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BAU MEISTER B6 111. Jahrgang Das Architektur-Magazin Juni 2014 BÜHNE VENEDIG PRINZIP BIENNALE / kuratiert von TUMLAR/ Stephan Trüby D 15 EURO A,L 17 EURO CH 23 SFR

Baumeister Leseprobe 6/2014

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Ba um e i s t e r

B6 111. JahrgangDas architektur-magazinJuni 2014

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6: Is this modern?

Vor vier Jahren forderte der damalige Präsident der Bundesarchitektenkammer einen neuen Deutschen Pavillon für die Giardini. Jetzt hat der Werkbund 25 Architekten um Ideen dazu gebeten und stellt sie unter dem Titel „this is modern“ in Venedig aus. Hier ausgewählte Entwürfe – und ein eher skep-tischer Kommentar von Muck Petzet

6 a Ab 8. Juni werden die Ideen für einen neuen deutschen Pavillon im Palazzo Ca‘Tron am Canal Grande ausgestellt. Entwurf von Arno Brandlhuber

6 b Modell des Bonner Architekten Uwe Schröder

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6 f Jürgen Mayer H., Berlin6 g Jan Kleihues, Berlin6 h Hild und K, München

6 c Stefan Behnisch, Stuttgart6 d Max Dudler, Berlin6 e Grüntuch Ernst Architekten, Berlin

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das neue. Weder das Arsenale noch der (in Teilen ebenfalls aus faschistischer Zeit stam-mende) Padiglione Centrale oder die anderen länderpavil-lons sind neutrale orte; sie for-dern zur Auseinandersetzung heraus – und zu ortsspezifi-schem Handeln.

In der Architektenschaft rumort aber immer wieder der Gedan-ke, den Pavillon zu „verbes-sern“, zu ändern oder neu zu er-schaffen. Solche Vorschläge werden gerne als Bewerbungen für eine Generalkommissaraus-schreibung – oder wie jetzt – ini-tiiert von einer renommierten Institution wie dem Werkbund erarbeitet und – auch wenn sich der Werkbund in seiner Presse-mitteilung hier auffällig zurück-

hält – mit der Hoffnung präsen-tiert, „Bewegung“ in den starren Zustand des Gebäudes zu brin-gen. Doch wozu? Sicher wäre es sinnvoll und dankbar, sich mit funktionalen Mängeln des Ge-bäudes zu beschäftigen, repa-raturen und Instandsetzungs-maßnahmen aber auch Ertüch-tigungen und mögliche Erwei-terungen als architektonisch herausragende Aufgabe zu be-greifen – dafür würde es sich lohnen, einen Wettbewerb aus-zuloben – statt wie bisher immer wieder herumzuflicken. Die Un-terkellerung eines Seitenflügels wäre denkbar, um die raumnot der im Pavillon Arbeitenden zu lösen; oder der Einbau einer in-novativen Temperierungsmög-lichkeit, etwa über Bauteilakti-vierung und Wärmepumpen.

Auch ein funktionierender Son-nenschutz und eine einfache Belüftung wären sinnvoll. Doch kann es bei all diesen Maßnah-men meines Erachtens keines-falls um eine architektonische „Überarbeitung“ oder gar Er-neuerung des Pavillons gehen – nichts noch so grandioses neu-es kann die Geschichte und Aufladung dieses speziellen orts ersetzen. Gerade das un-vollkommen Altmodische des Gebäudes macht es so offen und geeignet für alles neue. Deutschland hat in Venedig ge-nau den Pavillon, den es sich mit seiner Geschichte und mit den Anstrengungen seiner her-ausragenden Künstler verdient hat: ein widersprüchliches, durch die künstlerischen Spuren stark aufgeladenes Stück Ar-

chitektur. Es handelt sich hier – im Gegensatz zur Behauptung von Arno Sighart Schmidt – ganz explizit um ein herausragendes Denkmal der Kulturgeschichte, das mit all seinen Spuren und Zeitschichten erhalten werden sollte. Darüber hinaus bleibt der Pavillon – mit all seinen Unzu-länglichkeiten – ein großzügi-ger, alles ermöglichender, sim-pler raum mit hervorragenden Qualitäten.

Der Werkbund hat sich in seiner Geschichte sicher schon mit re-levanteren Aufgaben beschäf-tigt als mit dem Gedankenspiel, den Deutschen Pavillon als „baufällig“ zu erklären – nur um eine leistungsschau unter-schiedlicher Entwurfsansätze zu erzeugen.

Zur Ausstellung in Venedig

„this is modern“

„Der Deutsche Werkbund Berlin zeigt anlässlich der 14. Archi-tektur-Biennale in Venedig im Palazzo Ca’Tron am Canal Grande eine Ausstellung zur fragestellung heutiger moderner Architektur und Gestaltung. 25 in der öffentli-chen rezeption besonders präsente Architekturbüros aus Deutschland wurden gebeten, ihre Position und Haltung zu einer Entwurfsaufgabe darzule-gen. Die Aufgabe bestand in einer Auseinandersetzung mit dem Deutschen Pavillon in Venedig, dessen Abriss vor eini-gen Jahren vom Präsidenten der Bundesarchitektenkammer gefordert wurde. Gedanklich wurde jetzt das Gebäude als baufällig eingestuft und den Architekten so die Möglichkeit eines neubaus an gleicher Stelle eingeräumt.22 Büros präsentieren ab dem 8. Juni ihren je eigenen Umgang mit der Aufgabe in Plänen, Skizzen und Modellen. Die Arbeiten geben einen Einblick in das zeitgenössische Verständnis der Bewältigung einer architektonischen Entwurfsaufgabe.“

Deutscher Werkbund Berlin

Buchtipp

„Die deutschen Beiträge zur Biennale Venedig 1895 – 2007“

Institut für Auslands-beziehungen,Ursula Zeller (Hg.) 400 Seiten,Hardcover,zahlreiche Abbildungen, 34,90 EuroISBn 978-3-8321-9016-3DuMont Buchverlag,Köln 2007

Der Band stellt die vielseitige 112-jährige Kunst- und Aus stellungsgeschichte des Deutschen Pavillons in Venedig vor: eine aufschluss reiche bebilderte Chronologie.

Muck Petzet war 2012 Generalkommissar des Deutschen Pavillons der Archi-tekturbiennale in Venedig. nach seinem Studium an der TU München und HdK Berlin arbeitete er zunächst als Architekt bei Herzog & de Meuron. Basel. Seit 1993 leitet er mit unterschied-lichen Partnern ein eigenes Büro in München, seit 2012 mit Andreas ferstl. Ab 2012 lehrt er „Architektur als ressource“ am lehr-stuhl für Entwerfen und Denkmalpflege an der TU München.

Mut zum WidersprüchlichenEin Kommentar von Muck Petzet

„Der Pavillon“, erklärte Arno Sighart Schmid 2010, „ent-spricht so gar nicht mehr unse-rem demokratischen Selbstver-ständnis [...]. Es wird Zeit, dass wir uns vom jetzigen Gebäude mit der ausgeprägt nationalso-zialistischen Monumentalität verabschieden.“ laut Presse-mitteilung gelte „der Pavillon als schwer bespielbarer ort“ unter Kuratoren. Hinzu komme, dass er seine einmalige lage am Wasser nicht nutze: „Hier gibt es nicht einmal eine fens-teröffnung zur lagune“, be-schreibt Schmid die Situation. Die Mitteilung schließt mit dem Hinweis: „Auch wenn das Haus unter italienischem Denkmal-schutz steht, sollte das keine unüberwindliche Hürde sein. Der historische Wert des Pavil-lons rechtfertigt nicht seinen Er-halt.“

Der Deutsche Pavillon in Vene-dig ist in seiner jetzigen Gestalt 1938 als Umbau des 1909 von Daniele Donghi errichteten Bayerischen Pavillons entstan-den (Bild 5 a). Ernst Haiger überformte den kleinmaßstäb-lichen, neoklassizistischen Bau vollständig in der gravitätisch-reduzierten formensprache ei-nes die großen Maßstäbe su-chenden neuklassizismus. Im Inneren entstanden – ähnlich wie beim Haus der Kunst in München – relativ neutrale, großmaßstäbliche, gut belich-tete und proportionierte räu-me. Auch die Materialisierung im Inneren mit hellem Kalk-steinboden, reduzierten Türeinfassungen und großen Putzflächen ist zurückhaltend. Dem „basilikalen“ Grundriss und der „Apsis“ im Hauptschiff, die der möglichst spektakulä-ren Inszenierung von Skulpturen der Bildhauerschule um Arno Breker diente, ist ein Bemühen um eine Überhöhung des In-halts anzumerken (Bild 5 d). 

1958 legte Arnold Bode, der Ini-tiator der Documenta, beim Auswärtigen Amt den Entwurf für einen Umbau des Pavillons vor (Bild 6 i): Der Portikus sollte geschlossen und in eine asym-

metrische fassaden-Kompositi-on einbezogen werden. Bodes Pläne zu einer Profanierung des „Kunsttempels“ als bescheide-ne, dienende Hülle wurden nicht ausgeführt, sondern nur pragmatische Änderungen wie der Abbruch einer Zwischen-wand im Hauptsaal vorgenom-men. Es blieb den Künstlern vor-behalten, sich immer wieder mit der Geschichte des Pavil-lons zu beschäftigten, ihn als Material oder Ausgangspunkt für ihre Ideen einzusetzen, wie etwa Joseph Beuys, der 1976 mit seiner „Straßenbahnhaltestel-le“ das sichtbar verfallende Gebäude durch eine Bohrung mit der lagune verband oder wie 1993 die spektakuläre Inter-vention von Hans Haacke, der den Kalksteinboden des Pavil-lons teilweise herausbrechen ließ und zu einer Schollenland-schaft aufschichtete (Bild 7 c). Auch die beiden letzten deut-schen Beiträge zeigten die Po-tenziale des Gebäudes als Aus-löser – 2009 machte liam Gillicks „Wie würden Sie sich verhalten? Eine Küchenkatze spricht“ Bodes Umbaupläne des Pavillons zum Ausgangs-punkt seiner Installation und 2011 wurde die nationalsozialis-tische Sakral-Architektur ganz direkt in eine Schlingensief-Kir-che transformiert. 

Diese gelegentlich zerstöreri-schen künstlerischen Interventi-onen wurden von der Bundes-bauverwaltung immer wieder unsichtbar gemacht und besei-tigt. Es erfolgten lediglich prag-matische Anpassungen – auch die in den neunziger Jahren von den Architekten Brandt & Bött-cher durchgeführte umfassen-de Sanierung änderte nichts Grundsätzliches an der Archi-tektur. Es wurde – nach der zer-störerischen Aktion von Hans Haacke – teilweise ein dem ori-ginalen Stein entsprechender, neuer Kalksteinboden verlegt und eine – inzwischen zum Glück wieder übertünchte – pfirsichfarbene fassung der Au-ßenwände aufgebracht, die die Strenge des Pavillons besänfti-gen sollte. Dabei wurde auch ein „Ausstellungs-Beleuch-tungssystem“ installiert – das für die nächste Ausstellung wieder abgebaut und danach nicht

mehr eingesetzt wurde. Trotz funktionaler und technischer Mängel wurde der Pavillon also bisher nicht grundlegend um-gebaut, sondern in Gestalt der dreißiger Jahre konserviert. Im „Kunsttempel“ der nazizeit gibt es nach wie vor keine Sanitär-anlagen, keine Arbeits- oder

lagermöglichkeiten – das tech-nisch so ehrgeizige und in vie-lem beispielhafte land Deutschland präsentiert sich mit einem der technisch „rück-ständigsten“ Gebäude auf der Biennale. Das benachbarte England hat gleich ein ganzes nutzgeschoss zur Verfügung, mit Abstellräumen, Verwaltung, Duschen und WCs; die Ausstel-lungsräume sind voll klimati-siert. Und die gegenüberliegen-den franzosen, mit denen man während der Kunstbiennale 2013 einen Pavillontausch voll-zog, haben zumindest neben-räume und Toiletten.Der inhaltlich und mit dem 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags begründete letztjährige deutsch-französische Pavillon-Tausch machte die ganz grund-legenden Qualitätsunterschie-de der Pavillons deutlich. für eine beeindruckende Installati-on von Anri Sala baute die fran-zösische Seite sogar eine tem-poräre Klimaanlage im Deut-schen Pavillon ein – die Dimen-sionen und freiheiten des Gebäudes wurden voll genutzt. Dagegen entfaltete im „Deutsch-besetzten“ französi-schen Pavillon eine eher kon-ventionelle Enfilade von Einzel-raumpräsentationen wenig Wir-kung: Etwa die Installation von

Ai Weiweis Hockern hätte im Deutschen Pavillon eine ande-re, eindrücklichere Wirkung ge-habt.

Während also die Kunstbienna-len den Pavillon – in seiner his-torischen und künstlerischen Aufladung, aber auch in seiner

Großzügigkeit und seinen räumlichen und materiellen Qualitäten – immer wieder überraschend neu interpretie-ren und mit seinem Potenzial nutzen, tun sich die Architekten schwerer, ein gleichermaßen souveränes wie kritisch-prag-matisches Verhältnis zu dem Bau zu finden. 2002 widmete sich mit „nextliegend“ eine Ausstellung von Studentenar-beiten der möglichen Uminter-pretation des Pavillons; 2010 entstand mit den Vorhängen im Portikus und den dunkelroten Stoffbespannungen im Zentral-raum von Sehnsucht eine naiv-unfreiwillige nähe zu einem Sa-lon der dreißiger Jahre: Der Pa-villon hat seine Tücken, er ist eben kein neutraler ort und nur die Ausstellungen, die das in-haltlich, historisch und materiell Vorhandene bewusst als Teil ih-rer Aussage und Installation be-greifen und bewältigen, können dem gerecht werden.

Einen neutralen zeitgemäßen Ausstellungsort wird man auf der Biennale in Venedig ver-geblich suchen. Diese mit der nationenkonkurrenz immer wieder als überholt totgesagte Institution lebt eben von der Antiquiertheit und dem histo-risch geprägten Hintergrund für

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15.2: Hinter der Bühne Venedigs – das Rätsel Mestre

Mestre liegt abseits vom schönen Venedig am Festland: hässlich, aber mit all seiner Industrie, dem Gewerbe, günstigem Wohnraum und der Infra-struktur auch notwendig für das Funktionieren der Lagunenstadt. Nun soll Mestre ansehn licher werden.

vonManfredo di Robilant

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„Mestre ist, was es ist. Man kann nicht so tun, als sei es etwas an-deres.“ Mit dieser kategori-schen Aussage beginnt Matthi-as Sauerbruch seine Präsentati-on über das Konzept der Archi-tekten für das M9. Das Museum für Kunst und Design des 20. Jahrhunderts (Bild 15.2 a) befin-det sich in der Nähe der Piazza Ferretto, dem historischen Kern der Stadt. Dem Architekten zu-

folge ist Mestre – im Gegensatz zur „theatralischen“ Kulisse Ve-nedigs – authentisch. Daher be-zieht sein Entwurf diese Authen-tizität ein oder kommentiert sie zumindest. Inzwischen ist das Projekt, das 2010 aus einem in-ternationalen Wettbewerb als Sieger hervorging, ausge-schrieben.Wahrscheinlich sagt der Entwurf jedoch mehr über Sauerbruch Hutton als über Mestre aus, denn es handelt sich um eine ganz pragmatische Organisati-on des Raumprogramms inner-halb skulpturenartiger Volu-men, bekleidet mit verschie-denfarbigen keramischen Pixeln. In der gleichen Präsen-tation äußert der Architekt selbst einen Wunsch, der mögli-cherweise deutlicher auf Mes- tres Authentizität hinweist: Hof-fentlich wird das neue Museum von den Einwohnern wahrge-nommen als „etwas, auf das man stolz sein kann“. Derselbe Wunsch würde auf die Einwohner Venedigs bezogen provokativ klingen, doch im Zu-sammenhang mit Mestre ist er leicht zu erfüllen. Denn Mestre ist tatsächlich das Gegenteil von Venedig. Es wurde haupt-sächlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine Ansammlung mehrstöckiger Wohnhäuser erbaut. Diese Ge-

bäude weisen einige in der ita-lienischen Architektur der Nachkriegszeit allgegenwärti-ge Elemente auf: Die gestapel-ten Balkone, Fassaden mit mo-nochromen Kacheln und Rolllä-den sind schlichtweg hässlich.Sauerbruch Hutton scheinen den anti-pittoresken Charakter Mestres als Problem zu betrach-ten. Als Konsequenz bieten sie einen Ausgleich an; dieser ba-siert auf der ästhetischen Indi- vidualität des Gebäudes sowie dessen Einbezug in die Textur der Stadt. Dazu bedienen sie sich eines archetypischen – wenn nicht sogar stereotypi-schen – pittoresken italieni-schen Stils: Eine „Piazzetta” in der Nähe des Museums soll für eine gewisse urbane Gemüt-lichkeit sorgen. Dies passt zu den Grundsätzen, die die Stadt-verwaltung (die gleiche wie in

Venedig) seit 1990 verfolgt. Da-mals wurde die nahegelegene Piazza del Ferretto in eine Fuß-gängerzone umgewandelt, de-ren Belag mit einem sehr auffäl-ligen Muster von Guido Zordan, inspiriert von Carlo Scarpa, ver-ziert wurde (Bild 15.2 b).

Fußgängerzonen: Wunsch und Wirklichkeit

Das Vorhaben, in Mestre einen Platz zu schaffen, ging einher mit der mantra-artigen Forde-rung nach Fußgängerzonen. Das Bestreben, privaten Ver-kehr aus einem Stadtzentrum zu verbannen, dessen Vitalität maßgeblich auf Autos ange-wiesen ist, ist symptomatisch für Mestre. Der anti-pittoreske Charakter der Stadt wurde als zu kompensierender Mangel betrachtet statt ihn als Potenzial

zu verstehen. Apropos Potenzi-al: Im Jahr 2009 veranstaltete der private Verein Siamo Mestre („Wir sind Mestre“) mit Unter-stützung der Stadtverwaltung einen Wettbewerb, um Vor-schläge zu sammeln, wie man die lange, belebte Via Piave,

die Hauptstraße des Stadtzent-rums, in einen überwiegend von Fußgängern genutzten Bereich umbauen könnte. Wenn auch anders als die – mit Sauer-bruchs Worten gesprochene – theatralische Herangehenswei-se an die Piazza Ferretto, stellte auch dieses Projekt die Authen-tizität Mestres in Frage. Tatsäch-lich bestand die größte Schwie-rigkeit darin, dass die Straße eine wichtige Verbindung zwi-schen dem Bahnhof und einer wichtigen Station der neuen S-Bahnlinie, der Monorotaia, ist. Die Via Piave stellt einen auf-schlussreichen Querschnitt Mestres dar: eine Reihe inkon-

sistenter, in enge Häuserblöcke gedrängte Gebäude, die zwi-schen dem frühen 20. Jahrhun-dert und den 1970er Jahren er-richtet wurden. Am Ende der Straße liegen eine Villa und ein Park aus dem 18. Jahrhundert. In diese Gegend verirrt sich nie

ein Tourist. Andererseits ge-schah es, um beim Thema Tou-risten zu bleiben, dass seit den 1950ern wegen des Massentou-rismus und des wachsenden Wunschs nach Komfort ein dra-matisch hoher Prozentsatz von Venezianern von der Lagune

aufs Festland zog. Als Folge die-ser Migration wuchs Mestre dra-matisch. Außerdem wurde das benachbarte Areal von Mar- ghera zum Industriegebiet und somit attraktiv für einen neuen Arbeiterstand. Trotz der Kombi-nation aus demografischem Druck einerseits und dem Feh-len einer bedeutsamen Ge-schichte andererseits, war Mestre für italienische Architek-ten kaum ein Ort des Experi-mentierens. Im Jahr 1958 brach-te der Wettbewerb für eine neue Stadt bei Barene di San Giuliano einige der einfluss-reichsten Beispiele ungebauter italienischer Architektur hervor.

Man verließ den neo-pittores-ken italienischen Weg, wandte sich stattdessen der Moderne zu und experimentierte mit Me-gastrukturen an der Schnittstel-le von Architektur und Städte-bau. Hier tat sich besonders Lu-dovico Quaroni hervor: Er war

Manfredo di Robilant ist Architekt, Bau- historiker und einer der Hauptakteure des 14. Architektur-biennale. Er hat an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland gelehrt und bereits zahlreiche Beiträge über Architektur in Zeitschriften und im Netz publiziert.

wenige Jahre zuvor der Kopf der Architektengruppe des mo-dernen, volksnahen, römischen Viertels Tiburtino.Einige Jahre später wurde Lu-dovico Quaroni Dekan der (mittlerweile ihm gewidmeten) architektonischen Fakultät der Hauptstadt. Der Wettbewerb für Barene jedoch geriet in eine Sackgasse, und die neue Stadt wurde nie gebaut (Bild 15.2 c). Tatsächlich stößt man in Bezug auf Mestre immer wieder auf Sackgassenprojekte. Grund dafür ist der Gegensatz zwi-schen dem Bauen mit und ohne

Architekten. Sackgassen wur-den zu Beginn des 21. Jahrhun-derts beinahe Normalität: Vor einigen Jahren fanden in der Stadt wichtige Wettbewerbe statt wie etwa zur landschaftli-che Gestaltung des Passante (Bild 15.2 d), der neuen Auto-bahn, die um das Stadtgebiet herumführt, und für zwei Sozial-wohnungsgebiete am Stadt-rand. Bis jetzt wurde keines dieser Projekte umgesetzt. 2012 wurde auch Gehrys Entwurf für das „Gateway Venedig“ am Marco-Polo-Flughafen das im Jahr

2003 vorgestellt worden war, aufgegeben. Noch schneller wurden die Planungen zur Sa-nierung des leerstehenden Ha-fens von Marghera verworfen. Der in Venetien geborene Mo-dedesigner Pierre Cardin hatte dafür im Jahr 2012 ein Hoch-haus entworfen. Die Gebäude-höhe von 255 Metern, der kitschige, kurvenförmige Bau-körper und die an fliegende Un-tertassen erinnernden Verzie-rungen führten nicht nur zu hitzi-gen Diskussionen, sondern letz-ten Endes zur Ablehnung des Entwurfs. Es scheint als bliebe

architektonisches Experimen-tieren weiterhin in der weißen Box „Biennale“ verschlossen. Dort weiß es das internationale Publikum zu schätzen – nach-dem es das pittoreske, auf pa-radoxe Weise künstliche Vene-dig durchquert hat. Was die Umgebung und damit Mestre anbelangt, so war die Haupt-strategie bis jetzt darauf be-schränkt, dort eine pittoreske Nostalgie lediglich anzudeuten.

Aus dem Englischen von Jördis Bunse

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Zur Ausstellung „M9 oder die Transformation der Stadt“

M9 ist die Bezeichnung des Stadtteils im Zentrum von Mest-re, das sich im Umbruch befin-det. Im Mittelpunkt wird das neue Museum des 20. Jahrhun-derts stehen, außerdem ein restauriertes Kloster aus dem 17. Jahrhundert und ein Verwal-tungsbau aus den 1960ern. Neu- und Umbau stammen von den Berliner Architekten Sauerbruch Hutton.

Fondazione di Venezia,Dorsoduro, 3488/U (Rio Novo)7. Juni bis 23. November

www.fondazionedivenezia.org

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