Basistext_Kap1

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  • 7/26/2019 Basistext_Kap1

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    Zllner (Ludwigsfelde) / Vollstdt (Kassel)

    Basistext: Dimensionen und Strategien ind ividueller Frderung

    1. Warum individuelle Frderung ?

    Kaum ein Lehrer muss heute noch davon berzeugt werden, dass Lernen ein hchst

    individueller Prozess ist, der differenzierte Angebote und Untersttzung, aber auchgezielte Frderung bentigt. Andererseits klagen viele Lehrer in allen Schulformenber enorme Leistungsunterschiede, die durch die Ergebnisse von PISA nachdrck-lich besttigt wurden. Nicht selten steht hinter diesen Klagen auch der Wunsch nachmehr Homogenitt beim Leistungsstand und nach mehr Einheitlichkeit bei der Ges-taltung des Unterrichts. Dieser Wunsch hat eine lange Tradition. Eine Ursache be-steht darin, dass das gegliederte deutsche Schulwesen auf Heterogenitt vorrangigmit Verfahren reagiert, die sich schon seit langem als eher untauglich erwiesen ha-ben, weil sie in erster Linie auf Homogenisierung orientieren und die soziale Selekti-on manifestieren. Die zunehmenden Bemhungen um individuelle Frderung imRahmen schulischer Lernprozesse stoen demzufolge immer wieder und immer

    noch auf Zweifel an ihrer Realisierbarkeit, auf bildungspolitische Zwnge zu uererDifferenzierung, dem Wunsch nach geringeren Leistungsunterschieden zwischenden Lernenden in einer Klasse und zahlreiche ungnstige Rahmen- bedingungendes Unterrichts.

    Deshalb sollen zunchst in knapper Form grundlegende Argumente zur Notwendig-keit individueller Frderung beim schulischen Lernen vorangestellt werden, um derenVerstndnis immer wieder aufs Neue gerungen werden muss, wenn die Lernendenerfolgreich individuell gefrdert werden sollen. Ohne grndliche Auseinandersetzungmit den folgenden Thesen erreichen die vielfltigen Anstrengungen um individuelleFrderung nicht die mglichen Wirkungen.

    Die Orientierung des Unterrichts am Durchschnitt beschrnkt die Fr-dermglichkeiten

    Seit seinem Bestehen hat das gegliederte deutsche Schulwesen mit zahlreichenFormen uerer Leistungsdifferenzierung (Zuordnung zu verschiedenen Schulfor-men, Bildungsgngen, Leistungskursen, Jahrgangsstufen) eine Fiktion suggeriert: Essei mglich, einigermaen homogene Lerngruppen zu bilden, in denen gleiche Lern-anforderungen auf weitgehend einheitlichen Lernwegen erfolgreich realisiert werdenknnen. Dass dies nicht funktioniert und nicht funktionieren kann, ist eigentlich schon

    lange klar. Es gibt sogar gute Grnde, dies fr die entscheidende Schwche desdeutschen Bildungswesens zu halten1.

    Fatal ist vor allem, dass dieser Wunsch nach Homogenisierung von Lernprozessenzum Leitbild vieler Lehrerinnen und Lehrer geworden ist und auch deren Umgang mitHeterogenitt im Unterricht bestimmt. Die in der Literatur ausfhrlich beschriebenenFormen zur Differenzierung unterrichtlichen Lernens2 werden dann vor allem zurHomogenisierung der Leistungsvoraussetzungen in der Lerngruppe eingesetzt. Siewerden aus dieser Sicht als notwendige, aber lediglich zeitweilige Schritte angese-hen und realisiert, die auf das unterschiedliche Leistungsniveau der Lernenden rea-gieren. Vor allem aber sollen sie die Voraussetzungen dafr schaffen, mglichstschnell wieder zum einheitlich gestalteten Lernprozess, zu den von der Lehrkraft

    1vgl. Lange 2003, S. 36

    2vgl. Paradies/Linser 2001

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    vorgeschriebenen Lernwegen zurckzukehren, die sich am durchschnittlich Ler-nenden orientieren, so die weit verbreitete trgerische Hoffnung vieler Lehrerinnenund Lehrer.

    Die alltgliche Unterrichtspraxis besttigt, dass es den durchschnittlich Lernendennicht gibt, dass auf diese Weise individuelle Lernprozesse nicht im erforderlichenMae untersttzt werden und ber andere Frderkonzepte nachgedacht werdenmuss.

    Nicht nur die schwcheren und besonders begabten, sondern alle Sch-lerinnen und Schler individuell und vielfltig frdern

    Auch unter den Bedingungen von Schule und Unterricht vollzieht sich Lernen letztlichals individueller Prozess und bedarf demzufolge der individuellen Frderung. Dabeisoll nicht nur die Leistung der schwcheren Schlerinnen und Schler verbessertund die besonders begabten Schlerinnen und Schler systematisch gefrdert, son-dern alleSchlerinnen und Schler zielgerichtet individuell untersttzt werden. Kon-struktivistische Auffassungen vom Lernen unterstreichen, dass es sich dabei stetsum einen autonomen Prozess der aktiven Konstruktion von Wissen handelt, der nurindividuell gefrdert und gesteuert werden kann.

    Individuelle Frderung muss demnach als eine Aufgabe bzw. ein Auftrag fr die Leh-renden angesehen werden, bei der Planung und Gestaltung der Lernarrangementsder Individualitt der Lernenden konsequent Rechung zu tragen. Whrend diesegrundlegende Orientierung durchaus Zustimmung findet, gibt es eine tiefe Unsicher-heit darber, wiedies effektiv mit Blick auf die Heterogenitt der Lernenden und dieAnzahl von Schlerinnen und Schler in einer Klasse geschehen kann und soll. Esist klar, dass der skizzierte Kurswechsel hin zur Bercksichtigung der Individualittdes Lernens und damit der Heterogenitt der Schlerschaft nur gelingen kann, wennzugleich effektive Wege gefunden werden mit der Unterschiedlichkeit der Lernendenentwicklungsfrdernd umzugehen. In einer an der Homogenisierung von Lerngrup-pen orientierte Schul- und Unterrichtskultur kann nicht nur Heterogenitt zur Belas-tung werden, sondern auch zu mechanistischen Frderkonzepten fhren. Ausgangs-punkt solcher Konzepte sind die mit Blick auf die jeweiligen am Durchschnitt be-stimmten Lernanforderungen und auf die differenten Leistungsvoraussetzungen derSchlerinnen und Schler diagnostizierten Defizite3. Diese Vorgehensweise hatgleich mehrere Schwchen:

    Zum einen beziehen sich die ermittelten Defizite hufig auf den fiktiven Durch-schnittsschler und werden auf diese Weise der unterschiedlichen Entwicklung derHeranwachsenden nicht gerecht. Frdermanahmen knnen zwangslufig nicht fralle Schlerinnen und Schler treffsicher abgeleitet werden. Diese geringe Treffsi-cherheit gilt auch fr die Ableitung erforderlicher Lernprozesse und Entwicklungs-aufgaben, weil bei diesem Herangehen der Individualitt des Lernenden nur zuflligentsprochen werden kann.Zum anderen werden in der Regel Differenzierungsmanahmen und Frderpro-gramme erstellt und vorgegeben, in denen ausschlielich die jeweilige Lehrkraft berdas Ma an Differenzierung entscheidet und die Lernenden dabei mehr oder wenigerals Objekte ihres eigenen Lernens behandelt werden. In Anbetracht der enormen

    Leistungsunterschiede zwischen den Schlerinnen und Schlern liegt es auf der

    3Dabei darf nicht bersehen werden, dass mitunter auch die Beseitigung von Defiziten wirkungsvolle Frderpro-

    zesse auslst.

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    Hand, dass eine so verstandene fremd gesteuerte Frderunghufig zu Proble-men fhren muss. Da sie sich auf innere, nicht beobachtbare, individuell geprgteLernprozesse bezieht, knnen zwangslufig von auen nicht immer sichere Ent-scheidungen getroffen werden. Insofern ist es verstndlich, dass sich Lehrkrfte da-mit berfordert fhlen, die Heterogenitt all ihrer Schlerinnen und Schler genau zu

    erfassen und in entsprechenden Frderkonzepten angemessen zu bercksichtigen.Nicht selten fhrt diese Unzufriedenheit zum vlligen Verzicht auf innere Differenzie-rung im Unterricht.

    Lernkompetenzfrderung statt defizitorientierter Frderkonzepte

    An Schulen in allen Bundeslndern sind Lehrerinnen und Lehrer in den letzten Jah-ren dazu bergegangen, auf die Vorgabe von Frderkonzepten, die vordergrndigauf den Ausgleich von Lerndefiziten ausgelegt sind, zu verzichten4. Stattdessen be-mhen sie sich verstrkt um die systematische Entwicklung und Frderung selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen und motivierten Lernens. Das schliet auch dieFhigkeit und Bereitschaft zur Selbstfrderung ein, d. h. die Lernenden sind zu-nehmend in der Lage, ihre individuelle Frderung selbst bestimmt in die eigenenHnde zu nehmen. Die dafr erforderlichen Persnlichkeitseigenschaften werdenmit dem Begriff Lernkompetenz zusammengefasst:

    Lernkompetenz umfasst die Kenntnisse, Fhigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheitenund Einstellungen, die fr individuelle und kooperative Lernprozesse bentigt undzugleich beim Lernen entwickelt und optimiert werden. Lernkompetenz verknpftdemzufolge Sach- und Methodenkompetenz,soziale Kompetenz und Selbstkom-petenz (personale Kompetenz) miteinander und bentigt die Reflexion ber dieLernprozesse und -ergebnisse als unverzichtbare Voraussetzung (vgl. Czer-

    wanski/Solzbacher/Vollstdt 2002, S. 31).

    So verstanden bedeutet bzw. ermglicht Lernkompetenz Handlungsfhigkeit imRahmen von individuellen Lernprozessen.

    Der Vorteil dieses weiten Kompetenzbegriffs fr die individuelle Frderung bestehtvor allem darin, dass er Lehrende und Lernende auf die handlungswirksamen Bezie-hungen zwischen allen Persnlichkeitseigenschaften des Individuums aufmerksammacht und so Schwchen eindimensionaler Frderkonzepte offenbart, die etwa nurauf Kenntnisse oder einzelne Fhigkeiten zielen. In der Unterrichtspraxis haben f-cherbergreifende und fachspezifische Kompetenzmodelle diese weite Sicht teilwei-

    se aufgenommen. So geht es z.B. bei der Frderung der Lesekompetenz nicht nurum die Fhigkeit zum Lesen und Verstehen unterschiedlicher Textsorten, sondernauch um die Einstellung zum Lesen und die Kommunikation mit anderen ber dasGelesene. Um z.B. im naturwissenschaftlichen Unterricht erfolgreich experimentierenzu knnen, bentigen die Schlerinnen und Schler nicht nur naturwissenschaftlicheKenntnisse und Fhigkeiten, sondern auch methodische, soziale und personaleKompetenzen, die sowohl beim Lernen in den naturwissenschaftlichen Fchern alsauch in anderen Fchern entwickelt und gefrdert werden.

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    In einer Expertise macht Jrgen Seewalddarauf aufmerksam, dass sich diese Entwicklung des Frderpara-digmas schon seit den 50er und 60er Jahren vollzieht und noch nicht beendet ist. Er verweist auf drei Phasendieser Entwicklung: das Schlagloch-Modell der linearen Beziehung zwischen Mangel und Frderung, das An-setzen bei den Strken als die Ressourcenorientierung, die Bercksichtigung des Kontextes des zu Frderndenals eine systemisch-kologische Perspektive (vgl. Seewald, Marburg 2006, S. 6-8).

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    http://www.ganztag-blk.de/cms/upload/pdf/nrw/Seewald_Individuelle_Foerderung.pdfhttp://www.ganztag-blk.de/cms/upload/pdf/nrw/Seewald_Individuelle_Foerderung.pdf
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    Systematische Entwicklung von Lernkompetenz befhigt zum zuneh-mend selbst gesteuerten (lebenslangen) Lernen

    Lernkompetenz sorgt fr erfolgreiches selbststndiges Lern-Handeln und schafftzugleich die Voraussetzungen fr lebenslanges Lernen. Aus dieser Sicht gehrt sie

    zum Kern jeglicher Handlungskompetenz. Lernkompetenz wird somit letztlich zumZiel jeglicher schulischer Frderung, das mit defizitorientierten und fremdbestimmtenFrderkonzepten nur schwerlich oder gar nicht erreicht werden kann.

    Als ein gewichtiges Argument wird vor allem angefhrt, dass die Frderung der Lern-kompetenz eine hhere Qualitt der Kenntnisse der Lernenden untersttzt. So habendie internationalen Vergleichsstudien TIMSS und PISA darauf aufmerksam gemacht,dass die Bildungssysteme moderner Gesellschaften angesichts des grundlegendentechnischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Wandels eine neue Qualittdes Wissens vermitteln mssen. Wissen soll anschlussfhig fr neue, unabsehbareEntwicklungen, es soll lebenslanges Lernen ermglichen und nicht erschweren. Da-

    zu ist eine Basis intelligent geordneten, in sich vernetzten, in verschiedenen Situati-onen erprobten und angepassten5 Wissens notwendig und wird zu einem grundle-genden Unterrichtsziel. Eine solche Wissensqualitt bietet ein Gelnder im Alltags-leben und ermglicht es, sich neue unbekannte Herausforderungen und Phnomeneauch kognitiv zu erschlieen. Untersuchungen zeigen, dass die Leistungsfhigkeitdes Denkens mit dem Ausma und der Beweglichkeit (Transformierbarkeit, Abruf-mobilitt) intelligent strukturierten Sachwissens und weniger mit der Wirkung unspe-zifischer Strategien zusammen (hngt): Je intelligenter das zur Verfgung stehendeFachwissen organisiert ist, desto leichter kann es abgerufen, in Denkzusammenhn-ge eingebaut und mit neuem Wissen verknpft werden6. Fr den Unterricht bedeutetdies, eine grere Verstehenstiefe bei der Wissens- und Knnensentwicklung anzu-

    streben.

    Diese Aufgabe stellt an die Gestaltung der Lehr- Lernprozesse erweiterte Anforde-rungen. Denn Verstehenstiefe lsst sich nicht ausschlielich durch Instruktion her-stellen, sondern bedarf des eigenstndigen Denkens und Handelns in der Erschlie-ung und Anwendung. Deshalb soll im Unterricht strategisch die bisher dominie-rende lehrerzentrierte Wissensvermittlung um komplementre, selbst gesteuerte Un-terrichtsformen erweitert werden.

    Dazu ist es notwendig,

    ber Stoffvermittlung hinaus Lernkompetenz zu frdern,

    fachliche Inhalte problem-, anwendungsbezogen und motivationsfrdernd zuprsentieren, so dass bei den Schlerinnen und Schlern aktive Verarbei-tungsprozesse mit Tiefenwirkung ausgelst werden,

    soziale Spielrume zu schaffen, die den Schlerinnen und Schlern dieselbststndige Inhaltsbearbeitung sowie Selbstregulierung und Reflexion ihrerArbeitsprozesse ermglichen,

    Mglichkeiten zur Anregung und Intensivierung der Lernprozesse zu nutzen,wie sie im Austausch mit Lernpartnern oder innerhalb der Lerngruppe gege-ben sind,

    5Baumert, u. a., 1997, Gutachten zur Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unter-

    richts. Bonn6Reusser, Unterricht zwischen Wissensvermittlung und Lernen lernen, S. 126

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    das Lehrerhandeln vor allem in Form von diagnostischer, untersttzender, be-ratender und evaluierender Lernbegleitung hin zu erweitern7.

    Damit unterstreichen wir die generelle Feststellung, dass eigentlich jeglicher Unter-richt individuell frdert, weil Lernen letztlich individuell erfolgt. Selbst dann, wenn dies

    nicht beabsichtigt sein sollte. Soll jedoch der Beitrag schulischen Lernens fr die in-dividuelle Persnlichkeitsentwicklung jeder Schlerin und jedes Schlers verbessertund effektiver gestaltet werden, muss eine zielgerichtete und systematische individu-elle Frderung erfolgen, die bestimmte Anforderungen vor allem an die Qualitt derLehr-Lern-Prozesse stellt und im Kern die Lernkompetenz frdert, eine Befhigungzum lebenslangen selbst gesteuerten Lernen erreicht.

    Untersttzt werden diese Anforderungen durch die Umstellung von der bisherigeninput-orientierten Steuerung bildungs-praktischen Handelns ber die staatlichenLehrplne hin zu einer output-orientierten Steuerung (durch Standards), diekompetenzorientiert formuliert werden sollen (Klieme 2003, S. 6). Bekanntlich greifen

    diese Bildungsstandards allgemeine Bildungsziele auf und legen fest, welche Kom-petenzen die Kinder und Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe ver-bindlich erworben haben sollen. Wenn es gelingt, diese Kompetenzen konkret zubeschreiben, in entsprechende Aufgabenstellungen umzusetzen und dazugehrigevalide Testverfahren zu entwickeln, kann unter Umstnden tatschlich eine genauereOrientierung der Lehrkrfte, Lernenden und deren Eltern auf die Ziele der Persn-lichkeitsentwicklung und weniger auf einen zu vermittelnden Inhaltskanon erfolgen.

    7Messner/Blum u. a.(2006): Selbststndiges Lernen im Fachunterricht sieben Projekte zur empirischen Unter-

    richtsforschung, in: Rahm/Mammes/Schratz(Hrsg.) Schulpdagogische Forschung, Bd.1, Innsbruck

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