! Aber den Fächer und die

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Handschuhe will ich ihm doch lieber holen – das heißt, wenn ich sie überhaupt fi nde!« Bei diesen Worten kam sie an ein sauberes kleines Haus mit einem blanken Mes-singschild an der Tür, auf dem der Name ›W. Kaninchen‹ eingraviert war. Ohne anzuklopfen, trat sie ein und lief schnell die Treppe hinauf, denn sie fürchtete, sie könnte der wirklichen Marie begegnen und aus dem Haus gewie-sen werden, bevor sie Fächer und Handschuhe gefunden hatte.»Wie sonderbar das doch ist«, sagte Alice zu sich, »für ein Kanin chen Botengänge zu tun! Wahrscheinlich soll ich nächstens für Suse den Laufburschen machen!« Und gleich stellte sie sich vor, was dann alles passieren würde: »›Fräulein Alice! Hierher, wenn ich bitten darf! Es ist Zeit für den Spaziergang!‹ ›Ich bin gleich so weit, Fräulein, ich muss nur noch das Mausloch bewachen, bis Suse zurück ist, damit die Maus nicht inzwischen heraus schlüpft.‹ Aber ich glaube kaum«, dachte Alice weiter, »dass Suse im Haus bleiben dürfte, wenn sie anfi nge, die Leute so herumzu-kommandieren!«Mittlerweile war sie in ein sauber aufgeräumtes kleines Zim mer gelangt, mit einem Tisch unter dem Fenster, und darauf lagen (ganz wie sie gehoff t hatte) ein Fächer und zwei oder drei Paar winzige weiße Glacéhandschuhe; den Fächer und ein Paar Handschuhe nahm sie mit und woll-te gerade wieder aus dem Zimmer laufen, als ihr Blick auf ein Fläschchen fi el, das in der Nähe des Spiegels stand. Diesmal war kein Schildchen dar an mit der Aufschrift ›Trink mich‹, aber sie entkorkte es trotz dem und führte es

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an die Lippen. »Irgendetwas Interessantes passiert ja im-mer«, sagte sie sich, »sobald ich etwas esse oder trinke; ich will doch einmal sehen, wie diese Flasche hier wirkt. Hof-fentlich lässt sie mich wieder größer werden, denn lang-sam bin ich es wirklich leid, so winzig klein herumzulau-fen!«Das tat die Flasche denn auch, und zwar erheblich schnel-ler, als Alice gedacht hatte: sie hatte noch kaum die Flasche halb ge leert, als sich ihr Kopf auch schon gegen die Decke presste und sie sich bücken musste, um nicht das Genick zu brechen. Rasch stellte sie die Flasche wieder zurück und sagte sich dabei: »So genügt es vollständig – hoff entlich wachse ich nicht noch wei ter – durch diese Tür passe ich ohnehin schon nicht mehr – ich wünschte wirklich, ich hätte nicht so viel davon getrunken!« Ja, dazu war es frei-lich zu spät. Sie wuchs weiter und weiter und sah sich sehr bald gezwungen, am Boden niederzuknien; aber selbst da-zu war es im nächsten Moment schon zu eng gewor den, und sie versuchte, ob es nicht günstiger wäre, wenn sie sich ausstreckte und dabei einen Ellbogen gegen die Tür stütz-te und sich den anderen Arm um den Kopf schlang. Und noch immer wuchs sie weiter, so dass ihr schließlich nichts weiter übrigblieb, als einen Arm zum Fenster hinauszu-zwängen und ein Bein den Kamin hinauf und sich dann zu sagen: »Mehr geht nun nicht mehr, was auch geschehen mag. Was soll nur aus mir werden?«Zum Glück hatte das Wunderfl äschchen nun seine ganze Wir kung getan, und sie hörte auf zu wachsen: aber auch so fand sie ihre Lage noch unbehaglich genug, und da sie

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allem Anschein nach nicht die leiseste Aussicht hatte, je-mals aus diesem Zim mer wieder herauszukommen, war es kein Wunder, dass ihr kläglich zumute war.»Da war es zu Hause doch viel angenehmer«, dachte die arme Alice, »da wurde man doch wenigstens nicht stän-dig größer und kleiner und von Kaninchen und Mäusen herumkomman diert. Ich wollte fast, ich wäre nicht in das Kaninchenloch hin eingesprungen – und doch – und doch – merkwürdig ist diese Lebensweise trotzdem! Ich möchte nur wissen, was eigentlich mit mir passiert ist! Früher beim Märchenlesen dachte ich mir immer, solche Dinge könnten ja doch nicht geschehen, und jetzt bin ich selbst mitten in ein Märchen geraten! Da müsste eigentlich auch über mich ein Buch geschrieben werden, ja, das müsste es wirklich. Und wenn ich einmal groß bin, werde ich auch eins schreiben – aber ich bin ja schon so groß«, fügte sie kläglich hinzu, »dass es größer gar nicht mehr geht, we-nigstens solange ich hier drinnen bin.«»Ja, aber«, dachte sie schließlich, »dann werde ich wohl auch überhaupt nie älter als jetzt? Das ist ja auch ein Trost, in einer Weise – dann werde ich nie eine alte Frau – aber – immerzu neue Lektionen lernen müssen? Nein, das gefi ele mir auch nicht!«»Ach, du närrische Alice!«, antwortete sie sich dann. »Wie willst du denn hier auch noch Lektionen lernen? Es ist ja kaum Platz genug für dich selber, wo sollen denn da noch Schulbücher hinpassen!«Und so redete sie weiter und sprach einmal dafür und dann wieder dagegen, und es wurde eine ganze Unterhal-

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tung dar aus; aber nach einer Weile hörte sie draußen eine Stimme und hielt inne, um zu lauschen.»Marie! Marie!«, rief es. »Sogleich bringst du mir meine Hand schuhe heraus!« Und schon trippelten kleine Füße die Treppe herauf. Das konnte nur das Kaninchen sein, das nach ihr suchte, und Alice begann davor so zu zittern, dass das ganze Haus bebte, denn sie dachte nicht mehr daran, dass sie jetzt, rund ge rechnet, tausendmal so groß wie das Kaninchen war und kei nen Grund zum Fürchten hatte.Inzwischen war das Kaninchen bei der Türe angelangt und wollte sie öff nen; aber da sie nach innen aufging und Alice da hinter ihren Ellbogen aufgestützt hatte, war das vergeb-liche Mühe. Alice hörte, wie es zu sich sagte: »Dann gehe ich eben um das Haus herum und steige zum Fenster ein.«»Das wollen wir doch sehen!«, dachte Alice und wartete ab, bis sie glaubte, das Kaninchen unter dem Fenster zu hören; dann spreizte sie plötzlich die Hand, um nach ihm zu haschen. Sie bekam zwar nichts zu fassen, aber sie hörte einen kleinen Schrei, einen Aufprall und dann das Klirren von zerbrochenem Glas; daraus schloss sie, dass das Kanin-chen womöglich in ein Winterbeet oder etwas dergleichen gefallen war.Als Nächstes hörte sie das Kaninchen mit zorniger Stim-me rufen: »Heinz! Heinz! Wo steckst du denn?«, und eine fremde Stimme antwortete: »Na, hier bin ich eben. Beim Äpfelstechen, Euer Gnaden!«»Beim Äpfelstechen, was soll das denn heißen!«, schimpfte das Kaninchen. »Statt dass du kommst und mir hier her-aushilfst!« (Neuerliches Geklirr.)

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»Und jetzt, Heinz, kannst du mir vielleicht einmal sagen, was da zum Fenster heraussteht?«»Na, das ist eben ein Arm, Euer Gnaden!« (Er sprach das Wort aus wie »Aam«.)»Ein Arm, du Esel! Wo gibt’s denn einen Arm so groß wie den da? Der füllt ja das ganze Fenster aus!«»Na, das tut er aber wirklich, Euer Gnaden. Aber ein Aam ist es trotzdem.«»Also jedenfalls hat er dort nichts zu suchen: geh und tu ihn weg!«Darauf folgte eine lange Stille, und Alice konnte nur ab und zu jemanden fl üstern hören, zum Beispiel: »Na, das will mir aber gar nicht gefallen, Euer Gnaden, schon gleich gar nicht!« – »Tu, was man dir sagt, du Feigling!« Schließ-lich spreizte sie wieder die Hand auf und fuhr damit durch die Luft. Diesmal waren zwei kleine Schreie zu hören und noch mehr Glasgeklirr. »Die müssen aber viele Winterbee-te haben!«, dachte sich Alice. »Was sie jetzt wohl anfangen? Mich zum Fenster herausziehen? Ich wollte nur, das ginge! Ich will ja auch nicht ewig hier drinnensitzen!«Wieder war eine Weile nichts zu hören; schließlich aber rum pelten Wagenräder näher, und viele Stimmen redeten durch einander. Manchmal konnte sie auch etwas verste-hen: »Wo ist die zweite Leiter? – Aber es war doch nur die eine da! die andere hat Egon. – Egon! Bring sie her, mein Junge! – Da an der Ecke musst du sie anlehnen. – Nein, binde sie doch zuerst zusam men. – Damit kommen wir nie hinauf. – Ach was, die reichen schon, jetzt ist nicht die Zeit zum Meckern. – Da, Egon! Fang das Seil auf! – Ob

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das Dach auch hält? – Der Ziegel ist locker. – Achtung, er kommt! Köpfe weg!« (ein lauter Krach) – »Wer war denn das schon wieder? – Sicher Egon. – Also, wer steigt den Kamin hinunter? – Ich? Niemals! Mach du’s doch! – Ich? Wieso denn ich? – Egon soll hinunter! – Hörst du, Egon? Der Herr hat gesagt, du sollst den Kamin hinunter!«»Ach! Also Egon soll den Kamin hinunter, wie?«, sagte Alice zu sich. »Alles muss anscheinend Egon machen! Mit Egon möchte ich nicht um vieles tauschen; der Kamin ist zwar recht eng; aber für einen kleinen Tritt reicht es, glaube ich, doch noch!« Sie zog das Bein aus dem Kamin zurück, so weit es ging, und wartete, bis sie etwas Kleines (was es eigentlich war, konnte sie sich nicht denken) mit Poltern und Scharren herunterkommen hörte, so dass es zuletzt direkt über ihr war; dann sagte sie: »So viel für Egon!«, stieß einmal kräftig nach oben und wartete, was nun wohl geschah. Als Erstes ertönten alle Stimmen im Chor: »Da fl iegt Egon!« Dann einzeln die Stimme des Kanin chens: »Fang ihn auf, du bei der Hecke da!«; dann Stille und schließlich neuerliches Stimmengewirr: »Stütz ihm den Kopf auf! – Einen Schluck Kognak. – Langsam, sonst ver-schluckt er sich. – Na, alter Knabe, wie war’s denn? Wie ist das denn pas siert? Erzähl doch einmal!«Endlich vernahm man ein schwaches, piepsendes Stimm-chen (»das wird Egon sein«, dachte Alice): »Also, ich weiß selbst kaum – genug jetzt, es geht mir schon wieder besser – ich bin nur noch so aufgeregt, kann noch gar nicht recht erzählen – ich weiß nur noch, plötzlich geht von unten etwas auf mich los wie ein Springteufel, und schon zisch

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ich ab wie eine Leuchtrakete!« »Allerdings!«, riefen die Üb-rigen.»Wir müssen das Haus einäschern!«, hörte man das Kanin-chen sagen; und Alice rief, so laut sie konnte: »Wenn ihr das tut, lasse ich Suse auf euch los!«Sogleich wurde es totenstill, und Alice dachte bei sich: »Ich bin nur gespannt, was ihnen noch alles einfällt! Wenn sie ein bisschen Verstand hätten, würden sie das Dach abneh-men.« Nach einiger Zeit begann es sich drunten wieder zu regen, und Alice hörte das Kaninchen sagen: »Fürs Erste wird wohl ein Schub karren voll reichen.«»Ein Schubkarren voll was?«, überlegte Alice; aber sie wur-de bald aufgeklärt, denn sogleich kam ein ganzer Regen kleiner Kieselsteine mit Geprassel zum Fenster herein, und ein paar da von trafen sie sogar im Gesicht. »Das muss mir schleunigst auf hören«, sagte sie sich und schrie: »Wenn ihr das noch einmal tut, geht’s euch schlecht!« – und sogleich war es wieder mäus chenstill.Alice sah zu ihrer Überraschung, wie sich die Kieselsteine auf dem Boden alle in kleine Kuchen verwandelten, und dabei kam ihr ein guter Einfall. »Wenn ich einen solchen Kuchen esse«, dachte sie, »irgendwie wird sich meine Grö-ße dann be stimmt wieder ändern; und weil ich unmöglich noch größer werden kann, muss ich davon wohl kleiner werden.«Sie schluckte also einen Kuchen hinunter, und zu ihrer großen Freude fühlte sie sich sogleich zusammenschrump-fen. Sobald sie dazu klein genug war, rannte sie zur Tür und aus dem Haus hinaus; da stand eine ganze Schar klei-

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ner Tiere und Vögel und wartete. In der Mitte stand Egon, die arme kleine Eidechse, und stützte sich rechts und links auf zwei Meerschweinchen, die ihm etwas aus einer Fla-sche einfl ößten. Sie stürzten alle auf Alice zu, sobald sie aus dem Haus trat; aber sie rannte davon, so schnell sie konnte, und kam bald in einen dichten Wald, wo sie in Sicherheit war.»Als Allererstes«, sagte Alice zu sich, während sie durch den Wald schlenderte, »muss ich wieder meine richtige Grö-ße an nehmen; das Zweite wird sein, mich wieder zu dem schönen Garten zurückzufi nden. Das ist wohl der beste Plan.«Der Plan war ohne Zweifel vortreffl ich und außerdem klar und übersichtlich dargelegt; die Schwierigkeit war nur die, dass sie keine Ahnung hatte, wie er sich ausführen ließ; und während sie gerade ängstlich zwischen den Bäumen umherspähte, er scholl über ihr plötzlich ein kurzes, jap-sendes Bellen, so dass sie rasch den Kopf hob.Da stand ein riesenhafter junger Hund, schaute mit gro-ßen Kulleraugen auf sie herunter und haschte sanft mit ei-ner Pfote nach ihr. »Wo ist denn mein kleines Hündchen?«, sagte Alice in besänftigendem Ton und versuchte, ihm et-was vorzupfeifen; aber in Wirklichkeit hatte sie schreck-liche Angst, dass er viel leicht hungrig sein könnte, denn dann fraß er sie sehr wahr scheinlich auf, auch wenn sie noch so nett mit ihm spielte.Fast ohne Überlegung griff sie nach einem kleinen Stock und hielt ihn dem Hündchen hin; das sprang mit allen vieren hoch in die Luft und jaulte vor Vergnügen und ras-

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te auf den Stock los, als wollte es danach schnappen; aber Alice duckte sich schnell hinter eine große Distel, um nicht überrannt zu werden; sobald sie auf der anderen Seite der Distel wieder hervorkam, sauste das Tier wieder auf sie los und überkugelte sich vor Eifer, den Stock zu erwischen. Alice bekam langsam das Gefühl, mit einem Ackergaul zu spielen, und machte sich darauf gefasst, im nächsten Mo-ment am Boden zerstampft zu werden; schnell lief sie wie-der hinter die Distel, und nun machte der Hund hinter-einander viele kleine Sätze auf sie zu und rannte dann jedes Mal wieder ein großes Stück fort und gab dabei ein raues Gebell von sich, bis er zuletzt ziemlich weit entfernt sitzen blieb, halb die Augen schloss und die Zunge keuchend aus dem Maul hängen ließ.Das schien Alice eine gute Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen; sogleich lief sie los und rannte, bis sie ganz matt und atemlos war und den Hund nur noch schwach in der Ferne bellen hören konnte.»Aber es war trotzdem ein sehr liebes Hündchen!«, sagte Alice, gegen eine Butterblume gelehnt, um sich auszuru-hen, griff nach einem Blatt und fächelte sich damit Luft zu. »Ich hätte ihm gerne ein paar Kunststückchen beigebracht, wenn – wenn ich die richtige Größe dazu gehabt hätte! Ja, richtig! Ich hätte fast vergessen, dass ich wieder größer wer-den muss! Was das be triff t – wie soll ich das nur anstellen? Wahrscheinlich müsste ich dazu wieder irgendetwas essen oder trinken; die große Frage ist nur: Was?«Ja, was? Das war wirklich die große Frage. Alice sah sich über all unter den Blumen und Gräsern in ihrer Nähe um,

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aber sie konnte nichts Ess- oder Trinkbares entdecken, was ihr unter den gegebenen Umständen dazu geeignet er-schien. Nicht weit von ihr wuchs ein großer Pilz, ungefähr so groß wie sie selbst; und als sie ihn von unten, von hinten und von beiden Seiten betrachtet hatte, fi el ihr ein, dass sie ebenso gut einmal nach sehen könnte, was obendrauf war.Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über den Rand, und alsbald traf ihr Blick den einer großen blauen Raupe, die mit verschränkten Armen dort oben saß und ruhig aus einer langen Wasserpfeife schmauchte, ohne von ihr oder von irgendetwas anderem auch nur die geringste Notiz zu nehmen.

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kapitel fünf

Beratung durch eine Raupe

Alice und die Raupe sahen sich eine Zeitlang schweigend an; endlich nahm die Raupe die Wasserpfeife aus dem Mund und sprach Alice mit müder, schleppender Stimme an. »Wer bist denn du?«, sagte sie.Als Anfang für eine Unterhaltung war das nicht ermu-tigend. Alice erwiderte recht zaghaft: »Ich – ich weiß es selbst kaum, nach alldem – das heißt, wer ich war, heute früh beim Aufste hen, das weiß ich schon, aber ich muss seither wohl mehrere Male vertauscht worden sein.«»Wie meinst du das?«, fragte die Raupe streng. »Erkläre dich!«»Ich fürchte, ich kann mich nicht erklären«, sagte Alice, »denn ich bin gar nicht ich, sehen Sie.«»Ich sehe es nicht«, sagte die Raupe.»Leider kann ich es nicht besser ausdrücken«, antwor-tete Alice sehr höfl ich, »denn erstens begreife ich es selbst nicht; und außerdem ist es sehr verwirrend, an einem Tag so viele ver schiedene Größen zu haben.«»Gar nicht«, sagte die Raupe.»Nun, vielleicht haben Sie diese Erfahrung noch nicht ge-macht«, sagte Alice. »Aber wenn Sie sich einmal verpup-pen – und das tun Sie ja eines Tages, wie Sie wissen – und danach zu einem Schmetter ling werden, das wird doch ge-wiss auch für Sie etwas sonderbar sein, oder nicht?«»Keineswegs«, sagte die Raupe.

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»Nun, vielleicht empfi nden Sie da anders«, sagte Alice; »ich weiß nur: für mich wäre das sehr sonderbar.«»Für dich!«, sagte die Raupe. »Wer bist denn du?«Und damit war sie wieder zum Anfang ihrer Unterhaltung zurückgekehrt. Alice war etwas ungehalten darüber, dass die Raupe so überaus kurz angebunden war, richtete sich empor und sagte in sehr ernstem Ton: »Ich fi nde, Sie sollten mir zuerst einmal sagen, wer Sie sind.«»Warum?«, sagte die Raupe.Wieder eine verwirrende Frage; und da Alice kein pas-sender Grund einfallen wollte und die Raupe mehr als schlecht aufge legt schien, wandte sie sich zum Gehen.»Komm zurück!«, rief die Raupe hinter ihr her. »Ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen!«Das klang freilich vielversprechend; Alice machte kehrt und ging wieder zum Pilz zurück.»Du musst dich besser beherrschen«, sagte die Raupe.»Ist das alles?«, fragte Alice und schluckte ihren Zorn hin-unter, so gut es ging.»Nein«, sagte die Raupe.Alice dachte sich, dass sie ebenso gut auch warten könnte, denn etwas Besseres hatte sie nicht zu tun, und am Ende konnte sie von der Raupe vielleicht doch noch etwas Wis-senswertes er fahren.Die paff te einige Minuten lang stumm vor sich hin, doch schließlich tat sie die Arme auseinander, nahm das Mund-stück der Wasserpfeife aus dem Mund und sagte: »Also du glaubst, du seiest jemand anderer geworden, wie?«

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»Ich fürchte fast, lieber Herr«, sagte Alice; »denn manches fällt mir jetzt nicht mehr ein wie früher – und es vergeht keine Vier telstunde, ohne dass ich nicht größer oder klei-ner werde!«»Was fällt dir nicht mehr ein?«, fragte die Raupe.»Nun, ich wollte zum Beispiel aufsagen ›Wie emsig doch das Bienelein‹, und da kam es ganz falsch heraus!«, erwi-derte Alice bedrückt.»Dann sag einmal auf ›Ihr seid alt, Vater Franz‹«, sagte die Raupe.Alice faltete die Hände und begann:

»Ihr seid alt, Vater Franz«, sagte Fränzchen, der Tropf, »Und Ihr habt schon schneeweiße Haare;Und nichtsdestotrotz steht Ihr pausenlos kopf – Bedenkt Ihr denn nicht Eure Jahre?«

»Als ich jung war«, der Vater zur Antwort drauf gab, »Ließ ich’s sein wegen meinem Verstand;Doch nun, da ich weiß, dass ich gar keinen hab, Tu ich’s dafür am laufenden Band.«

»Ihr seid alt, Vater Franz, das weiß alle Welt, Und so dick und so rund wie ein Faß;Und kommt doch noch kopfüber ins Zimmer geschnellt – Wie erklärt sich nun wiederum das?«

»Als ich jung war«, der Alte sprach, »ward mir zum Glück Gegen Gliederversteifung empfohlen

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Hier diese Salbe – nur drei Kreuzer das Stück – Wie viel davon darf ich dir holen?«

»Ihr seid alt«, sprach der Sohn, »und was Härtres als Mus Solltet Ihr schon längst nicht mehr kauen,Und verspeist doch noch Gänse samt Schnabel und Fuß – Wie macht Ihr das, ganz im Vertrauen?«

»Als ich jung war, mein Fränzchen, bevor Mama starb, Musst’ ich ihr manches Wortgefecht liefern;Und die Muskelkraft, die ich mir dabei erwarb, Die sitzt mir noch jetzt in den Kiefern.«

»Ihr seid alt«, sprach der Knab‹, »und das Augenmaß Geht im Alter bekanntlich zurück;Und Ihr balanciert einen Aal auf der Nas’ – Woher nehmt Ihr nur so viel Geschick?«

»Drei Fragen, das reicht, du treibst es zu weit! Manieren hast du wohl keine? Meinst du«,sprach der Vater, »ich stehl’ meine Zeit? Fort mit dir! Oder ich mache dir Beine!«

»Das war nicht richtig aufgesagt«, stellte die Raupe fest.»Nicht ganz richtig, fürchte ich«, sagte Alice verzagt. »Man-che Wörter sind anders geworden.«»Es war falsch von vorn bis hinten«, sagte die Raupe nach-drück lich, und einige Minuten lang herrschte Schweigen.Die Raupe unterbrach die Stille zuerst.

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»Welche Größe möchtest du haben?«, fragte sie.»So genau kommt es mir darauf gar nicht an«, sagte Alice eil fertig; »nur möchte man nicht dauernd wechseln, was meinen Sie?«»Ich meine gar nichts«, sagte die Raupe.Alice schwieg; so viel Widerspruch auf einmal war ihr ihr Leb tag noch nicht vorgekommen, und sie merkte, wie sie langsam die Geduld verlor.»Bist du zufrieden damit, wie du jetzt bist?«, fragte die Raupe.»Nun, ein klein wenig größer möchte ich schon gern sein, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Alice; »drei Zoll ist doch eine recht armselige Größe!«»Drei Zoll ist, ganz im Gegenteil, eine sehr schöne Grö-ße!«, sagte die Raupe zornig und richtete sich dabei voll auf (sie maß genau drei Zoll).»Aber ich bin doch nicht daran gewöhnt!«, sagte Alice fl ehent lich, und dabei dachte sie sich: »Wenn diese Wesen hier nur nicht immer gleich beleidigt wären!«»Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles«, sagte die Rau-pe; und damit steckte sie die Wasserpfeife wieder in den Mund und schmauchte weiter.Diesmal wartete Alice geduldig, bis sich die Raupe wie-der zum Sprechen bequemen würde. Die nahm nach ei-ner oder zwei Minuten die Wasserpfeife wieder aus dem Mund, gähnte ein paarmal und reckte sich; dann stieg sie vom Pilz herab und kroch durchs Gras davon, wobei sie nur im Vorübergehen kurz bemerkte: »Von der einen Seite wirst du größer und von der anderen kleiner.«

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»Eine Seite wovon? Und die andere Seite wovon?«, dachte Alice im Stillen.»Vom Pilz«, sagte die Raupe, gerade, als hätte Alice laut gefragt, und war im nächsten Augenblick verschwunden.Alice betrachtete den Pilz eine Zeitlang nachdenklich, um her auszubringen, wo er wohl seine Seiten hätte; und da er voll kommen rund war, erschien ihr diese Frage nicht ganz leicht. Schließlich aber umfasste sie ihn mit beiden Armen, so weit sie konnte, und brach mit jeder Hand ein kleines Stück vom Rande ab.»Gut; aber was tut nun was?«, fragte sie sich und knab-berte ver suchsweise an dem Stück in ihrer Rechten; aber im selben Augenblick bekam sie auch schon einen hef-tigen Schlag unters Kinn – sie war damit an ihrem Fuß aufgeprallt!Über diese plötzliche Veränderung war sie sehr erschro-cken, aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als sei jetzt keine Zeit mehr zu verlieren, denn sie schrumpfte noch immer zusehends weiter; so ging sie also daran, etwas von dem anderen Stück abzubeißen. Ihr Kinn drückte sich nun schon so fest gegen den Fuß, dass sie den Mund kaum noch aufbrachte; aber schließlich gelang es ihr doch, und ein kleines Krümelchen aus ihrer Lin ken glitt ihre Kehle hinab.»So! Nun habe ich doch wenigstens den Kopf frei!«, rief Alice voller Fröhlichkeit aus, die jedoch alsbald in Beängs-tigung um schlug, als sie ihre Schultern nirgends mehr ent-decken konnte: so weit das Auge auch in die Tiefe reichte, war da nur ein unend licher Hals zu sehen, der wie ein

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Stängel weit unten aus einem grünen Blättermeer aufzu-steigen schien.»Was ist das nur für ein grünes Zeug?«, sagte Alice. »Und wo in aller Welt sind denn meine Schultern geblieben? Und meine Hände, ach! wie kommt’s, dass ich euch nicht mehr sehen kann?« Und während sie dies sagte, fuchtelte sie mit ihnen um her, aber außer einem leichten Schwan-ken in dem fernen Blät tergrün hatte das anscheinend kei-ne Wirkung.Da ihre Hände off enbar nicht mehr bis zu ihrem Kopf herauf reichten, wollte sie sehen, ob sie nicht umgekehrt mit dem Kopf zu den Händen hinablangen konnte, und bemerkte zu ihrer Freude, dass sich ihr Hals ganz leicht nach allen Seiten krümmen ließ wie eine Schlange. Es war ihr eben gelungen, ihn mit einem anmutigen Schwung nach unten zu biegen, und schon wollte sie damit unter das Laub tauchen (das nichts an deres war als die Baum-wipfel, unter denen sie gerade noch spa zieren gegangen war), als ein heftiges Schwirren sie eilig zu rückfahren ließ: eine große Taube war ihr ins Gesicht gefl ogen und schlug heftig mit ihren Flügeln auf sie ein.»Schlange!«, schrie die Taube.»Ich bin keine Schlange!«, sagte Alice aufgebracht. »Lass mich in Ruhe!«»Schlange, sage ich!«, wiederholte die Taube, wenn auch etwas gedämpfter, und fuhr mit einer Art Aufschluch-zen fort: »Nun habe ich alles versucht, und nie passt es ih-nen!«»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Alice.

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»In einer Wurzel hab ich’s versucht, am Ufer hab ich’s ver-sucht, unter einer Hecke hab ich’s versucht«, klagte die Taube, ohne auf Alice zu hören; »aber diese Schlangen! Denen macht es kei ner recht!«Alice kannte sich allmählich immer weniger aus, aber es er schien ihr wenig sinnvoll, etwas zu antworten, bevor die Taube ausgeredet hatte.»Als wäre man nicht schon genug geplagt mit dem Aus-brüten!«, sagte die Taube; »nein! auch auf Schlangen muss man Tag und Nacht aufpassen! Seit genau drei Wochen habe ich kein Auge zugetan!«»Es tut mir sehr leid, dass du Ärger gehabt hast«, sagte Alice, die anfi ng, ihre Rede zu begreifen.»Und jetzt, wo ich mir den höchsten Baum im ganzen Wald ausgesucht habe«, fuhr die Taube fort und begann dabei immer lauter zu schreien, »wo ich gerade hoff te, ich wäre sie endlich los, da kommen sie jetzt auch noch von oben aus dem Himmel heruntergekrochen! Äh! Schlange, du!«»Aber ich sage dir doch, ich bin keine Schlange!«, sagte Alice. »Ich bin – ich bin ein –«»Nun? Sag’s doch!«, unterbrach sie die Taube. »Das sieht ja jeder, dass du dir erst etwas ausdenken musst!«»Ich – ich bin ein kleines Mädchen«, sagte Alice etwas zö-gernd, weil sie daran denken musste, wie oft sie sich heute schon ver ändert hatte.»Etwas Besseres fällt dir wohl nicht ein?«, sagte die Taube mit hohntriefender Stimme. »Ich habe schon genug kleine Mäd chen gesehen in meinem Leben, aber einen solchen Hals hat noch keine gehabt! Nein, nein! Eine Schlange bist

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du, da hilft dir alles Leugnen nichts. Nächstens wirst du mir noch einreden wollen, dass du nicht weißt, wie ein Ei schmeckt!«»Ich weiß ganz genau, wie ein Ei schmeckt«, sagte Alice, denn sie nahm es mit der Wahrheit sehr genau; »aber klei-ne Mäd chen essen genauso oft Eier wie Schlangen, musst du wissen.«»Das machst du mir nicht weis«, sagte die Taube; »aber wenn das wirklich stimmt, dann sind sie eben auch eine Art Schlange, und damit fertig.«Dieser Gedanke war Alice so neu, dass sie eine ganze Weile still schwieg, was die Taube sogleich zu der Bemerkung aus-nutzte: »Dass du nach Eiern suchst, weiß ich schon längst; und also ist es ganz gleich, ob du ein Mädchen bist oder eine Schlange.«»Mir ist das gar nicht gleich«, sagte Alice rasch; »und zu-fällig suche ich auch gar keine Eier; und wenn, dann keine von dir – roh mag ich sie nämlich nicht.«»Dann mach, dass du fortkommst!«, sagte die Taube in mürrischem Ton und ließ sich wieder in ihrem Nest nieder. Alice duckte sich unter die Bäume, so gut es ging – denn ihr Hals ver schlang sich dabei immer wieder in den Zwei-gen, und dann musste sie innehalten und ihn entwirren.Nach einer Weile fi el ihr ein, dass sie ja noch die zwei Pilzstück chen in den Händen hielt, und ging also daran, sehr vorsichtig einmal an dem einen und dann an dem anderen abzubeißen, wobei sie jedes Mal entweder in die Höhe schoss oder zusam menfuhr, bis sie sich zuletzt wie-der auf ihre richtige Größe ge bracht hatte.

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Es war schon so lange her, dass sie auch nur annähernd ihre rechte Gestalt gehabt hatte, dass sie sich darin zuerst ganz fremd vorkam; aber gleich hatte sie sich wieder ein-gewöhnt und fi ng an, wie es ihre Art war, mit sich selber zu reden.»So! Zur Hälfte hätten wir den Plan. Wie man da durchein-anderkommt, mit diesen ganzen Veränderungen! Man weiß ja nie, wozu man im nächsten Moment werden wird! Jeden falls habe ich jetzt wieder die richtige Größe; und jetzt fragt sich, wie ich in den schönen Garten komme – ja, wie soll ich das nur anstellen?«Wie sie so mit sich sprach, kam sie plötzlich an eine Lich-tung, in der ein kleines Haus stand, nicht höher als ein Tisch. »Wer da auch wohnt«, dachte Alice, »in meiner jet-zigen Größe mich zu zeigen, das geht jedenfalls nicht an; die verlören ja vor Angst den Verstand!« Also knabberte sie wieder ein wenig an dem Stück in ihrer Rechten, und erst als sie sich bis auf neun Zoll zusammengeschoben hatte, wagte sie, auf das Haus zuzu gehen.

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kapitel sechs

Ein gepfeff ertes Ferkel

Eine Weile betrachtete sie das Haus und überlegte sich, was sie nun tun sollte; da kam plötzlich ein livrierter Lakai aus dem Wald gerannt – und nur wegen seiner Livree hielt ihn Alice für einen Lakai; nach seinem Gesicht zu urteilen, hätte sie eher ge sagt, er sei ein Fisch – und klopfte laut mit der Faust an die Tür. Sie öff nete sich, und es erschien ein zweiter livrierter Lakai mit rundem Kopf und Kugelaugen wie ein Frosch; alle beide hatten sie gepuderte, zu kleinen Löckchen gewickelte Perücken auf. Alice war sehr gespannt, was da vor sich gehen sollte, und schlich sich heimlich ein Stück aus dem Wald heraus, um zu lauschen.Zuerst zog der Lakai mit dem Fischgesicht einen Brief un-ter dem Arm hervor, der fast so groß war wie er selbst, und überreichte ihn mit den feierlich gesprochenen Worten: »Für die Herzogin. Eine Einladung Ihrer Majestät zu einer Croquetpartie.« Der Lakai mit dem Froschgesicht antwor-tete ebenso feierlich, indem er nur einige Worte vertausch-te: »Von Ihrer Majestät. Eine Einladung für die Herzogin zu einer Croquetpartie.«Darauf machten sie eine so tiefe Verbeugung, dass sich ihre Perücken ineinander verfi ngen.Alice musste darüber so lachen, dass ihr nichts anderes üb-rigblieb, als in den Wald zurückzulaufen, um nicht ent-deckt zu werden; als sie schließlich wieder hervorlugte, war der Lakai mit dem Fischgesicht verschwunden, und der

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andere hatte sich neben die Tür auf den Boden gesetzt und starrte blöde in die Luft.Alice ging schüchtern auf die Tür zu und klopfte an.»Es hat keinerlei Sinn, dass du hier anklopfst«, sagte der Lakai, »und zwar aus zwei Gründen. Erstens bin ich auf der gleichen Seite der Tür wie du selbst; und zweitens ma-chen die da drin einen derartigen Lärm, dass dich unmög-lich jemand hören kann.« Und in der Tat rumorte es sehr sonderbar hinter der Tür – es heulte und nieste ununter-brochen, und ab und zu krachte es laut, als sei eine Schüs-sel oder ein Topf am Boden zerschellt.»Bitte«, sagte Alice, »wie werde ich wohl hineinkommen?«»Einen gewissen Zweck hätte dein Klopfen vielleicht«, fuhr der Lakai fort, ohne ihre Frage zu beachten, »wenn wir die Tür zwischen uns hätten. Wenn du etwa drinnen wärst und anklopf test, könnte ich dich nämlich zum Beispiel herauslassen.« Dabei schaute er die ganze Zeit geradeaus in die Luft, was Alice durch aus ungehörig fand. »Aber vielleicht kann er nichts dafür«, sagte sie sich dann, »denn seine Augen stehen wirklich sehr weit oben am Kopf. Aber Antwort geben könnte er doch je denfalls. – Wie soll ich also hineinkommen?«, wiederholte sie et-was lauter.»Ich bleibe hier sitzen«, bemerkte der Lakai, »bis mor-gen –«Im gleichen Augenblick öff nete sich die Haustür, und ein gro ßer Teller kam herausgesegelt, genau auf den Kopf des Lakaien zu, streifte seine Nase und zerschellte in tausend Scherben an einem Baum hinter ihm.

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»– oder vielleicht auch bis übermorgen«, fuhr der Lakai im gleichen Tone fort, als sei nichts geschehen.»Wie soll ich hineinkommen?«, fragte Alice zum dritten Mal und noch lauter als zuvor.»Sollst du denn hineinkommen?«, fragte der Lakai. »Das ist doch zuerst einmal die Frage, meine ich.«Das stimmte wohl auch; nur, dass es Alice nicht sehr gern hörte. »Es ist doch schrecklich«, murmelte sie vor sich hin, »wie einem die Wesen hier das Wort im Munde herumdre-hen. Man kann ja verrückt dabei werden!«Der Lakai hielt anscheinend eine gute Gelegenheit für gekom men, seine vorige Bemerkung zu wiederholen und einige Wör ter darin zu vertauschen. »Ich bleibe hier sit-zen«, sagte er, »im mer wieder und ganze Tage lang.«»Aber was soll ich denn machen?«, fragte Alice.»Was du willst«, sagte der Lakai und begann vor sich hin zu pfeifen.»Ach, mit ihm zu reden hat ja überhaupt keinen Zweck«, sagte Alice verzweifelt; »er ist vollkommen schwachsinnig.« Und sie machte die Tür auf und trat ein.Die Tür führte geradewegs in eine große Küche, die von vorn bis hinten rauchgeschwängert war; auf einem drei-beinigen Hocker in der Mitte saß die Herzogin und hielt ein Kind im Arm; und die Köchin stand über den Herd gelehnt und rührte in einem großen Kessel, in dem an-scheinend eine Suppe kochte.»In der Suppe ist aber bestimmt zu viel Pfeff er!«, sagte Alice zu sich, soweit sie vor Niesen überhaupt sprechen konnte.

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In der Luft war ganz gewiss zu viel davon. Selbst die Her-zogin nieste gelegentlich; das Kind aber nieste und heulte abwechselnd ohne die kleinste Ruhepause. Die Einzigen, die davor anscheinend gefeit waren, waren die Köchin und eine große Katze, die am Herd saß und breit vor sich hin grinste.»Ach, würden Sie mir bitte sagen«, begann Alice ein wenig zag haft, denn sie wusste nicht genau, ob es sich gehörte, zuerst zu sprechen, »warum Ihre Katze so grinst?«»Es ist eine Edamer Katze«, sagte die Herzogin, »darum. Ferkel!« Dieses Wort stieß sie mit so großer Heftigkeit aus, dass Alice ordentlich zusammenfuhr; aber sogleich merkte sie, dass nur das Baby damit gemeint war und nicht sie; sie nahm sich also ein Herz und fuhr fort: »Ich wusste gar nicht, dass Edamer Kat zen ständig grinsen; oder vielmehr: es ist mir neu, dass Katzen überhaupt grinsen können.«»Können tun es alle«, sagte die Herzogin; »und die meisten machen es auch.«»Ich weiß von keiner, die es macht«, sagte Alice sehr höf-lich und ganz erfreut darüber, dass sich eine Unterhaltung ange sponnen hatte.»Viel weißt du nicht«, sagte die Herzogin; »das steht fest.«Alice wollte der Ton gar nicht gefallen, in dem dies gesagt wurde, und sie hielt es für richtiger, mit einem neuen Ge-sprächsthema anzufangen. Während sie sich noch über-legte, was sich dazu wohl eignen könnte, zog die Köchin den Kessel vom Feuer und machte sich sogleich daran, al-les, was ihr in die Hände kam, gegen die Herzogin und das Baby zu schleudern – zuerst die Herdringe und dann

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einen ganzen Regen Töpfe, Teller und Schüsseln. Die Her-zogin beachtete sie überhaupt nicht, auch wenn sie getrof-fen wurde; und das Baby heulte ohnehin schon so laut, dass sich unmöglich sagen ließ, ob ihm die Geschosse weh taten oder nicht.»O bitte, passen Sie doch auf, was Sie tun!«, rief Alice und hüpfte vor Entsetzen auf und ab. »Ach, nicht sein kleines, liebes Näs chen!« – denn gerade fl itzte ein ungewöhnlich großer Topf dicht daran vorbei und hätte es fast mit weg-gefegt.»Wenn jeder in seinen eigenen Suppentopf schauen woll-te«, brummte die Herzogin dumpf, »dann könnte sich die Welt bedeutend schneller drehen.«»Das wäre aber keineswegs ein Vorteil«, sagte Alice, die sich sehr über diese Gelegenheit freute, ein wenig von ih-rem Wis sen vorzuführen. »Stellen Sie sich vor, was dann alles mit Tag und Nacht geschähe! Denn, sehen Sie, die Erde dreht sich genau in vierundzwanzig Stunden einmal um ihre Achse –«»Achse? Axt, meinst du«, sagte die Herzogin, »gut, dass du mich erinnerst. Hack ihr den Kopf ab!«Alice sah sich ängstlich nach der Köchin um, ob die den Wink verstanden hatte; aber sie war eifrig beschäftigt, die Suppe zu rühren, und schien nicht zuzuhören, so dass Ali-ce tapfer fort fuhr: »Ich glaube wenigstens, vierundzwanzig; oder sind es zwölf? Ich –«»Lass doch mich damit in Frieden«, sagte die Herzogin; »Zahlen habe ich noch nie ausstehen können!« Und damit begann sie das Kind im Arm hin- und herzuschaukeln und

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sang dazu eine Art Wiegenlied, wobei sie ihm am Ende von jedem Vers einen heftigen Ruck gab:

Sprich roh mit deinem kleinen Sohn Und hau ihn, wenn er niest;Er tut es doch nur dir zum Hohn, Und weil es dich verdrießt.

Refrain(in den die Köchin und das Baby einfi elen):

Wau! Wau! Wau!

Bei der zweiten Strophe schleuderte die Herzogin das Ba-by immer weiter heftig hin und her, und das arme kleine Ding fi ng so laut an zu heulen, dass Alice kaum die Worte verstehen konnte:

Ich spreche grob mit meinem Sohn Und hau ihn, wenn er niest;Der Pfeff er schmeckt ihm nämlich schon, Er ziert sich nur, das freche Biest!

RefrainWau! Wau! Wau!

»Da! Jetzt kannst du ihn halten, wenn du magst!«, sagte die Her zogin zu Alice und warf ihr das Baby zu. »Ich muss mich zu rechtmachen für die Croquetpartie bei der Köni-gin«, und da mit eilte sie aus dem Zimmer. Die Köchin warf ihr beim Hin ausgehen noch eine Bratpfanne nach, verfehlte sie aber um weniges.

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Alice konnte das Baby nur mit einiger Mühe in ihren Ar-men auff angen, denn es war sehr merkwürdig gewachsen, und seine Arme und Beine gingen nach allen Richtungen. »Wie bei einem Seestern«, dachte sich Alice. Das arme, kleine Ding schnarchte wie eine Lokomotive, als es bei Alice landete, und krümmte und wand sich zuerst so hef-tig, dass Alice es kaum festhalten konnte.Sie hatte bald herausgefunden, wie man es am besten im Arm hielt (man musste es dazu zu einer Art Knoten schür-zen und es dann an seinem rechten Ohr und seinem linken Fuß fest um klammern, damit es nicht wieder aufging), und trug es sogleich hinaus ins Freie. »Wenn ich das Kind nicht mitnehme«, dachte sie sich, »haben die es bestimmt in zwei oder drei Tagen umge bracht; wäre das nicht glatter Mord, wenn ich es zurückließe?« Den letzten Satz hatte sie laut gesagt, und das kleine Ding grunzte zur Antwort (zu niesen hatte es inzwischen aufgehört). »Grunz nicht«, sagte Alice; »das ist keine schickliche Art, sich auszudrücken.«Wieder grunzte das Baby, und Alice sah ihm besorgt ins Ge-sicht, um zu sehen, ob ihm etwas fehlte. So viel stand fest: seine Nase war sehr lang und aufgeworfen, eigentlich mehr wie ein Rüssel als eine rechte Nase; und auch seine Augen waren für ein Baby überaus klein geworden – alles in allem wollte Alice sein Aussehen gar nicht gefallen. »Aber viel-leicht hat es bloß geschluchzt«, dachte sie und sah nach seinen Augen, ob darin vielleicht Tränen standen.Nein, Tränen waren da keine. »Wenn du etwa zu einem Ferkel werden willst, mein Kleines«, sagte Alice ernsthaft, »dann will ich mit dir nichts mehr zu schaff en haben. Sieh

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dich vor!« Das arme, kleine Wesen schluchzte wieder (oder grunzte – das ließ sich einfach nicht entscheiden), und so liefen sie zusammen eine Zeitlang schweigend weiter.Alice begann sich schon zu fragen: »Was soll ich nur mit die sem kleinen Ding anfangen, wenn ich heimkomme?«, da grunzte es wieder, und zwar so kräftig, dass Alice ihm recht verstört ins Gesicht sah. Diesmal konnte kein Zweifel mehr sein: in ihren Armen lag ganz einfach ein kleines Fer-kel, und Alice fand es lächerlich, sich noch länger mit ihm abzu schleppen.Sie setzte das kleine Geschöpf also auf die Erde und war recht erleichtert, als es still durch den Wald davontrabte. »Als Kind wäre es später doch nur grundhässlich gewor-den«, sagte sie sich, »aber als Schwein macht es sich, glau-be ich, ganz hübsch.« Und sie stellte sich andere Kinder in ihrer Bekanntschaft vor, die sich als Schweinchen gut machen würden, und sagte eben vor sich hin: »Man müss-te natürlich das richtige Mittel kennen, um sie dazu zu machen –«, als sie plötzlich, leicht zusammen fahrend, die Edamer Katze wenige Meter vor sich auf einem Zweig sit-zen sah.Die Katze grinste bloß, als sie Alice erblickte. Sie sah ganz gut mütig aus, fand Alice; aber andererseits hatte sie doch reichlich lange Krallen und mehr als genug Zähne, und Alice hielt es da her für das Beste, sie mit einigem Respekt zu behandeln.»Edamer Mieze«, begann sie ein wenig stockend, denn sie war gar nicht sicher, ob ihr diese Bezeichnung wohl an-genehm wäre – aber das Grinsen wurde davon nur noch

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etwas breiter. »Aha«, dachte Alice, »das hat ihr gefallen«, und fuhr fort: »Wür dest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?«»Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möch-test«, sagte die Katze.»Ach, wohin ist mir eigentlich gleich –«, sagte Alice.»Dann ist es auch egal, wie du weitergehst«, sagte die Kat-ze.»– solange ich nur irgendwohin komme«, fügte Alice zur Erklä rung hinzu.»Das kommst du bestimmt«, sagte die Katze, »wenn du nur lange genug weiterläufst.«Das konnte Alice freilich nicht leugnen und stellte deswe-gen lieber eine neue Frage. »Was für Leute wohnen hier in der Gegend?«»Dort drüben«, sagte die Katze und schwenkte ihre rech-te Pfote, »wohnt ein Hutmacher; und hier« – und dabei winkte sie mit der anderen Pfote – »wohnt ein Schnapp-hase. Du kannst es dir heraussuchen, welchen du besuchen willst – verrückt sind sie beide.«»Aber ich will doch nicht unter Verrückte gehen!«, wider-sprach Alice.»Ach, dagegen lässt sich nichts machen«, sagte die Katze; »hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist ver-rückt.«»Woher weißt du denn, dass ich verrückt bin?«, fragte Alice.»Musst du ja sein«, sagte die Katze, »sonst wärst du doch gar nicht hier.«»Das ist doch kein Beweis!«, dachte sich Alice; aber sie

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fragte weiter: »Und woher weißt du, dass du selbst ver-rückt bist?«»Zunächst einmal«, sagte die Katze, »ist ein Hund doch nicht verrückt. Zugegeben?«»Meinethalben«, sagte Alice.»Nun also«, fuhr die Katze fort, »siehst du: ein Hund knurrt, wenn er zornig ist, und wedelt mit dem Schwanz, wenn er sich freut. Ich dagegen knurre, wenn ich mich freue, und wedle mit dem Schwanz, wenn ich zornig bin. Folglich bin ich verrückt.«»Ich nenne das ›schnurren‹, nicht ›knurren‹«, sagte Alice.»Nenn es, wie du willst«, sagte die Katze. »Kommst du heute zur Croquetpartie bei der Königin?«»Ich möchte schrecklich gerne«, sagte Alice, »aber ich habe noch keine Einladung dazu bekommen.«»Wir sehen uns dort«, sagte die Katze und löste sich in Luft auf. Alice war darüber nicht sonderlich verwundert, sie war all mählich daran gewöhnt, dass dauernd etwas Seltsames ge schah. Während sie noch auf den leeren Platz sah, tauchte die Katze plötzlich wieder auf.»Übrigens, was ist aus dem Baby geworden?«, sagte die Katze. »Fast hätte ich vergessen, danach zu fragen.«»Es hat sich in ein Ferkel verwandelt«, sagte Alice ruhig, als sei die Katze auf ganz gewöhnliche Art zurückgekehrt.»Das hab ich mir gleich gedacht«, sagte die Katze und ver-schwand wieder.Alice blieb noch ein Weilchen stehen, weil sie so halb dar-auf wartete, dass die Katze wiederkäme, aber die blieb fort, und so ging sie nach einiger Zeit in die Richtung, in der

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der Schnapp hase wohnen sollte. »Einen Hutmacher habe ich ja schon öfters gesehen«, sagte sie sich; »ein Schnapp-hase ist da schon viel inter essanter. Vielleicht ist er gar nicht vollständig übergeschnappt.« Dabei blickte sie zu-fällig nach oben, und da saß die Katze schon wieder auf einem Zweig.»Sagtest du ›Ferkel‹ oder ›Schnörkel‹?«, fragte die Katze.»›Ferkel‹, sagte ich«, erwiderte Alice; »und übrigens tätest du mir einen großen Gefallen, wenn du etwas weniger plötzlich auftauchen und verschwinden wolltest; man wird ja ganz schwindlig davon.«»Wie du willst«, sagte die Katze und verschwand diesmal ganz allmählich, von der Schwanzspitze angefangen bis hinauf zu dem Grinsen, das noch einige Zeit zurückblieb, nachdem alles andere schon verschwunden war.»So etwas!«, dachte Alice; »ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe!«Sie war noch nicht weit gegangen, als sie auch schon das Haus des Schnapphasen erblickte; das musste es wohl sein, denn die Schornsteine sahen aus wie lange Ohren, und das Haus war mit Fell gedeckt. Aber es war so groß, dass sie nicht hineingehen mochte, bevor sie nicht ein wenig an dem Pilzstückchen in ihrer Linken geknabbert und sich wieder bis auf einen halben Meter auseinandergeschoben hatte; und selbst da noch ging sie etwas zögernd auf die Tür zu und sagte sich dabei: »Wenn er aber nun doch ganz und gar übergeschnappt ist? Fast meine ich, ich hätte doch lieber den Hutmacher besuchen sollen!«

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kapitel sieben

Aberwitz und Fünf-Uhr-Tee

Unter einem Baum vor dem Haus stand ein gedeckter Tisch, und der Hutmacher und der Schnapphase hatten sich schon daran niedergelassen und tranken Tee; zwischen den beiden saß eine Haselmaus und schlief vor sich hin, während sich ihre zwei Nachbarn mit den Ellbogen auf sie aufstützten und über ihren Kopf hinweg unterhielten. »Unbequem für die Hasel maus«, dachte Alice; »aber da sie schläft, macht es ihr wahr scheinlich nichts aus.«Der Tisch war schon eher eine Tafel, doch saßen alle drei eng zusammengedrängt in einer Ecke. »Besetzt! Besetzt!«, riefen sie, als sie Alice näher treten sahen. »Von besetzt kann doch gar keine Rede sein!«, sagte Alice empört und setzte sich in einen großen Sessel am Tisch-ende.»Ein Schluck Wein?«, fragte der Schnapphase einladend.Alice sah sich auf dem Tisch um, aber da stand nur eine Tee kanne. »Ich sehe keinen Wein«, bemerkte sie.»Ist auch gar keiner da«, sagte der Schnapphase.»Dann war es nicht sehr höfl ich, welchen anzubieten«, sagte Alice zornig.»Es war auch nicht sehr höfl ich, sich ungebeten an unsern Tisch zu setzen«, sagte der Schnapphase.»Ich konnte ja nicht wissen, dass es euer Tisch war«, ver-setzte Alice; »es ist für viel mehr als drei gedeckt.«»Du musst zum Friseur«, sagte der Hutmacher. Er hatte

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Alice bisher nur neugierig angeschaut, und dies war sein erster Bei trag zur Unterhaltung.»Solche direkten Bemerkungen solltest du dir abgewöh-nen«, sagte Alice mit einiger Strenge; »sie sind unschick-lich.«Der Hutmacher riss die Augen weit auf, als er das hörte, aber alles, was er sagte, war: »Was ist der Unterschied zwi-schen einem Raben und einem Schreibtisch?«»Na, jetzt wird es schon lustiger«, dachte Alice, »jetzt kom-men Rätsel an die Reihe! – Ich glaube, das bringe ich her-aus«, sagte sie laut.»Du meinst, du wirst es erraten?«, fragte der Schnapphase.»Genau das«, sagte Alice.»Dann solltest du auch sagen, was du meinst«, fuhr der Schnapp hase fort.»Das tu ich ja«, widersprach Alice rasch; »wenigstens – wenig stens meine ich, was ich sage – und das kommt ja wohl aufs Gleiche heraus.«»Ganz und gar nicht«, sagte der Hutmacher. »Mit dem-selben Recht könntest du ja sagen: ›Ich sehe, was ich esse‹ ist das Gleiche wie ›Ich esse, was ich sehe‹!«»Mit demselben Recht könntest du ja sagen«, fi el der Schnapp hase ein: »›Was mir gehört, gefällt mir‹ ist das Glei-che wie ›Was mir gefällt, gehört mir‹!«»Mit demselben Recht könntest du ja sagen«, fügte die Hasel maus hinzu, die off enbar im Schlafe sprach: »›Solan-ge ich schlafe, leb ich‹ ist das Gleiche wie ›Solange ich lebe, schlaf ich‹!«»In deinem Fall ist das auch das Gleiche«, sagte der Hut-

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macher, und daraufhin stockte die Unterhaltung, und alle saßen eine Weile stumm da, während Alice in Gedanken alles durchging, was sie über Schreibtische und Raben wusste, und das war nicht eben viel.Der Hutmacher unterbrach das Schweigen zuerst. »Den wiewievielten haben wir heute?«, fragte er, sich an Alice wendend; und dabei zog er eine Uhr aus der Tasche, sah sie bekümmert an, schüttelte sie verschiedentlich hin und her und hielt sie sich schließlich ans Ohr.Alice dachte ein wenig nach und sagte dann: »Den Vier-ten.«»Zwei Tage geht sie nach!«, seufzte der Hutmacher. »Ich ha-be dir ja gleich gesagt, Butter ist für das Uhrwerk nichts!«, fuhr er fort und sah den Schnapphasen böse an.»Es war aber echte Tafelbutter«, erwiderte der Schnappha-se sanft.»Das schon, aber es sind eben Krümel mit hineingeraten«, murrte der Hutmacher; »warum hast du auch das Brot-messer dazu nehmen müssen!«Der Schnapphase griff nach der Uhr und schaute sie miss-mutig an; dann tunkte er sie in seinen Tee und betrachtete sie noch mals – aber etwas Besseres als seine Antwort von vorher fi el ihm auch dann nicht ein: »Echte Tafelbutter war das nämlich.« Alice hatte ihm neugierig über die Schulter gesehen. »Das ist einmal eine komische Uhr!«, bemerkte sie. »Die zeigt ja nur Tage an und keine Stunden!«»Wozu auch!«, brummte der Hutmacher. »Zeigt deine Uhr viel leicht das Jahr an?«

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»Natürlich nicht«, versetzte Alice schlagfertig, »aber das kommt daher, dass es so lange das gleiche Jahr bleibt.«»Und genau das triff t auch bei meiner zu«, sagte der Hut-macher.Daraus konnte Alice nun gar nicht klug werden. Die Ant-wort des Hutmachers schien keinerlei Sinn zu haben, und doch waren alle Wörter darin deutsch. »Ich begreife nicht ganz«, sagte sie, so höfl ich sie konnte.»Die Haselmaus schläft schon wieder«, sagte der Hutma-cher und setzte in vertraulichem Tone hinzu: »Wir nen-nen sie unter uns oft einfach nur den Siebenschläfer.« Und dabei griff er zur Teekanne und goss ihr etwas heißen Tee über die Nase.Die Haselmaus schüttelte unwillig den Kopf und sagte, ohne dabei die Augen zu öff nen: »Gewiss, gewiss; ich woll-te eben dasselbe sagen.«»Hast du das Rätsel schon herausgebracht?«, fragte der Hut macher, wieder zu Alice gewandt.»Nein, ich gebe es auf«, sagte Alice, »wie heißt denn die Lö sung?«»Keine Ahnung«, sagte der Hutmacher.»Auch nicht«, sagte der Schnapphase.Alice seufzte müde auf. »Ich fi nde, ihr könntet etwas Bes-seres mit eurer Zeit tun, als sie auf Rätsel ohne Lösung zu ver schwenden«, sagte sie.»Du hast aber unklare Vorstellungen von Zeit!«, sagte der Hut macher. »Wenn du damit so gut bekannt wärst wie ich, wür dest du nicht davon reden, dass man sie verschwendet. Es ist nämlich ein Er.«

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»Ich weiß nicht, was du damit sagen willst«, erwiderte Alice.»Natürlich nicht!«, sagte der Hutmacher und warf höh-nisch den Kopf zurück. »Wahrscheinlich hast du mit ihm noch nie auch nur zwei Worte gewechselt!«»Das vielleicht nicht«, räumte Alice nicht ohne Vorsicht ein, »aber ich kenne mich doch sehr gut aus, wenn es zu Haus die Uhrzeit schlägt.«»Da haben wir’s schon!«, sagte der Hutmacher. »Schläge lässt er sich nicht gefallen. Aber wenn du dich ein bisschen besser mit ihm stellst, tut er fast alles, was du von ihm ha-ben willst. Stell dir zum Beispiel einmal vor, es ist acht Uhr morgens, und gleich beginnt die Schule: nur ein Wort in sein Ohr gewispert, und schon sausen die Zeiger wie im Fluge rundum – ein Uhr! Zeit zum Mittagessen!«(»Wenn’s nur wieder einmal so weit wäre!«, fl üsterte der Schnapp hase vor sich hin.)»Das wäre freilich wunderbar«, sagte Alice nachdenklich, »nur – dann hätte ich doch noch gar keinen Hunger!«»Vielleicht nicht gleich«, sagte der Hutmacher, »aber du könn test es ja ein Uhr sein lassen, so lange du wolltest.«»So macht ihr es wohl hier?«, fragte Alice.Der Hutmacher schüttelte wehmütig den Kopf. »Ach nein!«, antwortete er. »Ich habe mich im letzten Frühjahr mit ihm zer stritten, kurz bevor der da übergeschnappt ist –« (und dabei deutete er mit dem Teelöff el auf den Schnapphasen) »– da gab nämlich die Herzkönigin ein Festkonzert, und ich musste das Lied vortragen:

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Weißt du, wie viel Sternlein stehenAuf dem weiten Kanapee?

Du kennst das Stück vielleicht?«»Es kommt mir bekannt vor«, sagte Alice.»Es geht weiter«, half der Hutmacher nach, »wie folgt:

Statt dass sie am Himmel baumeln,Taumeln sie hier durch den Tee. Taumel, baumel –«

Und hier schüttelte sich die Haselmaus und begann im Schlaf zu singen: »Taumel, baumel, taumel, baumel –«, und zwar so lange immerfort, dass man sie schließlich zwi-cken musste, um sie zum Schweigen zu bringen.»Nun, ich war noch kaum mit der ersten Strophe fertig«, sagte der Hutmacher, »da sprang die Königin auch schon auf und brüllte: ›Er schlägt ja nur Zeit tot! Kopf ab mit ihm!‹«»So etwas Barbarisches!«, rief Alice aus.»Seit diesem Tag«, fuhr der Hutmacher in kläglichem Ton fort, »erfüllt er mir keine einzige Bitte mehr, und es bleibt immer fünf Uhr.«Alice kam die Erleuchtung. »Sind vielleicht deswegen so viele Teesachen gedeckt?«, fragte sie.»Allerdings«, seufzte der Hutmacher; »es ist ständig Zeit zum Fünf-Uhr-Tee, und zum Abspülen kommen wir nie.«»Dann macht ihr also langsam die Runde um den Tisch, oder?«, erkundigte sich Alice.

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»Genau«, sagte der Hutmacher; »sobald ein Gedeck be-nutzt ist, rücken wir eins weiter.«»Aber was passiert dann, wenn ihr wieder zum Anfang zurück kommt?«, fragte Alice beherzt weiter.»Wie wär’s denn, wenn wir von etwas anderem sprächen«, fi el der Schnapphase ein und gähnte. »Das ist doch lang-weilig. Ich bin dafür, dass uns die junge Dame hier etwas erzählt.«»Aber ich weiß leider nichts«, sagte Alice ziemlich erschro-cken über diesen Vorschlag.»Dann muss die Haselmaus!«, riefen sie beide. »Wach auf, Hasel maus!« Und dabei kniff en sie das Tier gleichzeitig von beiden Seiten.Die Haselmaus hob langsam die Lider. »Ihr meint wohl, ich schlafe?«, sagte sie mit heiserer, schwacher Stimme; »ich habe jedes Wort gehört, was ihr drei da gesprochen habt.«»Erzähl uns was!«, sagte der Schnapphase.»O ja, bitte!«, bat Alice.»Und beeil dich ein bisschen«, fügte der Hutmacher hin-zu, »sonst schläfst du wieder ein, bevor die Geschichte zu Ende ist.«»Es waren einmal drei kleine Schwestern«, begann die Hasel maus mit großer Hast, »die hießen Hilde, Else und Trine und lebten in einem Mühlrad –«»Wovon denn?«, fragte Alice, die sich für alles interessierte, was Essen und Trinken anging.»Von Karamell«, sagte die Haselmaus, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte.

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»Das ist aber nicht gut möglich, oder?«, bemerkte Alice dazu sanft; »sie wären ja auf die Dauer krank davon ge-worden.«»Das waren sie auch«, sagte die Haselmaus; »sehr krank so-gar.«Alice versuchte sich diese ungewöhnliche Lebensweise ge-nauer vorzustellen, aber sie kam dabei so durcheinander, dass sie nur noch fragte:»Warum lebten sie denn in einem Mühlrad?«»Darf ich dir noch etwas Tee zugießen?«, fragte der Schnapp-hase Alice mit ernster Miene.»Ich habe ja überhaupt noch keinen bekommen«, versetzte Alice gekränkt, »und darum wirst du mir auch kaum etwas zu gießen können.«»Du meinst, er kann dir nichts weggießen«, sagte der Hut-macher; »zugießen kann man immer, und zwar um so mehr, je leerer die Tasse ist.«»Du bist nicht gefragt«, sagte Alice.»Wer macht denn jetzt die direkten Bemerkungen?«, gab der Hutmacher auftrumpfend zurück.Alice wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte; sie goß sich also lieber Tee ein, griff nach einem Butterbrot und wandte sich mit ihrer Frage wieder an die Haselmaus: »Warum denn in einem Mühlrad?«Darüber musste die Haselmaus wiederum eine Weile nach-denken; dann sagte sie: »Es war eine Karamellmühle.«»So was gibt’s doch gar nicht!«, fi el ihr Alice ungehalten ins Wort, aber der Hutmacher und der Schnapphase machten: »Sch! Sch!«, und die Haselmaus sagte mürrisch: »Wenn du

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dich schlecht benehmen willst, kannst du die Geschichte selber zu Ende erzählen.«»Nein, nein, bitte erzähl doch weiter!«, sagte Alice. »Ich will auch nicht mehr dazwischenfragen. Eine Karamell-mühle gibt es ja vielleicht wirklich auf der Welt.«»Eine? Dass ich nicht lache!«, sagte die Haselmaus belei-digt. Aber sie fand sich doch bereit fortzufahren. »Also, diese drei Schwe stern – die wollten mahlen lernen, nicht wahr –«»Was wollten sie denn malen?«, fragte Alice, die ihr Verspre-chen schon wieder vergessen hatte.»Karamell«, sagte die Haselmaus, ohne diesmal auch nur einen Augenblick nachzudenken.»Ich möchte eine saubere Tasse haben«, unterbrach sie der Hutmacher; »wir wollen alle einen Stuhl weiterrücken.«Bei diesen Worten rutschte er auf den nächsten Platz hin-über und die Haselmaus hinter ihm drein; der Schnappha-se setzte sich auf den Platz der Haselmaus, und auch Alice rückte nach, wenngleich ziemlich missmutig. Als Einziger war der Hut macher bei dem Platzwechsel gut weggekom-men – Alice da gegen hatte einen recht schlechten Tausch gemacht, denn der Schnapphase hatte gerade das Milch-kännchen über seinen Tel ler ausgeschüttet.Alice wollte die Haselmaus nicht schon wieder kränken und sagte daher sehr vorsichtig:»Ich verstehe nicht ganz. Wie haben sie denn den Karamell malen können?«»Wenn man mit einer Mehlmühle Mehl mahlen kann«, sagte der Hutmacher, »dann wird man mit einer Karamell-

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mühle doch auch Karamell mahlen können – eh, Dum-merchen?«»Ich denke, sie wohnten in dem Mühlrad«, sagte Alice, die an zügliche Bemerkung des Hutmachers gefl issentlich überhö rend, »aber da hätte sich das Rad doch gedreht!«»Hat es ja auch«, sagte die Haselmaus; »aber deswegen wa-ren sie noch lange nicht radlos.«Diese Antwort brachte Alice so durcheinander, dass sie die Haselmaus eine ganze Weile nicht mehr unterbrach.»Sie lernten also malen«, fuhr die Haselmaus fort und be-gann dabei zu gähnen und sich die Augen zu reiben, denn sie wurde allmählich sehr schläfrig; »und sie malten alle möglichen Sa chen – alles, was mit S angeht –«»Warum mit S?«, fragte Alice.»Warum nicht?«, fragte der Schnapphase.Alice schwieg.Die Haselmaus hatte inzwischen schon die Augen geschlos-sen und war eingeschlummert, doch vom Hutmacher in die Seite gezwickt, kam sie leise aufquietschend wieder zu sich und fuhr fort: »– was mit S angeht, wie Sichelbein und Sonne und Seel sorge und Selbstheit – du weißt ja, man sagt oft von etwas, es sei ›die Selbstheit selbst‹ – vielleicht hast du das auch schon ein mal gesehen, das Gemälde von einer Selbstheit?«»Also jetzt, wo du mich fragst«, sagte Alice in größter Verwir rung, »glaube ich nicht –«»Dann halte den Mund«, sagte der Hutmacher.Bei so viel Ungezogenheit riss Alice nun endgültig die Ge-duld, und ganz angewidert stand sie auf und schritt da-

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von; die Hasel maus schlief auf der Stelle ein, und von den beiden andern schien keiner ihr Fortgehen auch nur zu bemerken, wiewohl sie sich ein- oder zweimal umdrehte in der halben Hoff nung, man würde sie zurückrufen. Das Letzte, was sie von ihnen sah, war, wie sie zu zweit ver-suchten, die Haselmaus in die Teekanne zu stopfen.»Die sehen mich jedenfalls bestimmt nicht wieder!«, sagte Alice, während sie ihren Weg durch die Bäume suchte. »Bei einem so dummen Fünf-Uhr-Tee bin ich mein Leb-tag noch nicht gewesen!«Wie sie das sagte, bemerkte sie, dass einer der Bäume in ihrer Nähe eine richtige Eingangstür hatte. »Das ist doch seltsam!«, dachte sie. »Aber heute ist ja alles seltsam. Am besten gehe ich gleich hinein.«Gesagt, getan – und schon stand sie wieder in dem weiten Saal, dicht neben dem kleinen Glastisch. »Diesmal stelle ich mich aber nicht mehr so dumm an«, sagte sie sich und nahm als Erstes das goldene Schlüsselchen vom Tisch und schloss damit die Tür auf, die in den Garten hinausführte. Dann knabberte sie ein wenig an dem Pilzstückchen (das sie in ihrer Tasche verwahrt hatte), bis sie nur noch unge-fähr eine Spanne groß war; ging dann den niedrigen Gang entlang – und da stand sie auch schon mitten in dem wun-derschönen Garten mit seinen bunten Blu menbeeten und kühl plätschernden Springbrunnen.

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kapitel acht

Königliche Croquetpartie

Nicht weit vom Eingang stand ein hohes Rosenbäumchen, das weiße Rosen trug, doch waren drei Gärtner damit beschäf tigt, sie eifrig mit roter Farbe anzumalen. Alice kam das sehr merkwürdig vor, und als sie näher hinzutrat, um ihnen zuzu schauen, hörte sie einen von ihnen rufen: »Paß doch auf, Fünf! Du spritzt mich ja überall voll mit dei-ner Farbe!« »Dafür kann ich nichts«, sagte Fünf mürrisch. »Sieben hat mich geschubst.« Da schaute Sieben auf und sagte: »Natürlich, Fünf, nur immer fest den anderen die Schuld in die Schuhe geschoben!«»Du sei nur lieber ganz still!«, sagte Fünf. »Erst gestern habe ich gehört, wie die Königin sagte, dass du eigentlich geköpft ge hörst!«»Wofür denn?«, fragte der, der zuerst gesprochen hatte.»Das geht dich gar nichts an, Zwei!«, sagte Sieben.»Doch geht es ihn etwas an!«, sagte Fünf, »und ich sage es ihm auch – weil du dem Koch Tulpenzwiebeln gebracht hast statt richtiger Zwiebeln.«Sieben warf seinen Pinsel zu Boden und fi ng gerade an: »Also, da hört sich doch alles auf –«, als sein Blick auf Alice fi el, die vor ihnen stand; er verstummte, die anderen wandten sich um, und dann machten sie alle zusammen einen tiefen Bückling.»Bitte, wollt ihr mir sagen«, begann Alice etwas befangen, »warum ihr die Rosen hier anmalt?«

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Fünf und Sieben sagten nichts und schauten nur Zwei an. Da sagte Zwei mit leiser Stimme: »Ja, das ist so, Fräulein, hierher sollte eigentlich ein roter Rosenstock kommen, und wir haben aus Versehen einen weißen eingesetzt; und wenn das die Köni gin erfährt, werden wir nämlich alle miteinander geköpft; und deswegen, das verstehen Sie schon, Fräulein, tun wir alles, was wir nur können, bevor sie kommt, damit –« In diesem Augen blick rief Fünf, der schon dauernd ängstlich über den Garten hingeblickt hat-te: »Die Königin! Die Königin!«, und sogleich warfen sich die drei Gärtner fl ach auf die Erde. Das Geräusch von vie-len Schritten wurde vernehmbar, und Alice wandte sich gespannt um. Als Erstes kamen zehn Soldaten mit geschul terten Piken; sie waren von gleicher Gestalt wie die Gärtner, nämlich von der Form fl acher Rechtecke, aus deren Ecken die Hände und Füße herausragten. Dann kamen die Höfl inge, über und über mit Kreuzen und Schellen geschmückt und wie die Soldaten paarweise aufgestellt. Nun kamen die Prinzen und Prinzessinnen, wiederum zehn an der Zahl; sie hielten sich an den Händen und sprangen zu zwei und zwei ganz allerliebst daher; sie trugen lauter Herzen als Schmuck. Als Nächstes kamen die Gäste, meist Könige und ihre Königinnen, doch ent deckte Alice darunter auch das Weiße Kaninchen, das sich hastig und aufgeregt un-terhielt und zu allem, was man ihm sagte, lächelte und im Übrigen an Alice vorüberging, ohne sie zu bemerken. Nun kam der Herzbube, der die Königskrone auf einem scharlachroten Samtkissen vor sich hertrug; und schließ-

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lich, zum Abschluss des prächtigen Zuges, Ihre Majes-täten der Herzkönig und die Herzkönigin.

Alice überlegte, ob es nicht angebracht sei, sich wie die drei Gärtner zu Boden zu werfen, doch konnte sie sich nicht er innern, bei Umzügen je von einer solchen Vorschrift ge-hört zu haben; »und außerdem«, dachte sie, »was für einen Sinn soll ten denn Umzüge haben, wenn sich dabei alle Zu-schauer aufs Gesicht legen müssten und gar nichts davon sehen könnten?« Also blieb sie stehen und wartete ab.Als der Zug vor Alice angekommen war, blieb alles stehen und sah sie an, und die Königin fragte streng:»Wer ist das?«Die Frage war an den Herzbuben gerichtet, der zur Ant-wort nur eine Verbeugung machte und höfl ich lächelte.»Schwachkopf!«, sagte die Königin und warf unwillig den Kopf zurück; dann wandte sie sich Alice zu und fragte: »Wie heißest du, Kind?«»Mit Verlaub, ich heiße Alice, Euer Majestät«, sagte Alice sehr höfl ich; doch fügte sie in Gedanken hinzu: »Aber die sind doch nur ein Kartenspiel; da brauche ich keine Angst zu haben!«»Und wer sind die?«, fragte die Königin und deutete auf die drei Gärtner, die noch immer rund um das Rosenbäum-chen lagen; denn sie lagen ja auf dem Gesicht, müsst ihr verstehen, und da sie auf dem Rücken das gleiche Muster hatten wie alle anderen Karten auch, konnte sie nicht er-kennen, ob es Gärtner, Sol daten, Höfl inge oder drei ihrer eigenen Kinder waren.

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»Woher soll denn ich das wissen?«, sagte Alice, von ihrem eige nen Mut überrascht, »das geht doch mich nichts an!«Die Königin wurde puterrot vor Zorn, und nachdem sie Alice eine Weile wild wie eine Bestie angestarrt hatte, schrie sie: »Kopf ab mit ihr! Ab, sag ich –«»Papperlapapp!«, sagte Alice laut und entschieden, und die Kö nigin verstummte.Der König legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und sagte zaghaft: »Bedenk doch, liebe Frau – ein bloßes Kind!« Die Königin drehte ihm wütend den Rücken zu und sagte zu dem Herzbuben: »Wendet sie um!«Der Herzbube klappte die Gärtner sorgfältig mit einer Fuß-spitze auf die andere Seite.»Aufstehen!«, rief die Königin mit schriller, lauter Stimme, und die drei Gärtner sprangen sogleich in die Höhe und fi ngen an, sich zu verneigen, vor dem König, der Herzda-me, den Königs kindern und allen Übrigen.»Schluss damit!«, schrie die Königin. »Mir wird schwind-lig.« Dann wandte sie sich zu dem Rosenstock um und fuhr fort: »Was war denn hier wieder los?«»Mit Verlaub, Euer Majestät«, sagte Zwei im demütigsten Ton fall und ließ sich dabei auf ein Knie nieder, »wir woll-ten nur –«»Ich bin schon im Bilde!«, sagte die Königin, die sich in-zwischen die Rosen genauer angesehen hatte. »Kopf ab mit ihnen!«, und damit setzte sich der Zug wieder in Be-wegung; nur drei Sol daten blieben zurück, um die unseli-gen Gärtner hinzurichten, die aber schutzsuchend zu Alice rannten.

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»Ihr sollt nicht geköpft werden«, sagte Alice und steckte sie in einen großen Blumentopf, der in der Nähe stand. Die drei Soldaten liefen noch eine Weile auf der Suche nach ihnen um her und marschierten dann ruhig hinter den an-deren davon.»Sind ihre Köpfe ab?«, schrie die Königin.»Mit Verlaub, ihre Köpfe sind fort!«, schrien die Soldaten.»Gut!«, schrie die Königin. »Kannst du Croquet spielen?«Die Soldaten schwiegen still und sahen Alice an; die Frage galt off enbar ihr. »Ja!«, schrie Alice.»Dann los!«, brüllte die Königin, und Alice mischte sich unter den Zug, gespannt, was nun passieren würde.»Ein – ein sehr schöner Tag heute!«, sagte eine zaghafte Stimme neben ihr. Sie war neben dem Weißen Kaninchen einhergegan gen, das nun ängstlich ihr Gesicht beobachte-te. »Sehr schön«, sagte Alice. »Wo ist denn die Herzogin?«»Sch! Leise!«, fl üsterte das Kaninchen rasch. Dabei sah es sich ängstlich um, stellte sich dann auf die Zehenspitzen und raunte ihr ins Ohr: »Sie ist zum Tode verurteilt.«»Wofür denn?«, fragte Alice.»Sagtest du: ›Wie schade!‹?«, fragte das Kaninchen zurück. »Nein«, sagte Alice, »ich fi nde das gar nicht schade. Ich sagte: ›Wofür denn?‹«»Sie hat die Königin geohrfeigt –«, fi ng das Kaninchen an, und Alice schrie vor Lachen leise auf. »Still doch!«, fl üs-terte das Ka ninchen erschrocken. »Die Königin wird dich noch hören! Das kam so, sie hatte sich ziemlich verspätet, und als die Königin sagte –«»Auf die Plätze!«, schrie die Königin mit Donnerstimme,

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und sogleich rannte alles blind draufl os und stolperte über-einander; nach einer Weile aber hatten sie sich alle ordent-lich aufgestellt, und das Spiel begann. Alice hatte noch nie einen so seltsamen Croquetplatz gesehen: er bestand nur aus Hügeln und Furchen; die Kugeln waren Igel, die sich zusammengerollt hatten, die Schläger waren Flamingos, und die Soldaten mussten sich in der Mitte umbiegen und, auf Händen und Füßen stehend, die Tore abgeben.Am schwierigsten fand Alice dabei, mit ihrem Flamingo zu rechtzukommen; seinen Leib brachte sie zwar sehr be-quem unter dem Arm unter, wobei die Beine neben ihr herunter baumeln konnten, aber wenn sie seinen Hals end-lich schön geradegebogen hatte und mit dem Kopf auf den Igel einschla gen wollte, hatte das Tier eine Art, sich um-zudrehen und ihr mit einem so verwunderten Ausdruck ins Gesicht zu sehen, dass sie jedes Mal laut herauslachen musste; und wenn dann der Kopf zum Weiterspielen glücklich wieder unten war, ausge rechnet dann hatte der Igel sich wieder aufgerollt und wollte davonkriechen; au-ßerdem war dort, wohin sie den Igel haben wollte, in der Regel ein Erdhügel oder eine Furche im Weg, und da auch noch die umgebogenen Soldaten unaufhörlich aufstanden und an eine andere Stelle liefen, kam Alice bald zu dem Schluss, dass es mit diesem Spiel seine großen Schwierig-keiten habe.Die übrigen Spieler spielten alle gleichzeitig und ohne jede feste Reihenfolge; sie kamen sich dauernd in die Haare und stritten sich um die Igel, so dass die Königin sehr schnell in eine rasende Wut geriet und durch die Gegend stampfte,

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wobei sie in kurzen Abständen ausrief: »Kopf ab mit ihm!« oder: »Kopf ab mit ihr!«.Alice wurde es langsam sehr unbehaglich zumut; bis jetzt hatte sie zwar mit der Königin noch nicht Streit bekom-men, aber sie wusste recht gut, dass das jeden Augenblick geschehen konnte. »Und was soll dann aus mir werden?«, dachte sie; »man hat hier ja eine schrecklich große Vorliebe fürs Köpfen; mich wundert bloß, dass überhaupt noch je-mand am Leben ist!«Schon schaute sie sich nach einem Fluchtweg um und er-wog ihre Aussichten, unbemerkt zu entkommen, als sie auf eine merkwürdige Erscheinung in der Luft aufmerksam wurde. Zuerst konnte sie sich gar keinen Vers darauf ma-chen, doch nachdem sie sie eine Weile beobachtet hatte, wurde darin ein Grinsen erkennbar. »Die Edamer Katze!«, sagte sie sich, »nun bekomme ich doch wenigstens Gesell-schaft.«»Wie kommst du zurecht?«, fragte die Katze, sobald Maul ge nug zum Sprechen erschienen war.Alice wartete ab, bis die Augen hinzugekommen waren, und nickte ihnen dann zu. »Es hat keinen Sinn«, dachte sie, »wenn ich mit ihr rede, bevor die Ohren da sind oder doch wenig stens eins davon.«In kurzer Zeit war der ganze Kopf aufgetaucht, und nun setzte Alice den Flamingo ab und berichtete über das Spiel, sehr froh darüber, dass sie jemand zum Zuhören hatte. Der Katze schien der bisher aufgetauchte Teil auszureichen, und sie ließ nichts weiter von sich erscheinen.»Bei dem Spiel geht es nicht mit rechten Dingen zu«, be-

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gann Alice sich zu beklagen, »und alle streiten so furcht-bar, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht – und Regeln gibt es anscheinend überhaupt keine; oder wenn es welche gibt, hält sich keiner daran – und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie man durcheinanderkommt, wenn das ganze Spielgerät leben dig ist; mein nächstes Tor zum Beispiel läuft gerade dort hin ten auf dem Spielfeld her-um – und ich hätte bestimmt gerade den Igel der Königin croquiert, wenn er nicht vor dem meinen davongelaufen wäre!«»Wie gefällt dir die Königin?«, fragte die Katze halblaut.»Ganz und gar nicht«, sagte Alice; »sie ist so überaus –« Da wurde sie gewahr, dass die Königin dicht hinter ihr stand und zuhörte, und fuhr daher fort: »– geschickt im Cro-quetspielen, dass es sich gar nicht recht lohnt, wenn man sich anstrengt.«Die Königin lächelte und schritt weiter.»Mit wem sprichst du da eigentlich?«, fragte der König, indem er auf Alice zutrat und den Katzenkopf mit großer Neugier betrachtete.»Das ist eine Freundin von mir – eine Edamer Katze«, sagte Alice; »erlaubt, dass ich sie vorstelle.«»Sie will mir gar nicht gefallen«, sagte der König; »aber wenn sie will, darf sie mir die Hand küssen.«»Nein, danke«, bemerkte die Katze.»Sei nicht so unverschämt«, sagte der König, »und sieh mich ge fälligst nicht so furchtlos an.« Und dabei versuchte er, sich hin ter Alice zu verstecken.»Eine Katze braucht den König nicht zu fürchten«, sagte

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Alice. »Das habe ich irgendwo gelesen, aber wo, weiß ich nicht mehr.«»Nun, jedenfalls muss sie entfernt werden«, sagte der Kö-nig sehr entschieden und rief der Königin, die gerade vor-überging, zu: »Liebe Frau, ich wünschte, du könntest mir diese Katze hier entfernen lassen!«Die Königin kannte nur eine Art, kleinere oder größere Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. »Kopf ab mit ihr!«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.»Ich hole den Scharfrichter lieber selbst«, sagte der König voller Eifer und eilte davon.Alice hielt es für das Beste, doch lieber wieder zurückzu-gehen und zu sehen, wie es mit dem Spiel stand, denn die Wutschreie der Königin tönten aufs Neue aus der Ferne herüber. Alice hatte gehört, wie sie schon drei Mitspieler zur Hinrichtung verurteilt hatte, nur weil sie nicht gemerkt hatten, dass die Reihe an ihnen war; und es begann ihr ein wenig unwohl in ihrer Haut zu werden, da das Spiel völlig durcheinandergeraten war und sie nie wusste, ob sie an der Reihe war oder nicht. So machte sie sich also auf die Suche nach ihrem Igel.Ihr Igel balgte sich gerade mit einem zweiten, und das schien Alice eine gute Gelegenheit, die beiden Kugeln mit-einander zu croquieren; die Schwierigkeit dabei war nur die, dass ihr Fla mingo inzwischen quer über den Garten gestelzt war, wo er auf eine täppische Art in eine Baumkro-ne hinaufzufl iegen ver suchte.Bis sie den Flamingo wieder eingefangen und herbeigetra-gen hatte, war der Kampf zwischen den Igeln vorbei, und

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sie waren beide verschwunden. »Aber das macht nicht viel«, dachte Alice, »denn die Tore sind ja von dieser Spielplatz-hälfte auch längst abgewandert.« Sie nahm den Flamingo also unter den Arm, damit er nicht wieder entwischte, und ging zurück, um mit ihrer Freundin noch ein wenig wei-terzuplaudern.Als sie zu der Edamer Katze zurückkam, fand sie zu ihrer Über raschung eine recht beträchtliche Menge um sie ver-sammelt. Der König, die Königin und der Scharfrichter stritten sich mit einander und sprachen alle zugleich, wäh-rend die Übrigen still und beklommen dabeistanden.Als Alice hinzutrat, wurde sie von allen dreien gebeten, den Streit zu schlichten. Sie trugen ihr die Beweise vor, aber da sie alle zugleich redeten, fand es Alice äußerst schwierig, auseinanderzuhalten, was sie im Einzelnen vorbrachten.Der Beweis des Scharfrichters war, dass sich ein Kopf nur köpfen ließe, wenn auch ein Leib da sei, von dem man ihn ab hacken könnte; dass so etwas noch nie jemand von ihm ver langt habe und dass er nicht im Traum daran denke, in seinen Jahren mit dergleichen noch anzufangen.Der Beweis des Königs war, dass man alles köpfen kann, was einen Kopf hat, und er solle gefälligst kein dummes Zeug reden.Der Beweis der Königin war, dass sie, wenn hier nicht schleu nigst etwas geschehe, alle, wie sie dastünden, köpfen ließe. (Und diese letzte Bemerkung war es gewesen, die die allge meine Stille und Beklemmung ausgelöst hatte.)Das Einzige, was Alice einfi el, war: »Die Edamer Katze ge-hört der Herzogin; vielleicht sollte man die fragen.«

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»Die sitzt im Gefängnis«, sagte die Königin zum Scharf-richter; »man führe sie vor.« Und der Scharfrichter sauste davon wie ein Pfeil.Sobald er losgelaufen war, begann der Kopf der Edamer Katze langsam zu verschwimmen, und als der Scharfrich-ter mit der Herzogin zurückkam, war nichts mehr davon da; der König rannte mit dem Scharfrichter wild durch die Gegend, um sie zu suchen, während die übrige Versamm-lung sich zum Spiel zurückbegab.

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kapitel neun

Die Erziehung einer Falschen Suppenschildkröte

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie es mich freut, dich wieder zusehen, mein liebes Herzchen«, sagte die Herzogin, indem sie sich bei Alice einhakte und sie beiseiteführte.Alice war sehr froh, dass die Herzogin diesmal so freund-lich aufgelegt war, und dachte sich im Stillen, dass es bei ihrem ersten Zusammentreff en in der Küche vielleicht nur der viele Pfeff er gewesen war, der sie so wild gemacht hat-te.»Wenn ich einmal Herzogin bin«, sagte sie sich (wenn auch nicht sehr zuversichtlich), »kommt mir keinerlei Pfeff er in die Küche. Suppe schmeckt auch ohne – und vielleicht ist es immer nur der Pfeff er, wenn die Menschen scharfzüngig werden«, fuhr sie fort, ganz stolz, dass sie da eine neue Re-gel entdeckt hatte; »– und vom Essig werden sie säuerlich – und vom Ka millentee werden sie bitter – und – und von Schlagrahm und so weiter werden die Kinder mild. Das sollten sich die Leute nur einmal merken, vielleicht wären sie dann nicht mehr so geizig damit, nicht wahr? –«Sie dachte inzwischen schon gar nicht mehr an die Herzo-gin und fuhr daher ein wenig zusammen, als sie dicht am Ohr ihre Stimme sagen hörte: »Du bist in Gedanken, mei-ne Liebe, und deswegen vergisst du, etwas zu sagen. Ich bin im Moment nicht ganz sicher, was die Moral davon ist, aber es fällt mir schon wieder ein.«»Vielleicht hat es keine«, wandte Alice vorsichtig ein.

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»Schnickschnack, mein Kind!«, sagte die Herzogin. »Alles hat seine Moral, man muss nur ein Auge dafür haben.« Und dabei schob sie sich noch dichter an Alice heran.Es war Alice nicht sehr lieb, dass sie ihr so nahe kam, denn erstens war die Herzogin wirklich sehr hässlich; und zwei-tens reichte sie gerade so weit in die Höhe, dass sie ihr Kinn Alice auf die Schulter legen konnte – und zwar ein unangenehm scharfkantiges Kinn.Alice wollte trotzdem nicht unhöfl ich erscheinen und nahm es möglichst gelassen hin. »Mit dem Croquetspiel geht es jetzt anscheinend etwas besser«, sagte sie. »’s ist wahr«, sagte die Herzogin; »und die Moral davon ist: ›Liebe, ach, nur Liebe macht’s, dass die Welt sich dreht!‹«»Es hat aber auch schon geheißen«, fl üsterte Alice, »sie drehte sich bedeutend schneller, wenn jeder in seinen eige-nen Suppen topf schaute!«»Je nun! Das kommt so ziemlich aufs Gleiche heraus«, sagte die Herzogin, und indem sie Alice ihr spitzes Kinn in die Schulter bohrte, fuhr sie fort: »Und die Moral davon ist: ›Sorge dich nur um das Was, und das Wie kommt von selbst!‹«»Wie gern sie für alles eine Moral sucht!«, dachte Alice im Stillen.»Du wunderst dich sicher, warum ich dich nicht fester um-schlungen halte«, sagte die Herzogin nach kurzem Schwei-gen; »aber das ist nur, weil ich nicht weiß, ob dein Fla-mingo auch zahm aufgelegt ist. Soll ich es auf eine Probe ankommen las sen?«

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»Es könnte sein, dass er beißt«, erwiderte Alice umsichtig, denn sie war auf eine derartige Probe gar nicht erpicht.»Wie wahr!«, sagte die Herzogin; »Flamingo und Senf, das hat gar scharfe Zähne! Und die Moral davon ist: ›Trau kei-nem Vogel, bevor er nicht singt.‹«»Nur dass Senf kein Vogel ist«, warf Alice ein. »Du hast recht wie immer«, sagte die Herzogin, »wie klar du dich ausdrücken kannst!«»Sondern ein Bodenschatz – glaube ich«, sagte Alice.»Freilich ein Bodenschatz«, sagte die Herzogin, die Alice off en bar in allem recht geben wollte; »hier in der Gegend wird so gar sehr viel Senf gestochen. Und die Moral davon ist: ›Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch kei-nem andern zu.‹« »Ach, jetzt weiß ich es wieder!«, rief Alice, der diese Bemer-kung entgangen war. »Senf ist eine Pfl anze. Er sieht zwar nicht so aus, ist aber trotzdem eine.«»Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte die Herzogin; »und die Moral davon ist: ›Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst‹ – oder einfacher ausgedrückt: ›Sei niemals un-unterschieden von dem, als was du jenen in dem, was du wärst oder hättest sein können, dadurch erscheinen könn-test, dass du unterschie den von dem wärst, was jenen so erscheinen könnte, als seiest du anders!‹«»Ich glaube, das könnte ich leichter verstehen«, erwiderte Alice sehr höfl ich, »wenn ich es geschrieben vor mir hätte; beim bloßen Zuhören komme ich leider nicht ganz mit.«»Das ist noch gar nichts gegen das, was ich alles sagen könn-te, wenn ich nur wollte!«, sagte die Herzogin geschmeichelt.

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»Bitte, geben Sie sich keine Mühe, es noch länger auszu-drücken«, sagte Alice.»Aber wer wird denn da von Mühe sprechen!«, sagte die Her zogin. »Ich schenke dir hiermit alles, was ich bis jetzt gesagt habe.«»Das ist mir ein rechtes Geschenk!«, dachte Alice; »gut, dass sie sich nicht so etwas zum Geburtstag ausdenken!« Aber das sagte sie doch lieber nicht laut.»Schon wieder in Gedanken?«, fragte die Herzogin und stach mit spitzem Kinn nach ihr.»Ich werde doch noch denken dürfen!«, antwortete Alice scharf, denn es wurde ihr allmählich ein wenig unheimlich zumute.»Nicht mehr«, sagte die Herzogin, »als ein Ferkel fl iegen darf; und die Mo–«Doch hier geriet die Stimme der Herzogin zur großen Ver-wunderung von Alice ins Stocken, mitten in ihrem Lieb-lings wort, und die Hand an ihrem Arm fi ng an zu zittern. Alice sah auf, und da stand vor ihnen die Königin mit ver-schränkten Armen und gewitterdüsterer Miene.»Ein schöner Tag, Euer Majestät!«, begann die Herzogin mit leiser, schwacher Stimme.»Ich warne dich!«, schrie die Königin und stampfte dabei mit dem Fuß auf; »entweder ich bin dich los, und zwar auf der Stelle, oder du deinen Kopf! Das kannst du dir aus-wählen!« Das tat die Herzogin und war im nächsten Moment ver-schwunden.»Wir wollen weiterspielen«, sagte die Königin zu Alice, die

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viel zu verängstigt war, um etwas darauf zu sagen, und ihr langsam zum Spielplatz folgte.Die übrigen Gäste hatten die Abwesenheit der Königin zu einer Rast im Schatten ausgenutzt, sprangen aber sofort wieder an ihre Plätze, als sie die Königin herankommen sahen, die ihrerseits lediglich bemerkte, dass sie bei der ge-ringsten Zeit vergeudung des Todes wären.Während des Spiels bekam die Königin unaufhörlich Streit mit den Mitspielern und schrie ohne Unterlass: »Kopf ab mit ihm!« oder »Kopf ab mit ihr!« Die Verurteilten wurden dann von Soldaten in Gewahrsam genommen, die damit natürlich aufhören mussten, als Tore zu dienen, so dass nach einer halben Stunde kein einziges Tor mehr übrig war und alle Mitspieler außer dem König, der Königin und Alice ihre Hinrichtung erwarteten.Ganz erhitzt ließ die Königin schließlich vom Spiel ab und sagte zu Alice: »Hast du schon mit der Falschen Suppenschild kröte gesprochen?«»Nein«, sagte Alice. »Ich weiß nicht einmal, was eine Falsche Suppenschildkröte ist.«»Das ist das, woraus man eine Falsche Schildkrötensuppe kocht«, sagte die Königin.»Ich habe noch nie eine gesehen oder von einer gehört«, sagte Alice.»Dann komm jetzt«, sagte die Königin, »sie kann dir ihre Lebensgeschichte erzählen.«Im Weggehen hörte Alice noch den König mit leiser Stim-me zu den Umstehenden sagen: »Ihr seid alle begna-digt.«

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»Na, das ist aber recht«, sagte sie sich im Stillen, denn die vielen Todesurteile der Königin hatten sie doch sehr be-drückt.Bald stießen sie auf einen Greif, der in der Sonne lag und schlief. (Wenn ihr nicht wisst, was ein Greif ist, könnt ihr euch ja das Bild ansehen.) »Auf, Faulpelz!«, sagte die Kö-nigin, »und bringe dieses Fräulein zu der Falschen Sup-penschildkröte, dass sie ihre Lebensgeschichte erfährt. Ich muss fort, um einige Hinrichtungen zu beaufsichtigen«, und damit ging sie davon und ließ Alice mit dem Greif al-lein. Das Geschöpf war Alice gar nicht recht geheuer, doch dann überlegte sie sich, dass sie bei ihm im Ganzen nicht schlechter aufgehoben war als bei der barbarischen Köni-gin, und wartete ab.Der Greif setzte sich auf und rieb sich die Augen, schaute der Königin nach, bis sie verschwunden war; und dann ki-cherte er. »So ein Spaß!«, sagte der Greif, halb zu Alice und halb zu sich selbst.»Was ist ein Spaß?«, fragte Alice.»Nun, sie!«, sagte der Greif. »Das ist doch alles nur in ih-rer Phantasie – keiner richtet hier nämlich überhaupt nie-mand hin. Komm jetzt!«»Alle sagen hier ›Komm jetzt!‹«, dachte Alice, indem sie ihm langsam folgte; »so bin ich noch nie herumkomman-diert wor den, in meinem ganzen Leben noch nicht!«Nicht lange, und sie erblickten von ferne die Falsche Sup-pen schildkröte, die einsam und traurig auf einem kleinen Fels vorsprung saß; und wie sie näher kamen, hörte Alice sie herz zerreißend seufzen. Sie hatte großes Mitleid mit

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ihr. »Was hat sie denn für einen Kummer?«, fragte sie den Greif, und der Greif antwortete, fast genau in denselben Worten wie zuvor: »Das ist doch alles nur in ihrer Phan-tasie – sie hat nämlich über haupt keinen Kummer nicht. Komm jetzt!«So schritten sie auf die Falsche Suppenschildkröte zu, die sie mit großen, tränenfeuchten Augen betrachtete, aber kein Wort sprach.»Das Dingsda, das Fräulein hier«, sagte der Greif, »also die will nämlich deine Geschichte wissen.«»Sie soll sie hören«, sagte die Falsche Suppenschildkröte mit tiefer, hohler Stimme; »setzt euch beide nieder, und hört mir still zu, bis ich zu Ende bin.« Sie setzten sich al-so, und einige Minuten lang sprach niemand. Alice dachte sich: »Aber wenn sie nicht anfängt, kann sie doch nie zu Ende sein!« Aber sie war tete geduldig.»Einst«, sagte die Falsche Suppenschildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer, »war ich echt.«Auf diese Worte folgte eine sehr ausgedehnte Stille, die nur ab und zu von dem Ausruf »Htschkrr!« des Greifen und dem stän digen heftigen Aufschluchzen der Falschen Suppenschildkröte unterbrochen wurde. Alice war nahe daran, aufzustehen und zu sagen: »Besten Dank für deine wirklich interessante Le bensgeschichte«, aber dann sagte sie sich, dass doch noch ein fach etwas kommen musste; sie blieb also sitzen und schwieg.»Als wir klein waren«, sagte die Falsche Suppenschildkrö-te schließlich etwas ruhiger, wenn auch noch immer unter ge legentlichem Aufschluchzen, »gingen wir im Meer zur

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Schule. Unser Lehrer war eine alte Schildkröte – wir nann-ten ihn das Schaltier –«»Warum denn Schaltier, wenn er doch keins war?«, fragte Alice.»Wir nannten ihn Schaltier, denn er schalt hier«, sagte die Fal sche Suppenschildkröte ungehalten; »du bist wirklich sehr schwer von Begriff .«»Dass du dich nicht schämst, so dumm zu fragen«, setzte der Greif hinzu, und dann saßen sie stumm da und sahen vorwurfs voll die arme Alice an, die am liebsten in den Bo-den versunken wäre. Schließlich sagte der Greif zu der Fal-schen Suppen schildkröte: »Mach zu, Alte! Sonst sitzen wir morgen noch da!«, und diese fuhr fort: »Ja, wir gingen im Meer zur Schule, obwohl du das vielleicht nicht glaubst –«»Ich habe doch nicht gesagt, dass ich es nicht –«, fi el ihr Alice ins Wort.»Doch«, sagte die Falsche Suppenschildkröte.»Ruhe jetzt!«, setzte der Greif hinzu, bevor Alice etwas ein-wenden konnte. Die Falsche Suppenschildkröte fuhr fort: »Wir genossen die allerbeste Erziehung – wir gingen sogar jeden Tag in die Schule –«»Das tue ich auch«, sagte Alice; »darauf brauchst du dir noch lange nichts einzubilden.«»Hast du auch Wahlfächer?«, fragte die Falsche Suppen-schild kröte etwas ängstlich.»Ja«, sagte Alice, »Französisch und Musik.«»Und Waschen und Bügeln auch?«, fragte die Falsche Sup-pen schildkröte.»Aber woher denn!«, sagte Alice verächtlich.

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»Ah! Dann besuchst du eben doch keine erstklassige Schule«, sagte die Falsche Suppenschildkröte mit hörbarer Erleichte rung. »Also, bei uns stand unten auf der Quittung für das Schuldgeld immer: ›Französisch, Musik und für Waschen und Bügeln zusätzlich –‹«»Aber damit konntet ihr doch nichts anfangen«, sagte Alice, »mitten auf dem Meeresgrund.«»Ich konnte es auch gar nicht lernen«, sagte die Falsche Suppen schildkröte, »weil ich zu arm war. Ich hatte nur die Pfl icht fächer.«»Und die waren?«, fragte Alice.»Also, zunächst einmal das Große und das Kleine Na-belweh, natürlich«, antwortete die Falsche Suppenschild-kröte, »aber dann auch Deutsch und alle Unterarten – Schönschweifen, Rechtspeibung, Sprachelbeere und Haus-versatz.«»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Alice. »Was ist denn Hausversatz?«Der Greif hob vor Erstaunen beide Vordertatzen. »Wie! Noch nie von Hausversatz gehört!«, rief er aus. »Aber was ›versetzen‹ ist, weißt du doch wohl?«»Ja«, sagte Alice zögernd, »das ist – wenn man für etwas Geld bekommt.«»Na also«, fuhr der Greif fort. »Und wenn du jetzt noch immer nicht weißt, was ein Hausversatz ist, bist du wirk-lich auf den Kopf gefallen.« Alice verging der Mut, noch weiterzufragen; sie wandte sich also wieder der Falschen Suppenschildkröte zu und fragte: »Was habt ihr denn sonst noch gelernt?«

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»Nun, da gab es noch die Erdbeerkunde«, antwortete die Fal sche Suppenschildkröte und zählte dabei die einzelnen Fächer an ihren Flossen ab: »– Erdbeerkunde mit und oh-ne Schlag rahm – und Seeographie. Ja, und dann die Mar-terhatmich – dazu kam jede Woche ein alter Zitteraal, und mit dem lernten wir Zusammenquälen, Abmühen, Kahl-dehnen und Bruch lächeln.«»Wie war das denn?«, fragte Alice.»Nun, ich kann es dir leider nicht vormachen«, sagte die Falsche Suppenschildkröte, »weil ich nicht gelenkig genug dazu bin. Und der Greif hat diese Fächer nicht ge-habt.«»Keine Zeit dazu«, sagte der Greif; »aber dafür war ich in den Alten Sprachen gut. Da hatten wir vielleicht einen al-ten Krebs!«»Bei dem war ich nicht«, sagte die Falsche Suppenschild-kröte; »er gab Viechisch im Verein, wie es immer hieß.«»Richtig, richtig«, sagte der Greif und seufzte nun auch seiner seits; und dann schlugen sie sich beide, von Trauer überwältigt, die Pfoten vors Gesicht.»Wie viele Stunden Unterricht hattet ihr denn am Tag?«, fragte Alice, um schnell das Th ema zu wechseln.»Zehn Stunden am ersten Tag«, sagte die Falsche Suppen-schild kröte; »neun am nächsten und so fort.«»Einen schönen Stundenplan müsst ihr da gehabt haben!«, rief Alice; »der wurde ja von Tag zu Tag leerer!«»Es waren ja auch lauter Lehrer im Haus«, bemerkte der Greif, »da war das ganz unvermeidlich.«Dieser Gedanke war Alice neu, und sie dachte eine Weile

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dar über nach, bis sie schließlich sagte: »Der elfte Tag war dann also schulfrei?«»Das ist doch klar«, sagte die Falsche Suppenschildkröte.»Und was passierte dann am zwölften?«, fragte Alice eifrig weiter.»Das reicht, was den Stundenplan angeht«, fi el der Greif in ent schiedenem Ton ein; »jetzt erzähle ihr etwas über die Spiele.«

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kapitel zehn

Die Hummer-Quadrille

Die Falsche Suppenschildkröte seufzte tief auf und wischte sich mit einem Flossenrücken die Augen. Sie sah Alice an und mühte sich zu sprechen, aber eine ganze Zeit lang er-stickte ihre Stimme in Schluchzen. »Sieht fast so aus, als hätte sie eine Gräte im Hals«, sagte der Greif und machte sich daran, sie zu schütteln und in den Rücken zu puff en. Endlich fand die Falsche Suppen schildkröte ihre Stimme wieder, und während ihr die Tränen über die Wangen strömten, fuhr sie mit ihrer Erzählung fort: »Du hast viel-leicht noch nicht längere Zeit im Meer gelebt –« (»Aller-dings nicht«, sagte Alice) »– und vielleicht auch noch nie die Bekanntschaft eines Hummers gemacht –« (»Doch, einmal beim Abendessen habe ich –«, begann Alice, unter-brach sich aber schnell und sagte: »Leider nicht«) »– und deswegen hast du sicher gar keine Vorstellung davon, wie wunderschön eine Hummer-Quadrille ist!«»Das ist wahr«, sagte Alice. »Wie wird die denn getanzt?«»Also«, sagte der Greif, »zuerst stellen sich alle in einer Rei-he am Meeresstrand auf –«»In zwei Reihen!«, rief die Falsche Suppenschildkröte. »See hunde, Schildkröten und so fort; und dann, wenn die Quallen weggeräumt sind –«»Und das braucht meistens seine Zeit«, fi el der Greif ein.»– zwei Schritte vor –«»Jeder mit seinem Hummer im Arm!«, rief der Greif.

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»Mit wem sonst!«, sagte die Falsche Suppenschildkröte; »zwei Schritte vor, Verbeugung –«»– Hummer wechseln und wieder zurück«, fuhr der Greif fort.»Und dann, musst du wissen«, erklärte die Falsche Suppen-schildkröte weiter, »wirft man –«»Die Hummer!«, schrie der Greif und machte einen Luft-sprung.»– ins Meer hinaus, so weit man nur kann!«»Schwimmt ihnen nach!«, japste der Greif.»Schlägt einen Purzelbaum im Meer!«, rief die Falsche Suppen schildkröte und hüpfte wie närrisch umher.»Wechselt noch mal die Hummer!«, heulte der Greif.»Zurück ans Ufer, und – das ist die erste Figur«, sagte die Falsche Suppenschildkröte, und wiederum erstarb ihre Stimme, und die zwei Wesen, die eben noch wie besessen umhergesprungen waren, ließen sich sehr traurig und still nieder und sahen Alice an.»Das muss aber ein sehr hübscher Tanz sein«, sagte Alice zag haft.»Möchtest du sehen, wie es geht?«, fragte die Falsche Sup-pen schildkröte.»Sehr gerne«, sagte Alice.»Machen wir doch die erste Figur«, sagte die Falsche Sup-pen schildkröte zum Greif. »Es geht nämlich auch ohne Hummer, weißt du. Wer singt?«»Ach, sing nur du«, sagte der Greif. »Ich habe vergessen, wie es heißt.«Und damit fi ngen sie an, feierlich um Alice herumzutan-

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zen, traten ihr auch ab und zu auf die Zehen, wenn sie zu nahe kamen, und schwenkten im Takt ihre Vorderpfoten, während die Falsche Suppenschildkröte sehr langsam und traurig sang:

»Bitte, geh doch etwas schneller!«, sprach der Weißfi sch zu der Schnecke.»Hinter uns – dreh dich nicht um – krabbelt zwickzwack eine Zwecke.Sieh! Die Schildkröt’ und der Hummer laufen schon aufs Ufer zu!Und sie warten schon am Strande – sagst du mir das Tänzchen zu?Willst du, magst du, willst du, magst du, sagst du mir das Tänzchen zu?Willst du, magst du, willst du, magst du, sagst du mir das Tänzchen zu?Denk dir doch, wie schön das wird, ich kann’s genügend kaum erläutern,Wenn sie uns aufs off ne Meer zusammen mit den Hummern schleudern!«»Zu weit! Zu weit!«, die Schnecke spricht und schaut dabei auf ihre Schuh.Dankt dem Weißfi sch allerherzlichst, doch sie sagt den Tanz nicht zu:Könnt und möcht nicht, könnt und möcht nicht, sagt den Tanz nicht zu,Könnt und möcht nicht, könnt und möcht nicht, sagt den Tanz nicht zu.

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»Was macht es denn, wie weit es ist?«, versetzt ihr schuppiger Galan,»Wir kommen auf der drübern Seit’ ja auch an einem Ufer an!Und je weiter wir hier weg sind, desto näher liegt Peru –So zittre nicht, geliebte Schneck‹, und sag mir doch das Tänzchen zu!Willst du, magst du, willst du, magst du, sagst du mir das Tänzchen zu?Willst du, magst du, willst du, magst du, sagst du mir das Tänzchen zu?«

»Vielen Dank, das ist ein sehr schöner Tanz zum Zuschau-en«, sagte Alice, die froh war, dass sie endlich aufgehört hatten; »und ganz besonders gefällt mir das merkwürdige Lied mit dem Weißfi sch!«»Ach, was den Weißfi sch angeht«, sagte die Falsche Sup-penschildkröte, »also – du hast doch sicher schon einmal welche gesehen?«»Ja«, sagte Alice, »es gibt sie öfters am Freita–.« Sie hielt plötz lich inne.»Ich weiß zwar nicht, wo der Freita mündet«, sagte die Falsche Suppenschildkröte, »aber dann weißt du ja jeden-falls, wie sie aussehen.«»So ungefähr«, sagte Alice nachdenklich. »Sie haben die Schwänze im Mund und sind voller Brösel.«»Mit den Bröseln bist du im Irrtum«, sagte die Falsche Sup-pen schildkröte; »Brösel würden im Meer abgehen. Aber

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das mit den Schwänzen im Maul stimmt, und zwar deswe-gen, weil –«, und dabei gähnte die Falsche Suppenschild-kröte und schloss die Augen.»Erkläre du ihr diesen ganzen Klimbim mit dem Deswe-gen und Weil«, sagte sie zu dem Greif.»Das kommt daher«, sagte der Greif, »weil sie immer par-tout mit den Hummern tanzen wollten. Und deswegen sind sie ins Meer geschleudert worden. Und deswegen sind sie sehr lange durch die Luft gefl ogen. Und deswegen ha-ben sie sich mit dem Maul am Schwanz festgehalten. Und deswegen haben sie dann den Schwanz nicht mehr heraus-bekommen. Darum.«»Vielen Dank«, sagte Alice, »das ist sehr interessant. Ich habe das alles über Weißfi sche bisher noch nicht ge-wusst.«»Ich kann dir gern noch mehr darüber sagen, wenn du es wissen willst«, sagte der Greif. »Ist dir denn überhaupt klar, warum ein Weißfi sch Weißfi sch heißt?«»Das habe ich mir noch nie überlegt«, sagte Alice. »Warum denn?«»Weil er so viel weiß. Zum Beispiel weiß er, wie man die Ko ralle dirigiert«, sagte der Greif feierlich.Alice wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. »Die Ko-ralle dirigiert!«, sagte sie voller Staunen.»Na ja, bei einem Konzert«, sagte der Greif; »wie sagst du denn dazu, wenn alle zusammen singen?«Alice dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete: »Das ist ein Chor, glaube ich.«»Im Meer«, fuhr der Greif mit tiefer Stimme fort, »macht

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einer den Chor für alle. Das ist die Koralle. Jetzt weißt du’s. Dabei hat es die gar nicht so leicht, musst du wissen, weil dauernd jemand dazwischenkommt oder überhaupt ganz taub ist.«»Wer denn?«, fragte Alice neugierig.»Die Störe und die Stockfi sche natürlich«, sagte der Greif ziem lich ungehalten. »Das weiß doch jede Flunder.«»Wenn ich der Weißfi sch gewesen wäre«, sagte Alice, der das Lied noch immer im Kopfe herumging, »ich hätte mich ein fach umgedreht und zu der Zwecke gesagt: ›Lass uns gefälligst in Ruhe, wir können dich nicht brauchen!‹«»Sie mussten die Zwecke dabeihaben«, sagte die Falsche Sup penschildkröte; »kein vernünftiger Fisch würde ohne sie auch nur einen Schritt tun.«»Ach, wirklich?«, sagte Alice voller Überraschung.»Natürlich nicht«, sagte die Falsche Suppenschildkröte, »und wenn zu mir ein Fisch käme und sagte, er wolle auf Reisen gehen, dann wäre meine erste Frage: ›Mit welcher Zwecke?‹«»›Mit welchem Zweck‹, meinst du sicher«, sagte Alice.»Ich meine, was ich sage«, erwiderte die Falsche Suppen-schild kröte beleidigt. Und der Greif setzte hinzu: »Nun, jetzt lass einmal hören, was du alles erlebt hast.«»Ich könnte euch erzählen, was ich seit heute Morgen er-lebt habe«, sagte Alice etwas zaghaft; »aber weiter zurück-zugehen hätte keinen Sinn, weil ich da noch jemand ande-rer war.«»Erkläre das alles erst einmal«, sagte die Falsche Suppen-schildkröte.

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»Nein! Zuerst die Erlebnisse«, sagte der Greif ungeduldig; »Er klärungen brauchen immer so furchtbar lange.«Alice begann alles zu erzählen, was ihr zugestoßen war, seit sie dem Weißen Kaninchen begegnet war. Anfangs war sie ein wenig ängstlich, denn die zwei Wesen rückten von bei-den Sei ten näher und näher an sie heran und rissen ihre Augen und Mäuler sperrangelweit auf; aber langsam wur-de sie beim Wei tererzählen wieder etwas zutraulicher. Ihre Zuhörer saßen ganz wortlos da, bis sie zu der Stelle kam, wo sie der Raupe ›Ihr seid alt, Vater Franz‹ hergesagt hatte und die Wörter alle anders herausgekommen waren. Da holte die Falsche Suppenschild kröte tief Luft und sagte: »Das ist sehr merkwürdig.«»Merkwürdiger geht es gar nicht«, sagte der Greif.»Kamen alle anders heraus!«, wiederholte die Falsche Sup-pen schildkröte nachdenklich. »Da möchte ich doch wis-sen, was passiert, wenn sie hier etwas aufsagt. Sag ihr, sie soll anfangen.« Und dabei sah sie den Greifen an, als mein-te sie, der hätte über Alice zu bestimmen. »Steh auf und sage das Gedicht her: ›Wer so spricht, ist ein Faulpelz‹«, sagte der Greif.»Wie diese Wesen hier einen herumkommandieren und Ge dichte aufsagen lassen!«, dachte sich Alice. »Da könnte man ja ebenso gut gleich in der Schule sitzen!« Trotzdem stand sie auf und fi ng mit dem Gedicht an; aber der Kopf war ihr noch so voll von der Hummer-Quadrille, dass sie selbst kaum wusste, was sie sagte, und ihr die Wörter in der Tat äußerst sonderbar aus dem Munde kamen:

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Wer so spricht, ist ein Hummer; er sagt ja ganz klar:»Bin zu dunkel gebacken, muss zuckern mein Haar.«Wie ein Storch mit den Ohren, schob er mit der Nas’Seinen Gurt etwas höher und die Zehen ins Gras.

Der Strand ist kaum trocken, frohlockt er auch schonUnd spricht von dem Haifi sch im keckesten Ton;Doch kommt dann die Flut mit den Haifi schen drin,Verliert sein Gespräch sowohl Wohlklang wie Sinn.

»Zu meiner Zeit hat man dieses Gedicht anders vorgetra-gen«, sagte der Greif.»Ich kenne es zwar nicht von früher«, sagte die Falsche Suppenschildkröte, »aber mir kam es wie kompletter Un-sinn vor.«Alice sagte nichts; sie saß am Boden, bedeckte das Gesicht mit den Händen und fragte sich, ob denn jemals wieder alles mit rechten Dingen zugehen würde.»Ich möchte das gern erklärt haben«, sagte die Falsche Suppen schildkröte. »Sie kann es nicht erklären«, sagte der Greif schnell. »Sag die nächste Strophe her.«»Aber die Zehen!«, sagte die Falsche Suppenschildkröte eigen sinnig. »Die Zehen mit der Nase ins Gras schieben, wie kann denn das möglich sein?«»Das ist die erste Figur bei diesem Tanz«, sagte Alice; aber in ihrem Kopf ging alles durcheinander, und sie brannte darauf, von etwas anderem zu reden.»Sag die nächste Strophe her«, wiederholte der Greif; »sie be ginnt mit den Worten: ›Ich besuchte ihn einst‹.«

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Alice wagte nicht, ihm zu widersprechen, obwohl sie sicher war, dass alles falsch herauskommen würde, und fuhr mit zitt riger Stimme fort:

Ich besuchte ihn einst: hinter einer TapeteAß der Kauz mit dem Leu da eine Pastete:Und zwar aß der Leu Fleisch, Kruste und Soß’,Und dem Kauz blieb die leere Schüssel zum Trost.

Die Pastete war fort, und der Leu ward spendabel:Er vermachte dem Kauz zur Erinn’rung die Gabel;Er selbst griff zum Messer, und dann, mit pardauz!Beschloss er das Mahl wohlgemut mit dem –

»Was soll das nur für einen Sinn haben«, unterbrach sie die Falsche Suppenschildkröte, »dass du dieses ganze Zeugs her sagst und erklärst es nicht gleichzeitig? So etwas Wirres habe ich mein Lebtag noch nicht gehört!«»Ja, am besten hörst du jetzt wohl auf«, sagte der Greif, und Alice tat ihm diesen Gefallen nur allzu gerne.»Sollen wir dir noch eine andere Figur aus der Hummer-Qua drille zeigen?«, fuhr der Greif fort, »oder möchtest du lieber, dass dir die Falsche Suppenschildkröte etwas vor-singt?«»O ja, ein Lied, bitte, wenn es der Falschen Suppenschild-kröte nichts ausmacht«, versetzte Alice so eifrig, dass der Greif etwas pikiert sagte: »Hm! Na ja, die Geschmäcker sind verschieden. Also los, dann sing ihr die ›Schildkrö-tensuppe‹ vor, was, Alte?« Die Falsche Suppenschildkröte

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seufzte tief auf und sang, von häufi gem Schluchzen unter-brochen, das folgende Lied:

Schalippe, Schaluppe! Seht doch die Suppe,Die fette! Die grüne! In der Terrine!Komm, meine Puppe! Riechst du die Suppe?Die Suppe der Suppen, die herrliche Suppe!Die Suppe der Suppen, die herrliche Suppe!Her-r-r-liche Suppe!Her-r-r-liche Suppe!Suppe der Suppen,Herrliche, herrliche Suppe!

Herrliche Suppe! Wem fällt da die SchuppeNicht von den Augen? Was kann da noch taugen?Salz oder Schmalz? Vom Brotlaib die Kuppe?Sind sie nicht schnuppe, verglichen mit Suppe?Verglichen mit herrlicher Suppe?Her-r-r-liche Suppe!Her-r-r-liche Suppe!Suppe der Suppen,Herrliche, herrliche Suppe!

»Und den Refrain noch mal!«, rief der Greif, und die Falsche Suppenschildkröte hatte damit gerade angefangen, als in der Ferne der Ruf erscholl: »Der Prozess beginnt!«»Komm jetzt!«, rief der Greif, nahm Alice an der Hand und eilte mit ihr davon, ohne das Ende des Liedes abzuwarten.»Welcher Prozess denn?«, keuchte Alice im Laufen; aber der

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Greif sagte nur: »Komm jetzt!« und rannte noch schneller, während ein Windhauch, der sie begleitete, ihnen die im-mer schwächer werdenden, wehmütigen Worte nachtrug:

»Suppe der Suppen,Herrliche, herrliche Suppe!«

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kapitel elf

Wer war der Tortendieb?

Als sie den Saal betraten, thronten da der Herzkönig und die Herzkönigin in vollem Staat; um sie her hatte sich ei-ne große Versammlung von allerlei kleinen Vögeln und Tieren einge funden und dazu das ganze Kartenspiel. Der Herzbube stand vor ihnen; er war in Ketten gelegt und wurde beiderseits von einem Soldaten bewacht; und neben dem König hatte sich das Weiße Kaninchen aufgestellt, mit einer Fanfare in der einen Hand und einer großen Per-gamentrolle in der andern. Genau in der Mitte des Ge-richtssaals stand ein Tisch und darauf eine große Platte mit Törtchen, die so knusprig aussahen, dass Alice vom bloßen Hinsehen hungrig wurde. »Wenn sie sich doch mit dem Prozess beeilen wollten«, dachte sie, »und endlich zu dem Imbiss kämen!« Aber darauf schien vorderhand keine Aus-sicht zu bestehen, und also sah sie sich zum Zeitvertreib etwas ge nauer im Saale um.Alice war noch nie in einem Gerichtssaal gewesen, aber sie hatte schon manchmal davon gelesen und war recht stolz, dass sie für alles den richtigen Namen wusste. »Das ist der Richter«, sagte sie vor sich hin, »weil er so eine lange Perü-cke aufhat.«Der Richter war übrigens der König selbst; und da er sich auf die Perücke noch seine Krone aufgesetzt hatte, sah er recht un behaglich drein, und jedenfalls stand es ihm übel zu Gesicht.

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»Das ist die Schöff enbank«, dachte Alice weiter, »und die zwölf Wesen darauf« (es blieb ihr nichts anderes übrig, als ›Wesen‹ dazu zu sagen, denn es waren teils Vögel und teils vierfüßige Tiere), »das werden dann wohl die Schöff en sein.« Dieses Wort sagte sie gleich mehrmals vor sich hin und hielt sich einiges dar auf zugute, denn sie fand – und da hatte sie ganz recht –, dass wahrscheinlich nur die we-nigsten Kinder in ihrem Alter wüssten, was ›Schöff en‹ sind. Aber freilich hätte sie genauso gut ›Geschworene‹ zu ihnen sagen können.Die zwölf Schöff en schrieben emsig auf Schiefertafeln her-um. »Was machen die denn?«, fl üsterte Alice dem Greifen zu. »Be vor der Prozess begonnen hat, gibt es doch noch gar nichts auf zuschreiben!«»Sie schreiben sich ihren Namen auf«, fl üsterte der Greif zurück, »damit sie ihn nicht wieder vergessen, bis der Pro-zess aus ist.«»Blödiane!«, rief Alice mit lauter, aufgebrachter Stimme, aber schnell verstummte sie wieder, denn das Weiße Ka-ninchen rief sogleich: »Ruhe im Saal!«, und der König setzte seine Brille auf, um sich nach dem Störenfried um-zuschauen.Alice merkte genau – sie sah es so deutlich, als könnte sie es über ihre Schultern hinweg lesen –, dass die Schöff en alle ›Blödiane!‹ auf ihre Täfelchen schrieben, und konnte sogar erkennen, dass einer von ihnen nicht wusste, wie man das schreibt, und seinen Nachbarn deswegen fragen musste. »Die werden ein schönes Durcheinander auf ihren Täfelchen haben, bis der Prozess vor bei ist!«, dachte Alice.

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Einer von ihnen hatte einen Griff el, der quietschte, und das war nun etwas, was Alice auf keinen Fall ertragen konn-te. Sie ging um den Saal herum, stellte sich hinter ihm auf und fand bald eine Gelegenheit, ihm den Griff el wegzu-nehmen. Das machte sie so geschickt, dass der arme kleine Schöff e (es war Egon, die Eidechse) überhaupt nicht da-hinterkam, was geschehen war; er suchte überall danach und musste schließlich alles Weitere mit einem Finger nie-derschreiben, was freilich nicht sehr sinn voll war, denn der Finger hinterließ auf der Tafel keinerlei Spur.»Herold, verlies die Anklage!«, rief der König.Darauf stieß das Weiße Kaninchen dreimal in seine Fanfa-re, rollte das Pergament auf und las:

Herzkönigin klug neun Törtchen bukAuf lauter vergoldeten Kohlen:Herzbube, der trug sie voller LugHinweg und hat sie gestohlen!

»Wie lautet euer Urteil?«, fragte der König die Schöff en.»Halt, noch nicht!«, rief das Weiße Kaninchen dazwischen, »vor dem Urteil kommt noch allerlei anderes!«»Ruft den ersten Zeugen«, sagte der König; und das Weiße Kaninchen stieß dreimal in seine Fanfare und rief: »Erster Zeuge!«Es war der Hutmacher. Er kam herein mit einer Teetasse in der einen Hand und einem Stück Butterbrot in der an-deren. »Ihr entschuldigt schon, Euer Majestät«, fi ng er an, »dass ich das alles mitbringe, aber ich war gerade noch beim Teetrinken, als die Vorladung kam.«

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»Du hättest damit schon längst fertig sein sollen«, sagte der König. »Wann hast du denn angefangen?«Der Hutmacher drehte sich nach dem Schnapphasen um, der Arm in Arm mit der Haselmaus hinter ihm eingetreten war.»Am vierzehnten März – ich glaube wenigstens –«, sagte er.»Am fünfzehnten«, sagte der Schnapphase.»Am sechzehnten«, sagte die Haselmaus.»Schreibt euch das auf«, sagte der König zu den Schöff en, und die schrieben eifrig alle drei Daten auf ihre Tafeln, zählten sie zusammen und rechneten sie in Pfund und Zentner um.»Nimm deinen Hut ab«, sagte der König zum Hutmacher.»Es ist nicht mein Hut«, sagte der Hutmacher.»Gestohlen!«, rief der König aus und wandte sich dabei zu den Schöff en um, die sich diesen Umstand sogleich no-tierten.»Ich habe Hüte nur zum Verkaufen«, fügte der Hutmacher erklärend hinzu; »ich habe keine eigenen. Ich bin Hutma-cher.« Bei diesen Worten setzte die Königin ihre Brille auf und sah den Hutmacher unverwandt an, der unter ihrem Blick er bleichte und nicht mehr stillhalten konnte.»Mach deine Aussage«, sagte der König, »und sei nicht so zap pelig, oder du wirst auf der Stelle hingerichtet.«Dies schien den Zeugen keineswegs zu beruhigen; er sah ver stört zur Königin hinüber, trat von einem Bein aufs an-dere und kam so durcheinander, dass er ein Stück von der Teetasse statt von dem Butterbrot abbiss.Gleichzeitig überkam Alice ein sehr merkwürdiges Gefühl,

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das sie sich zunächst überhaupt nicht erklären konnte, bis sie schließlich entdeckte, was es war: sie war wieder ein-mal am Größerwerden. Zuerst wollte sie aufstehen und aus dem Ge richtssaal fortgehen; aber dann besann sie sich eines Besseren und beschloss, wenigstens sitzen zu bleiben, solange sie noch Platz hatte.»Wenn du doch nicht so drängeln wolltest«, sagte die Hasel-maus, die neben ihr saß. »Man bekommt ja gar keine Luft mehr.«»Ich kann nichts dafür«, sagte Alice voller Sanftmut; »ich wachse.«»Du hast hier nicht zu wachsen!«, sagte die Haselmaus.»Rede doch kein so dummes Zeug«, sagte Alice schon etwas mutiger; »du wächst ja selber, das weißt du ganz genau.«»Schon«, sagte die Haselmaus, »aber ich wachse auf eine ver nünftige Art und Weise und nicht in einem derart lä-cherlichen Ausmaß.« Und damit stand sie verdrießlich auf und ging zur anderen Saalseite hinüber.Unterdessen hatte die Königin den Hutmacher unablässig an gestarrt, und während die Haselmaus quer durch den Saal ging, sagte sie nun zu einem Gerichtsdiener: »Man bringe mir die Liste mit den Sängern vom letzten Kon-zert!« – worauf der arme Hutmacher so heftig zu zittern begann, dass er beide Schuhe verlor.»Mach deine Aussage«, wiederholte der König erbost, »oder du wirst hingerichtet, ganz gleich, ob du aufgeregt bist oder nicht.«»Ich bin ein armseliger Hutmacher, Euer Majestät«, be-gann der Hutmacher mit zitternder Stimme, »und ich hat-

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te mich doch gerade erst zum Tee hingesetzt – oder doch erst vor einer Woche ungefähr – und dann wurden auch die Butterbrote immer dünner – und dann noch das Tau-meln durch den Tee –«»Was für ein Taumeln?«, fragte der König.»Mit dem Tee fi ng es jedenfalls an«, antwortete der Hut-macher.»Natürlich fängt Taumeln mit einem T an!«, sagte der Kö-nig schneidend. »Du willst mich wohl für dumm verkau-fen? Und weiter?«»Ich bin ein armseliger Hutmacher«, fuhr der Hutmacher fort, »und dann fi ng fast alles zu taumeln an – nur, der Schnapphase sagte –«»Das ist nicht wahr!«, fi el der Schnapphase eilig ein.»Doch ist es wahr!«, sagte der Hutmacher.»Ich bestreite die Aussage!«, sagte der Schnapphase.»Er bestreitet die Aussage«, versetzte der König. »Lass das bei seite.«»Nun, die Haselmaus sagte jedenfalls –«, fuhr der Hutma-cher mit einem ängstlichen Blick auf die Haselmaus fort, ob die etwa auch bestreiten wollte; aber die Haselmaus be-stritt nichts, denn sie war eingeschlafen.»Und dann«, erzählte der Hutmacher weiter, »schnitt ich noch etwas Butterbrot auf –«»Aber was soll denn die Haselmaus gesagt haben?«, fragte einer der Schöff en.»Das weiß ich nicht«, sagte der Hutmacher.»Das weißt du auf der Stelle«, bemerkte der König, »oder du wirst hingerichtet.«

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Der arme Hutmacher ließ die Teetasse und das Butterbrot fal len und warf sich auf ein Knie. »Ich bin ein armseliger Hut macher, Euer Majestät«, begann er.»Jedenfalls bist du ein sehr armseliger Zeuge«, sagte der Kö-nig.Bei dieser Antwort brach eines der Meerschweinchen in Hoch rufe aus und wurde von den Gerichtsdienern stracks unter bunden. (Das ist vielleicht ein etwas schwer verständ-licher Ausdruck, und ich will euch daher kurz erklären, wie das vor sich ging. Die Gerichtsdiener nahmen dazu einen großen Sack, schoben das Meerschweinchen verkehrt her-um hinein, knüpf ten den Sack zu und setzten sich dann obendrauf.)»Gut, dass ich das einmal mit angesehen habe«, dachte Alice. »Immer, wenn ein Prozess zu Ende ist, steht in der Zeitung: ›Es kam zu vereinzelten Beifallskundgebungen, die aber von den Gerichtsdienern unverzüglich unterbun-den wurden‹, und bis jetzt habe ich nie verstanden, was das bedeutet.«»Wenn das alles ist, was du von der Sache weißt, kannst du jetzt abtreten«, ließ sich der König wieder vernehmen.»Weiter hinab kann ich nicht mehr«, sagte der Hutmacher, »ich trete ja bereits auf den Fußboden.«»Dann kannst du dich absetzen«, sagte der König.Daraufhin brach das zweite Meerschweinchen in Hoch-rufe aus und wurde gleichfalls unterbunden.»Nun, die Meerschweinchen sind wir jedenfalls los!«, dach-te Alice, »das ist ein Fortschritt.«»Ich bin nicht müde«, sagte der Hutmacher mit einem

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ängst lichen Blick auf die Königin, die noch immer in die Sänger liste vertieft war; »ich möchte lieber meinen Tee zu Ende trin ken.«»Du kannst gehen«, sagte der König, und der Hutmacher eilte aus dem Gerichtssaal, so schnell, dass er nicht einmal mehr seine Schuhe anzog.»– und hackt ihm doch draußen den Kopf ab«, setzte die Köni gin, zu einem Gerichtsdiener gewandt, hinzu; doch bevor der noch an der Tür war, hatte der Hutmacher schon das Weite gesucht.»Ruft den nächsten Zeugen!«, sagte der König.Der nächste Zeuge war die Köchin. Sie hielt das Pfeff erfass noch in der Hand, und Alice konnte schon von weitem raten, wer sie war, denn ein großes Niesen verbreitete sich sogleich von der Tür aus durch den ganzen Saal.»Deine Aussage!«, sprach sie der König an.»Mag nicht«, sagte die Köchin.Der König sah besorgt das Weiße Kaninchen an, das ihm leise zumurmelte: »Diese Zeugin müssen Euer Majestät ins Kreuz verhör nehmen.«»Was sein muss, muss sein«, sagte der König bedrückt. Dann kreuzte er die Arme über der Brust, legte die Stirn in so strenge Falten, dass seine Augen kaum noch zu sehen waren, und fragte mit tiefer Stimme: »Was braucht man zum Törtchenbacken?«»Pfeff er hauptsächlich«, sagte die Köchin.»Karamell«, sagte eine verschlafene Stimme hinter ihr.»Schluss mit der Haselmaus!«, schrie die Königin auf, »Kopf ab mit der Haselmaus! Ins Halseisen! Hinaus mit

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ihr! Unterbindet sie! Zwickt sie! Ab mit dem Schnurr-bart!«Eine Zeitlang war der ganze Saal in Aufruhr, bis die Hasel-maus endlich draußen war, und als die Unruhe sich wieder gelegt hatte, war die Köchin verschwunden.»Sei’s drum«, sagte der König mit sichtlicher Erleichte-rung. »Ruft den nächsten Zeugen.« Und zur Königin ge-wandt, fügte er halblaut hinzu: »Wirklich, liebe Frau, das nächste Kreuzver hör musst du führen. Mir tut schon die ganze Stirn weh!«Alice sah zu dem Weißen Kaninchen hinüber, das auf sei-ner Liste herumsuchte, und war sehr gespannt, wie es wohl mit dem nächsten Zeugen gehen würde; »– denn bis jetzt sind sie mit ihren Beweisen noch nicht sehr weit gekom-men«, sagte sie sich. Ihr könnt euch denken, wie über-rascht sie war, als das Weiße Kaninchen, so laut es konnte, mit seinem schrillen Stimmchen ausrief: »Alice!«

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kapitel zwölf

Alice deckt die Karten auf

»Zur Stelle!«, rief Alice und vergaß dabei in der Hitze des Ge fechts ganz, wie groß sie inzwischen geworden war; sie sprang so eifrig auf, dass sie mit einem Rockzipfel die Schöf-fenbank umwarf und die Schöff en auf die ganze Versamm-lung her unterpurzelten; da lagen sie auf allen vieren und erinnerten sie sehr deutlich an das Goldfi schglas, das ihr in der vergangenen Woche aus Versehen umgefallen war.»Oh, ich bitte um Verzeihung!«, rief sie in großer Bestür-zung aus und sammelte die Schöff en wieder vom Boden auf, so schnell sie konnte, denn das Missgeschick mit dem Goldfi sch glas ging ihr noch immer im Kopfe herum, und sie hatte ir gendwie die Vorstellung, dass die Schöff en so schnell wie mög lich aufgehoben und in ihre Bank zurück-gesetzt werden müssten, oder sie holten sich den Tod.»Der Prozess kann nicht fortgesetzt werden«, sagte der Kö-nig mit tiefernster Stimme, »bevor nicht alle Schöff en wie-der richtig auf ihrem Platz sind – alle Schöff en«, wieder-holte er mit Nachdruck und sah Alice fest dabei an.Alice blickte in die Schöff enbank und entdeckte, dass sie in der Eile die Eidechse mit dem Kopf nach unten zurück-gesetzt hatte, wo das arme kleine Ding nun festgeklemmt war und bedrückt den Schwanz hin- und herschwenkte. Bald hatte sie es wieder befreit und richtig in die Bank gesetzt. »Nicht, dass das irgendwelche Bedeutung hätte«, sagte sie sich dabei im Stillen, »denn für den Prozess wird

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es genau aufs Gleiche heraus kommen, ob er auf dem Kopf steht oder nicht.«Sobald sich die Schöff en von dem Schrecken ihres Umstur-zes etwas erholt hatten und ihre Tafeln und Griff el wieder zusam mengesucht und richtig verteilt waren, begannen sie sogleich mit großer Emsigkeit einen Bericht über das Vor-gefallene ab zufassen – mit Ausnahme der Eidechse, die an-scheinend so mit genommen war, dass sie nur noch off enen Mundes zur Decke glotzen konnte.»Was weißt du von dieser Angelegenheit?«, fragte der Kö-nig Alice.»Nichts«, sagte Alice.»Nicht das Geringste?«, forschte der König weiter.»Nicht das Geringste«, sagte Alice.»Das ist sehr wichtig«, sagte der König, zu den Schöff en ge wandt. Die wollten sich das gerade aufschreiben, als das Weiße Kaninchen einfi el: »Unwichtig meinen Euer Majes-tät natür lich«, sagte es sehr unterwürfi g, doch runzelte es dabei die Stirn und schnitt allerlei Gesichter.»Unwichtig meinte ich natürlich«, verbesserte sich der Kö-nig rasch und murmelte dann halblaut vor sich hin: »Wich-tig – unwichtig – unwichtig – wichtig –«, als wollte er aus-probieren, was von beiden besser klang.Je nachdem, was sie hörten, schrieben manche Schöff en ›wichtig‹ und andere wieder ›unwichtig‹. Alice konnte sie dabei beobachten, denn sie stand so nahe bei ihnen, dass sie ihnen über die Schulter sehen konnte. »Aber es ist ja auch ganz gleich«, dachte sie sich.In diesem Augenblick rief der König, der inzwischen et-

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was in sein Notizbuch geschrieben hatte, mit lauter Stim-me: »Ruhe!« und las dann aus dem Buch vor: »Vorschrift Nummer zweiundvierzig: Alle über einen Kilometer großen Personen haben den Gerichtssaal zu verlassen.«Die ganze Versammlung sah Alice an.»Ich bin aber keinen Kilometer groß«, sagte Alice.»Doch«, sagte der König.»Fast zwei Kilometer«, setzte die Königin hinzu.»Nun, jedenfalls bleibe ich hier«, sagte Alice; »außerdem ist das gar keine richtige Vorschrift, sondern eben erst er-funden.«»Es ist die älteste Vorschrift im ganzen Buch«, sagte der König. »Dann müsste sie die Nummer eins haben«, sagte Alice.Der König erbleichte und klappte schnell sein Notizbuch zu. »Wie lautet euer Urteil?«, fragte er die Schöff en mit lei-ser, be bender Stimme.»Es liegt noch ein weiteres Beweisstück vor, mit Verlaub, Euer Majestät«, sagte das Weiße Kaninchen und sprang ei-lig auf; »eben ist dieses Schreiben gefunden worden.«»Was steht darin?«, fragte die Königin.»Ich habe es noch nicht geöff net«, sagte das Weiße Kanin-chen, »aber anscheinend ist es ein Brief, den der Angeklag-te geschrie ben hat, an – an irgendjemand.«»So muss es gewesen sein«, sagte der König, »es sei denn, er hat ihn an niemanden geschrieben, und das ist meines Wissens nicht üblich.«»An wen ist er adressiert?«, fragte ein Schöff e.»Er hat keine Adresse«, sagte das Weiße Kaninchen; »außen

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ist er überhaupt ganz leer.« Dabei faltete es das Schreiben auf und setzte hinzu: »Nun ist es doch kein Brief, sondern vielmehr ein Gedicht.«»In der Handschrift des Angeklagten?«, fragte ein zweiter Schöff e.»Nein, eben nicht«, sagte das Weiße Kaninchen, »das ist ja ge rade das Sonderbare.« (Die Schöff en schauten alle ratlos drein.)»Er muss eine fremde Handschrift nachgeahmt haben«, sagte der König. (Die Schöff en waren alle erleichtert.)»Mit Verlaub, Euer Majestät«, sagte der Herzbube, »ich habe das nicht geschrieben, und das kann mir auch keiner beweisen: es steht ja keine Unterschrift darunter.«»Dass du nicht unterschrieben hast«, sagte der König, »macht die Sache nur schlimmer. Du musst ja etwas im Schilde geführt haben, sonst hättest du deinen Namen daruntergesetzt wie ein ehrlicher Mensch.«Alles klatschte Beifall: es war das erste Mal an diesem Tag, dass der König etwas wirklich Kluges gesagt hatte.»Damit ist seine Schuld bewiesen«, sagte die Königin.»Gar nichts ist damit bewiesen!«, sagte Alice. »Ihr wisst ja noch nicht einmal, was darin steht!«»Lies es vor«, sagte der König.Das Weiße Kaninchen setzte sich die Brille auf. »Womit soll ich den Anfang machen, mit Verlaub, Euer Majestät?«, fragte es.»Mache den Anfang mit dem Anfang«, sagte der König ernst, »und lies weiter, bis du ans Ende kommst; dort höre auf.«

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Und das Weiße Kaninchen las das folgende Gedicht vor:

Er schrieb, du warst bei ihr zu Haus Und gabst von mir BerichtUnd sprachst: »Mit dem kommt jeder aus, Nur schwimmen kann er nicht.«

Sie sagten ihm, ich sei noch hier (Ihr wisst ja, das triff t zu) –Wenn sie sich nun drauf kaprizier’, Sagt sie, was machst dann du?

Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei, Und ihr gabt uns drei Stück;Doch all das ist jetzt einerlei, Du hast sie ja zurück.

Wenn demnach ich oder auch sie Da mit hineingeraten,Dann riecht er sicher irgendwie Auch seinerseits den Braten.

Bevor sie so verschroben war, Da dacht’ ich (ich gesteh’s),Du seist dabei die Hauptgefahr Für ihn und uns und es.

Sie war darauf besonders scharf, Doch das behalt für dich,

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Weil keiner davon wissen darf Als höchstens du und ich.

»Das ist der entscheidende Beweis«, sagte der König und rieb sich die Hände; »ich frage also hiermit die Schöff en: Wie lautet euer –«»Wenn mir das auch nur einer von Ihnen erklären kann«, sagte Alice (sie war mittlerweile so groß geworden, dass sie über haupt keine Angst mehr hatte, ihn zu unterbrechen), »dann will ich Hans heißen. Meiner Meinung nach ist dar-in keine Spur von Sinn.« Die Schöff en schrieben alle auf ihre Täfelchen: ›Ihrer Meinung nach ist darin keine Spur von Sinn‹, aber keiner machte den Versuch, das Gedicht zu erklären.»Wenn es keinen Sinn hat«, sagte der König, »können wir uns sehr viel Mühe sparen, denn dann brauchen wir ihn gar nicht erst zu suchen. Und doch, ich weiß nicht«, fuhr er fort, indem er das Papier glatt strich und mit einem Au-ge darauf niedersah, »einigen Sinn kann ich, glaube ich, doch darin entdecken. ›Nur schwimmen kann er nicht‹ – das kannst du doch auch nicht, oder?«, fragte er und wandte sich dabei dem Herzbuben zu.Der Herzbube schüttelte traurig den Kopf. »Sehe ich denn so aus?«, fragte er. (Und das konnte wirklich niemand be-haupten, denn er war ganz aus Pappe.)»So weit, so gut«, sagte der König und las, leise vor sich hin murmelnd, ein Stück weiter: »›Ihr wisst ja, das triff t zu‹ – damit sind natürlich die Schöff en gemeint – ›Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei, und ihr gabt uns drei Stück‹

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– das ist, was er mit den Törtchen gemacht hat, nicht wahr?«»Aber es geht weiter: ›Du hast sie ja zurück‹«, sagte Alice.»Nun, da sind sie ja auch!«, rief der König triumphie-rend und zeigte auf die Törtchen auf dem Tisch. »Wenn das nicht klar ist! – Ferner: ›Bevor sie so verschroben war‹ – verschroben warst du doch nie, liebe Frau, oder doch?«, sagte er zur Königin. »Nie!«, sagte die Königin voller Wut und warf mit einem Tintenfass nach der Eidechse. (Der unselige Egon hatte nämlich gemerkt, dass sein Finger auf der Tafel keine Spur hinterließ, und hatte mit dem Schrei-ben aufgehört; aber jetzt machte er sich sogleich wieder daran, und zwar nahm er dazu die Tinte, die ihm über das Gesicht rann, bis sie dann wieder eintrock nete.)»Dann hat er sich verschrieben«, sagte der König und sah lächelnd in die Runde. Alles blieb totenstill.»Das war ein Wortspiel!«, sagte der König beleidigt, und alles lachte. »Wie lautet euer Urteil?«, fragte der König ungefähr zum zehnten Mal. »Nein, nein!«, sagte die Königin, »zuerst die Strafe, dann das Urteil!« »Schluss mit dem Gefasel!«, sag-te Alice laut. »Zuerst die Strafe, wo gibt’s denn so was!«»Du hältst den Mund!«, sagte die Königin, krebsrot vor Zorn.»Ich denke nicht daran«, sagte Alice.»Kopf ab mit ihr!«, schrie die Königin aus Leibeskräften. Nie mand rührte sich.»Wer wird sich denn um euch scheren?«, sagte Alice (denn sie hatte wieder ihre volle Größe erlangt), »ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel!«

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Bei diesen Worten schwang sich das ganze Kartenspiel in die Luft und kam auf sie zugesegelt. Halb zornig, halb er-schreckt, stieß Alice einen kleinen Schrei aus und schlug nach ihnen, um sie zu verjagen – und auf einmal war sie wieder am Bachufer und lag mit dem Kopf ihrer Schwester im Schoß, und eine sanfte Hand strich ihr einige rascheln-de Blätter aus dem Ge sicht, die von einem Baum auf sie herabgefl attert waren.»Wach auf, liebe Alice!«, sagte ihre Schwester. »Wie lange du geschlafen hast!«»Ach, und ich hatte einen so seltsamen Traum!«, sagte Alice und erzählte ihrer Schwester, so gut sie sich noch er-innern konnte, die sonderbaren Erlebnisse, die ihr gerade vernommen habt; und als sie damit fertig war, gab ihr die Schwester einen Kuss und sagte: »Das war wirklich einmal ein seltsamer Traum; aber jetzt rasch heim zum Tee, es ist schon spät.« Und da stand Alice also auf und rannte davon und dachte im Laufen noch einmal – und da hatte sie ja auch ganz recht –, welch ein wun dersamer Traum es ge-wesen war.Ihre Schwester aber blieb noch eine Weile zurück, den Kopf auf eine Hand gestützt, und sah zu, wie die Sonne unterging, und dachte an die kleine Alice und ihre wun-derbaren Erlebnisse, bis auch sie auf ihre Weise ins Träu-men kam, und das ist, was sie träumte:Zuerst träumte sie von der kleinen Alice selbst und fühl-te, wie ihre kleinen Hände ihr die Knie umschlangen und die hellen, munteren Augen zu den ihren aufsahen – sogar ihre Stimme hörte sie und konnte den seltsamen kleinen

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Ruck sehen, mit dem das Haar aus der Stirne fl og, wenn es schon wieder einmal bis über die Augen geglitten war – und saß und lauschte, oder wenigstens war ihr so, als lauschte sie, und darüber wurde es auf einmal um sie her lebendig, und überall rührten sich die sonderbaren Wesen, von denen ihre kleine Schwester ge träumt hatte.Es raschelte in dem hohen Gras zu ihren Füßen, und das Weiße Kaninchen trippelte vorbei – die Maus patschte er-schreckt durch den nahen Teich – sie konnte die Teetassen klirren hören, wenn der Schnapphase und seine Freunde bei ihrem unaufhör lichen Imbiss die Plätze wechselten, und die schrille Stimme der Königin, die ihre unglück-seligen Mitspieler hinrichten ließ – auch das Ferkelkind nieste wieder auf dem Schoß der Herzogin, und um es her barst und splitterte Geschirr – der Greif schrie, und der Griff el der Eidechse quietschte auf der Schiefertafel, die unterbundenen Meerschweinchen schnapp ten nach Luft, und dazwischen schluchzte aus der Ferne un tröstlich die Falsche Suppenschildkröte.So saß sie mit geschlossenen Augen da und glaubte sich halb ins Wunderland versetzt; und dabei wusste sie doch recht gut, dass sie sich nur umzublicken brauchte, und al-les würde wieder langweilig und wirklich werden: Das Ge-raschel im Gras kam nur vom Wind, nur das Schilf plät-scherte im Teich, aus dem Geklirr der Teetassen würde das Klingeln der Schafschellen werden und aus dem Gekeif der Königin die Stimme des Hü terbuben – das niesende Baby und der schreiende Greif wür den sich wieder, das wuss-te sie genau, in den verworrenen Lärm drüben von dem

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Bauernhof verwandeln – und die muhenden Kühe in der Ferne wären alles, was von dem Geschluchz der Falschen Suppenschildkröte übrig bliebe.Und zuletzt malte sie sich aus, wie dieselbe kleine Schwe-ster, die eben davongelaufen war, eines Tages auch erwach-sen wäre und sich wohl auch in reiferen Jahren das ein-fältige liebevolle Herz ihrer Kindheit bewahrt hätte, und sah vor sich, wie sich andere kleine Kinder um sie scharten und wie auch deren Augen aufl euchteten bei manch einer seltsamen Geschichte, vielleicht sogar, wer weiß, bei der Geschichte des Traumes vom Wunderland aus alter Zeit; und wie sie traurig war mit all ihren Schmerzen und fröh-lich mit all ihren Freuden im Gedanken an ihre eigene Ju-gendzeit und selige Sommertage.

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zu dieser ausgabe

insel taschenbuch 4502: Lewis Carroll, Alice im Wunderland. Der Text folgt dem insel taschenbuch 42: Lewis Carroll, Alice im Wunderland. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christian Enzensberger. Insel Verlag Frankfurt am Main 1973. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1963. Titel der englischen Originalausgabe: Alice’s Adventures in Wonderland. Die Erst-aus gabe erschien 1865 in London.

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»Bei Hermann Hesse fühle ich mich zu Hause. Seine Vorstellung vom eigenen Weg – das kam bei mir schon früh an. Keinem anderen Schrift-steller fühle ich mich so verbunden.« Udo Lindenberg

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Äthiopien in den sechziger Jahren: Die Zwillingsbrüder Marion und Shi-va wachsen nach dem Tod ihrer Mutter und dem spurlo sen Verschwin-den ihres Vaters als Waisenkinder im Missionskran kenhaus heran. Beide sind unzertrennlich und wollen, wenn sie erwachsen sind, selbst Ärzte werden. Während Marion von seinem Ziehvater in die Chirurgie einge-wiesen wird und die Schule besucht, bildet sich der hochbegabte Shiva autodidaktisch zum Arzt aus. Erst die Liebe zur selben Frau lässt die beiden Brüder zu Rivalen werden. Marion flieht aus dem von Unruhen erschütter ten Land in die USA, wo er in seiner Arbeit als erfolgreicher Chi rurg in einem New Yorker Krankenhaus aufgeht. Doch dann holt ihn die Vergangenheit ein, und er muss sein Leben in die Hände der beiden Männer legen, denen er am wenigsten vertraut: seinem Vater, der ihn im Stich gelassen, und seinem Bruder, der ihn betrogen hat.

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»Was für ein ergreifender Roman über die Wunder des Lebens.« Freundin

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Als Frida ein kleines schwarzes Notizbuch geschenkt bekommt, ahnt sie noch nicht, wofür sie es eines Tages benötigen wird. Auf der ersten Seite steht die Widmung: »Hab den Mut zu leben, denn sterben kann jeder.« Und Frida hat Mut. Sie trotzt den vielen persönlichen Rückschlägen und nimmt sich vom Leben, was sie will. Doch Frida lebt geborgte Tage. Ihr schmerzender Körper erinnert sie stets an ein Geheimnis, das sich in ih-rem Notizbuch offenbart: Vor Jahren schloss sie einen Pakt mit einer ge-heimnisvollen Gestalt, die sie fortan begleitet, bis eines Tages der Zeit-punkt einer letzten Zusammenkunft bevorsteht … Das geheime Buch der Frida Kahlo ist ein fesselnder Roman, der die ge-heim nisvolle Seite des extremen Lebens der Künstlerin schildert, aber auch ein kulinarischer Roman, mit vielen raffinierten, persönlichen Kochrezep-ten von Frida Kahlo.

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»Hab den Mut zu leben, denn sterben kann jeder.«

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Ein Neuanfang sollte es werden, als Harriet und Joseph Blackstone von Eng land nach Neuseeland aufbrachen. Von einem Leben in Wohlstand träumten sie, aber als Joseph im Fluss neben seinem Haus einen Schimmer von Gold entdeckt, kennt er nur noch ein Ziel. Er lässt Harriet und seine Mutter zurück und macht sich auf zu den Goldfeldern, zusammen mit vie len anderen Glückssuchern. Auf der Suche nach ihrem Mann reist Harriet ihrem eigenen Traum entgegen.»Rose Tremain schreibt die besten historischen Romane unserer Zeit.« Evening Standard

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