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Grandiose Ideen, Mut und Gründergeist: In zehn Porträtszeichnet Alex Capus das Leben von Männern nach, die alsPioniere, Erfinder und Unternehmer die Welt verändertenund unser Leben nachhaltig prägten.Das Rezept für einen Bouillon-Extrakt, Ende 1886 vonJulius Maggi notiert, ist bis heute streng geheim und alsMaggi-Würze legendär. Alex Capus folgt dem Mühlen-betreiber von ersten Experimenten über die unermüdlicheArbeit als Firmengründer bis zu seinem frühen Tod in denArmen einer schönen Pariserin. Er stellt den Dandy RudolfLindt vor, der Eindruck bei Damen der Gesellschaft schin-den wollte und ganz nebenbei die weltberühmte Scho-kolade erfand, und schildert wie Henri Nestlé 1867 dasMilchpulver zuliebe seiner Frau entwickelte. Mit leichterHand lässt Alex Capus zehn beeindruckende Persönlich-keiten in kurzen Geschichten lebendig werden und er-schafft dabei das einprägsame Panorama einer Epoche,in der Erfindergeist, Neugierde und Tatendrang über allestriumphierten.

Alex Capus, 1961 in Frankreich geboren, studierte Ge-schichte und Philosophie in Basel. Als Journalist schrieber für verschiedene Schweizer Tageszeitungen. Seinerersten Romanveröffentlichung ›Munzinger Pascha‹ folg-ten zahlreiche weitere, unter anderem der internationaleBestseller ›Léon und Louise‹ (2011), der für den DeutschenBuchpreis nominiert wurde. Zuletzt erschienen eine Neu-ausgabe von ›Reisen im Licht der Sterne‹ und der Roman›Das Leben ist gut‹.

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Alex Capus

Patriarchen

Über Bally, Lindt, Nestléund andere Pioniere

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Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

www.dtv.de

Der Verlag dankt allen Firmen für die zur Verfügunggestellten Abbildungen.

4. Auflage 20182017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Lizenzausgabe mit Genehmigung des Carl Hanser Verlages© Carl Hanser Verlag München 2017

Umschlaggestaltung: Isabella Grill/dtv unter Verwendungvon Fotos von gettyimages/PYMCA und akg-images/arkivi

Satz: Greiner und Reichel, KölnDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany ∙ ISBN 978-3-423-14597-8

Von Alex Capus ist bei dtv außerdem lieferbar:Mein Studium ferner Welten (13065)

Munzinger Pascha (13076)Fast ein bißchen Frühling (13167)Eigermönchundjungfrau (13227)

Glaubst du, daß es Liebe war? (13295)13 wahre Geschichten (13470)

Léon und Louise (14128)Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (14374)

Mein Nachbar Urs (14449)Reisen im Licht der Sterne (14531)

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Inhalt

VorwortSeite 9

Rudolf LindtSeite 17

Wie der schöne Berner Patriziersohn Rudolf Lindt übers Wochenende mit

Kakao hantierte, um bei den jungen Damen Eindruck zu schinden, und

wie er dabei versehentlich die beste Schokolade der Welt erfand.

Carl Franz BallySeite 33

Wie Carl Franz Bally in Paris seiner Frau gleich zwölf Paar schicke Stie-felchen kaufte, weil er ihre Schuhgröße vergessen hatte, und wie er

nach der Heimkehr die größte Schuhfabrik der Welt begründete.

Julius MaggiSeite 51

Wie der Italiener Michele Maggi in der Schweiz stolzer Besitzer einerMüllerei wurde und wie dessen Sohn Julius mit dem Maggi-Würfel die

Essgewohnheiten der Menschheit revolutionierte.

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Antoine Le CoultreSeite 69

Wie der eigenbrötlerische Uhrmacher Antoine Le Coultre im Waadtlän-der Jura die schönsten und präzisesten Zahnräder herstellte und wie

dank ihm die Schweizer Uhrenindustrie ihren Aufstieg nahm.

Henri NestléSeite 85

Wie die kinderlose Apothekergattin Clementine Nestlé eine überstei-gerte Zuneigung zu den schlecht ernährten Proletarierkindern fasste

und wie Ehemann Henri Nestlé ihr zuliebe das Milchpulver erfand.

Johann Jacob LeuSeite 99

Wie das zwinglianisch-strenggläubige Zürich im Geldreichtum zu er-sticken drohte und wie Säckelmeister Johann Jacob Leu das Problem

löste, indem er die erste moderne Bank der Schweiz begründete.

Fritz Hoffmann-La RocheSeite 115

Wie der Basler Apotheker Fritz Hoffmann-La Roche einen gänzlichwirkungslosen, aber wohlschmeckenden Hustensaft erfand und wie

daraus der größte Pharmakonzern der Welt entstand.

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Charles Brown und Walter BoveriSeite 133

Wie Charles Brown und Walter Boveri das elektrische Licht in die Welthinaustrugen und wie die Freundschaft zwischen dem Genie und dem

Kaufmann nach zwanzig Jahren in die Brüche ging.

Walter GerberSeite 153

Wie der Käsehändler Walter Gerber dem Schweizer Käse die Tropen-krankheit auszutreiben versuchte und wie ihm der schlaue AmerikanerJames Louis Kraft das Produktionsgeheimnis des Schmelzkäses entriss.

Emil BührleSeite 169

Wie der empfindsame Kunststudent Emil Bührle sich im Weltkrieg zumharten und unnahbaren Mann wandelte und wie er nach dem Friedens-schluss von Versailles zu Hitlers tüchtigstem Waffenschmied wurde.

AnhangSeite 187

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Vorwort

Meine Mutter war Grundschullehrerin – eine tüchtige,fleißige und strenge Schulmeisterin, die ihre Schüler nachKräften förderte und viel von ihnen forderte. In den Jah-ren, da ich selbst Grundschüler war, geschah es oft, dassich eine Stunde oder zwei vor ihr Schulschluss hatte. Dannsaß ich in ihrem Klassenzimmer ganz hinten in einer lee-ren Bank, las Lederstrumpf und Winnetou und wartete, biswir zusammen heimgehen konnten. Sie war damals einetemperamentvolle junge Frau, die ihren Schülern gern ausdem Stegreif Geschichten erzählte und sie zum Lachenbrachte. Sie hatte eine Schwäche für die Schwachen; ihreLieblingsschüler waren oft jene, denen die Siebnerreihebeim besten Willen nicht in den Schädel wollte. Gegen-über den Vorlauten und Frechen aber verlor sie rasch dieGeduld und konnte ziemlich laut werden; warfen die Jungsaus der hintersten Reihe Papierkügelchen, so erwiderte siedas Feuer mit Schwämmen und Kreidestücken.

Wenn sie «meine Kinder» sagte, meinte sie nicht meinenBruder und mich, sondern ihre Schüler. Ich bin mir sicher,dass sie «ihre Kinder» liebte und glücklich war, ihnen Lesenund Schreiben beizubringen. Ob sie aber auch ihren Berufliebte – ob sie wirklich mit Leib und Seele Lehrerin war –,bezweifle ich. Ich neige eher zu der Annahme, dass dasaufgeweckte Landmädchen, das sie kurz nach dem Zwei-

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ten Weltkrieg war, letztlich keine andere Wahl hatte, alsLehrerin zu werden. Gewiss hat sie das Schulamt frei-willig angetreten, und bestimmt hat niemand sie zu denvierzig Dienstjahren gezwungen, die sie mit soldatischerDisziplin absolvierte. Aber eines weiß ich ebenso sicher:Wirklich bei sich selbst war sie während der ganzen Zeitihres Erwerbslebens nie. Bei sich selbst war sie nicht alsLehrerin, auch nicht als Ehefrau und nicht als Mutter –sondern als Musikerin. Meine Mutter war und ist eine gro-ße Musikerin. Nie habe ich sie so konzentriert, so stark undselbstbewusst erlebt wie zu Hause am Klavier oder in derKirche an der Orgel. Sie spielt Bach und Haydn mit großerAutorität, stolz und unduldsam gegenüber den eigenen,seltenen Schwächen. Und wenn sie ans Ende gelangt undden Tastaturdeckel schließt, ist sie stets froh und entspanntwie sonst nie. Ich bin mir sicher, dass sie eine gefeierte Pia-nistin hätte werden können, die Konzerte auf allen fünfKontinenten gab. Dass es nicht so weit kam, lag an denIrrungen und Wirrungen des Lebens – an ihrer Herkunftund einem Mangel an Mut, der häufig den Begabtesteneigen ist; es lag an der Liebe und den Früchten, die diesetragen sollte, und es lag am Brotpreis und an der Woh-nungsnot und der unerfreulichen Tatsache, dass man Geldbraucht, wenn man leben will; vielleicht lag es auch amZeitgeist ihrer jungen Jahre, dessen Helden weder Bachnoch Haydn, sondern Elvis Presley, Roger Vadim und Bri-gitte Bardot waren; möglicherweise lag es sogar ein wenigan jenem schwarzen Renault Heck, den sie sich von ihremLehrerinnenlohn kaufte und der ihr zu zahlreichen klei-nen Fluchten verhalf. Was weiß ich. Jedenfalls lebte undlebt sie ihr Leben in Würde; und nirgends steht geschrie-ben, dass es ein glücklicheres, erfüllteres Leben gewesen

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wäre, wenn sie ihrer wahren Bestimmung hätte folgenkönnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob jeder Mensch seine Bestim-mung hat, und noch weniger, ob es wirklich wünschens-wert ist, dass jedermann – also auch jedes Scheusal – die-ser auch folgt. Aber ich weiß, dass es Menschen gibt, derenExistenz sich an einem großen Gedanken, an einer Ideekristallisiert – und die dann alles daransetzen, beispiels-weise die Sklaverei in Afrika abzuschaffen, die Welt inihrer Ganzheit zu vermessen oder den Kosmos in seinentiefsten Tiefen zu erfassen. Oder Damenstrümpfe ohneLaufmaschen zu erfinden. Solche Menschen sollte mannicht heiraten, denn sie lassen unter keinen Umständenvon ihrem Ziel ab und fordern von sich selbst und ihrenNächsten große Opfer. Aber bewundern darf man sie – dieWunderkinder genauso wie die weniger Begabten, die denFallstricken des Lebens trotzen und irgendwann den Mutzur großen, unerhörten Tat aufbringen. Es ist lehrreich undtröstlich, am Leben von Menschen teilzuhaben, die zumin-dest zeitweise ganz bei sich selbst sind. Und weil die uner-hörte Tat der Kern jeder guten Geschichte ist, kann ich mirkein größeres Vergnügen vorstellen, als rückblickend nachderen Ursprung zu forschen.

Wie kam der Apotheker Henri Nestlé dazu, sein Milch-pulver zu erfinden? Was bewog den Hosenträgerfabrikan-ten Carl Franz Bally, im ländlich abgeschiedenen Schö-nenwerd die erste und größte Schuhfabrik der Welt zugründen? Weshalb erfand Julius Maggi den Suppenwür-fel? In welchem Augenblick sprang bei Rudolf Lindt derzündende Funke? Wann und wo kristallisierte sich beiFritz Hoffmann-La Roche die Idee heraus, aus der ein in-ternationaler Konzern entstand?

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Es sind zehn Patriarchen, die ich hier portraitiere. Jedervon ihnen hatte eine Idee, jeder hat eine Entdeckung ge-macht, dank der er vom Pionier zum weltweit erfolgrei-chen Unternehmer wurde. Ich habe sie ausgewählt nachzahlreichen Kriterien, die alle gänzlich meiner Willkürunterworfen waren. Genauso gut hätte ich mich für zehnandere oder nochmal für zehn andere Namen entscheidenkönnen, habe diese auch ernsthaft erwogen, dann jedochaus unterschiedlichen Gründen verworfen. Trotz allemSuchen aber fand sich nie der Name einer Frau. Es waren,soweit ich es überblicke, immer Männer, und fast immerMänner des 19. Jahrhunderts, welche die Flaggschiffe derheutigen Ökonomie vom Stapel ließen. Die Gründerzeitwar eine ausgesprochen patriarchalische Epoche, die denFrauen ökonomisch nur zwei mögliche Rollen zudachte –jene der proletarischen Arbeitssklavin oder die der gut-bürgerlichen Braut mit opulenter Mitgift. Tatsächlich wäredie Mehrheit der hier vorgestellten Unternehmen ohne dasGeld der Schwiegerväter kaum über die Gründungsphasehinaus gediehen; und was die übrigen vier Patriarchen be-trifft, so waren sie auf das Geld der Ehefrauen nicht ange-wiesen, weil sie selber welches besaßen. Die klassische Tel-lerwäscherkarriere, so scheint es, führte im alten Europanur selten bis ganz an die Spitze der ökonomischen Nah-rungspyramide.

Vergleicht man die zehn Männer miteinander, so falleneinem viele Gemeinsamkeiten ins Auge: Alle verfügten sieüber unglaublichen Schaffensdrang, Originalität des Den-kens, unternehmerischen und politischen Weitblick sowieden unbedingten Willen, ihre Ziele durchzusetzen – wennnötig, auch skrupellos und ohne Rücksicht. Viele warenEinwanderer, manche in erster, viele in dritter oder vierter

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Generation; gut möglich, dass das Gefühl der Fremdheiteinem eigenständigen Lebensweg förderlich war. Sie um-sorgten ihre Arbeiter mit paternalistischer Güte, bekämpf-ten aber die Gewerkschaften bis aufs Messer; darin warensie Söhne ihrer Zeit. Die meisten entwickelten mit zuneh-mendem Wohlstand Sinn für die angenehmen Seiten desLebens und die schönen Künste. Jeder Einzelne von ihnenaber war unablässig getrieben von seiner Idee, die er rast-los weiterverfolgte, tagsüber im Büro und nachts in seinerTüftelbude. Gemeinsam ist den zehn Patriarchen auch,dass sich ihre Schaffenskraft irgendwann zwischen demfünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr erschöpfte. Dannentglitt den befehlsgewohnten Männern ihr zu groß ge-wordenes Lebenswerk, worauf sie schwermütig wurdenund viel zu jung starben. Nur einer von ihnen – der Pro-testant und Bankier Johann Jacob Leu – trieb sein Werkmit demütigem Arbeitsethos weiter bis ins hohe Alter.Und nur einer – der Katholik Henri Nestlé – verkaufte dieFirma frohen Mutes rechtzeitig, um den Lebensabend alsschwerreicher Mann am Genfersee in lichtdurchflutetenVillen und sechsspännigen Kutschen zu genießen.

Eine letzte Gemeinsamkeit teilen viele Patriarchen überden Tod hinaus, nämlich die Buddenbrooks-Karriere ihrerNachfolger. Oft traten die Söhne in die großen Fußstapfendes Gründers, um das Werk fortzuführen und zu erwei-tern. Ihnen folgten die Enkel, die dank der wohl gefülltenVorratskammern noch einigermaßen über die Rundenkamen. Dann verweigerten die Urenkel die Nachfolge,weshalb die Schwiegersöhne auf den Plan traten und dasUnternehmen aus Eigennutz an die Manager verkauften –was allerdings, das muss man zugeben, nicht immer zumNachteil der Firma geschah.

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Ob auch heute eine Gründerzeit ist, in der aus küh-nen Ideen große Taten werden können – ich weiß es nicht.Das zu beurteilen ist wohl nur in der Rückschau möglich,denn gute Geschichten müssen vergangen sein, wie Tho-mas Mann im Zauberberg schreibt. Je vergangener, destobesser.

Paris, 21. Januar 2006

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Rudolf Lindt

Vermutlich wollte Rudolf Lindt nur ein wenig Schokolademachen, um bei der «Jeunesse dorée» Eindruck zu schin-den. Er war ein Dandy, ein hübscher und verwöhnter Sohnvornehmer Berner Bürger und alles andere als ein Kauf-mann oder Techniker. Nie hätte der stockkonservativeJüngling sich träumen lassen, dass er mit einem revolu-tionären Verfahren die beste Schokolade der Welt her-stellen würde. Die Konkurrenz lächelte, als er im Sommer1879 im Berner Mattenquartier zwei brandbeschädigteFabriken kaufte und dort eine alte Reibmaschine und einenZylinderröster aufstellte, um nach alter Väter Sitte Kakao-fett aus den Bohnen zu pressen, den Rest zu Pulver zu ver-mahlen und beides unter Beigabe von Zucker zu einer zä-hen Paste zu verrühren, die man schließlich unter großemKraftaufwand in Tafelformen presste. Das Resultat wardas damals übliche und nach heutigen Maßstäben unge-nießbar – eine bittersüße, bröckelige Masse, die im Mundnicht schmolz, sondern sandig zerbröselte.

Die vornehmen Häuser Europas kannten die Kakaoboh-ne, seit der spanische Eroberer Hernando Cortez sie 1528aus Mexiko mitgebracht hatte. Während in Wien, Parisund Madrid schicke Schokoladestuben entstanden, in de-nen die feine Gesellschaft an ihrer heißen Schokoladenippte und dazu erlesenes Gebäck knabberte, sorgten in

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der Schweiz französische und italienische Wanderarbeiterfür die Verbreitung des Kakaos. Die fliegenden Ciocco-lattieri und Chocolatiers zerstießen die Bohnen im Mör-ser, gaben groben braunen Zucker bei und formten dasGemisch zu einer Wurst, die sie in Scheiben schnittenund auf den Jahrmärkten für ziemlich teures Geld verkauf-ten.

Dieses schlichte Handwerk verschwand, als François-Louis Cailler 1819 in Vevey eine erste, mit Wasserkraftbetriebene Schokoladenfabrik gründete, um bessere undbilligere Schokolade in großen Mengen herzustellen. 1826folgte Philipp Suchard in Neuenburg, der die Industriali-sierung weiter vorantrieb, dann Kohler 1830 in Lausanne,Sprüngli 1845 in Zürich und Klaus 1856 in Le Locle. Siealle tüftelten und probten, verfeinerten den bittersüßenGeschmack mit Vanille, Honig oder Rosenwasser und ga-ben zusätzliches Kakaofett bei, damit die bröckelige Sub-stanz sich zwischen den Zähnen nicht mehr wie trocke-ne Haferflocken anfühlte. Die Erfolge waren beachtlich;Schweizer Schokolade wurde zarter, süßer und feiner undgewann auf internationalen Messen zahlreiche Preise. Alsschließlich 1875 Daniel Peter die Milchschokolade erfand,indem er Kondensmilch zur Kakaomischung hinzufügte,hatten die Schweizer Chocolatiers ihren Spitzenplatz aufdem Weltmarkt erobert.

Der Markt war gesättigt und die Konkurrenz groß, als1879 der vierundzwanzigjährige Rudolf Lindt auf den Plantrat. Er war der älteste Spross einer angesehenen Bernbur-ger Apotheker- und Ärztefamilie, deren Stammvater 1768aus Hessen eingewandert war. Wer ihn kannte, beschriebihn als schönen und feinsinnigen, aber auch hochfahren-den und starrköpfigen jungen Mann. Dass Rudolf Lindt

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sich in der Jugend als brillanter Student, fleißiger Arbeiteroder furchtloser Abenteurer hervorgetan hätte, ist nichtbekannt. Verbürgt ist lediglich, dass er eine Vorliebe für dieJagd und die schönen Künste hatte und dass er als Acht-zehnjähriger zwei Lehrjahre in der Schokoladenfabrik sei-nes Onkels Charles Kohler in Lausanne verbrachte, der ihmzum Abschied dreihundert Franken schenkte. Ob aberKohler dem Neffen das Geld in Anerkennung der geleiste-ten Dienste gab oder nur froh war, ihn los zu sein, weißniemand. Jedenfalls erscheint es kaum vorstellbar, dassder Patriziersohn mit der weißen Stirn, den mädchenhaftvollen Lippen und den hellblauen Augen sich tatsächlichzwei Jahre lang klaglos dem harten Fabrikalltag unterzog.

Um seinem Namen einen weltläufigeren Klang zu geben,nannte der junge Fabrikant sich nicht mehr Rudolf – oderRüedu, wie man ihn in Bern wohl rief –, sondern «Ro-dolphe Lindt fils». Das edle Etikett stand in scharfem Kon-trast zur schäbigen Fabrik an der Aare, und leider warin den Anfängen auch Lindts Schokolade nicht dazu an-getan, die Berner «jeunes filles de famille» in Aufregungzu versetzen. Die altmodische Röstmaschine gab zu wenigHitze ab, weshalb die Bohnen nicht recht austrocknetenund in der Mühle zu einer schmierigen Masse wurden.Presste man diese in Formen, dauerte es ewig, bis sietrocknete – und dann überzog sich das Ganze schon baldmit einem grauen Belag, der stark an Schimmel erinnerte.Rodolphe Lindt war ratlos.

Dass ihm das schimmelige Phänomen derart unerklär-lich war, lässt auf eine eher flüchtige Ausbildung in derFabrik des Onkels schließen. Denn damals wie heute wuss-te jeder Konditorlehrling, dass es sich bei dem grauenZeug um so genannten Fettreif handelte – also nicht um

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Schimmel, sondern um abgesondertes Fett. Das war zwarungefährlich, aber unschön anzuschauen und dem Ver-kauf in höchstem Grade abträglich. In der Not rief Ro-dolphe seinen Vater herbei, der ihm als Apotheker die Her-kunft des Fettreifs erklären konnte. Er riet, das Fett durchverlängertes Rühren im Längsreiber besser mit den übri-gen Zutaten zu binden.

Das tat Rodolphe denn auch.Was dann geschah, ist von Legenden umrankt und nicht

mehr zu klären. Manche behaupten, Lindt habe monate-lang getüftelt, bis er die Lösung fand; andere sagen, erhabe an einem Freitag einfach seine vom Wasserrad be-triebene Rührmaschine abzustellen vergessen, bevor er zurJagd oder einem galanten Abenteuer aufbrach, weshalbdie Schokoladenmasse drei Tage und drei Nächte lang un-unterbrochen gerührt worden sei. Wie auch immer: AlsRodolphe am Montagmorgen in die Fabrik zurückkehrte,fand er in seinem Bottich eine dunkelsamten glänzendeMasse vor, die mit herkömmlicher Schokolade keinerleiÄhnlichkeit mehr hatte. Diese Schokolade musste nichtmühevoll in die Formen hineingepresst werden, sondernließ sich ganz leicht gießen. Und wenn man sie in denMund nahm, zerstob sie nicht zu Sand, sondern zergingauf der Zunge und entfaltete eine nie gekannte Fülle köst-licher Aromen.

Rodolphe Lindt wusste sofort, dass er eine große Ent-deckung gemacht hatte. Was die anderen herstellten, warvielleicht Schokolade. Dies hier war etwas anderes. Ertaufte seine wundersame Kreation «Chocolat fondant» –schmelzende Schokolade. Dass man die Schokolade sehr,sehr lange rühren muss – das war Rodolphe Lindts ganzesGeheimnis. Dass er das zwanzig Jahre lang vor der neu-

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