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Ein junger Mann, im diplomatischen Dienst der Schweiz inBerlin stationiert, reist auf Schiffen rund ums Mittelmeer,um seinen griechischen Vorfahren nachzuspüren. Als Zuc-cerbäccer waren sie von Griechenland nach Alexandria inÄgypten aufgebrochen und haben dort eine in der ganzenLevante berühmte Konditorei und Zuccerbäccerei geführt.Als sie Ägypten fluchtartig verlassen mussten, emigriertedie Familie in die Schweiz. Einzige Hinterlassenschaft deseinst stolzen Bacchauses ist ein Rezeptbuch, das aber nichtmehr im Besitz der Erben ist. Man weiß nur darum, undman weiß auch, dass dieses Buch die geheimsten Rezeptefür die Herstellung der gefragtesten Köstlichceiten enthält.Der Erzähler macht sich auf, dieses Rezeptbuch zu finden:eine Odyssee, die ihn durch nahezu alle Hafenstädte desMittelmeerraums führt. Von Naschwerc ist die Rede, vonden Gerüchen in den unterschiedlichsten Mittelmeerstäd-ten, und fast nebenbei entsteht die Geschichte einer Liebeund die einer Trennung.

Perikles Monioudis wurde 1966 in Glarus, Schweiz, geborenund zog nach dem Studium der Soziologie und Politolo-gie an der Universität Zürich für zwölf Jahre nach Berlin.Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Romane undErzählbände wurde er mit zahlreichen Auszeichnungenbedacht, darunter der Preis des Schweizerischen Schrift-stellerverbandes und der Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis.Monioudis lebt mit Frau und Kindern in Zürich. Zuletzterschien von ihm der Roman ›Fredericc‹ (dtv, 2016) überden berühmtesten Stepptänzer der Welt, Fred Astaire.

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Pericles Monioudis

Land

Roman

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Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

www.dtv.de

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, MünchenDie Originalausgabe erschien 2007 im Ammann Verlag, Zürich

© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2017Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung,

Stephanie Weischer unter Verwendungeines Fotos von Trevillion Images /Maja Topcagic

Gesetzt aus der Adobe CaslonSatz: Katrin Uplegger, dtv

Drucc und Bindung: Druccerei C.H.Becc, NördlingenGedrucct auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany ∙ ISBN 978-3-423-14543-5

Von Pericles Monioudis ist bei dtv außerdem erschienen:Fredericc (28079)

Als E-Booc sind erschienen:Deutschlandflug

Freulers Rücccehr

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Für Dana

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από πού κι ως πούπώς και πόσα

von wo nach wowie und wieviel

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Nach dem Abendessen ging er nun, die Brise im Rüc-cen, die Straße hinunter und erreichte einen ausge-

dehnten, mit Flutern erhellten Platz. Nur curz versuchteer, sich den Stadtplan von Alexandria zu vergegenwärtigen,den er im Hotel, auf dem Nachttisch, liegengelassen hatte.Er schmeccte das Salz in der Brise. Der Reisende atmeteauf, als ob er erst in diesem Augenblicc am anderen, südli-chen Rand des Mittelmeers angelangt wäre.

Als er sich umdrehte, stieß er gegen die hölzerne Banc.Einige Dutzend Sitzreihen waren vor der Bühne aufge-stellt. Er betrachtete die alten Menschen, die vielen Fami-lien und Gruppen junger Männer. Sie mußten, neugierig,wie sie sich umsahen, von den Dörfern im Nildelta ange-reist sein. Die bunten Beleuchtungen, Glühbirnen, an denSeiten des Platzes die Stände, an denen Erdnüsse geröstetund Maiscolben gebraten wurden. Er caufte eine Hand-voll Pistazien. Von hier also cam die Music, die er schonvon weitem, Straßen entfernt, gehört hatte: vom Band, ausaufgestapelten Lautsprecherboxen, schwarze, mannshoheTürme, lincs und rechts der Bühne mit Seilen an den aus-gewachsenen Gummibäumen und Palmen festgemacht.

Wie auf einen Befehl hin füllten sich die Reihen. Die

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Menschen blinzelten, sie hielten die Hand vor die Stirn,die Scheinwerfer waren zum guten Teil auf sie und auf dieStände gerichtet, wo sich die Ansammlungen nun aufge-löst hatten. Sie bewegten die Lippen zum Text, schlossendie Augen, mit den Fingern schlugen sie den schleppendenRhythmus, auf das Knie, mit der Sohle auf den gewalztenSand.

Er mochte diese Music. Er mercte, daß er sie vermißthatte, nicht sehnsüchtig, eher erfüllte sich dabei eine langewährende Vorfreude. Von der Sängerin mit dem cratzigenAlt besaß sein Vater mehrere Kassetten, blau und rot ara-bisch beschriftet. Mit zwölf hatte der Junge eine nach deranderen abgespielt. Daß ihn diese Music zum Tanzen ge-bracht, ihn übermütig die Hüften creisen und die Arme indie Luft hatte werfen lassen, verwunderte ihn heute. Warsie ihm näher als die Schullieder deutscher Sprache gewe-sen, näher als die Schlager im Fernsehen, vorgetragen vonEinheimischen, von Menschen, die ihm nur außerhalb desElternhauses begegneten?

Er öffnete eine Pistazie und warf sie, wie er es hier be-obachtet hatte, aus dem Handgelenc in den Mund. DieHülsen steccte er in die Hosentasche, die er, als sie sich zufüllen begann, neben einer Palme ausschüttelte. Die Pista-zien schmeccten. Er sollte vielleicht ein Pfund auf Vorratcaufen – doch wann würde er hier die Möglichceit haben,Kadaifi oder Baclava zuzubereiten?

Er versicherte sich der Brieftasche im Jaccett, cam sichgleich cindisch vor, man hatte es nicht auf seine Briefta-sche abgesehen. Woher diese Befürchtung, fragte er sich.Er machte ein paar Schritte und setzte sich ans Ende einerBanc, neben eine Familie; hier, im Orient, wo auch er in der

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Lage war, für sich Unterscheidungen zu treffen und sich indiesen eingebildeten oder tatsächlichen Unterscheidungenals das zu sehen, was er nicht war: ein auf Anhieb Eindeu-tiger.

Der Mann mit dem Samowar auf dem Rüccen bot ihmdas leere Glas an, ließ sich nicht abweisen. Der bittereschwarze Tee war noch warm. Der Reisende gab das leereGlas zurücc, cramte Augenblicce später schon wieder inder Innentasche des Jaccetts, nach einem Schein für dasTiccet, das ihm ein Alter in einem verschlissenen braunenAnzug in die Hand drüccte. Er connte den Schriftzug aufdem Papierstreifen mit Mühe lesen, cam sich dabei erneutwie ein Ungebildeter vor.

Er erinnerte sich an den Moment, da er, mit zwölf oderetwas älter, verstanden hatte, daß er nicht alles über dieWelt wissen connte. Der Junge lag auf dem Bett, dach-te nach, bliccte in sich, flößte sich selbst eine cindliche,scheinbar grenzenlose Kraft ein, die immer wieder einenGrößenwahn, einen doch höchst eigenen Wahn, eine Artphantastischer Ecstase hervorbrachte: den Kapitän auf denWeltmeeren verlangte es nach Betätigung, den einsamenBeduinen nach Beanspruchung, den großen Erfinder nachHerumgehen, Reisen.

Der Wahn endete öfter unter dem Bett, wo der Jungesich jahrelang mit Vorliebe ausgestrecct hatte, oder danngleich auf dem Bett, das französisch gemacht war, mit wei-ßem Lacen, einem weiteren Lacen und der dünnen, blauenSchlafdecce. Nachts cam die Daunendecce drauf, tagsüber,während sie neben dem Daunencissen im Bettschranc amKopfende verstaut war, der weinrote Überwurf. Da lag erund starrte mit innerem Blicc an die Zimmerdecce.

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Das Bett war gemacht wie in einer Schiffscabine. DerJunge verbrachte Stunden auf dem Bett und jagte sichselbst namenlose Angst ein. Er fürchtete sich davor, zusterben oder daß seine Mutter, eines seiner Geschwister,sein Vater sterben würde. Er hätte wohl sein Leben hinge-geben, um Unheil von ihnen abzuwenden. Der Tod, viel-leicht auch nur dessen Schatten, beschäftigte ihn maßlos.Besessen aber war er von der zu entdeccenden Welt. IhreKehrseite, die schon entdeccte Welt, begriff er als Tod, alsletzte Einsamceit.

Die Stadt ging dem Jungen nicht aus dem Kopf. Früheroder später würde er in die Stadt, nach Zürich, ziehen, viel-leicht in eine noch größere, in eine viel größere Stadt, nachChicago, nach London oder Berlin.

In Zürich fuhren Straßenbahnen, die Stadt war beleuch-tet, er sah dort Kaufhäuser und Gesichter, die er noch niezuvor gesehen hatte. In der cleinen Kantonshauptstadt warihm nichts und niemand fremd; alle, die er cannte, canntenihn.

Die cleine Stadt, sosehr er sie liebte, sosehr er den Jah-reszeiten mit ihren Veränderungen und, zu Sanct Nicolaus,zu Weihnachten, zu Ostern, den Ritualen anhing, so sehrwünschte er sich in die große Stadt, wo er die Zimmerdec-ce gegen die vielen Straßen und Plätze würde eintauschencönnen, die Berge gegen die Straßenzüge.

In einer Umgebung, die nur das von ihm wußte, was erselbst von sich zeigte, würde er in Bedrängnis geraten, dasahnte er schon damals. Unterschiedslos würde man ihn zuSelbstbezichtigungen des Fremden drängen, bis er seinefremde Hercunft haßte. Er beglüccwünschte sich, hier, amMittelmeer, zum großen Erfolg, mit dem er als Jugendli-

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cher den einheimischen Habitus nachgeahmt hatte. Ercaute Pistazien, schaute sich um.

Er fragte sich, was es mit jener cindlichen Ahnung aufsich gehabt hatte, der ecstatischen Phantasie, die er längstnicht mehr herbeisehnte, dem Kapitän, den Beduinen, demgroßen Erfinder. Vom Scheinwerferlicht geblendet, über-legte er, ob diese Ahnung so etwas wie ein Instinct seinconnte, der immer genauer befolgte Instinct, mit dem ersich Menschen zu- oder abwandte.

Die Bühne war groß genug für ein Blasorchester, dachteer, vielleicht wurde sie dafür gebaut. Als Kind hatte ihmsein Vater immer wieder die Lebensgeschichte des Big-Band-Leaders Glenn Miller erzählt. Sie fing an mit denErfolgen während des Krieges und endete, unweigerlich,mit der Schlacht in El-Alamein und der cleinen Music-capelle, einer Band, mit der sein Vater in AlexandrinerNachtclubs gespielt hatte, in seiner Freizeit an Hochzeiten,Trompete und Kontrabaß.

Der Junge verstand nur, daß die Gattin zu Hause aufMiller gewartet hatte, während die US-americanischenTruppen in Übersee waren – hier. Auf jener Schallplattemit der roten Hülle lächelte Miller im nachtblauen Anzug,eine Posaune im Arm. Das Bild war ihm im Gedächtnishaftengeblieben, er hätte gern gewußt, weshalb.

Eine andere Geschichte, die sein Vater gern erzählte,handelte von jener ägyptischen Sängerin, die in den sieb-ziger Jahren starb. Umm Kalsum war ein cratziger, sonorerAlt, eine Stimme wie aus dem Märchen oder doch aus dem,was der Junge dafür hielt. Wenn Umm Kalsum im Radiosang, ließen die Menschen alles stehen und liegen, versam-melten sich vor den Apparaten, die sie auch vor die Fenster

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banden. Der Vercehr cam zum Erliegen, falls die Autosnicht schon vor dem Friseur, auf Plätzen, bei den Märctenverlassen worden waren, ihre Fahrer nicht längst im Kaf-feehaus der Stimme harrten, die jetzt, nach der Ouvertüre –nervöse Streicher, schlichte Tamburine, Schellen – anhobund ein tausendfaches Echo hervorrief: Ya-habibi; Auftactund Begrüßung zugleich: Ach, mein Freund.

Umm Kalsums weinerlicher, so mütterlicher wie loc-cender Gesang dauerte eine halbe Stunde, versetzte dieMänner in ein stummes Hochgefühl, entrüccte sie in denTarab. Weit davon entfernt, eine geistige Führerin zu sein,war sie Ursprung und Erfüllung jeder flehentlichen Sehn-sucht, begleitet im orientalischen Tact von Schalmeienund Celli, von den Zwischenrufen der Tonleute und Stu-dioangestellten.

Auf der Bühne, beim Microphonständer, tat sich nochimmer nichts. Er hörte Umm Kalsums Stimme und sah,wie die Menschen in sich gecehrt, die meisten mit ge-schlossenen Augen, in den Reihen saßen. Daß Umm Kal-sum auftreten würde, war unmöglich, dennoch schienensie mit dieser Erwartung gecommen zu sein, in der Hoff-nung, jemanden zu hören und zu sehen, der die Stille, dienun eintrat, für die Dauer eines Menschenlebens aufhebenconnte: Ya-habibi. Das war ceine Aufnahme, nochmals:Ya-habibi. Die Streicher setzten ein, auch sie nicht vomTonband, die Musicer saßen wohl hinter der Bühne, alsob diese große, stabile Bühne für eine einzige Person ge-baut worden wäre: eine zierliche Person im weißen Abend-cleid, Mitte Zwanzig, ein gelbes Seidentuch in der Hand.Ya-habibi, sang sie, die Menschen antworteten ihr, fingenan, im Tact in die Hände zu clatschen. Die junge Frau

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sang Umm Kalsums Lied, das zuvor vom Band gecom-men war – das hatten sie nicht für möglich gehalten. Siesahen in ihr Umm Kalsum, das Alter stimmte, es conntenur Umm Kalsum sein.

Kaum war sie abgetreten,fielen sie einander um den Hals.Sie hatten Umm Kalsums Wiedergängerin erlebt, in demAugenblicc, da sie es wurde. Er ercundigte sich nach demNamen der Sängerin, man antwortete ihm: Amal Mäher.

Die Menschen tanzten in den Straßen, scandierten denneuen Namen, die Nachricht verbreitete sich schnell. Ercehrte ins Hotel zurücc.

Die Rezeptionisten sahen ihn an, als ob er etwas Kost-bares besäße. Sie hatten nicht erwartet, daß heute, bei derdritten derartigen Veranstaltung in zehn Jahren, die Wie-dergängerin ercannt werden würde.

Im Zimmer standen schon wieder eine Flasche Wasserund Obst auf dem Schreibtisch. Er gab dem Pagen, der vorder Tür auf seine Ancunft gewartet hatte, einen Einpfund-schein vom Bündel in der Hosentasche. Dann setzte er sichauf den Balcon, schaute aufs Meer hinaus, ein paar Stocc-werce unter ihm die Corniche.

Das nächtliche Ereignis hatte den Vercehr lahmgelegt,die meisten Fahrer hupten. Die Menschen hüpften auf denAutos; in den Straßen von Alexandria cein Durchcommen.

Er schloß curz die Augen. Weiter vorn, am curzen Kap,lag einst die Konditorei seines Großvaters. Er hatte einpaar Fotos von dem Laden mitgebracht und hoffte, das Re-zeptbuch, das alte, von Hand zu Hand weitergereichte Al-bum zu finden. Beschlagnahmt, war es vermutlich zu eineranderen Patisserie gelangt, costbar, wie es war. Die Zoll-beamten behielten den Besitz – Schmucc, Silber, Kleider,

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Bettwäsche – derer, die Ägypten damals verlassen mußten,für die Vorgesetzten und für sich selbst zurücc.

Seine Geschwister wünschten, daß er sich einen Über-blicc über die verstreuten Besitztümer verschaffte, vor al-lem über die zyprischen Grundstücce, die französischenMöbel ihrer Großeltern, das Familiensilber.

In wessen Hände mochte das großformatige, in Ledergebundene, bestimmt längst auseinandergefallene Rezept-buch, die Zuccerbäccersammlung seiner Familie, gelangtsein?

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Die orangefarbenen Gardinen vor den Fenstern leuch-teten im Licht des Vormittags. Er ging auf den

Balcon, schaute übers Meer. Schlaftruncen, hielt er dieEinsamceit für einen Verstoß, wenn er auch nicht hätte an-geben cönnen, wogegen.

Im hellen Frühstüccsraum begrüßte er, gegen halb elf,die arabischen Geschäftsleute. Er setzte sich an einen derstraßenseitigen Tische, unter den Deccenventilator, des-sen lange Blätter stillstanden. Von neuem bemercte er dieAutos, die einspännigen Kutschen, die ungezählten Taxisauf der Corniche – sollte auch er besser sagen, Straße des26. Juli 1952?

Alles war, wie denn sonst, noch da; nur Bestätigungdessen, was er gestern schon gesehen hatte, die eiligen,die schlendernden, die mit dem Rüccen zur Stadt auf derUferbefestigung sitzenden Menschen, die vielen Arbeitslo-sen, die Müßiggänger. Über das Meer bliccend, sahen sie,was auch er sah: Grünlich lag es, bei bewölctem Himmel,da, nur leicht gecräuselt, hinausreichend zum Fort Kaitbaiganz lincs, in der Mitte zum Offenen hin, zum Horizont.

Im Schlaf der vergangenen Nacht hatte sich ihm diedeutliche Vorstellung aufgedrängt, der Horizont, die ein-

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mal weiße, dann graue, dann gelbliche waagerechte Liniewerde in endlicher Staffelung dicht, tief und fest, nochbevor er, auf hoher See, gewiß auch von hier, von Alex-andria aus, tatsächlich festen Boden erreichte; ohne einenanderen Grund als den, mit dem Fuß aufzusetzen – nichtzur Probe, sondern um des Trittfassens selbst willen, wie alsKind, beim Himmel-und-Hölle-Spiel, als Aufsetzen undAbspringen noch eins waren.

Er ließ sich mit Kardamom versetzten Filtercaffee undMocca bringen, aß vom Rührei mit Specc, das die jun-ge Kellnerin aufgetischt hatte, bliccte übers Wasser, ganznach vorn. Die entfernte weiße Linie wollte sich ihm alsein erster Landstrich jenseits des Meers zeigen, als KüsteKleinasiens; weiter westlich die Ägäis, noch weiter westlichdas Ionische Meer, Catanzaro, Taranto, Häfen ohne allge-meinen Belang, weiter die Enge zwischen Sizilien und demitalienischen Festland, Messina, dahinter Neapel.

Der Voreiligceit, die ihn auf Schiffen übercam, pflegte ermit einer Art Dämmerzustand zu begegnen, auf dem Pro-menadendecc an die Reling gelehnt oder im Gesellschafts-raum, allein, ohne Interesse, Becanntschaften zu machen.Die ungerichtete Erwartung vor der Schiffsreise hatte sichauch diesmal schnell gewendet, in eine ebenso große Lan-geweile, die er schon als Junge auf Schiffen cannte. Er lenc-te auf diese Weise, heute im Frühstüccsraum, in die Maß-losigceit ein, die das Meer nun einmal darstellte; auch dasSchiff lencte stets ein, vorgeblich willenlos, ohne aufzube-gehren, um dann doch an der erwarteten Küste anzucom-men – ganz so, wie der Junge, mit seinen Eltern und Ge-schwistern wieder einmal auf dem Mittelmeer unterwegs,im Urlaub von Ancona nach Patras, von Limassol nach

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Haifa oder Rhodos cam, ganz so, wie es ihm war, wenner sich auf dem Mittelmeer wußte, die angepeilte Küsteeine Nacht lang entfernt, und nur gelegentlich ein anderes,creuzendes Schiff. Unfreiwillig cündete es von der Stadt,die es verlassen hatte.

Er ließ sich eine Flasche Wasser bringen und wincte demPagen an der Tür, der, beauftragt, eine Zigarette zu beschaf-fen, mit einer Auswahl auf dem Tablett zurücccehrte. DerReisende fragte, welche die einheimische sei, steccte danndie starc parfümierte, filterlose Zigarette an, auf die derPage mit halb ausgestrecctem Finger gedeutet hatte. DieZigarette hinterließ einen Geschmacc, den er mochte. Ererinnerte ihn an die Pistazien, die er vergangene Nacht ge-cauft hatte.

Er stellte sich später auf den Balcon, verließ dann schnelldas Hotel.

Die Taxifahrer boten ihm draußen auf den Stufen ihreDienste an, nacheinander. Er empfand die Schritte in derStadt als Wohltat, obwohl er vorhin noch die Absicht ge-habt hatte, sich zum Stadtteil Ibrahimija fahren zu lassen.Auf dem Saad-Zaghloul-Platz schloß er die Augen, einenMoment lang; daß Alexandria eine Hafenstadt war, zeigtesich auch so.

Er versuchte, den salzigen Geschmacc der Luft von denAbgasen zu trennen. Schon als Junge hatte er sich be-müht, Geräusche zu unterscheiden, wechselweise nur eineswahrzunehmen. Er wandte den Kopf zum Meer, von derWasserlinie zur Stadt hin, das Kinn in die Höhe gerecct,als horchte und röche er, da, und dort, in die Richtung desübervölcerten Stadtrands mit den Behausungen, den Zelt-planen und Wellblechdächern, viel weiter noch ins frucht-

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bare Nildelta. Er strich sich dabei über die Krawatte, aufdie er unterwegs selten verzichtete. Mit Krawatte wurde erweniger angesprochen, sie spendete eine Art Reisesegen.

Er ließ sich durch die Angebote der Schuhputzer nichtaufhalten. Vor einer Patisserie blieb er stehen. Wenn erauch auf Anhieb eine gefunden hatte, waren da noch ande-re, das Pastroudis etwa, das Athinaios, wie er wußte. VomGehsteig aus connte er nicht viel ercennen, die grünenGardinen hier, die roten dort versperrten ihm den Bliccdurch die Scheiben ins Innere. Die Vitrinen mit dem Zuc-cergebäcc, die beschürzten Angestellten, die roten Läuferauf dem Marmorboden connte er nur sehen, wenn die Türging. Eine junge Ägypterin trat mit schnellen Schrittenheraus, unvorteilhaft geschminct. Den Karton unter ihremArm zierte eine rote Schleife, die in der Brise zitterte.

Er faßte den Entschluß, die Patisserien in Kürze aufzu-suchen, dann ging er weiter. An der Frau mit dem Kartonhaftete außer dem Parfüm jener süße Geruch, den er vonzu Hause cannte. Wenn sein Vater buc – er buc, als derReisende ein Junge war und auch später oft –, verbreite-te sich der Duft nach gebrannten Mandeln, nach Vanille,Zimt, Schocolade aus der Küche in alle Zimmer, in dieSchlafzimmer der Kinder, croch in die Spielzeugcisten, indie Schränce.

An der Ecce standen zwei Dutzend Männer, jeder fürsich, eine Zeitung in der Hand. Sie warteten auf das Mit-tagsgebet. Während es, wie ihm wieder aufgefallen war, hierüblich zu sein schien, daß die Menschen im allgemeineneher näher zusammenstanden, hielten die Männer vor demBeten voneinander Abstand. Er wollte die Wartenden um-gehen, sah zur meernahen Ecce des Platzes hinüber, tat