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1 Begleitmaterial zu Gotthold Ephraim Lessing NATHAN DER WEISE Regie: Jochen Strauch Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert Musik- und Sounddesign: Matthias Schubert Dramaturgie: Saskia Zinsser-Krys Mit: Simon Ahlborn, Anna Gesewsky, Carolin Karnuth, Julius Ohlemann, Helmut Rühl, Johannes Simons, Jördis Wölk

Begleitmaterial - landesbuehne-nord.de · Exposé der Konzeption „Nathan der Weise“ Jochen Strauch 5. März 2017 NATHAN DER WEISE Überzeugungsdialoge. Lesedrama. Dramatisches

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Begleitmaterialzu

Gotthold Ephraim Lessing

NATHAN DER WEISE

Regie: Jochen Strauch

Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert

Musik- und Sounddesign: Matthias Schubert

Dramaturgie: Saskia Zinsser-Krys

Mit: Simon Ahlborn, Anna Gesewsky, Carolin Karnuth, Julius

Ohlemann, Helmut Rühl, Johannes Simons, Jördis Wölk

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Inhalt

1. Exposé – NATHAN an der Landesbühne 1

2. Gotthold Ephraim Lessing2.1. Leben und Wirken2.2. Toleranz ist kein totes Wissen – Ein fiktives

Interview mit Lessing

5

7

3. NATHAN DER WEISE3.1. Entstehung und Quellen3.2. Aufnahme

815

4. Figurenkonstellation 17

5. Konkurrenz und Toleranz in Lessings „Ringparabel“ 18

6. Kreuzzüge6.1. Krieg um die Heilige Stadt6.2. Zeittafel6.3. Der Dritte Kreuzzug

242730

7. Der Krieg im Nahen Osten 36

8. NATHAN vor und nach dem 11. September 2001 50

9. Strategie der Radikalisierung 59

10. Spielszenen 64

11. Anregungen für Ihren Unterricht 71

12. Buchungsinformationen und Kontakt 74

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Exposé der Konzeption „Nathan der Weise“ Jochen Strauch 5. März 2017

NATHAN DER WEISE

Überzeugungsdialoge. Lesedrama. Dramatisches Gedicht.

„Es kann wohl sein, dass mein Nathan im Ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater

käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn einer sich mit Interesse wohl lieset und unter

tausend Lesern nur Einer draus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.“

Lessing an seinen Bruder Karl, 18.4.1779

„Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise aus dem Jahr 1779 gilt als das Aufklärungsdrama

schlechthin. Durch Überzeugungsdialoge und insbesondere die eingelagerte Erzählung der Ringparabel

gewinnt in diesem Stück ein auf Toleranz basierender Humanitätsgedanke auf beispielhafte Weise Gestalt.

Auch heute kommt dem Stück angesichts weltweiter Religionskonflikte wieder besondere Aktualität zu.

Doch hat Nathan der Weise vor allem als Lesedrama Karriere gemacht. Zu viel hehre Ideen, zu wenig

spannungsgeladene Spielhandlung - so lauten die weiterverbreiteten Bedenken gegen das Bühnenwerk.“

Prof. Ortrud Gutjahr, Theater und Universität im Gespräch, Band 11, Hamburg 2010

Landesbühne Nord Wilhelmshaven, Premiere 21.10.17 Premiere 21. Oktober 2017 !1

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Exposé der Konzeption „Nathan der Weise“ Jochen Strauch 5. März 2017

Vermächtnistext.

Lessings unspielbares Drama voller unwahrscheinlichster Handlungen, die einer

Soap-Opera den Rang ablaufen würden (verbotene Liebe unter Geschwistern,

ein nach Indien fliehender Unterhändler, erpresserische Geldgeschäfte und

intrigante Ränkespiele im Kloster) ist auch 2017 wieder das Stück der Stunde.

Während die Welt mit postfaktisch-ausgerichteter Gesinnung in die Hände

autokratischer Potentaten (Russland, Türkei, Amerika) gerät, bedroht uns aus

dem Nahen Osten exakt jener Konflikt, der nach der kritischen Aufarbeitung der

Kreuzzüge eigentlich ad acta gelegt worden war, mit einem schauerlichen, global

erschütternden und unsere aufgeklärten Werte attackierenden Comeback.

Diesmal mit ISIS als den Kreuzrittern… Lessings letztes Drama ist sozusagen

sein Vermächtnistext für eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung - und eine

aufgeklärte, tolerante Haltung als Konsens einer freien, modernen Gesellschaft

scheint heute wieder in Gefahr.

Soweit so sinnvoll. Doch wie nähern wir uns dem

Stoff an? 2017, in Wilhelmshaven?

Die gegenseitigen Zuschreibungen der Religionen (Jude,

Muselmann, Christ, Derwisch etc.) sind die Grundlagen für die

Vorurteile und Vorverurteilungen mit denen sich die Dramatis

Personae und wir mit ihnen der Welt begegnen - und die auch und

eben heute noch oder erneut die großen Konflikte und Kriege

treiben. Theatral stellt uns allerdings schon allein eine

möglicherweise antisemitisch zu bewertende Darstellung „des

Jüdischen“ vor unlösbare Herausforderungen, von den Fallstricken

der Darstellung des gefährlich-nachdenklichen Sultans ganz zu

schweigen. Und natürlich werden wir weder Krippenspiel noch

Aladdin im Wunderland erarbeiten.

Eine Textbegehung:

Wir nähern uns dem Stoff voller nachklingender Aphorismen und durchdachter dialogischer

Wendungen ganz vom Text her. Als szenische Textanalyse, als große, theatralische

Erforschung, als spielerisch-nachdenkliche Textbegehung. Wir wenden uns fokussiert den

Teilen der Handlung zu, die in Spannung zum Zentrum des Lesedramas, zur Ringparabel und

zu den religiösen Konfliktdiskursen stehen.

Die Schauspieler nähern sich dem Abend als Erzähler Ihrer Rollen und der Geschichte.

Langsam verdichten sich dann die Kostümelement zu immer geschlosseneren

Figurenansätzen. Immer wieder können Textanteile auch von der Gruppe übernommen

werden. Situative Setzungen und emotionale Vorgänge steigern sich dem Stück entsprechend

im Verlauf der Handlung. Ein Vexierspiel aus geschlossenen und offenen Setzung mit einer

„Laterna Magica“ im Zentrum - und heutigen, vielschichtigen Kostümen als Ankerpunkt

zeitgenössischer Assoziationen zu Figuren und Handlungskonstellationen.

Landesbühne Nord Wilhelmshaven, Premiere 21.10.17 Premiere 21. Oktober 2017 !2

„Was ist das für ein

Gott, der für sich

muss kämpfen

lassen?“

RECHA, III.1

„Wir müssen, müssen

Freunde sein!“

NATHAN, II.1

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Exposé der Konzeption „Nathan der Weise“ Jochen Strauch 5. März 2017

Ein Arbeitskostüm gilt es zu erfinden, das bequem und ästhetisch den Spieler unterstützt sich blank dem

Text auszuliefern. Im Verlauf der Proben gilt es zu verstehen und zu lernen, was war damals los im Nahen

Osten - was ist dort heute noch die Grundlage der Konflikte? Was war Lessings Zugriff? Warum war sein

Blick, die Perspektive des Kosmopoliten im Postkutschenzeitalter, gerade so poetisch fasziniert von

Jerusalem? Was betrifft uns heute davon noch? Aus diesen Erzählhaltungen entstehen Begegnungen und

Szenen, so dass sich die Figuren in den Schauspielern und so auch in unserer Phantasie entfalten. Die

Spieler/ Erzähler können den psychologischen Bereich ihrer Rollen auch immer wieder verlassen. Wir

werden gemeinsam diese Geschichte, dieses Märchen einer Welt erzählen, in der alle miteinander

verwandt sind. Wir sehen erstmal keinen Juden, keinen Sultan - und können deshalb umso drastischer in

die Konflikte der Sprachbilder einsteigen und als theatrale Erforschung pointieren. Zu Anfang und immer

wieder zwischendurch sehen wir heutige, „professionelle Menschen“ (wie Kortner Schauspieler nannte),

die sich in diese Welten, historisch und politisch, hineindenken, miteinander den Text hinterfragen und

argumentieren - und sich und so auch uns mit den Anschuldigungen religiöser Vorurteile konfrontieren. Auf

der Erzählebene stellen wir außerdem verschiedene szenische Analyse- und Kommentarebenen zur

Verfügung und montieren daraus eine vielschichtige

Metaebene aus Fremdem und Vertrautem. Wir

können Text fokussieren, aber auch historische

Bilder (links i.e. eine Abbildung des Saladino aus der

Dekamerone-Vorlage) aufblitzen lassen oder uns

„live nach Jerusalem“ zoomen und den Text so in

Spannung zur Gegenwart setzen. Wir nutzen den

gesamten Bühnenraum für eine vielstimmige

Erzählung. Fremdartiges und Vertrautes: darf sich

ineinander vermischen. Entsprechend haben wir

nach einem Raum gesucht, der wie eine

Erzählmaschine funktioniert: Ein Raum, der

szenische Möglichkeiten anbietet, der sich

verschließen kann und Geheimnis ausstrahlt, abweisend und offen zugleich ist, Projektionsflächen ebenso

wie Begegnungsorte birgt.

Landesbühne Nord Wilhelmshaven, Premiere 21.10.17 Premiere 21. Oktober 2017 !3

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Exposé der Konzeption „Nathan der Weise“ Jochen Strauch 5. März 2017

Erzählmaschine

Wir geben den Schauspielern Räume für spannungsgeladene, emotionale Begegnungen, die man

miteinander aufbaut und dynamisch verändern kann. Einen Raum, den die Schauspieler selber in

Bewegung bringen und so die Kontrolle über den Fortgang der Erzählung steuern. (Dabei natürlich die 1:1

Umsetzung an sämtlichen Spielorten bereits berücksichtigend mit eingebautem Licht und

Transportfähigkeit, etc.)

Je länger wir am Raum gearbeitet haben, desto klarer

wurde uns, das dieser Ansatz einen ebenso

dynamischen Umgang mit den Figuren verlangt.

Landesbühne Nord Wilhelmshaven, Premiere 21.10.17 Premiere 21. Oktober 2017 !4

Wir starten in einer uns von der Psychologie und den

historischen Vorlagen befreienden Erzählhaltung und

entwickeln mit den Schauspielern im Verlauf der

P roben d ie Gesch ich te aus den Szenen .

Entsprechend entstehen die Schichtungen der

Kostüme je nach episch-dramatischer Situation auf

der Szene.

Im Verlauf des Probenprozess werden

wir miteinander herausfinden, ob die

Annahme einer miteinander verwandten

Wel tgemeinschaf t e ine Hoffnung

stiftende Utopie ist - oder in einer

dystopisch-ironischen Soap-Opera

gipfelt… ob uns das Kerndrama der

Aufk lärung a lso heute Märchen,

T h e m e n s t e i n b r u c h o d e r

Konfliktseismograph ist.

„Imagine there’s no

countries… nothing to

kill or die for and no

religion, too / Imagine

all the people living

life in peace…“

John Lennon

„Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.“

DIE BRÜDER KARAMASOW, Fjodor Dostojewski

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2.Gotthold Ephraim Lessing2.1 Lessings Leben und Wirken

Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß,Daß alle Länder gute Menschen tragen.

Aufklärung und Toleranz sind die Werte, für die Gotthold Ephraim Lessing gestritten undgeschrieben hat. Vor 275 Jahren geboren, gehört er heute noch zu den am häufigstenaufgeführten Autoren. Mit seinem Theaterstück "Nathan der Weise" mahnt er die Toleranz derReligionen an und ist damit unverändert aktuell.

1729 wird Gotthold Ephraim Lessing in Kamenz (Oberlausitz) als zweiter Sohn des PfarrersJohann Gottfried Lessing geboren. Da er sich schon in seinen ersten Schuljahren alsaußerordentlich begabter Schüler erweist, gewährt ihm 1741 der Kurfürst von Sachsen einStipendium, das es ihm ermöglicht, die fürstliche Eliteschule St. Afra in Meißen zu besuchen.

1746, im Alter von 17 Jahren, beginnt er auf Wunsch seines Vaters das Studium der Theologie ander Universität Leipzig. Dort angekommen, verliert er schnell das Interesse am Studium und fängtan, sich mehr und mehr für das Großstadtleben zu interessieren und sich mit dem Theaterauseinanderzusetzen. Lessing wird zum Entsetzen des Vaters regelmäßiger Gast imSchauspielhaus und knüpft enge Kontakte zur progressiven Schauspieltruppe von FriederikeCaroline Neuber, die 1748 auch sein erstes Schauspiel Der junge Gelehrte zur Aufführung bringt.Er bürgt für die Gruppe, verschuldet sich und flieht vor den Geldgebern aus Leipzig.

1748 geht er nach Berlin, wo er verstärkt am literarischen Leben teilnimmt und versucht, seinenLebensunterhalt als freier Autor zu bestreiten. In Berlin lernt er den Philosophen MosesMendelssohn und den Schriftsteller und Buchhändler Friedrich Nicolai kennen, mit denen ihnfortan eine enge geistige Freundschaft verbindet. Alle teilen die aufklärerischen Werte derVernunft, Toleranz und Meinungsfreiheit.

Mendelssohn sieht sich in dieser Zeit immer wieder judenfeindlichen Angriffen ausgesetzt, gegendie ihn Lessing verteidigt. Für ihn wird der Wert eines Menschen nicht an seinerReligionszugehörigkeit, sondern an seinem aufgeklärten und vernünftigen Handeln und Verhaltenfestgemacht. Diese von den Ideen der Aufklärung geprägte Haltung zeigt sich auch in seinentheoretischen und philosophischen Schriften, in seinen literarischen Werken und journalistischenArbeiten. Das Theater sieht er als wichtigen Ort des Gedankenaustausches und der öffentlichenDiskussion moralischer Standpunkte.

1755 wird das erste deutsche Trauerspiel Miss Sara Sampson in Frankfurt an der Oderuraufgeführt. Neu ist, dass auch Figuren aus dem niederen Adel private Konflikte verhandeln unddamit die gängigen Vorstellungen und Konventionen der Tragödie unterlaufen.1758 veröffentlicht er zusammen mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn die Briefe, dieneuste Literatur betreffend. 1760 wird Lessing zum Auswärtigen Mitglied der Berliner Akademieder Wissenschaften gewählt.

Weil er als freier Schriftsteller seinen Lebensunterhalt nicht sichern kann, nimmt Lessing 1760eine Stelle als Bibliothekar in Breslau an, wechselt aber 1767 nach Hamburg, um dort am neugegründeten Nationaltheater als Dramaturg wieder unabhängig arbeiten zu können.Um Eva König, verwitwete Mutter dreier Kinder, heiraten und für den Unterhalt der Familieaufkommen zu können, geht er 1770 nach Wolfenbüttel, und tritt dort eine Stelle als Bibliothekaran. Junges DT Spielzeit 2015/16 Materialien NATHAN DER WEISE6

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1776 erhält Lessing eine Gehaltserhöhung und kann endlich heiraten. Seine Frau Eva Königbringt einen gemeinsamen Sohn zur Welt, der allerdings einen Tag nach der Geburt stirbt. ZweiWochen darauf verstirbt Eva König selbst.

Lessing bleibt weiterhin als Bibliothekar in Wolfenbüttel, weil ihm diese Stellung seine materielleGrundversorgung sichert und sie außerdem Freiheit für sein literarisches und philosophischesSchreiben lässt.Die Veröffentlichung der philosophischen Schriften des 1768 verstorbenen Hermann SamuelReimarus, in denen eine kritische, verstandes- und vernunftgesteuerte Auseinandersetzung mitder Bibel gefordert wird, erregt das Aufsehen strenggläubiger Christen und gipfelt in einemPublikationsverbot durch Lessings Dienstherren, das die Veröffentlichung weiterer theologischerSchriften untersagt.

In seinem 1779 entstandenen Drama Nathan der Weise, seinem letzten Theaterstück, greiftLessing diesen Streit noch einmal auf und spricht sich auch hier für Humanität und religiöseToleranz aus.

Am 15. Februar 1781 stirbt Lessing nach vierzehntägiger Krankheit in Braunschweig.1983 wird Nathan der Weise in Berlin uraufgeführt.

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2.2 Toleranz ist kein totes WissenEin fiktives Interview mit Lessing

Würde Gotthold Ephraim Lessing heute unter uns weilen, wäre er vielleicht ein Friedensaktivist,

der für eine NGO im Sudan arbeitet. Vielleicht wäre er auch ein avantgardistischer Schreiberling

mit Hornbrille und Jutebeutel, der sich mit anderen Kreativen ins Berliner Nachtleben stürzt, um

tags drauf weiter am großen Roman zu arbeiten. Doch was würde er zum Thema Toleranz sagen?

Für das Interview mit Karola Kallweit ist Germanist Dr. Cord-Friedrich Berghahn in die Rolle des

Hipster-Lessings geschlüpft.

Karola Kallweit: Was ist für Sie Toleranz?Dr. Cord-Friedrich Berghahn alias Lessing: Eine Haltung, mehr: ein Lebensprinzip. Kein Inhalt,

sondern ein Prozess. Lebenslang. Da gehört alles dazu: Irrtümer verzeihen, andere Wege

respektieren, fremde Ideen ernst nehmen, überkommene Urteile selber prüfen, das eigene

Denken stets und radikal beobachten. Denn nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein

Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die

Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Durch eigenes Nachdenken auf die

Wahrheit kommen heißt aber fast immer irren - da ist Toleranz die einzig mögliche Haltung.

Bei welcher Gelegenheit haben Sie sich zum letzten Mal tolerant gezeigt?

In meinem Schauspiel "Nathan, der Weise" öffentlich - da habe ich 1779 mein credo abgelegt,

mein Bekenntnis, demzufolge es auf die Praxis zwischen den Menschen, Völkern und Religionen

ankommt, nicht auf die Theorie. Und privat in meinen Gesprächen und Briefen und im Umgang

mit meinen Freunden - bis zuletzt.

Wann waren Sie das letzte Mal intolerant?

Im Kampf mit der protestantischen Orthodoxie; da habe ich meinem Gegner, dem Hauptpastor

Goeze, mitunter auch Unrecht getan. Man halte mir allerdings zugute, dass es ein mächtiger und

verbohrter Gegner war, dass ich ihn an seinem stärksten Punkte angriff und dass ich den Streit

durch Publikationsverbot büßen musste. Überhaupt: Es sei, dass noch durch keinen Streit die

Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen.

Kann man Toleranz lernen?Ja, und zwar nicht als Inhalt, sondern als Praxis. Das aber muss früh anfangen, muss früh auf

geistige Autonomie und Kritikfähigkeit zielen, denn der größte Fehler, den man bei der Erziehung

zu begehen pflegt, ist dieser, dass man die Jugend nicht zum eigenen Nachdenken gewöhnt.

Toleranz ist aber immer eine lebendige Entscheidung, kein totes Wissen.

Wo fehlt es in unserer Gesellschaft besonders an Toleranz?Überall, soweit ich sehe. Im Grunde sind die Themen, die ich zwischen 1747 und 1781

aufgegriffen habe, immer noch unerledigt, sind die Konflikte immer noch erschreckend lebendig -

zwischen den Konfessionen, den Religionen, den Geschlechtern, zwischen Reich und Arm,

Mächtigen und Ohnmächtigen. Daher sind meine Texte immer noch aktuell - und werden dies,

schaut man in die Welt, wohl auch noch lange bleiben. Es scheint mir fast, als ob es die

Aufklärung nie gegeben hätte...

Quelle: Materialmappe zu NATHAN DER WEISE, Junges DT Spielzeit 2015/16

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6. Die Kreuzzüge6.1 Krieg um die Heilige StadtJerusalem war das Ziel der meisten Kreuzritter, die sich zwischen dem 11. und 13.

Jahrhundert auf den Weg in den Nahen Osten machten. Viele von ihnen kamen erst

gar nicht in der Heiligen Stadt an. Aber selbst wenn sie die lange und beschwerliche

Reise hinter sich gebracht hatten: Das Vorhaben, Jerusalem für die Christenheit zu

erobern, war selten von Erfolg gekrönt. Oft hinterließen die Kreuzritter auf ihrem Weg

Verwüstung und Tod. Doch die blutigen Feldzüge bescherten Europa auch einen

fruchtbaren Austausch mit der orientalischen Kultur.

Die Erfolgsgeschichte des Islam

Als am 8. Juni 632 ein Mann namens Mohammed in den Armen seiner Frau Aisha

stirbt, weiß die Welt noch nicht, was für eine kraftvolle Bewegung sich in den

kommenden Jahrhunderten von der Arabischen Halbinsel aus verbreiten wird.

Besonders im fernen Europa nimmt kaum jemand Notiz vom Islam, der von

Mohammed gestifteten, neuen Religion – doch das bleibt nicht lange so.

Innerhalb weniger Jahre erobern die Moslems große Teile des Nahen Ostens und

Nordafrikas. Bis 643 haben sie unter der Führung von Kalif Omar Ibn al-Chattab unter

anderem Damaskus (im heutigen Syrien), Jerusalem, Mesopotamien, Ägypten und Teile

Persiens unter ihre Kontrolle gebracht.

Auch vor Europa macht die islamische Expansion nicht Halt. Ab 711 erobern Muslime

innerhalb weniger Jahre die Iberische Halbinsel und dringen bis nach Südfrankreich vor.

Nur ein Jahrhundert nach dem Tod des Propheten Mohammed erstreckt sich der

arabische Einfluss vom Atlantik im Westen bis ins heutige Pakistan im Osten. Auch

Jerusalem und seine für Juden, Christen und Muslime gleichermaßen bedeutenden

Wallfahrtsorte bleiben für mehrere Jahrhunderte unter muslimischem Einfluss.

Urban II. ruft zum "Heiligen Krieg" auf

Jerusalem ist für die Christen des Mittelalters neben Santiago de Compostela eine der

bedeutendsten Wallfahrtsstätten. Zahlreiche Gläubige pilgern jährlich in die Heilige

Stadt, in der Jesus Christus gestorben und auferstanden sein soll. Das können sie auch

dann noch, als Jerusalem bereits unter muslimischer Herrschaft ist.

Doch Mitte des 11. Jahrhunderts werden die Pilgerfahrten ins Heilige Land erschwert:

Die Seldschuken, ein türkischer Volksstamm, erobern große Gebiete im Nahen Osten

und bringen 1070 auch Jerusalem unter ihre Kontrolle. Mit ihrem Expansionsstreben

bringen die Seldschuken auch das christliche Byzantinische Reich in Bedrängnis, das

schließlich Papst Urban II. um Hilfe bittet.

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Im November 1095 ruft Urban II. auf dem Konzil von Clermont dazu auf, gegen die

Seldschuken in den Krieg zu ziehen und die heiligen Stätten Jerusalems wieder für

christliche Pilger zugänglich zu machen. Sein Appell hat Erfolg – zahlreiche Gläubige

fühlen sich zum "Heiligen Krieg" berufen.

Neben den religiösen Motiven ist auch die stetig steigende Bevölkerungszahl in Europa

ein Grund für die Aufbruchsstimmung. Die Teilnehmer des Kreuzzugs erhoffen sich

durch ihren Einsatz nicht nur das Seelenheil, sondern auch neue Ländereien.

Blutbad in Jerusalem

Die erste Armee, die sich nach dem Konzil von Clermont auf den Weg macht, ist ein

ungeordneter Haufen unter der Führung von populären Predigern wie Peter von Amiens.

Plündernd zieht diese Volksarmee gen Osten und verwüstet dabei unter anderem die

jüdischen Viertel von Trier, Köln und Worms. Die Reise findet ein jähes Ende, als die

Kreuzfahrer 1096 in Kleinasien vernichtend von den Seldschuken besiegt werden.

Im selben Jahr bricht eine – weit besser organisierte – Armee aus französischen,

lothringischen und normannischen Rittern zum eigentlichen ersten Kreuzzug auf. Mit

Zwischenhalt in Konstantinopel, der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, erreicht

das Heer 1099 Jerusalem und nimmt die Stadt ein. Es folgt ein Blutbad: Zahlreiche

muslimische und jüdische Bewohner, darunter auch Kinder und Frauen, werden von

den Kreuzrittern niedergemetzelt.

Nachdem die Heilige Stadt wieder in christlicher Hand ist, rufen die Kreuzfahrer im Jahr

1100 das Königreich Jerusalem aus. Erster König wird Balduin von Boulogne. Mit

Edessa, Antiochia und Tripolis entstehen drei weitere Kreuzfahrerstaaten. Als Edessa

1144 von einem muslimischen Heer erobert wird, ruft Papst Eugen III. zum zweiten

Kreuzzug auf. Doch der Feldzug ist schlecht geplant und endet 1149, Edessa bleibt in

muslimischer Hand.

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Sturm auf Jerusalem

Löwenherz versus Saladin

Auch Jerusalem wollen die Muslime den Kreuzfahrern nicht kampflos überlassen.

1187 gelingt es dem legendären Sultan Saladin, die Heilige Stadt unter seine Kontrolle

zu bringen. Papst Gregor VIII. ruft daraufhin zum dritten Kreuzzug auf – dem folgen

unter anderem Kaiser Friedrich Barbarossa, König Philipp II. von Frankreich und der

englische Herrscher Richard Löwenherz.

Doch Barbarossa stirbt noch auf dem Weg ins Heilige Land, und auch seine Mitstreiter

erreichen Jerusalem nicht. Richard Löwenherz gelingt es nur noch, einen

Waffenstillstand mit Saladin auszuhandeln.

Doch nicht nur Ritter und deren Herrscher fühlen sich zum "Heiligen Krieg" berufen.

Auch das ganz normale Volk zieht es nach Osten, wie etwa im Kinderkreuzzug von

1212. Dabei brechen allerdings nicht ausschließlich Minderjährige ins Heilige Land auf,

sondern mehrere 10.000 Besitzlose aus Frankreich und vom Niederrhein. Der

Kinderkreuzzug kommt jedoch nicht in Jerusalem an, viele Teilnehmer werden

vermutlich während der Reise gefangen genommen und als Sklaven verkauft.

Ende der Kreuzzugsbewegung

Bis zum Jahr 1270 brechen noch vier weitere Kreuzzüge in den Nahen Osten auf, doch

Erfolge bleiben meistens aus. Einzig Kaiser Friedrich II. gelingt es während des fünften

Kreuzzugs noch einmal, Jerusalem für die Christen zu gewinnen. Das Besondere daran:

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Friedrich erreicht sein Ziel mit Diplomatie. In einem Friedensvertrag mit dem

ägyptischen Sultan al-Kamil werden den Christen 1229 große Teile Jerusalems für

zehn Jahre zugesprochen.

Richtig in Schwung kommt die Kreuzzugsbewegung nicht mehr. Nach Ablauf des von

Friedrich ausgehandelten Friedensvertrages verlieren die Christen im Jahr 1244

endgültig die Kontrolle über Jerusalem, die noch verbliebenen Kreuzfahrerstaaten

halten sich nicht viel länger.

Das eigentliche Ziel, die Verteidigung Jerusalems, verfehlen die Kreuzfahrer mit ihren

blutigen Unternehmungen zwar. Doch ihre Feldzüge haben eine nicht zu

unterschätzende Bedeutung für das Kulturleben Europas. Die westliche Welt kommt

durch die Zurückkehrenden in Berührung mit der orientalischen Geisteswelt,

exotische Gewürze und Früchte werden in Europa ebenso bekannt wie das arabische

Zahlensystem, das bis heute in Gebrauch ist.

6.2 Zeittafel der Kreuzzüge

Jahr Ereignis

395 Nach der Teilung des römischen Imperiums gehört Palästina zum Oströmischen Reich.

637 Die Araber nehmen Palästina ein.

um 1000 Jerusalem-Wallfahrten werden immer beliebter. Bis 1078 haben christliche Pilgeruneingeschränkten Zutritt zu den heiligen Stätten in Jerusalem.

1046-1075 Reform der Gesamtkirche, Reformpapsttum; Abspaltung der Ostkirche.

1048 In Jerusalem gründet sich ein Hospitalbruderschaft zur Betreuung der Pilger und Pflege derKranken. Aus dieser geht später der Johanniterorden hervor. Die Tracht der Johanniter warein schwarzer, im Krieg ein roter Mantel mit weißem Kreuz. Hauptsitz der Johanniter war ab1306 Rhodos, ab 1350 Malta (daher Malteser), nach der Reformation kommt es zurOrdensspaltung. Der evangelische Zweig bestand unter dem Namen Johanniter weiter, derkatholische Zweig als Maltesterorden. Nach der Vertreibung von Malta durch Napoleon hatder Orden seinen Sitz seit 1834 in Rom. Er ist heute ein kirchlicher Oden undVölkerrechtssubjekt mit diplomatischen Beziehungen zu über 80 Ländern.

1071 Schlacht von Manzikert, die türkischen Seldschuken nehmen Anatolien, Antiochia undJerusalem ein. Auslöser für den 1. Kreuzzug.

1074 Erste Pläne für einen Kreuzzug zur Eroberung Jerusalems durch Papst Gregor VII., die Wirrendes Investiturstreits verhindern aber die Umsetzung des Vorhabens.

1078 Türkische Seldschuken erobern Syrien und auch Jerusalem. Christliche Wallfahrten nachJerusalem sind nicht mehr uneingeschränkt möglich.

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1090-1153 Bernhard von Clairvaux, geboren um 1090 auf der Burg Fontaines bei Dijon, gestorben am20. August 1153 in Clairvaux bei Troyes, mittelalterlicher Abt, Kreuzzugprediger undMystiker. Unter Ausnutzung seines diplomatischen Geschicks und seiner Redekunstarbeitete er erfolgreich am Zustandekommen des zweiten Kreuzzugs (1147-1149). Er warim nördlichen Frankreich, Flandern und in der Rheingegend für die Kreuzzüge.

1095 18. bis 28. November 1095, Synode in Clermont (Frankreich) unter Vorsitz von Papst UrbanII. Es nehmen 182 Kardinälen, Bischöfen und Äbten aus Italien, Spanien und Frankreichund eine byzantinische Gesandtschaft teil. Am 27. November 1095 hält Papst Urban II. eineRede, in der er die Volksmenge vor der Kathedrale von der Notwendigkeit eines Kreuzzugsüberzeugt. Zum Ende der Rede nehmen die ersten den Ruf auf und bitten um die Erlaubnis,ziehen zu dürfen. Papst Urban II. hält danach noch weitere Synoden in Tours und Rouen ab,um den Aufruf zum Kreuzzug zu verbreiten. Denjenigen, die den Ruf folgen, wird Ablass fürihre Sünden zugesagt. Unter dem Motto Gott will es! wird allen die ins Heilige Land ziehenversprochen, nie verwelkenden Ruhm im Himmelreich zu erlangen.

1096 Volkskreuzzug, Vorläufer des Ersten Kreuzzugs, wird auch als Bauernkreuzzug oderArmenkreuzzug bezeichnet. Er dauerte nur sechs Monate (April bis Oktober).

1096 Die muslimischen Herrscher über Jerusalem schließen die bisher allgemein zugänglichePilgerstätte im Heiligen Land.

1096 Deutscher Kreuzzug, ist Teil des Ersten Kreuzzugs, allerdings richtet er sich nicht gegenMuslime, sondern gegen Juden. Die Predigten zum Ersten Kreuzzug verursachten vielerortsauch einen Ausbruch von Antisemitismus. Bereits 1095 soll es zu einem ersten Massakergegen Juden im nordfranzösischen Rouen gegeben haben, 1096 breiteten sich dieseantisemitischen Gewaltausbrüche auch in Deutschland aus.

1096-1099 1. Kreuzzug, Ziel ist Jerusalem. Zu diesen Kreuzzug hatte Papst Urban II. 1095 aufgerufen.Er sollte die Rückeroberung Palästinas von den Moslems erreichen. Angeführt wird der 1.Kreuzzug durch Gottfried von Bouillon. Er endet 1099 mit der erfolgreichen EinnahmeJerusalems durch ein Kreuzritterherr und einem fürchterlichen Blutbad.

1097 Oktober: Die Belagerung von Antiochia beginnt, die Dürre und Hungersnot trieb dieKreuzzügler während der sieben Monate andauernden Belagerungszeit zeitweise in denKannibalismus. Juni: Antiochia wird durch Verrat eingenommen.

1099 13. Januar: Das restliche Kreuzfahrerheer bricht in Richtung Jerusalem auf. Juni: Sieerreichen Jerusalem, das sich seit 1098 unter der Herrschaft der ägyptischen Fatimidenbefindet. 13. Juni: Erster, aber erfolgloser Angriff auf Jerusalem. 15. Juli: Nach einemfünfwöchigen, verlustreichen Kampf nehmen die Kreuzfahrer Jerusalem ein. Diemuslimische und jüdische Bevölkerung Jerusalems wird umgebracht. Der christliche StaatJerusalem wird gegründet, dessen Beschützer (sein Nachfolger nannte sich schließlichKönig) wird Gottfried von Bouillon.

1099 Der christliche Ritterorden der Johanniter wird in Jerusalem gegründet. Zunächst geht derOrden karitativen Aufgaben nach und die Johanniter unterhalten verschiedene Hospitäler.Hier können sich die Pilger von den Strapazen ihrer Reise erholen. Der militärische Zweigder Johanniter wird erst später entwickelt.

1101 Kreuzzug, wurde nach dem erfolgreichen Ersten Kreuzzug organisiert. Der Kreuzzug von

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1101 war nicht sehr erfolgreich.

1109 Raimund von Toulouse errichtet an der syrischen Küste die Grafschaft Tripolis.

1120 Hugo von Payens (oder Payns), französischer Ritter gründet zusammen mit Gottfried vonSaint-Omer und sieben weiteren Rittern eine Organisation, die Straßen und die christlichenPilger sichern sollte, den Orden der armen Ritter Christi vom Tempel Salomon.

1147-1149 2. Kreuzzug, Ziel ist Jerusalem

1146 Kreuzzug gegen die Wenden, Sachsenherzog Heinrich der Löwe geht nicht mit Konrad III.auf den Zweiten Kreuzzug ins Heilige Land, sondern kämpft gegen die heidnischen Wenden(Westslawen), die in der Region zwischen Elbe und Oder bis nach Stettin siedelten.

1155 Friedrich Barbarossa wird zum Kaiser gekrönt.

1187 Schlacht von Hattin, vernichtende Niederlage für das christliche Heer bei Hattin gegenSaladin.

1187 Sultan Saladin nimmt das christliche Königreich Jerusalem, geschwächt durch innereOhnmacht und Thronwirren, ein.

1189-1192 3. Kreuzzug, Ziel ist Jerusalem. An ihm beteiligt sich auch der englische König RichardLöwenherz.

Dreijähriges Moratorium: Spielzeit von NATHAN DER WEISE

1190 Friedrich Barabarossa ertrinkt im Fluß Saleph.

1198-1216 Unter Papst Innozenz III. erreicht die päpstliche Machtstellung ihren Höhepunkt.

1199 Papst Innozenz III. bestätigt den Deutschen Orden.

1202-1204 4. Kreuzzug, am Ende wird Konstantinopel erobert und geplündert.

1209-1229 Beginn der Kreuzzüge gegen die Albigenser (Katharer) in Südfrankreich.

1212 Kinderkreuzzug

1217-1221 Kreuzzug, Ziel ist Ägypten

1228-1229 5. Kreuzzug, endet nach Verhandlungen durch einen Vertrag durch Kaiser Friedrich II. undSultan Al-Kamil.

1234 Kreuzzug gegen die Stedinger Friesen. Dem Erzbischof von Bremen ging es um die Abgabender Stedinger, die sie ihm aus politischen Gründen verweigerten. Die Aufständischenwerden bei Altenesch vernichtet. Der Rest erkennt die Forderungen an.

1244 Endgültiges Ende der Albigenserkreuzzüge.

1248-1254 6. Kreuzzug unter Ludwig IX. von Frankreich gegen Ägypten.

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1270 7. Kreuzzug unter Ludwig IX. von Frankreich, Ziel ist Tunis

1284-1285 Aragonesischer Kreuzzug

1291 Akkon, die letzte Festung der Christen im Heiligen Land, fällt. Ende der Kreuzzüge inPalästina.

1303 Die Christen geben ihre letzten Stützpunkt im Orient auf.

1309-1377 Babylonisches Exil der Päpste in avignon. Ende der päpstlichen Weltherrschaft.

1312 Der Templerorden wird durch den Papst offiziell aufgelöst.

1365 Kreuzzug gegen Alexandria, geführt von König Peter I. von Zypern

1396 Kreuzzug von Nikopolis

14.Jahrhundert

Über 50 Kreuzzüge gegen die damals heidnischen Pruzzen und Litauer. Diese Kreuzzügewurden vom Deutschen Orden Organisiert und auch als Reisen bezeichnet.

15.Jahrhundert

Insgesamt vier Kreuzzüge gegen die Hussiten, Anhänger verschiedener reformatorischerbeziehungsweise revolutionäre Bewegungen in Böhmen.

1443-1444 Kreuzzug gegen das Osmanische Reich, dieser Feldzug wird als letzter Kreuzzug eingestuft.Er scheitert in der Schlacht bei Warna.

1453 Konstantinopel fällt.

6.3 Dritter Kreuzzug

Dauer Dritter Kreuzzug: August 1189 bis Juli 1191 bzw. 1192Ziele: JerusalemAusgang: Vertrag von Ramla zwischen Saladin und Richard Löwenherz. Waffenstillstand von dreiJahren. Jerusalem blieb unter Saladins Herrschaft.Folgen: Jerusalem kann nicht erobert werden, Pilger erhalten aber Zugang. Eroberungen vonKönig Richard werden bestätigt.

Zusammenfassung

Zwischen dem Zweiten Kreuzzug und dem Dritten Kreuzzug lagen gleich mehrere Jahrzehnte. Sowar der Zweite Kreuzzug im Jahr 1149 nach mehreren Niederlagen der Kreuzfahrer im HeiligenLand zu Ende gegangen. Nach diesem Misserfolg gerieten die Kreuzfahrerstaaten immer stärkerin Bedrängnis. Bis zu einer militärischen Reaktion, dem dritten Kreuzzug dauerte es aber, erst1187 rief Papst Gregor VIII. mit der Bulle Audita tremendi dazu auf. Der Kreuzzug begann dannim Jahre 1189. Zu den drei wichtigen Anführern zählte Friedrich Barbarossa, der Kaiser desrömisch-deutschen Reichs. Aber ehe Kaiser Friedrich Barbarossa das Heilige Land erreichenkonnte, kam er ums Leben. Weitere Führer waren König Philipp II. von Frankreich sowie König

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Richard Löwenherz von England. Nur Richard Löwenherz blieb mit dem Kreuzfahrerheer bis zumEnde des Kreuzzuges im Heiligen Land.

Wichtigster und auch mächtigster Gegenspieler der Kreuzfahrer war Sultan Saladin gewesen.Nach dem er seine Feinde im muslimischen Lager besiegt hatte, widmete Saladin sich denKreuzfahrerstaaten. Mit der Schlacht von Hattin, die von Saladin gewonnen werden konnte, warder Auslöser für den 3. Kreuzzug geschaffen.

Der Kreuzzug begann zwar 1189, die englischen und französischen Kreuzfahrer erreichten abererst 1191 das Heilige Land. Bald führte nur noch Richard Löwenherz die Kreuzfahrer an, ererkannte schnell, dass eine Eroberung Jerusalems nur einen kurzzeitigen Erfolg bringen würde,da Saladin zu dieser Zeit einfach zu mächtig war.

Der dritte Kreuzzug endete schließlich im Jahre 1192 mit einem Friedensvertrag. Die Eroberungder Stadt Jerusalems durch die Kreuzfahrer gelang allerdings nicht. Immerhin sicherte derFriedensvertrag christlichen Pilgern den freien Zugang nach Jerusalem. Im Vertrag von Ramlawurden außerdem die meisten Eroberungen Richards bestätigt.

Saladin starb 1193. Richard geriet auf dem Rückweg in sein Königreich in Gefangenschaft und esdauerte bis 1194, ehe er aus der Gefangenschaft entlassen wurde.

Dritte Kreuzzug Ursachen

Aufstieg Saladin

Der Zweite Kreuzzug war gescheitert, in der Folge gerieten die immer noch existierendenKreuzfahrerstaaten stärker in Bedrängnis. Das Emirat Damaskus wurde zudem 1154 durch Nurad-Din, dem Emir von Mossul aus der Dynastie der Zengiden erobert. Er verlagerte seinenHauptsitz nach Damaskus. Im Jahre 1169 wurde Nur ad-Din gegen die Kreuzfahrer aktiv. Soschickte er den sarazenischen Feldherrn Saladin und dessen Onkel als Truppenführer einesFeldzuges gegen die Kreuzfahrer nach Ägypten. Der Feldzug hatte Erfolg. Er endete mit derBeseitigung des schiitischen Fatimiden-Kalifats von Kario durch Saladin im Jahr 1171. Saladinernannte sich zum Sultan von Ägypten und begründete damit die Dynastie der Ayyubiden. Es kamzwar zu schweren Konflikten mit Nur ad-Din, dieser starb aber 1174.

Saladin besetzte nun auch Damaskus und große Teile Syriens. Aleppo, in den Jahrzehnten zuvorein Zentrum des Widerstands gegen die Kreuzritter, wurde ebenfalls von Saladin eingenommen(1183). Drei Jahre später gelang ihm die Eroberung von Mossul. Saladin hatte seinemuslimischen Feinde nun besiegt. Er wandte sich nun den Kreuzfahrerstaaten zu, die sich nun inseiner Umklammerung befanden.

Schlacht bei Hattin und Eroberung von Jerusalem

Nach seinem Aufstieg widmete sich Saladin den Kreuzfahrern. Und so zog er Richtung Palästina.Am 4. Juli 1187 kam es zur Schlacht bei Hattin. Saladin schlug ein Kreuzfahrerheer vernichtend.Beinahe ungehinderte gelang es Saladin dann den Kreuzfahrern Städte wie Akkon zu entreißen.In der Folge eroberte er auch ein Großteil des Königreichs Jerusalem. Nach kurzer Belagerungnahmen Saladins Truppen schließlich am 2. Oktober 1187 Jerusalem selbst ein. Die Bevölkerungwurde teilweise versklavt. Nur wer ein Lösegeld aufbringen konnte, entging dem Schicksal derSklaverei. Nach der Eroberung Jerusalems kontrollierten die Kreuzfahrer nur noch Tyros, Tripolisund Antiochia. Aber auch diese Orte griff Saladin ab 1188 an.

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Bestürzung in Europa

Die Nachricht Palästinas und der Heiligen Stadt Jerusalem gelange natürlich auch nach Europa.Hier war die Bestürzung groß. Für Papst Urban III. war die Nachricht wohl zu viel, der Pontifexstarb. Die Forderung nach einem neuen Kreuzzug wurde lauter und lauter und so dauerte es nurbis zum 29. Oktober 1187 bis Papst Gregor VIII. mit der Bulle Audita tremendi zum DrittenKreuzzug aufrief. Papst Gregor VIII. starb bereits im Dezember, auch sein Nachfolger PapstClemens III. rief weiterhin zum Dritten Kreuzzug auf.

Verlauf des 3. Kreuzzugs

Einer der Anführer des 3. Kreuzzugs war Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Dieser brach bereits am11. Mai 1189 in Regensburg auf. Er stand dem vermutlich größten Kontingent vor, dass jemalsein einzelner Fürst zu einem Kreuzzug beisteuerte, vor. In Friedrichs Begleitung fanden sicheinige Vertreter des deutschen Hochadels. Im Vorfeld des Aufbruchs hatte Kaiser Friedrich mitdiversen Herrschern über freien Durchzug und Verpflegung für sein Heer auf den Weg ins HeiligeLand erfolgreich verhandelt. Das Heer zog auf dem Landweg die Donau entlang. Die Kreuzfahrerwählten die Balkanroute und zogen dann durch Kleinasien.

Im Mai 1190 kam es zur Schlacht bei Philomelion auf kleinasiatischen Boden. Zwar setzten sichdie Kreuzfahrer gegen die Türken durch, es wurde aber schwieriger für sie. Die Landschaft wargebirgig, Lebensmittel wurden knapp. Krankheiten brachen aus. Trotz dieser Hindernissegewannen die Kreuzfahrer noch die Schlacht bei Ionium gegen die Türken. Man nahm derenHauptstadt ein und erbeutete Pferde, Lasttiere und Lebensmittel. Danach zog FriedrichBarbarossa mit seinem Heer weiter. Am 10. Juni 1190 stand er kurz vor Seleucia.

Dann passierte das Unglück, Kaiser Friedrich I. Barbarossa ertrank im Fluss Saleph. Nur ein Teilder bis hierher gelangten Kreuzfahrer setzten die Reise unter Führung von Friedrichs Sohn,Friedrich von Schwaben fort. Ein großer Teil machte sich nach dem Tod Friedrichs Barbarossasauf den Heimweg.

Im Oktober 1190 erreichte der Rest von Kaiser Friedrichs Kreuzfahrerheer die belagerte StadtAkkon und schloss sich den christlichen Belagerern an. Vor Akkon starb dann am 20. Januar1191 Friedrich V. von Schwaben an den Folgen einer Malariaerkrankung. Für ihn übernahmLeopold V. von Österreich den Oberbefehl über das restliche deutsche Kontingent.

Philipp und Richard Start in den Kreuzzug

Der französische König Philipp und der englische König Richard zogen zunächst gemeinsam los.Die beiden Armeen trennten sich aber noch in Frankreich wieder. Beide erreichten dann aber imSeptember 1190 Sizilien. Hier hatte nach dem Tod von König Wilhelm II. von Sizilien Tankred vonLecce die Herrschaft übernommen und Wilhelms Ehefrau Johanna gefangen genommen. Johannawar eine Schwester Richards und so eroberte er Messina auf Sizilien und befreite seineSchwester. Das Kreuzfahrerheer überwinterte dann auf Sizilien. Im März 1191 wurde ein

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formeller Friedensvertrag zwischen Tankred, Philipp und Richard geschlossen und so konnte dieReise in Richtung Palästina weiter gehen. Die beiden Herrscher reisten weiterhin getrennt.

Richard Löwenherz erobert Zypern

Richard hatte kein Glück auf hoher See und so geriet seine Flotte vor Kreta in einen Sturm. EinTeil der Flotte wurde nach Zypern abgetrieben. Ausgerechnet Richards Kriegskasse war davonbetroffen, und auf den Schiffen hatte sich neben seiner Schwester Johanna auch seine VerlobteBerengaria von Navarra befunden. Zyperns Herrscher Kaiser Isaak Komnenos wollte die Notlageausnutzen, am Ende setzte sich aber Richard militärisch durch. Und so hatte Richard mit Zyperneine reiche Nachscubbasis für seinen Kreuzzug erobert. Zudem belegte er die Inseln mit hohenSondersteuern und ihm fiel Isaaks Staatsschatz in die Hände. Im Juni 1191 ging es dann aberweiter in Richtung Palästina.

Im Heiligen Land

Philipp landete im April 1191 in Tyros. Im Juni erreichte auch Richard Löwenherz diesen Ort imHeiligen Land. Im Oktober 1190 hatten bereits die übrig gebliebenen deutschen Kreuzfahrer dasGebiet erreicht.

Der Kampf um Akkon

Philipp und Richard schlossen sich dem Kampf um Akkon an. Die Belagerung war von Guido vonLusignan, ehemaliger König von Jerusalem, im August 1189 begonnen worden. Akkon sollte alsBasis für die Wiedererrichtung seines Königreichs dienen. Aber die Verteidiger von Akkonverteidigten sich und auch Saladin griff ein. Und so waren die Belagerer von Akkon von denTruppen Saladins eingeschlossen. Die englischen und französischen Kreuzfahrer brachten nunBewegung in den Kampf um Akkon. Mit ihren Schiffen konnte die Belagerung von See verstärktwerden. Nun brachen in Akkon Seuchen aus. Die Kreuzfahrer begannen damit die Stadtmauer zuunterminieren, der Einsturz drohte. Die Wasserversorgung war ebenfalls abgegraben worden. MitEinverständnis Saladins wurde Akkon schließlich am 12. Juni an die Kreuzfahrer übergeben. Fürdie muslimischen Bewohner der Stadt wurde ein hohes Lösegeld ausgehandelt.

Führer der Kreuzfahrer sind uneins

Nach dem Fall von Akkon wehten über der Zitadelle der Stadt nun drei Banner. Zum einen dasBanner des englischen Königs Richard Löwenherz, zum anderen natürlich auch das Banner desfranzösischen König Philipp II. und dann noch das deutsche Banner Leopold V. von Österreich,einem Herzog, der aber nach dem Tod von Friedrich von Schwaben, dem Sohn KaiserBarbarossas, den Oberbefehl über das deutsche Kontingent übernommen hatte. Da sich Leopoldals Vertreter des römisch-deutschen Kaisers ansah, beanspruchte er nicht nur den gleichen Rangwie die beiden Könige, sondern auch den gleichen Anteil an der Beute. Für Richard Löwenherzwar Leopold aber bestenfalls ein Herzog und so empörte er sich über die Anmaßung Leopolds. Daauch der militärische Anteil des ziemlich zusammengeschrumpften deutschen Kontingents an derEroberung Akkons eher unbedeutend gewesen war, verwundert es wohl nicht, dass Richard zur

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Tat schritt und das Banner Leopold von einem Knappen in den Burggraben werfen ließ. Nachdieser Demütung zog Leopold V. wenig später mit seinen Truppen nach Europa ab. Für Richardsollte dies später Folgen haben, als er auf dem Heimweg vom dritten Kreuzzug nach England denLandweg durch Europa wählte und dort festgesetzt wurde.

Streit unter den Kreuzfahrern

Der Streit unter den Kreuzfahrern hielt aber weiter an. Diesmal ging es darum, wer der zukünftigeKönig von Jerusalem werden sollte. Man einigte sich darauf, dass diese Würde zunächst Guidovon Lusignan und nach dessen Tod Konrad von Montferrat (Herr von Tyrus) inne haben sollten.Philipp II. verließ im Juli 1991 schließlich das Heilige Land und die übrigen Kreuzfahrer. Ermachte sich auf dem Rückweg nach Frankreich. Ein Großteil seines Heeres blieb bei Richard.Richard Löwenherz war nun der alleinige Oberbefehlshaber über die christlichen Truppen.

Richard lässt Gefangene enthaupten

Unterdessen strebte Konrad von Montferrat hinter Richards Rücken einen Separatfrieden mitSaladin an. Etwa die Hälfte der Gefangenen wurde vom französischen Kreuzfahrerkontingentbewacht und von Konrad als Verhandlungsmasse eines solchen Separatfriedens verwendet. Alssich die Zahlung des Lösegeld für die muslimischen Gefangenen verzögerte, ließ Richard EndeAugust 1191 ca. 2.700 muslimische Gefangene enthaupten. Durch das Massaker an denGefangenen entschied Richard den internen Konflikt für sich und demonstrierte drastisch seineEntschlossenheit. Saladins Truppen griffen darauf hin die inzwischen instandgesetzten MauernAkkons zweimal an, wurden aber abgewehrt. Dann zog Saladin seine Truppen zurück, um sie füreine Verteidigung Jerusalems aufzusparen.

Kreuzzug Richard Löwenherz und Geheimverhandlungen

Richard zog nun in Richtung Süden. Am 7. September 1191 kommt es bei Arsuf zur Schlacht mitSaladins Hauptheer. Die Kreuzfahrer kommen zu ihrem ersten Sieg seit Hattin. Von da an miedSaladins Heer die offene Feldschlacht gegen die Kreuzfahrer. Richard feiert weitere Erfolge.Richard versucht zudem eine Einigung durch Heirat. So führte er Verhandlungen mit Al-Adil, demBruder von Sultan Saladin über einen Friedensschluss. Gegenstand dieser Geheimverhandlungenwar eine Heirat zwischen Al-Adil und Johanna Plantagenet. Dem so vereinigten Paar sollte danndie Herrschaft über das Königreich Jerusalem zugesprochen werden. Eine Eroberung der Stadtdurch die Kreuzfahrer hätte sich erübrigt.

Da Saladins Bruder nicht zum christlichen Glauben übertreten wollte, scheiterten dieGeheimverhandlungen.

Richard zog zunächst weiter in Richtung Jerusalem. Dabei stellte er aber fest, dass dasHauptheer Saladins noch intakt war. Damit begann ein Umdenken. Eine Eroberung Jerusalemshätte wohl gelingen können, nur wäre die Stadt wohl kaum auf Dauer zu halten gewesen. Schonweil ein Großteil der Kreuzfahrer nach der Eroberung von Jerusalem ihr Kreuzzugsgelübde alserfüllt angesehen hätten und bald zurück nach Europa gekehrt wären. Damit wäre die christlicheStreitmacht stetig geschrumpft. Richard brach nun den Zug nach Jerusalem ab und kehrte zur

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Küste zurück. Eine unpopuläre Entscheidung. Zumindest bei den einfachen Soldaten und bei denGeistlichen und Chronisten. Mehr Zustimmung erhielt Richard hingegen bei den Adligen. Auf denSeiten der Protestler stand mit Herzog Hugo III. von Burgund, aber auch der Anführer desfranzösischen Kontingents. Er protestierte gegen den Kurswechsel und zog mit der Mehrheit derfranzösischen Kreuzfahrer nach Jaffa.

Richard marschierte weiter nach Askalon. Askalon wurde im Januar 1192 von Richard besetzt. Erblieb dort bis Juni. Angeblich soll er bei dem Wiederaufbau der von den Muslimen zerstörtenStadtmauer selbst Hand angelegt haben.

Kreuzfahrer und innere Streitigkeiten

Richard wollte den Kreuzzug wohl beenden und zurück in sein Reich kehren. Schließlich hatteihm in April 1192 die Nachricht erreicht, dass sein jüngster Bruder Johann in England den Thronbeanspruchte. Und der französische König Philipp nutzte seine Abwesenheit zu Angriffen aufenglische Lehen in Frankreich. Da ein schneller Sieg vor Jerusalem nicht möglich war, strebteRichard nun Waffenstillstandsverhandlungen mit Sultan Saladin an. Zunächst musste er sichaber Bemühen auch im inneren der Christen für Ruhe zu sorgen. Und so kassierte er dengefundenen Kompromiss darüber, dass Guido von Lusignan König von Jerusalem sein sollte undKonrad sein Erbe. Auch weil Guido sich gegen die Barone des Königreichs kaum durchsetzenkonnte. Guido wurde der Kreuzfahrerstaat Zypern zum Lehen gegeben, Konrad wurde zum neuenKönig von Jerusalem gewählt. Noch bevor Konrad von Montferrat zum neuen König vonJerusalem gekrönt werden konnte, wurde er allerdings am 28. April auf offener Straße von zweiAssassinen erstochen. Ob Richard mit den Mördern in Verbindung stand, ist ungewiss. KonradsNachfolger wurde, mit Zustimmung der Barone und Prälate des Reiches sowie Richards, HeinrichII. von Champagne, der dazu die Witwe Konrads, Isabella, heiratete.

Zur gleichen Zeit blieb auch Saladin nicht untätig. Diesem gelang es mit einem Gegenangriff Jaffazurückzuerobern. Richard gelang aber die Rückeroberung.

Friede mit Saladin Waffenstillstand

Am 2. Stepember 1192 kam es schließlich zu einem diplomatischen Abkommen zwischenRichard und Saladin. Saladin bestätigte die Eroberungen Richards an der Küste Palästinas.Allerdings mit Ausnahme der Stadt Askalon. Hier wurden die Befestigungsanlagen wiedergeschleift und die Stadt an Saladin übergeben. Wichtigster Punkt beim Vertrag von Ramla waraber, dass christlichenpilgern der freie Zugang nach Jerusalem ermöglicht wurde. Die beidenHerrscher einigten sich zudem auf einen dreijährigen Waffenstillstand.

Vertrag von Ramla und Ende 3. Kreuzzug

Der Vertrag von Ramla sah vor, dass Jerusalem unter sarazenisch/muslimische Herrschaft blieb.Die Eroberungen Richards an der Küste Palästinas wurden bestätigt (Ausnahme Askalon).Unbewaffnete christliche Pilger sollten fortan freien Zugang nach Jerusalem erhalten. Dazu kamein dreijähriger Waffenstillstand. Die Bilderhandschrift Corpus Christi um 1240 berichtet vomFriedensschluss zwischen Richard Löwenherz und Saladin.Der 3. Kreuzzug endete am 9. Oktober 1192 als Richard Löwenherz Palästina verließ.

Quellen:

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http://www.planet-wissen.de/geschichte/mittelalter/leben_im_mittelalter/pwiediekreuzzuegekriegumdieheiligestadt100.htmlhttp://www.kreuzzug.de/zeittafel_kreuzzuege/zeittafel_der_kreuzzuege.phphttp://www.kreuzzug.de/kreuzzuege/dritter-kreuzzug.php

7. Der Krieg im Nahen Osten

22. Juni 2017

Naher Osten: Warum ist da immer Krieg?Das Morden in Syrien, die Kämpfe im Irak, der ewige Konflikt um Israel – nirgends fließtheute so viel Blut wie im Nahen Osten. Das liegt daran, dass vor hundert Jahren dreiMänner gleichzeitig versuchten, die Welt zu verändern.

Von Bastian Berbner

Der "Islamische Staat" hat eine Ölquelle bei Mossul in Brand gesteckt. Seit 2003 wird dort gekämpft.© Moe Zoyari / Redux / laif

Grenzen sind eine super Sache. Egal, ob als Mauer mit Stacheldraht obendrauf, als Zaun, alsaufgeschütteter Sandwall in der Wüste oder als imaginierte Linie, sichtbar nur auf Landkarten –Grenzen sind gut, wenn sie zwei Dinge bewerkstelligen.

Wenn sie auf der einen Seite, drinnen, Menschen vereinen, die sich so ähnlich sind, dass sie sichbei der Frage einigen können: Wer soll uns regieren?

Und wenn sie auf der anderen Seite jene draußen halten, mit denen sich die Menschen drinnennie und nimmer auf eine Antwort einigen könnten.

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Ist beides erfüllt, ist eine Grenze ein Instrument der Ordnung. Wenn nicht, ist sie ein Garant derGewalt.

Latakia ist eine Stadt in Syrien. Sie liegt am Mittelmeer und hat einen schönen Strand. DiesenSommer planschen die Menschen dort wieder in der sanften Dünung und rauchen Wasserpfeife.

Auch Idlib ist eine Stadt in Syrien. Dort werden Menschen von Fassbomben zerfetzt. Im Frühjahrgingen Bilder aus einem nahe gelegenen Dorf um die Welt. Sie zeigten vergaste Kinder mitschaumigen Mündern.

Latakia und Idlib liegen nur 120 Kilometer voneinander entfernt. Beide Städte werden regiert vonBaschar al-Assad. Die Einwohner von Latakia, mehrheitlich Alawiten, finden das gut. DieBewohner von Idlib, mehrheitlich Sunniten, wollen ihn stürzen. Sie sind Menschen, die drinnensind, aber lieber draußen wären. Für sie sind die Landesgrenzen eine Gefängnismauer.

Alawiten und Sunniten haben einen Herrscher. Sie hätten lieber zwei.

Einige Hundert Kilometer weiter östlich liegt die Heimat der Kurden. Ein Land, durchzogen vonmassiven Bergkämmen, mächtigen Flüssen und schattigen Tälern – aber auch von einer Vielzahlvon Grenzen, der syrisch-türkischen Grenze, der irakisch-türkischen, der syrisch-irakischen, deriranisch-türkischen, der irakisch-iranischen.

Die Kurden leben in vier Staaten. Sie hätten lieber einen einzigen. Ein eigenes Drinnen.

In einer hügeligen Einöde mehrere Hundert Kilometer weiter südwestlich wiederum fährtMohammed Nasser Tra’ayra, 17 Jahre alt, an einem Sommertag 2016 zwei Kilometer insNachbardorf. Dort dringt er in ein Haus ein, schleicht sich ins Kinderzimmer, wo ein 13-jährigesMädchen im Bett liegt und schläft. Er sticht mit einem Messer so lange auf das Mädchen ein, bises tot ist.

Tra’ayra hat nichts gegen das Mädchen persönlich. Aber es wohnt in Kirjat Arba, einerisraelischen Siedlung im palästinensischen Westjordanland. Es ist ein politischer Mord. Er, einPalästinenser, tötet sie, eine Israelin, um ihrer Regierung eine Botschaft zu schicken: Dies istunser Land!

Wie soll eine Grenze sinnvoll in ein Drinnen und ein Draußen unterscheiden, wenn zwei Völker umdenselben Boden streiten?

Angenommen, man säße in einem Zeppelin, der hoch über Arabien schwebt. Der Blick reicht vomMittelmeer bis zum iranischen Hochland, von den Gebirgen Anatoliens bis zum Persischen Golf.Angenommen, man könnte jeden einzelnen Bewohner dort unten als winzigen Punkt sehen.

82 Millionen Iraner.

80 Millionen Türken.

38 Millionen Iraker.

28 Millionen Saudi-Araber.

17 Millionen Syrer.

8 Millionen Libanesen.

8 Millionen Jordanier.

8 Millionen Israelis.

5 Millionen Palästinenser.

Ein Bild aus 274 Millionen Pixeln. Wenn man sich weiter vorstellt, man sähe all die Menschen, diezufrieden mit den Grenzen ihres Landes und dessen Herrschaftsform sind, als weiße Pixel und

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alle, die sich danach sehnen, diese zu ändern, als schwarze – man blickte hinab auf riesigeschwarze Flächen, die sich wie Krebsgeschwüre durch die Region fräßen.

Im Westirak stellen sich die Sunniten gegen die schiitische Regierung in Bagdad. Im Osten Saudi-Arabiens hassen die Schiiten die sunnitische Regierung in Riad. Das Westjordanland, Gaza, dieKurdengebiete, der Osten Syriens: alles schwarz.

Middle East, Proche Orient, Naher Osten – egal in welcher Sprache, diese zwei Wörter werfensofort das Kopfkino an. Bärtige Terroristen, die sich in die Luft sprengen. Brennende Ölfelder.Ausgebombte Häusergerippe. Pick-ups mit aufmontierten Maschinengewehren. Krieg in Syrien.Schlachten im Irak. Kämpfe in der Türkei. Intifada in Israel. Überall Terroranschläge. In denvergangenen hundert Jahren gab es etwa 80 Kriege und Krisen im Nahen Osten. Schätzungenzufolge sind dabei 6,5 Millionen Menschen gestorben. Wahrscheinlich waren es viel mehr.

Wie konnte es dazu kommen? Warum wurde ausgerechnet der Nahe Osten zur Bühne fürBlutrunst und Gemeuchel?

Die gängige Antwort lautet: Zu viele Völker, zu viele Konfessionen auf engem Raum, aufgeheiztvon religiösem Furor. Doch das ist nur auf den ersten Blick überzeugend, wie ein schlechtes Buchmit schönem Umschlag. Wer wirklich verstehen will, warum der Krieg in diesem Teil der Welt nichtendet, muss hundert Jahre zurückblicken, in eine Zeit, in der es die gegenwärtigen Grenzen nochnicht gab, in der all das, was heute "Naher Osten" heißt, ein einziges gewaltiges Reich war, einuntergehendes.

Drei entscheidende Männer

Regiert wurde dieses Osmanische Reich aus Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, seinHerrscher nannte sich Sultan. Sieben Jahrhunderte lang lebten in dessen Imperium die Völkerund Religionen, Türken, Araber, Kurden, Muslime, Christen und Juden, verhältnismäßig friedlichzusammen. Es gab Konflikte, manchmal auch Kriege, natürlich, aber insgesamt vertrugen sie sicherstaunlich gut. Der Schlüssel war eine weitgehende Autonomie, Selbstverantwortung in einemReich ohne Grenzen.

Dann kam der Erste Weltkrieg. Unter dem Glühen der Kanonen wurden Länder eingeschmolzenund neu geformt. Reiche zerfielen, Reiche entstanden. Das galt für Europa, aber noch viel mehrfür den Orient. Aus dem Osmanischen Reich erwuchs jene Staatenwelt, deren Umrisse man heutein fast jeder Nachrichtensendung sieht.

Die Neuformung hatte nichts Zwangsläufiges. Es waren Politiker und Generale, Diplomaten undAgenten, die sie steuerten, Soldaten, die sie ausfochten, teils mit modernen Maschinengewehrenfeuernd, teils Säbel schwingend auf den Rücken von Kamelen.

Entscheidend aber waren drei Männer.

Zwei von ihnen waren Ideologen, einer war ein Opportunist. Alle drei waren sie Briten, und alledrei hatten sie sehr genaue Vorstellungen davon, welche Grenzen nach dem Krieg den NahenOsten ordnen sollten.

Leider passten diese Vorstellungen nicht zusammen.

Denkt man die Konflikte von heute Jahr um Jahr zurück in die Vergangenheit, als blättere man einDaumenkino rückwärts, so landet man am Ende immer bei diesen drei Figuren.

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Bei dem Offizier Thomas Edward Lawrence, der sich 1917 aufschwingt, eine der tragischstenHeldengeschichten der Moderne zu schreiben.

Bei dem Aristokraten Mark Sykes, über den der amerikanische Autor Scott Anderson kürzlichschrieb: "Es ist schwer, jemanden zu finden, der im 20. Jahrhundert ohne böse Absicht und ohneeine Armee mehr Verwüstung anrichtete."

Und bei dem Chemiker Chaim Weizmann, der eigentlich der Schwächste in diesem Trio hätte seinmüssen, ohne politisches Amt, ohne Geld, und der am Ende dennoch den größten Erfolg hatte.

Vielleicht würde Syrien heute nicht brennen, vielleicht hätten die Kurden einen Staat, vielleichthätte Mohammed Tra’ayra kein Mädchen erstochen, hätten diese drei Männer vor hundertJahren anders gehandelt.

Ihre gemeinsame Geschichte beginnt nicht im Nahen Osten, sondern in London, Downing Street10, am Sitz des britischen Premierministers, wo sich im Herbst 1915 die Mitglieder desKriegskabinetts über große Landkarten beugen und sich fragen: Wie verhindern wir, dass dieDeutschen den Krieg gewinnen?

Aus schlammigen Gräben kletternd, rennen die Soldaten damals an der Westfront jeden Tag aufsNeue gegeneinander an. Die Deutschen von der einen, die Briten und Franzosen von der anderenSeite, wie ein gewaltiger Menschenwolf, der Millionen Leben zermalmt. Die Frage ist: Wer hält amlängsten durch?

Die britische Regierung fürchtet: Deutschland.

Gerade ist auch noch der Sultan des Osmanischen Reiches auf deutscher Seite in den Kriegeingetreten und hat die Muslime der Welt zum Heiligen Krieg gegen die Alliierten aufgerufen. Imbritischen Kolonialreich leben Millionen Muslime.

In diesem Herbst 1915 benötigen die Strategen in London also eine Idee, dringend.

Es meldet sich der britische Hochkommissar für Ägypten. Er ist der Kolonialverwalter in Kairo, undseine Leute haben einen Plan entwickelt, der beides bewerkstelligen soll – den drohendenAufstand der Muslime ersticken und die Deutschen niederzwingen.

In Kairo lebt damals seit wenigen Wochen ein Mann, gerade mal 27 Jahre alt, gerade mal 1,65Meter groß, der trotz seiner Jugend der wahrscheinlich beste Kenner des Nahen Ostens inDiensten der britischen Regierung ist – zumindest er selbst sieht das so. Sein Name ist ThomasEdward Lawrence.

Schon als Jugendlicher wanderte Lawrence allein durch den Nahen Osten und besichtigteKreuzfahrerburgen. Später arbeitete er auf einer Ausgrabungsstätte in Syrien. In Südpalästinakartografierte er die Wüste. Er spricht fließend Arabisch, kennt Leute und Kultur, sodass ihn derGeheimdienst Seiner Majestät schnell anheuert, als der Krieg losbricht.

In den Räumen der britischen Verwaltung hat Lawrence damals eine riesige Karte desOsmanischen Reiches aufhängen lassen. Manchmal, schreibt er später, steht er minutenlangdavor, den Kopf im Nacken, grübelnd über die Dimensionen des Landes, das der Feind, derSultan in Konstantinopel, kontrolliert.

Aber kontrolliert er es wirklich?

Der Hussein-Deal

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Wenige Wochen zuvor, im Sommer 1915, ist ein Brief in Kairo eingetroffen, dessen Absendersofort das Interesse der Briten weckt – Scherif Hussein, ein Stammesführer aus Mekka, dermächtigste Mann der Arabischen Halbinsel. Hussein hatte sich mit der Herrschaft desosmanischen Sultans eigentlich arrangiert, aber wenn schon mal Krieg ist, kann man dieSituation ja zu nutzen versuchen. Hussein träumt von einem großarabischen Reich.

Er will eine Grenze ziehen, ziemlich genau dort, wo heute die türkisch-syrische verläuft. Soll derSultan doch die Türkei, die Gegend nördlich der Grenze, behalten. Das Land südlich, wo manArabisch spricht, will Hussein für sich. Es wäre ein Riesenreich, bestehend aus dem heutigenSyrien, Libanon, Irak, Israel, Palästina, Jordanien und der gesamten Arabischen Halbinsel.

In seinem Brief bietet Hussein den Briten ein Geschäft an: Er führt die Araber in eine Rebelliongegen den Sultan. Er hilft den Briten, den Krieg zu gewinnen, und dafür helfen die Briten ihm,nach dem Sieg seinen Staat zu gründen.

Lawrence’ Vorgesetzter kabelt das Angebot nach London. Die Idee ist verlockend, eine Art Gegen-Dschihad, ausgerufen von einem Mann mit weißem Rauschebart, der im Gegensatz zum Sultanden Ehrentitel Scherif führt, wie es nur direkten Nachfahren des Propheten erlaubt ist. In denbritischen Amtsstuben malen sie es sich aus: Die Araber zersetzen das Osmanische Reich voninnen und entblößen die südosteuropäische Flanke Deutschlands. Auf einmal haben es dieDeutschen mit einer dritten Front auf dem Balkan zu tun, und die zwingt sie in die Knie. Der Plankönnte den Krieg entscheiden.

Und was hat man schon zu verlieren? Ein arabischer Staat nach Kriegsende? Bis dahin kannnoch viel passieren.

London schlägt ein.

Für die Briten hat der Deal mit Hussein einen großen Vorteil: Sie müssen erst später liefern,bezahlt werden sie aber sofort. Tief im arabischen Hinterland beginnen die Vorbereitungen für dieRebellion. In Kairo ist Lawrence begeistert. Während seine Regierung den Arabern aus reinstrategischen Gründen einen Staat verspricht, findet er, dass sie ihn tatsächlich verdient haben.Lawrence verehrt die Araber. Als er als Jugendlicher mit nichts als zwei Landkarten, einer Kameraund einer Mauser-Pistole durch die Wüste lief, traf er nur auf Gastfreundschaft. Als er späterAusgrabungen leitete, hatte er echtes Interesse am Leben seiner Arbeiter. Einer von ihnen, einjunger Syrer, wurde erst sein Assistent, dann sein bester Freund.

"Dieses Land ist für Ausländer zu prächtig, um es in Worte zu fassen", schrieb Lawrence 1912 anseine Eltern. Jetzt, drei Jahre später, da sich seine Regierung zum Garanten der arabischenUnabhängigkeit gemacht hat, beschließt er, alles dafür zu tun, dass sie Wirklichkeit wird, dassHussein tatsächlich seine Grenze bekommt.

An anderer Stelle löst die Nachricht vom Hussein-Deal einen Schock aus. Im November 1915treffen in London britische Diplomaten mit François Georges-Picot zusammen, Attaché an derfranzösischen Botschaft in London. Picot ist ein Alliierter, ein Freund. Aber als die Briten ihm vomVersprechen an die Araber berichten, reagiert er mit "kompletter Ungläubigkeit", wie einTeilnehmer festhält. Nachdem so viele Franzosen gestorben seien, argumentiert Picot, könneman nicht einfach potenzielle Kriegsbeute im Nahen Osten wegschenken. "Er redete von Syrienund Palästina, als ob sie Frankreich gehörten wie die Normandie", schreibt der Teilnehmer.

Französische wie britische Außenpolitik ist damals Kolonialpolitik. Paris und London haben sichdie Welt aufgeteilt, die Franzosen herrschen in Westafrika, das britische Empire spannt sich vomOsten Afrikas über Indien bis nach Ozeanien. Dieser Krieg bietet zum ersten Mal seit Jahren eineChance zur weiteren Expansion – und Frankreich will sie nutzen.

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Picot überbringt in London eine klare Botschaft. Frankreich will Syrien, gern auch das biblischePalästina. Die Idee eines großarabischen Reiches empfindet er als lächerlich. Die Briten sindalarmiert. Einen Streit mit Frankreich können sie im Moment nicht brauchen. Die Achse Paris–London ist das Rückgrat des Krieges gegen Deutschland.

In London überlegen die Diplomaten, wie sich der Konflikt lösen lässt. Vielleicht hat dieser jungeParlamentarier namens Mark Sykes eine Idee, der sich im Nahen Osten so gut auskennt?

Sykes hat eine Landkarte dabei, als er am späten Vormittag des 16. Dezember 1915 denAmtssitz des Premierministers betritt. Sykes, 36 Jahre alt, seit fünf Jahren Abgeordneter, hat denNahen Osten bereist und ein Buch über die Region veröffentlicht. Dass vieles darin nicht stimmt,weiß niemand von denen, die ihm an diesem Morgen zuhören, nicht der Premierminister, nichtder Kriegsminister, auch nicht der aufstrebende Munitionsminister David Lloyd George.

Sykes begegnet den wichtigsten Politikern seines Landes mit dem Selbstbewusstsein desenglischen Adels. Er breitet seine Karte auf dem Tisch aus und sagt: "Ich schlage vor, eine Liniezu ziehen vom e in Acre bis zum letzten k in Kirkuk." Er fährt mit dem Finger über die Karte. Allesoberhalb der Linie solle Frankreich zufallen – das heutige Syrien, der Libanon, die Südtürkei, derNordirak. Alles unterhalb der Linie solle Großbritannien bekommen – das heutige Israel, Palästina,Jordanien, den größten Teil des Iraks und die Arabische Halbinsel.

In der Region, die Sykes’ Finger teilt, spricht nichts für eine solche Grenze. Nicht die ethnischen,nicht die religiösen Strukturen. Im Gegenteil, eine solche Grenze würde die Völker teilen, Stämmeund Familien fänden sich auf zwei Seiten einer Grenze wieder.

Lawrence von Arabien

Sykes’ Vorschlag ist kolonialer Gestus, aber er gefällt dem Premierminister. Frankreich wärebesänftigt, und es spränge auch etwas für Großbritannien heraus. Natürlich weiß der Premier,

dass diese Lösung mit dem Versprechen an Husseinkollidiert. Es geht um dasselbe Land. Aber was soll er tun?Entscheidet er sich für die Araber und gegen die Franzosen,gefährdet er die Allianz gegen Deutschland. Entscheidet ersich für die Franzosen und gegen die Araber, könnten sichdiese auf die Seite des Feindes schlagen.

Der Premier will beides – und sein Mittel, um das zubekommen, ist die Geheimhaltung. Die Araber müssen janichts von der Absprache mit Frankreich erfahren. Sollte estatsächlich so weit kommen, dass sie ihren eigenen Staateinfordern – dafür müsste man erst mal den Krieggewinnen –, kann man sich immer noch etwas einfallenlassen. Frankreich ist jetzt wichtiger.

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Im Sykes-Picot-Abkommen einigten sich Briten und Franzosen 1916 auf Einflusssphären im Nahen Osten.London sollten die rot markierten Gebiete zufallen, Paris die blau markierten. Das Heilige Land sollteinternational verwaltet werden. © ZEIT-GRAFIK

Als Mark Sykes an diesem Tag Downing Street 10 verlässt, hat er das Kriegskabinett überzeugt,die britische Nahostpolitik in seine Hände zu legen. Die Minister glauben, Sykes spreche Arabischund Türkisch. Er kann weder das eine noch das andere.

Sykes ist ein Meister des Verdrehens, des Biegens und des Zurückhaltens von Informationen. Erist ein Manipulator, dem schneller Erfolg wichtiger ist als langfristige Folgen.

Fünf Tage später trifft Sykes zum ersten Mal den Franzosen Picot. In wenigen Tagen handeln sieein Dokument aus, das zerstörerische Wirkung entfalten wird. Das Sykes-Picot-Abkommen istgerade mal drei Seiten lang und enthält eine Karte des Nahen Ostens, in deren Zentrum ziemlichgenau die Linie gezogen ist, die Sykes dem Kriegskabinett vorgeschlagen hat. Oberhalb der Linieist die Fläche französisch blau eingefärbt, unterhalb ist sie britisch rot. Palästina mit seinenheiligen Stätten, darauf haben sie sich geeinigt, soll international verwaltet werden. Rechts untenan den Rand setzen die beiden ihre Unterschriften. Das Dokument ist streng geheim.

Innerhalb weniger Wochen haben die Briten ein Land, das sie erst noch erobern müssen, zweiunterschiedlichen Parteien versprochen. Es ist, als hätten sie zwei Züge auf ein Gleis gesetzt, diejetzt aufeinander zufahren. Noch liegt eine weite Strecke zwischen ihnen. Noch wäre Zeit, einender beiden Züge umzuleiten.

Zunächst scheint das dreiste Spiel zu funktionieren. Am 5. Juni 1916 erklimmt Scherif Husseineinen Turm seines Palastes in Mekka und feuert eine alte Muskete in Richtung einer türkischenFestung, so erzählen es arabische Quellen. Überall in der Region schlagen kleinere arabischeTrupps gegen osmanische Stellungen los. Es ist der Aufstand, den Hussein den Britenversprochen hat.

Auch die Allianz zwischen Frankreich und Großbritannien hält. An der Somme starten die beidenBündnispartner die größte Offensive dieses Krieges.

Die Araber vertreiben die Osmanen aus Mekka und Dschidda, dann aber bleibt der Angriffstecken. Auch an der Somme kommen die Alliierten nicht voran. Nach fünf Monaten sind eineMillion Soldaten tot, aber die Front hat sich nicht verschoben.

Während die Strategen in London die Offensive an der Westfront einstellen und nach neuenIdeen suchen, gibt in Arabien ein Mann noch nicht auf: Thomas Edward Lawrence.

Als er und seine Kollegen in Kairo vom Sykes-Picot-Abkommen erfahren, reagieren sie mit"kollektivem Brechreiz", wie er später schreibt. Er fühlt sich von seiner Regierung verraten. Wiekann sie in einer Zeit, in der der neue US-Präsident Woodrow Wilson ein Selbstbestimmungsrechtder Völker fordert, ein Abkommen schließen, das getränkt ist mit kolonialem Denken?

Lawrence beschließt kurzerhand, den Sykes-Picot-Plan zu sabotieren und den Arabern zu ihremRecht zu verhelfen. Er macht jetzt britische Außenpolitik auf eigene Rechnung. Im Oktober 1916

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fährt er nach Arabien und reitet auf dem Rücken eines Kamels, gehüllt in ein traditionellesGewand, beschützt von zwei arabischen Bodyguards, 30 Stunden durch osmanischesFeindesland. Er ist auf dem Weg zu den arabischen Rebellen, um diesen zu helfen. Er ist auf demWeg in den Krieg.

Aus Thomas Edward Lawrence wird Lawrence von Arabien.

Während sich in der Wüste eine der größten Heldengeschichten anbahnt, die das 20.Jahrhundert kennt, geschieht in London etwas, das oberflächlich betrachtet wenig mit demNahen Osten zu tun hat, in Wahrheit aber die vielleicht wichtigste Weichenstellung für die Zukunftder Region ist: Im Dezember 1916 wird David Lloyd George zum neuen Premierminister ernannt,einer der Männer, die sich ein Jahr zuvor von der Nahost-Kenntnis des Mark Sykes überzeugenließen.

Die zionistische Idee

Lloyd George soll vor allem den Krieg in Europa gewinnen, aber der neue Premier hat auch eineMeinung zum Nahen Osten. In den Jahren zuvor hat ihn immer wieder ein ziegenbärtiger Mannbesucht, der elegante Anzüge trägt und Englisch mit russischem Akzent spricht.

Der Mann ist Chaim Weizmann. Als er Lloyd George im Jahr 1914 zum ersten Mal trifft, ist er 39Jahre alt. Weizmann ist Chemiker, oder genauer: ein Chemiker mit politischem Anliegen. InRussland geboren, hat er in Deutschland studiert, in der Schweiz promoviert, seit zehn Jahrenlebt er in Großbritannien, aber ein Land fehlt noch in seinem Leben, jenes, in dem er alt werden,in dem er begraben werden will.

Das Problem ist, dieses Land gibt es noch gar nicht. Weizmann hat sich zur Lebensaufgabegemacht, es zu schaffen. Ein Land der Juden.

Weizmann ist der führende Zionist Großbritanniens, sein Ziel ist ein jüdisches Palästina. Aber dieOsmanen, die bisher über Palästina herrschen, wollten nichts davon wissen. Doch jetzt ist Krieg,und im Krieg sind die Dinge in Bewegung.

Wie Thomas Edward Lawrence, wie Mark Sykes will auch Chaim Weizmann eine Grenze ziehen.Das biblische Land zwischen Mittelmeer und Jordan soll den Juden erneut eine Heimat werden,den Menschen, die in den russischen und polnischen Ghettos unter Verfolgung leiden, aber auchden Juden in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, bei denen der allgegenwärtigeAntisemitismus ein nationales Erwachen ausgelöst hat.

Weizmann will die Briten davon überzeugen, nach dem Krieg Palästina an die Juden zuübergeben. Er macht sich an die Arbeit.

Seine Kultiviertheit hilft, auch seine einflussreichen Freunde, in den ersten Kriegsjahren findetWeizmann schnell Zugang zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen Großbritanniens, auchzum Munitionsminister Lloyd George, der gerade Verwendung für einen findigen Chemiker hat.

Lloyd George braucht Azeton. Der chemische Stoff wird zur Herstellung von Artilleriegeschosseneingesetzt. Weizmann arbeitet Tag und Nacht und ersinnt eine neue Methode, mit der sich inkurzer Zeit große Mengen Azeton herstellen lassen.

Bei jedem Gespräch mit Lloyd George schwärmt Weizmann von den Vorteilen, die ein jüdischerStaat in Palästina für Großbritannien hätte. Wäre ein solcher Judenstaat nicht ein StückLandbrücke vom britischen Ägypten ins britische Indien? Passt ein jüdisches Palästina nicht auchzum christlich-jüdischen Weltbild des gläubigen Lloyd George? Wäre es nicht gerecht, die Juden,

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dieses Volk ohne Land, in Palästina, diesem Land ohne Volk, siedeln zu lassen? Und hat sich dertreue Weizmann nicht eine Belohnung für seine Dienste in der Munitionsherstellung verdient?

Lloyd George wird zum Anhänger der zionistischen Idee. Im Dezember 1916 weiß Weizmann,dass er auf den richtigen Mann gesetzt hat, Lloyd George wird Premierminister.

Weizmann hat es geschafft, einen dritten Zug aufs Gleis zu setzen. Aus drei Richtungen fahrenjetzt drei Züge aufeinander zu, ein arabischer, ein französischer, ein zionistischer.

Noch immer liegt Raum zwischen ihnen. Zu Beginn des Jahres 1917 aber beschleunigt sich ihreFahrt.

Als Lawrence auf seiner Mission, das Sykes-Picot-Abkommen zu sabotieren, ins Wüstencamp derarabischen Rebellen einreitet, trifft er deren Kommandeur Feisal, Husseins Sohn. Lawrence wirdsein wichtigster Berater und damit quasi der Befehlshaber der Rebellenarmee. Im Januar 1917reiten sie nach Norden, Feisal voraus, in Weiß, Lawrence neben ihm in Weiß und Rot, dahinterdrei Banner aus purpurner Seide, montiert an Stangen mit goldenen Spitzen, dann drei Trommler,gefolgt von 1.200 Kamelen, dicht gedrängt, auf ihnen Reiter mit blitzenden Dolchen,Kriegsgesang aus tausend Kehlen, eine Masse aus Tier und Mensch, wogend wie ein wildes Meer.

So hält es Lawrence später fest, der sich gefühlt haben muss wie in einem der mittelalterlichenKriege, über die er in Oxford seine Doktorarbeit schrieb. Irgendwann in diesen Tagen AnfangJanuar nimmt Lawrence Feisal zur Seite und wagt etwas, wofür er mit dem Tod bestraft werdenkönnte: Er erzählt dem Freund von Sykes-Picot. Er verrät den Verrat – und entwirft einen neuenPlan. Wenn man es fertigbringe, den britischen und französischen Truppen zuvorzukommen unddas Land, auf dem Feisals Vater Hussein sein Araber-Reich erschaffen will, allein zu erobern,könne man womöglich unabänderliche Fakten schaffen.

Noch immer ist in der Welt die Ansicht verbreitet, dass, wer mit seinem Blut ein Land erobert, dasRecht hat, über dieses Land zu verfügen. Lawrence will zunächst die Stadt Akaba einnehmen, dieletzte osmanische Garnison am Roten Meer. Zum Wasser hin ist sie gesichert, alle Kanonenzeigen aufs Meer. Im Hinterland erheben sich schroffe Berge, da ist kein Durchkommen für eineArmee. Doch es gibt eine Schlucht, durch sie könnte ein Stoßtrupp von hinten in die Stadteindringen, ein Überraschungsangriff.

In einem Londoner Stadthaus empfangen am Morgen des 7. Februar 1917 die sieben führendenbritischen Zionisten, unter ihnen Chaim Weizmann, einen Gast.

Es ist der neue Nahost-Sekretär des Kriegskabinetts. Der Premierminister Lloyd George hat ihngerade ernannt. Sein Name: Mark Sykes.

Sykes weiß von den Sympathien des Premiers für den Zionismus. An diesem Morgen erzählenihm Weizmann und die anderen, dass sie sich einen "jüdischen Staat unter der britischen Krone"wünschen. Keinesfalls wollten sie einen französischen Einfluss auf Palästina.

Sie wissen nichts vom Sykes-Picot-Abkommen, von dem geheimen Plan, den ihrGesprächspartner ein Jahr zuvor ausgehandelt hat und der genau das vorsieht: französischenEinfluss auf Palästina. Sie wissen auch nichts vom Versprechen an die Araber. Und Sykesschweigt eisern.

Am 3. April bricht er in den Nahen Osten auf. Wenige Stunden vor seiner Abreise weist ihn derPremierminister Lloyd George an, dem Araberführer Hussein nichts zu versprechen, schon garnicht in Bezug auf Palästina. "Die Juden können uns mehr nutzen als die Araber." Der Zionismusist jetzt Teil der britischen Außenpolitik.

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Ein riesiger Bluff

Mark Sykes ist zu diesem Zeitpunkt einer der ganz wenigen Menschen, die von jedem der dreiZüge wissen, die da aufeinander zurasen. Während der französische Zug unvermindert weiterrollt,hat Sykes vom Premierminister also den Befehl erhalten, den zionistischen Zug zu beschleunigenund den arabischen zu bremsen. Dafür aber muss er Lawrence von seiner Mission abbringen.Auch deswegen reist Sykes in den Nahen Osten.

Anfang Mai treffen sich Lawrence und Sykes in einem Hafenort auf der Arabischen Halbinsel. Esgibt keine detaillierten Aufzeichnungen über das Gespräch, aber sicher ist: Lawrence begreift nunendgültig, dass London vom Versprechen an Hussein abgerückt ist. Vielleicht erzählt ihm Sykesauch, dass die Araber in den Zionisten einen weiteren Gegner haben.

Plötzlich hat es Lawrence sehr eilig. Sofort bricht er mit seinen Kämpfern auf. Sie reiten durch dieWüste in Richtung der Stadt Akaba. Das Gespräch mit Sykes hat ihn schockiert. So sehr, dass esnicht der Gewaltritt ist, der Lawrence zu schaffen macht, nicht ein tagelanger Sandsturm, nichtdas Fieber, an dem er leidet, nicht die Schreie sterbender Kamele oder die Giftschlangen, die dreiseiner Gefährten töten – es ist der Verrat seiner Regierung. So notiert er es in sein Tagebuch.

Seine arabischen Mitstreiter wissen nichts von dem Vertrauensbruch, und Lawrence schämt sich.Später schreibt er: "Wäre ich den Arabern ein ehrlicher Berater gewesen, hätte ich ihnen sagenmüssen: Geht nach Hause und riskiert hier nicht euer Leben!" Aber das tut er nicht, noch hat erHoffnung.

Anfang Juli erspähen sie im Hinterland Akabas eine 500 Mann starke Einheit der osmanischenArmee. Fast 300 Feinde sterben, als die Araber, aus allen Gewehren schießend, auf ihrenKamelen in sie hineingaloppieren. Die Schlacht ist so wild, dass Lawrence aus Versehen seinemeigenen Kamel in den Hinterkopf schießt. Danach reiten sie durch die kaum gesicherte Schluchtund nehmen Akaba ein, ohne eine weitere Kugel abzufeuern. Lawrence gilt über Nacht alsKriegsheld.

Es vollzieht sich genau jene Entwicklung, auf die er gehofft hat. Lawrence spricht jetzt aufAugenhöhe mit britischen Generalen, deren Armee sich in Ägypten bereit macht für die Schlachtum Palästina. Lawrence hilft bei der Planung. Vielleicht können die Araber das Land doch an sichreißen?

Auch sein Intimfeind Mark Sykes spürt, dass ihm Lawrence nun gefährlich werden kann – erversucht es mit Charme. In einem Brief an einen Bekannten im Nahen Osten schreibt er:"Lawrence’ Plan war prächtig, und ich will, dass er zum Ritter geschlagen wird. Sag ihm, jetzt, daer ein großartiger Mann ist, muss er sich auch wie einer verhalten und seine Sicht erweitern.Zehn Jahre unter unserer Führung, und die Araber sind eine Nation. Sofortige Unabhängigkeitbedeutet Armut und Chaos."

Lawrence schreibt zurück, sieben Seiten lang, teils triefend sarkastisch, teils unverstelltbeleidigend, so böse, dass ein Vorgesetzter den Brief nicht an Sykes weiterleitet. Bald brichtLawrence mit seinen Kämpfern wieder auf. Hinter den feindlichen Linien will er eine ArtGuerillakrieg entfesseln, Brücken sprengen, Gleise sabotieren, osmanische Patrouillen überfallen.

Nicht nur Lawrence hat es eilig. Auch Chaim Weizmann geht einen Schritt weiter.Hinterzimmersympathien für einen Judenstaat reichen ihm nicht mehr, er will eine öffentlicheErklärung der britischen Regierung. Etwas, worauf sich die Zionisten nach dem Krieg berufenkönnen. Um das zu erreichen, scheut er, der Anführer der Juden, nicht einmal vor einem zutiefstantisemitischen Argument zurück – einem, das seine britischen Gesprächspartner angesichtseiner dramatischen Entwicklung im Sommer 1917 gerne hören.

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Das Kriegsglück scheint Großbritannien zu verlassen. Im verbündeten Russland ist eineRevolution ausgebrochen. Ein einseitiger Frieden zwischen Deutschland und Russland wird vonTag zu Tag wahrscheinlicher. Für Großbritannien eine große Gefahr: Die Deutschen könnten dannihre Truppen von der Ostfront als Verstärkung in den Westen verschieben. Es könnte den Sieg fürDeutschland bedeuten.

Großbritannien bleiben zwei Hoffnungen. Erstens: Russland hält durch und bindet die deutschenTruppen weiter. Zweitens: Die USA greifen endlich auf der Seite der Alliierten ein.

Weizmann sagt, er könne bei beidem helfen.

In Russland wie den USA leben viele Juden. Weizmann schlägt vor, die russischen Juden zu bitten,mithilfe ihres Einflusses in Moskau Russland im Krieg zu halten. Außerdem könnten dieamerikanischen Juden Präsident Wilson davon überzeugen, endlich in den Krieg zu ziehen.

Weizmann argumentiert mit dem Stereotyp der jüdischen Weltmacht. "Er war der Meinung, erkönne den Antisemitismus nutzen, also tat er es", sagt der israelische Historiker Motti Golani, dergerade an einer großen Weizmann-Biografie arbeitet.

Und für den Fall, dass das noch nicht deutlich genug war, fügt Weizmann ein weiteres Argumenthinzu: Wenn die Briten nicht interessiert seien an der Zusammenarbeit mit den Zionisten, dieDeutschen stünden bereit.

All das ist ein riesiger Bluff: Die Deutschen stehen nicht bereit, die russischen Juden habenkeinen Einfluss auf die Kriegspolitik Moskaus und die amerikanischen nur wenig auf Wilson.London fällt darauf herein. Am 31. Oktober 1917 tagt in einem Konferenzraum im LondonerAußenministerium erneut das Kriegskabinett. Vor der Tür, in einem Vorzimmer, sitzt Weizmannund wartet. Dann erscheint ein strahlender Mark Sykes mit den Worten: "Dr. Weizmann, es ist einJunge!"

Die Geburt Israels

Das Kabinett hat einen von Weizmann vorbereiteten Text angenommen. Zwei Tage späterveröffentlicht es die nach dem britischen Außenminister benannte Balfour-Erklärung: "DieRegierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstättefür das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zuerleichtern."

Dort, in Palästina, zieht derweil Lawrence mit seinen Kriegern durchs Hinterland. In der Wüstelassen sie Eisenbahnwaggons mit türkischen Soldaten entgleisen und mähen die Überlebendenmit Maschinengewehren nieder. So bereiten sie die Invasion der britischen Armee vor, die am 11.Dezember Jerusalem erobert. Es ist ein frostiger, sonniger Tag, als zum ersten Mal seit 600Jahren eine europäische Armee die Heilige Stadt einnimmt. Filmaufnahmen zeigen, wie derbritische Befehlshaber am Jaffator die Altstadt betritt. Hinter ihm ist ein grinsender Lawrence zusehen – und der Franzose François Georges-Picot.

Das Heilige Land ist jetzt im Besitz Großbritanniens. Es ist genau jene Situation eingetreten, diedie Briten gleichzeitig erhofft und gefürchtet haben: Sie haben dieses Land drei Parteienversprochen, jetzt müssen sie entscheiden, welches Versprechen sie halten und welche siebrechen.

Beim Bankett am Abend wendet sich Picot an den britischen Befehlshaber und sagt: "Und morgen,mein lieber General, werde ich die notwendigen Schritte einleiten, um eine Zivilregierung in derStadt aufzubauen." Es folgt eine merkwürdige Stille, schreibt Lawrence, der ebenfalls im Raum ist.

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"Salat, Hühnchen und Foie-Gras-Sandwiches lagen ungekaut in unseren nassen Mündern,während wir den General anstarrten."

Der antwortet, die einzige Autorität sei einstweilen das britische Militär. Also er selbst.

Solange der Krieg andauert, gibt es keine Entscheidung, soll das heißen. Lawrence bleibt nochein wenig Zeit, und die will er nutzen. Mit seinen Kämpfern trägt er den Krieg weiter nach Norden,sie sprengen und überfallen, töten und befreien – immer bejubelt von der arabischenBevölkerung. Als sie auf ihren Kamelen in die Metropole Damaskus einreiten, singen und tanzendie Menschen in den Straßen, von den Balkonen bestreuen Frauen sie mit Rosenblättern. DieOsmanen sind besiegt, aber was ist das wert? Wird Lloyd George die anderen beiden Zügestoppen? Wird er den Arabern ein eigenes Land zugestehen?

Der Premier steht nun endgültig vor der Situation, von der Sykes hoffte, sie werde nie eintreten.

Picot hat Frankreichs Anspruch bekräftigt.

Die Araber um Lawrence haben ihr Leben riskiert.

Und Weizmann ist in den Nahen Osten gereist, um seiner Forderung vor Ort Nachdruck zuverleihen.

Als Lawrence ihn trifft, in Ramla, einem kleinen Dorf in Palästina, ahnt er, dass seineBemühungen umsonst gewesen sein könnten. Weizmann ist vorsichtig, er spricht nicht direkt voneinem "Staat" der Juden, er versichert, die jüdische Einwanderung wäre kein Nachteil für diearabische Bevölkerung. Aber Lawrence durchschaut seine Rhetorik, nach dem Gespräch schreibter: "Dr. Weizmann hofft auf ein komplett jüdisches Palästina in 50 Jahren und auf ein jüdischesPalästina hinter britischer Fassade bis dahin."

Mit diesen Worten beschreibt Lawrence die Zukunft ziemlich präzise, bloß in einem Punkt irrt ersich: Es dauert keine 50 Jahre, nur 30. Dann gründen die Juden ihren Staat, nennen ihn Israel,und der erste Präsident wird Chaim Weizmann.

Lloyd George lässt die Züge ineinanderrasen. Anfang Dezember 1919 kommt es in London zumentscheidenden Gespräch zwischen ihm und seinem französischen Kollegen George Clemenceau,festgehalten in britischen Akten.

Clemenceau: "Sag mir, was du willst."

Lloyd George: "Ich will Mossul."

Clemenceau: "Sollst du haben. Noch etwas?"

Lloyd George: "Ja, Jerusalem."

Clemenceau: "Sollst du haben."

Die britische Regierung bricht ihr Versprechen an die Araber. Auf den Friedenskonferenzen wirddie Sykes-Picot-Grenze – bis auf eine Abweichung in Kurdistan – völkerrechtliche Realität. LloydGeorge sagt: "Die Freundschaft zu Frankreich ist uns zehn Syriens wert", und überlässt denFranzosen das Mandat für das heutige Syrien und den heutigen Libanon. Sofort müssen sie ersteAufstände niederschlagen. Drei Jahrzehnte lang bluten die Franzosen in Syrien.

In dieser Zeit geschieht etwas Interessantes: Die Araber sind so sehr damit beschäftigt, diefranzösischen Fremdherrscher aus dem neu umrissenen Syrien zu vertreiben, dass sie nichtwirklich die Grenzen infrage stellen. Die Sykes-Picot-Linie verfestigt sich. Nicht nur auf dieserSeite.

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Auf der anderen Seite der Linie schaffen die Briten zwei Kunststaaten, den Irak und Jordanien. InBagdad installieren sie den Araberführer Feisal als König, ein Trostpflaster für den Krieger. InAmman inthronisieren sie dessen Bruder Abdullah. Husseins Söhne haben nun beide einInteresse daran, die Grenzen und damit ihr Herrschaftsgebiet zu bewahren.

In Palästina regieren die Briten selbst, fördern aber die jüdische Einwanderung, wie sie esWeizmann versprochen hatten. Eine halbe Million Juden strömen in den 30 Jahren des britischenMandats ins Land, unter ihnen viele, die der Verfolgung durch die Nazis entkommen sind. DaPalästina aber eben kein Land ohne Volk ist, das nur auf diese Menschen gewartet hat, beginntbald das Morden. Die einheimischen Araber gegen die eingewanderten Juden. 1948 ziehen dieBriten aus Palästina ab, ohne zurückzublicken. Die Juden füllen das Machtvakuum, weil sie unterbritischer Herrschaft eine staatsähnliche Infrastruktur aufgebaut haben, über die die Araber nichtverfügen. Es ist die Geburt Israels.

Die fragwürdigen Grenzen

Lloyd Georges und Clemenceaus Grenzen waren eine späte Zuckung des Imperialismus, abereine so heftige, dass sie bis heute zu spüren ist. Am Ende der Friedenskonferenzen, so schrieb esder amerikanische Historiker David Fromkin in seinem Standardwerk A Peace to End All Peace,"befand sich der Nahe Osten auf einem Weg, der zu endlosen Kriegen und eskalierendemTerrorismus führte".

Die Grenzen von damals sind weitgehend auch die von heute. Was wäre gewesen, wenn Husseinsein arabisches Reich bekommen hätte? Wäre die Region zu einem Hort des Friedens geworden?Hätten sich die Völker in diesem Reich auf wundersame Weise vertragen?

Womöglich hätte Husseins Arabien dem osmanischen Vorkriegszustand sehr geähnelt: einriesiges, grenzenloses Land mit schwacher Zentralmacht – nur dass dies nicht mehr der Sultan inKonstantinopel gewesen wäre, sondern der Scherif in Mekka. Sicherlich hätte es auch in einemsolchen Staat Kriege gegeben – "dennoch ist es schwer vorstellbar, dass dies eine traurigereGeschichte produziert hätte als diejenige, die tatsächlich passiert ist in den vergangenen hundertJahren", schreibt der Lawrence-Biograf Scott Anderson.

Vielleicht wäre eine schwache, weit entfernte Zentralmacht tatsächlich besser gewesen als einstarker Herrscher in der Nähe. In einem weitläufigen Reich, in dem sich die einzelnenVolksgruppen weitgehend selbst verwalten, gilt nicht jede Unmutsäußerung gleich als Aufstand,der niedergeschlagen werden muss.

Es hilft, sich die neu begrenzten Länder als Grundstücke vorzustellen. Ein Stück Land und drumherum ein Zaun. Auf diesen Grundstücken mussten auf einmal Menschen zusammenleben, diegar nicht zusammenleben wollten, die einander hassten. Im neu geschaffenen Land Irak zumBeispiel Sunniten, Schiiten und Kurden. Im neu entstandenen Syrien Sunniten, Alawiten, Kurdenund Christen. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass der Territorialbegriff "Irak" seit tausend Jahrenexistiert und "Syrien" noch länger. Diese Wörter hatten eben immer nur vage umrisseneGegenden bezeichnet, keine Nationalstaaten.

Niemandem gefiel der Zuschnitt der neuen Grenzen, der Verlauf der Zäune – niemandem außerden von den Kolonialmächten eingesetzten Herrschern, den neuen Grundstücksbesitzern.Zunächst hießen sie Feisal und Abdullah, später Saddam und Assad. So schufen Briten undFranzosen eine neue Klasse politischer Akteure. Auf einmal gab es Herrscher, die die willkürlichgezogenen Grenzen verbissen verteidigten.

Und weil die Menschen, die auf diesen Grundstücken lebten, so unterschiedlich waren, sowidersprüchlich in ihrem Glauben und ihrer Herkunft, konnte es nur eine Art geben, sie zubeherrschen: mit harter Hand. Ein schwacher Regent hatte schnell ein Problem. In Syrien gab es

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20 Staatsstreiche in 21 Jahren, einige waren erfolgreich, andere nicht, ehe Hafis al-Assad, derVater des heutigen Machthabers, dem Land diktatorische Stabilität verlieh. Die Voraussetzungen,dass aus diesen Gesellschaften je Demokratien würden, waren von Anfang an denkbar schlecht.

Nun kann man argumentieren, es sei zu einfach, die Schuld bei den Kolonialmächten abzuladen.Schließlich hätte es in hundert Jahren genug Gelegenheiten gegeben, Grenzen zu korrigieren,Zäune umzustecken. Das stimmt, theoretisch. In der Praxis hätte eine solche Korrektur diestärkste und seltenste aller Tugenden eines Herrschers erfordert: Macht abzugeben. Schon inDemokratien kommt das selten vor, in Autokratien ist es nahezu unbekannt. Denn in der Regelsind es nicht die Genügsamen, die in diesen Staaten an die Macht kommen, sondern die, diegierig nach ihr greifen. Und wenn ein Diktator abtreten will, kann er sich nie sicher sein, was seinNachfolger mit ihm anstellt. Wo der Hass tobt, sind friedliche Machttransfers rar. Hinzu kommtein spezielles Nahostproblem: Der Abzug der Franzosen und Briten in den vierziger Jahrenbedeutete nicht, dass die Araber in Ruhe ihre Grenzprobleme lösen konnten. Da derWüstenboden unermessliche Ölvorräte barg und die Region geostrategisch wichtig war, mischtendie Weltmächte weiter kräftig mit. Hatten sich Amerikaner oder Russen mit einem derGrundstücksbesitzer verbündet, wollten sie, dass er bleibt. Hatte er Probleme mit den Bewohnernseines Herrschaftsgebiets, schickten sie gern ein bisschen Geld oder ein paar Waffen. Was ebengebraucht wurde, um die Leute ruhigzustellen. Dass sich viele rebellische Bewohner ideologischbeim Islamismus bedienten, sorgte auch nicht gerade für Stabilität.

Durchsucht man die nahöstliche Geschichte der vergangenen hundert Jahre nach Momenten, indenen ein Herrscher eine Entscheidung hätte treffen können, um die blutige Spirale anzuhalten,stellt man fest, dass es immer ziemlich kompliziert war.

Was also kann man heute tun, um das ewige Töten vielleicht doch zu beenden? Kann man nichteinfach die Grundstücksbesitzer vertreiben? Darüber streiten Amerikaner und Russen in Syrien.Die Debatte verstellt aber den Blick auf den Kern des Problems. Selbst wenn Assad geht, reichtdas nicht. So wie es nicht reichte, Saddam zu stürzen. Solange sich die Menschen im NahenOsten nicht als Iraker, Syrer oder Jordanier sehen, sondern als Schiit oder Sunnit, als Kurde oderAraber, Jude oder Christ, sind die Staaten nur lebensfähig, wenn ihre Grenzen diese Spaltungenreflektieren.

Fast jeder Nahostkrieg gebiert auch große Friedenskonferenzen. Dort wird dann über allesMögliche diskutiert, nur nicht über das eine Thema, das tatsächlich den Frieden bringen könnte:die Neuvermessung der fragwürdigen Grenzen, die vor hundert Jahren gezogen wurden.

Vielleicht lägen am Ende Latakia und Idlib nicht mehr im selben Land. Vielleicht regierten sich dieKurden dann selbst. Denkbar sind solche Lösungen, überall in der Region, mit einer Ausnahme –Palästina. Wenn zwei Völker dasselbe Land beanspruchen, kommen die Grenzen an ihre Grenzen.Dann zählt nur noch Stärke.

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9. Strategie der Radikalisierung

DER SPIEGEL 35/2017

Strategie des Aufstands

Die einen wollen den Gottesstaat, die anderen wollten die Weltrevolution: Islamistische

Täter und RAF-Terroristen haben unterschiedliche Motive – die Radikalisierung verläuft

ähnlich.

Späterer RAF-Terrorist Baader um 1963: Spitzen aus Politik, Militär und Wirtschaft treffen

Vier überlebten, immerhin. Vier junge Männer, die angeblich am Anschlag von Barcelona beteiligt

waren. Vielleicht reden sie, vielleicht geben sie seltene Antworten auf Fragen, die sich nach jedem

Anschlag stellen: Woher der Hass? Woher die Hemmungslosigkeit? Was war das Ziel?

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Das frühe 21. Jahrhundert etabliert sich als Zeitalter des Terrorismus. Kaum ein Tag ohne

islamistischen Anschlag, kaum ein Tag ohne Tote. Paris, Brüssel, Istanbul, Berlin, London,

Manchester, aber auch Burkina Faso, Afghanistan, Ägypten, neulich ein Messerstecher in

Hamburg, nun einer in Finnland, ein weiterer in Sibirien.

Unsere Aufmerksamkeitsspanne wird kürzer, die Erinnerung verblasst schneller, wer kann die

Orte des Schreckens noch in die richtige Reihenfolge bringen? Auch das Entsetzen stumpft ab,

unsere Empathie für die Opfer, doch die Fragen werden drängender: Wo liegen die Ursachen des

Terrors, welche Dynamik beschleunigt ihn, wie ist er endlich zu bremsen? Dass er bald zu

stoppen ist, daran glaubt ohnehin kaum noch einer.

Die Antworten fallen schwer. Viele islamistische Attentäter töten sich oder werden von Polizisten

getötet wie der Todesfahrer von Barcelona, Younes Abouyaaqoub. Die Überlebenden schweigen

meist, selbst dann, wenn sie sich vom Terrorismus losgesagt haben. Nur wenige sprechen.

Das ist heute so, im Sommer 2017, das war vor 40 Jahren so, im Deutschen Herbst 1977, als die

Rote Armee Fraktion (RAF) einen Höhepunkt ihrer Brutalität erreichte. „Zu den Bullen kein Wort“,

gab Andreas Baader die Losung aus. Das Einhalten der Omertà, damals wie heute, zählt zu den

Tugenden eines Terroristen.

Ein Mann wie Peter-Jürgen Boock, der von 1975 bis 1980 der RAF angehörte, ist daher eine

Ausnahme. Er legte vor 25 Jahren eine von ihm sogenannte Lebensbeichte ab. Heute reflektiert

er ausführlich sein Leben und sein Morden. „Es ist nicht zu rechtfertigen“, sagt Boock. „Ich

empfinde bis heute Scham und manchmal auch Hass auf mich selber“.

Man kann einen RAF-Terroristen von damals nur schwer mit einem Dschihadisten von heute

vergleichen, man kann religiös-extremistischen nicht mit sozialrevolutionärem Terrorismus

gleichsetzen. Zu unterschiedlich sind die Ideologien, die Motive, die Taten, die Opfer.

Die RAF wollte die Spitzen aus Politik, Militär und Wirtschaft treffen, ermordete dabei aber auch

deren Personenschützer und Polizisten. Dschihadisten dagegen töten willkürlich und wahllos,

friedliche Muslime sind am häufigsten ihre Opfer. In der RAF waren die Ideologen auch die Täter,

die Dschihadisten trennen Prediger und Attentäter. Die RAF verband ihre Taten oft mit politischen

Forderungen, wollte mit Entführungen die Freilassung ihrer inhaftierten Genossen erpressen.

„Dem dschihadistischen Terror fehlt dieses Erpressermoment“, sagt Sebastian Winter von der

Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie, einem Zusammenschluss von Sozialwissenschaftlern,

die zu kollektiver Gewalt forschen. Stattdessen locke der Dschihadismus mit apokalyptischem

Heilsversprechen. Er imaginiere eine Welt wie bei „Herr der Ringe": Wir gegen die, nur eine

Gruppe kann überleben. Indem er das Kollektiv über das Individuum stelle, sei er dem

rechtsextremen Terror ähnlich, sagt Winter.

Viele Mitglieder der RAF stammten aus der Mitte der Gesellschaft, sie entwuchsen der

Studentenbewegung. Sie und ihre Taten sind zu einem Kapitel der Zeitgeschichte geworden.

Später wurde die RAF in der Popkultur romantisiert: Baader als „Dandy des Bösen“ ("Kursbuch"),

der „Prada Meinhof“-Schriftzug auf hippen T-Shirts eines Hamburger Labels, eine Punkband, die

einst die RAF als „geilen Haufen“ bejubelte. Zu den runden Jahrestagen des Deutschen Herbstes

sind routiniert Bücher und historische Serien erschienen.

Diesmal ist es anders. Der Terror aus der Vergangenheit lässt sich nicht mehr nur aus

akademischer und kulturhistorischer Distanz betrachten, wenn der Terror der Gegenwart fast

jeden Tag seine tödlichen Schneisen schlägt. Zwangsläufig stellt sich die Frage, was eine

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Gesellschaft aus den Gewaltexzessen der Vergangenheit lernen kann. Was verbindet den Terror

von einst mit dem von heute? Was bringt Menschen dazu, den zivilisatorischen Konsens über die

Grundwerte zu verlassen, was treibt sie an, andere zu töten, damals wie heute?

Trotz nötiger Differenzierung, es gibt Gemeinsamkeiten, es gibt einen Bogen, der sich von den

Anarchisten und Nihilisten des 19. Jahrhunderts über die RAF, über 9/ 11, über den

Rechtsterror des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bis zu Anis Amri, dem Attentäter vom

Berliner Breitscheidplatz, und weiter bis nach Barcelona spannt.

„Terrorismus ist keine Ideologie, sondern eine Strategie des Aufstands“, schrieb schon vor über

40 Jahren der Historiker Walter Laqueur in seinem Standardwerk „Terrorismus“. Daran hat sich

fast nichts geändert, höchstens dass das Gefühl der Demütigung bei heutigen Terroristen

ausgeprägter scheint als noch vor 40 Jahren.

Terror entstehe aus dem Empfinden von Ohnmacht, sagt der Bremer Jurist und Psychoanalytiker

Lorenz Böllinger, er ende häufig in Allmachtsfantasien, nicht selten im Tod. Böllinger gehörte zu

einer Gruppe von Wissenschaftlern, die Ende der Siebzigerjahre im Auftrag der sozialliberalen

Bundesregierung das Phänomen RAF ergründen sollten. Heraus kam 1982 eine bemerkenswerte

Studie in fünf Bänden mit dem Titel „Analysen zum Terrorismus“. Ihre Aussagen missfielen dem

damaligen Innenminister der CSU, weshalb ein Teil der Studie zunächst in der Schublade

verschwand. Ihre Ergebnisse, sagt Böllinger, seien aber noch heute relevant.

Attentat auf Zar Alexander II., 1881, historische Illustration: Ohnmacht verwandelt sich in Hass und

rauschhafte Größengefühle

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Er hatte 150 Linksterroristen im Gefängnis angeschrieben, sieben erklärten sich zu

Tiefeninterviews bereit. Aus diesen Gesprächen und weiteren Recherchen erarbeitete Böllinger

mehrere Entwicklungsstufen, die aus seiner Sicht terroristische Karrieren kennzeichnen.

Die Lebensläufe der späteren Täter begannen demnach mit frühen Belastungen in der Familie

oder in Heimen. Viele der RAF-Terroristen, oft aus dem Bildungsbürgertum, wuchsen ohne Vater

auf. Es folgte der Bruch mit der bisherigen Umwelt und der Rückzug in einen Kreis

Gleichgesinnter. Dort entwickelte sich ein Konformismus. Man sah sich als Kämpfer und

übernahm die Metaphorik des Krieges. Wer im Gefängnis landete, radikalisierte sich womöglich

weiter, auch durch die harte Behandlung der RAF-Gefangenen durch die Justiz. Diese Stufen, sagt

Böllinger, seien bei einem RAF-Terroristen genauso zu finden wie bei einem IS-Kämpfer. Sie

führten im Extremfall zur Bereitschaft zu morden.

Wer sich im Krieg sieht, der schafft sich eine Legitimation dafür. Die Ohnmacht verwandelt sich in

Hass und mitunter rauschhafte Größengefühle. Hemmungen werden abgebaut, Schuldgefühle

ausgeschaltet, immer im Glauben, für eine höhere Sache zu kämpfen, eine Ideologie, eine

Religion. Terroristen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, sie sind getrieben von der Arroganz der

Adoleszenz, von der Unsicherheit, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist.

Anschlag in New York, World Trade Center, 2001

Der Kreis der Gleichgesinnten nimmt ihnen diese Unsicherheit ab und bietet Orientierung. Der

Gegner wird entmenschlicht, Polizisten werden zu Schweinen, Christen zu minderwertigen

Ungläubigen, die eigenen Ziele überhöht. In der Gruppendynamik entsteht ein Wettbewerb der

Agitation. Für die Weltrevolution erscheint am Ende Töten gerechtfertigt, für den Sieg des Kalifats

ebenso. Manchmal entwickelt sich ein romantisierender Todeskult. Alle Terroristen, sagt der

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Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, Autor des Buchs „Der Mensch als Bombe“,

griffen auf eine archaische Rachefantasie zurück.

Nur wenige Tage nach dem Barcelona-Anschlag lag erneut das Wort Krieg in der Luft. EU-

Parlamentspräsident Antonio Tajani forderte eine bessere Zusammenarbeit der europäischen

Behörden, um den „Krieg gegen den Terror“ zu gewinnen.

Auch Fritz Sack war an der RAF-Studie der Siebzigerjahre beteiligt. Der Kriminologe würde das

Wort Krieg nie verwenden, weil es von den Ursachen des Terrorismus ablenke. Er erinnert an die

Vorgeschichte der RAF, die unterbliebene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die

Notstandsgesetze, die Wiederbewaffnung. Heute sieht der 86-Jährige ähnliche Mechanismen am

Werk: „Die fortschreitende Ungleichheit zwischen dem Westen und anderen Gesellschaften bildet

den Nährboden, auf dem islamistischer Terror gedeiht.“ Gefährder könnten, heute wie damals,

nicht allein durch polizeiliche Mittel gebremst werden. „Der Westen darf sich nicht länger weigern,

diese Ungerechtigkeiten zu thematisieren“, sagt Sack, sonst drohe eine weitere Eskalation.

In der Studie legte Sack sein Augenmerk auf das Wechselspiel zwischen den Revolutionären und

der Polizei. Schon in der Studentenbewegung der Sechzigerjahre habe die Interaktion der Polizei

mit den Protestierenden die „Bedingungen des endgültigen Schritts in die Gewalt“ eher

begünstigt als beseitigt. Andere Forscher fanden heraus, dass die meisten späteren Terroristen

zuvor bei Demonstrationen von Polizisten zusammengeschlagen worden waren. Lorenz Böllinger

erinnert daran, dass auch viele Flüchtlinge, die zu Dschihadisten werden, zuvor gedemütigt

wurden und häufig traumatisiert sind.

Doch nicht alle Gedemütigten werden zum Attentäter, nur eine Minderheit. Die meisten bleiben

friedlich. Andere schaffen den Ausstieg. Auch wenn die Wege aus der Gewalt lang, verworren und

schmerzhaft sind, wie das Beispiel von Peter-Jürgen Boock zeigt. Kann man aus seiner

Geschichte, aus den Erfahrungen mit der Roten Armee Fraktion lernen?

Gerhart Baum war vier Jahre lang als liberaler Innenminister mit der Bekämpfung der RAF

beschäftigt. Das Bewahren der Freiheit angesichts terroristischer Bedrohungen ist sein

Lebensthema. Heute, mit 84 Jahren, engagiert er sich für Programme, die Islamisten beim

Ausstieg aus der Gewalt unterstützen sollen.

„Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung“ junger Menschen seien die entscheidenden Wurzeln des

Terrorismus, sagt Baum.

So war es damals, so ist es heute.

Quelle:

https://magazin.spiegel.de/SP/2017/35/152810661/index.html?utm_source=spon&utm_cam

paign=centerpage

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10. Spielszenen

DRITTER AUFZUG Erster Auftritt

Szene: in Nathans Hause. Recha und Daja.

Recha. Wie, Daja, drückte sich mein Vater aus? »Ich dürf' ihn jeden Augenblick erwarten?« Wieviel Augenblicke Sind aber schon vorbei! Ich will allein In jedem nächsten Augenblicke leben. Er wird doch einmal kommen, der ihn bringt.

Daja. O der verwünschten Botschaft von dem Sultan! Denn Nathan hätte sicher ohne sie Ihn gleich mit hergebracht. Was dann? Dann hoff ich, daß auch meiner Wünsche wärmster Soll in Erfüllung gehen. Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen Zu wissen, welche deiner würdig sind.

Recha. Was diesen Wunsch zu deinem macht, Das nämliche verhindert, daß er meiner Je werden kann. Dich zieht dein Vaterland: Und meines, meines sollte mich nicht halten?

Daja. Sperre dich, soviel du willst! Des Himmels Wege sind des Himmels Wege. Und wenn es nun dein Retter selber wäre, Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in Das Land, dich zu dem Volke führen wollte, Für welche du geboren wurdest?

Recha. Daja! Was sprichst du da nun wieder! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!« Was ist das für ein Gott, der für sich Muß kämpfen lassen? Und wie weiß Man denn, für welchen Erdkloß man geboren, Wenn man's für den nicht ist, auf welchem man Geboren? Wenn mein Vater dich so hörte! Was tat er dir, mir immer nur mein Glück So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln? Was tat er dir, den Samen der Vernunft, Den er so rein in meine Seele streute, Mit deines Landes Unkraut oder Blumen So gern zu mischen? Liebe, liebe Daja, Er will nun deine bunten Blumen nicht Auf meinem Boden! Und ich muß dir sagen, Ich selber fühle meinen Boden, wenn Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet,

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So ausgezehrt durch deine Blume; fühle In ihrem Dufte mich so betäubt, So schwindelnd! Und schon dein Engel, Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin Gemacht? Noch schäm ich mich vor meinem Vater Der Posse!

Daja. Posse! Als ob der Verstand Nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse! Wenn ich nur reden dürfte!

Recha. Darfst du nicht? Wenn war ich nicht ganz Ohr, sooft es dir Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich Zu unterhalten? Hab ich ihren Taten Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden Nicht immer Tränen gern gezollt? Ihr Glaube Schien freilich mir das Heldenmäßigste An ihnen nie. Doch so viel tröstender War mir die Lehre, daß Ergebenheit In Gott von unserm Wähnen über Gott So ganz und gar nicht abhängt. Liebe Daja, Das hat mein Vater uns so oft gesagt; warum untergräbst Du denn allein, was du mit ihm zugleich Gebauet?

FÜNFTER AUFZUG Letzter Auftritt

Szene: in Sultans Palast.

Saladin. Ah, meine guten lieben Freunde! Dich, Dich, Nathan, muß ich nur vor allen Dingen Bedeuten, daß du nun, sobald du willst, Dein Geld kannst wieder holen lassen!

Nathan. Sultan!

Saladin. Nun steh ich auch zu deinen Diensten

Nathan. Sultan!

Saladin. Die Karawan' ist da. Ich bin so reich Nun wieder, als ich lange nicht gewesen. Komm, sag mir, was du brauchst, so recht was Großes Zu unternehmen! Denn auch ihr, auch ihr, Ihr Handelsleute, könnt des baren Geldes Zuviel nie haben!

Nathan. Und warum zuerst Von dieser Kleinigkeit? Ich sehe dort Ein Aug' in Tränen, das zu trocknen, mir

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Weit angelegner ist. (Geht auf Recha zu.) Du hast geweint? Was fehlt dir? bist doch meine Tochter noch?

Recha. Mein Vater! ...

Nathan. Wir verstehen uns. Genug! Sei heiter! Sei gefaßt! Wenn sonst dein Herz Nur dein noch ist! Wenn deinem Herzen sonst Nur kein Verlust nicht droht! Dein Vater ist Dir unverloren!

Recha. Keiner, keiner sonst!

Tempelherr. Sonst keiner? Nun! so hab ich mich betrogen. Was man nicht zu verlieren fürchtet, hat Man zu besitzen nie geglaubt, und nie Gewünscht. Recht wohl! recht wohl! Das ändert, Nathan, Das ändert alles! Saladin, wir kamen Auf dein Geheiß. Allein, ich hatte dich Verleitet; itzt bemüh dich nur nicht weiter!

Saladin. Wie gach nun wieder, junger Mann! Soll alles Dir denn entgegenkommen? Alles dich Erraten?

Tempelherr. Nun du hörst ja! siehst ja, Sultan!

Saladin. Ei wahrlich! Schlimm genug, daß deiner Sache Du nicht gewisser warst!

Tempelherr. So bin ich's nun.

Saladin. Wer so auf irgendeine Wohltat trotzt, Nimmt sie zurück. Was du gerettet, ist Deswegen nicht dein Eigentum. Sonst wär' Der Räuber, den sein Geiz ins Feuer jagt, So gut ein Held wie du!

(Auf Recha zugehend, um sie dem Tempelherrn zuzuführen.)

Komm, liebes Mädchen, Komm! Nimm's mit ihm nicht so genau. Denn wär' Er anders; wär' er minder warm und stolz: Er hätt' es bleibenlassen, dich zu retten. Du mußt ihm eins fürs andre rechnen. Komm! Beschäm ihn! tu, was ihm zu tun geziemte! Bekenn ihm deine Liebe! trage dich ihm an! Und wenn er dich verschmäht; dir's je vergißt, Wie ungleich mehr in diesem Schritte du Für ihn getan, als er für dich ... Was hat Er denn für dich getan? Ein wenig sich Beräuchern lassen! ist was Rechts! so hat Er meines Bruders, meines Assad, nichts! So trägt er seine Larve, nicht sein Herz. Komm, Liebe ...

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Sittah. Geh! geh, Liebe, geh! Es ist Für deine Dankbarkeit noch immer wenig; Noch immer nichts.

Nathan. Halt Saladin! halt Sittah!

Saladin. Auch du?

Nathan. Hier hat noch einer mitzusprechen...

Saladin. Wer leugnet das? Unstreitig, Nathan, kömmt So einem Pflegevater eine Stimme Mit zu! Die erste, wenn du willst. Du hörst, Ich weiß der Sache ganze Lage.

Nathan. Nicht so ganz! Ich rede nicht von mir. Es ist ein andrer; Weit, weit ein andrer, den ich, Saladin, Doch auch vorher zu hören bitte.

Saladin. Wer?

Nathan. Ihr Bruder!

Saladin. Rechas Bruder?

Nathan. Ja!

Recha. Mein Bruder? So hab ich einen Bruder?

Tempelherr (aus seiner wilden, stummen Zerstreuung auffahrend). Wo? wo ist Er, dieser Bruder? Noch nicht hier? Ich sollt' Ihn hier ja treffen.

Nathan. Nur Geduld!

Tempelherr (äußerst bitter). Er hat Ihr einen Vater aufgebunden: wird Er keinen Bruder für sie finden?

Saladin. Christ! ein so niedriger Verdacht wär' über Assads Lippen nicht Gekommen. Gut! fahr nur so fort!

Nathan. Verzeih Ihm! Ich verzeih ihm gern. Wer weiß, was wir An seiner Stell', in seinem Alter dächten! (Freundschaftlich auf ihn zugehend.) Natürlich, Ritter! Argwohn folgt auf Mißtraun! Wenn Ihr mich Eures wahren Namens gleich Gewürdigt hättet ...

Tempelherr. Wie?

Nathan. Ihr seid kein Stauffen!

Tempelherr. Wer bin ich denn?

Nathan. Heißt Curd von Stauffen nicht!

Tempelherr. Wie heiß ich denn?

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Nathan. Heißt Leu von Filnek.

Tempelherr. Wie?

Nathan. Ihr stutzt?

Tempelherr. Mit Recht! Wer sagt das?

Nathan. Ich; der mehr, Noch mehr Euch sagen kann. Ich straf indes Euch keiner Lüge.

Tempelherr. Nicht?

Nathan. Kann doch wohl sein, Daß jener Nam' Euch ebenfalls gebührt.

Tempelherr. Das sollt' ich meinen!

Nathan. Denn Eure Mutter die war eine Stauffin. Ihr Bruder, Euer Ohm, der Euch erzogen, Dem Eure Eltern Euch in Deutschland ließen, Als, von dem rauhen Himmel dort vertrieben, Sie wieder hierzulande kamen: Der Hieß Curd von Stauffen; mag an Kindes Statt Vielleicht Euch angenommen haben! Seid Ihr lange schon mit ihm nun auch herüber- Gekommen? Und er lebt doch noch?

Tempelherr. Was soll Ich sagen? Nathan! Allerdings! So ist's! Er selbst ist tot. Ich kam erst mit der letzten Verstärkung unsers Ordens. Aber, aber Was hat mit diesem allen Rechas Bruder Zu schaffen?

Nathan. Euer Vater ...

Tempelherr. Wie? auch den Habt Ihr gekannt? Auch den?

Nathan. Er war mein Freund.

Tempelherr . War Euer Freund? Ist's möglich, Nathan! ...

Nathan. Nannte Sich Wolf von Filnek; aber war kein Deutscher ...

Tempelherr. Ihr wißt auch das?

Nathan. War einer Deutschen nur Vermählt; war Eurer Mutter nur nach Deutschland Auf kurze Zeit gefolgt ...

Tempelherr. Nicht mehr! Ich bitt Euch! Aber Rechas Bruder? Rechas Bruder ...

Nathan. Seid Ihr!

Tempelherr. Ich? ich ihr Bruder?

Recha. Er mein Bruder?

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Sittah. Geschwister!

Saladin. Sie Geschwister!

Recha (will auf ihn zu). Ah! mein Bruder!

Tempelherr (tritt zurück). Ihr Bruder!

Recha (hält an, und wendet sich zu Nathan). Kann nicht sein! nicht sein! Sein Herz Weiß nichts davon!

Tempelherr. Meine Schwester!

Nathan. Blanda von Filnek.

Tempelherr. Blanda? Blanda? Recha nicht? Nicht Eure Recha mehr? Gott! Ihr verstoßt Sie! gebt ihr ihren Christennamen wieder! Verstoßt sie meinetwegen! Nathan!

Nathan. Und was? O meine Kinder! meine Kinder! Denn meiner Tochter Bruder wär' mein Kind Nicht auch, sobald er will? (Indem er sich ihren Umarmungen überläßt, tritt Saladin mit unruhigem Erstaunen zu seiner Schwester.)

Saladin. Was sagst du, Schwester?

Sittah. Ich bin gerührt ...

Saladin. Und ich, ich schaudere Vor einer größern Rührung fast zurück! Bereite dich nur drauf, so gut du kannst.

Sittah. Wie?

Saladin. Nathan, auf ein Wort!

(Indem Nathan zu ihm tritt, tritt Sittah zu dem Geschwister, ihm ihre Teilnahme zu bezeigen; und Nathan und Saladin sprechen leiser.)

(Hör! hör doch,) Nathan! Sagtest du vorhin Nicht ?

Nathan. Was?

Saladin. Aus Deutschland sei ihr Vater nicht Gewesen; ein geborner Deutscher nicht. Was war er denn? Wo war er sonst denn her?

Nathan. Das hat er selbst mir nie vertrauen wollen. Aus seinem Munde weiß ich nichts davon.

Saladin. Und war auch sonst kein Frank? kein Abendländer?

Nathan. Oh! daß er der nicht sei, gestand er wohl. Er sprach am liebsten Persisch ...

Saladin. Persisch? Persisch? Was will ich mehr? Er ist's! Er war es!

Nathan. Wer?

Saladin. Mein Bruder! ganz gewiß! Mein Assad! ganz Gewiß!

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Nathan. Nun, wenn du selbst darauf verfällst: Nimm die Versichrung hier in diesem Buche!

(Ihm das Brevier überreichend.)

Saladin (es begierig aufschlagend). Ah! seine Hand! Auch die erkenn ich wieder!

Nathan. Noch wissen sie von nichts! Noch steht's bei dir Allein, was sie davon erfahren sollen!

Saladin (indes er darin geblättert). Ich meines Bruders Kinder nicht erkennen? (Wieder laut.) Sie sind's! Sie sind es, Sittah, sind's! Sie sind's! Sind beide meines ... deines Bruders Kinder! (Er rennt in ihre Umarmungen.)

Sittah (ihm folgend). Konnt's auch anders, anders sein!

Saladin (zum Tempelherrn). Nun mußt du doch wohl, Trotzkopf, mußt mich lieben! (Zu Recha.)

Saladin (zum Tempelherrn zurück). Mein Sohn! mein Assad! meines Assads Sohn!

Tempelherr. Ich deines Bluts! So waren jene Träume, Womit man meine Kindheit wiegte, doch Doch mehr als Träume! (Ihm zu Füßen fallend.)

Saladin (ihn aufhebend). Seht den Bösewicht! Er wußte was davon, und konnte mich Zu seinem Mörder machen wollen! Wart!

Alle: Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.

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11. Anregungen für Ihren Unterricht

„Wenn hat, und wo die fromme Raserei,

Den bessern Gott zu haben, diesen bessern

Der ganzen Welt als Besten aufzudringen,

In ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr

Gezeigt, als hier, als itzt?.“ Tempelherr

Figurenstandbild als alternative

Szenenfotos

Fordern Sie die Klasse auf, ein Standbild

zu den Figuren zu kreieren. Natürlich

muss zuvor diskutiert werden:

Welche Figuren gehören welcher Religion

an? Wer bildet zum Anfang des Stückes

eine Familie? Wo gibt es Konflikte?

Lassen Sie drei Entwicklungsstadien

nachstellen: Der Beginn des Stückes //

Kurz vor oder nach der Ringparabel // am

Ende des Stückes. Was verändert sich

und weshalb?

Lassen Sie andere Schüler ein neues

Standbild bauen und sprechen sie mit

ihnen über die unterschiedliche

Wahrnehmung.

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VORBEREITUNG DES THEMAS RELIGION UND TOLERANZ

Im Unterricht haben Sie vielfältige Möglichkeiten, an das Thema heranzugehen. Sprechen Sie mit

Ihren SchülerInnen über die Fragen:

Welche Religionen sind in Deutschland vertreten? Welche in der Klasse?

Wo liegen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Religionen?

Wo wird gerade auf der Welt ein religiös motivierter Konflikt ausgetragen?

Hat religiöse Gewalt in unserem Alltag Relevanz? Können wir sie nachvollziehen?

Was bedeutet für die Schüler*innen Toleranz?

Vorbereitung des Textes

An erster Stelle steht natürlich die Lektüre des Dramas mit besonderer Beachtung der Frage: Wie

gestaltet sich das Zusammenleben der Religionen im islamisch regierten Jerusalem zu Zeiten der

Kreuzzüge und wie im heutigen Deutschland?

Aneignung des Theatertextes

Lesen Sie gemeinsam eine oder mehrere der Spielszenen. Fordern Sie die Schüler auf, den

Text neutral zu lesen. Experimentieren Sie im Weiteren mit Gemütszuständen: Wie kann man den

Text noch lesen? Aggressiv, ängstlich, wütend, glücklich, müde, resigniert, … Welches Gefühl stimmt mit dem Inhalt der Szene überein, welches nicht?

Eine Variante dieser Aufgabe ist, sie im Kreis stehend durchzuführen. Man kann sich

gegenseitig besser beobachten und ist beim Lesen freier. Regen Sie Ihre Schüler dazu an, auch

körperlich in die Emotion zu gehen. Welche Gesten, welche Haltungen und welche Mimik sind den

verschiedenen Emotionen zu eigen?

Szenisches Arbeiten: Das Entwickeln einer Theaterszene

Am besten lesen Sie mit der Klasse einen Auszug aus der Romanvorlage. Sammeln Sie

gemeinsam erste Ideen, wie die Szene in einem Theaterstück aussehen könnte. Besprechen Sie

die verschiedenen Tätigkeiten, die für das Entstehen eines Stückes notwendig sind, nehmen Sie

sich ggf. das Kapitel BERUFE AM THEATER zur Hilfe. Nun werden Teams eingeteilt. Je nach

Möglichkeiten kann diese anspruchsvollere Aufgabe mehrere Unterrichtsstunden oder auch einen

Projekttag oder -woche füllen.

● Team AutorIn: Ein Autor (oder ein Autorenteam) schreibt die Szene. Überlegt, welche Sätze,

Wörter, Ausdrücke zu den Rollen passen. Achtet darauf, dass Eure Texte von den Spielern

gesprochen werden, nicht gelesen!

● Team SchauspielerIn: Verteilt die Rollen und sprecht im Team darüber: Was ist aus dem Text zu

erkennen, wer diese Person ist? Nun fehlt Euch vielleicht eine Menge Hintergrund. Überlegt Euch

gemeinsam passende Biografien: Was hat die Person erlebt, warum ist sie heute, wie sie ist, wie

reagiert sie auf bestimmte Situationen, was mag sie – und was nicht? Lernt den Text auswendig

und überleg, wie ihr die Rolle gerne spielen würdet.

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● Team Requisite & Kostüm: Überlegt, welche Kleidung, Make-up, Accessoires und Requisiten zu

den drei Rollen passen. Wenn ihr die fertige Szene bekommt, könnt ihr Vorschläge machen, was

wann und wie verwendet wird. Achtet darauf, dass die Requisiten die Szene, die Charaktere und

den Text unterstützt und nicht störend oder befremdlich wirken.

● Team Regie & Dramaturgie: Den Text solltet ihr gut kennen und im Vorfeld Ideen haben, wie ihr

die Szene darstellen wollt. Sprecht die Szene nun mit den Spielern in verteilten Rollen durch. Die

Spieler stellen somit ihre Rolle dar. Beobachtet aus der Zuschauerperspektive wie die Szene

rüber kommt und überlegt mit den Spielern, wie Position, Lautstärke, Bewegungen verändert

werden können, um die Szene für den Zuschauer interessant zu machen. Achtet auf die

Interaktion zwischen den Spielern: Wie reagieren sie aufeinander?

Fragen zur Inszenierung

Wie startet und endet die Inszenierung? Was könnten die Gründe dafür sein?

Wie verändern sich die Kostüme im Laufe des Stücks?

Gibt es in dieser Inszenierung Ähnlichkeiten mit religiösen Konflikten von heute?

Würdet ihr für kulturelle und religiöse Ideale eintreten? Kämpfen? Wo sind dann eure

Grenzen?

Literarisches Arbeiten: Schlagwörter

Diese Aktion eignet sich hervorragend, um eine Brücke zwischen der Aufführung und den

Unterrichtsstunden zu schlagen.

Lassen Sie die Schüler vor und nach dem Theaterbesuch je ein Wort zum Stück auf eine

Karteikarte schreiben. Wie hat sich die Wahrnehmung der einzelnen Schüler verändert?

Sprechen Sie mit ihren Schülern über erfüllte und unerfüllte Erwartungen, veränderte Einstellung

zur Thematik und den Einfluss der Spielweise auf die Wahrnehmung von Problemen.

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12. Buchungsinformation und Kontakt

NATHAN DER WEISE

Premiere: 21.10.2017 / 20:00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven

Wir spielen NATHAN DER WEISE voraussichtlich bis Mitte März 2018 und empfehlen das Stück ab der 9.

Klasse.

Schüler erhalten 50% Ermäßigung auf den regulären Kartenpreis.

Im Klassenverband kosten alle Karten 7,50€, in den hintersten zwei Reihen nur 6,40€.

Für alle inhaltlichen Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung:

Saskia Zinsser-Krys, Dramaturgin

Tel. 04421.9401-17

[email protected]

Sie möchten, dass wir zu Ihnen in die Schule kommen? Dann sprechen Sie uns an:

Frank Fuhrmann, Theaterpädagoge der Jungen Landesbühne

Tel. 04421.9401-49

[email protected]

13. Aufführungstermine „Nathan der Weise“

Stand: 18. Oktober 2017 Änderungen und Ergänzungen vorbehalten!

Termine in Wilhelmshaven, Stadttheater:

Do, 19.10.2017 / 19.00 Uhr

Sa, 21.10.2017 / 20.00 Uhr

Mi, 08.11.2017 / 20.00 Uhr

Mo, 20.11.2017 / 20.00 Uhr

So, 03.12.2017 / 15.30 Uhr

Sa, 16.12.2017 / 20.00 Uhr

Fr, 02.02.2018 / 20.00 Uhr

Fr, 09.02.2018 / 20.00 Uhr

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Termine im Spielgebiet:

Di, 24.10.2017 / 19.30 Uhr / Weener, Theatersaal der Oberschule

Mi, 25.10.2017 / 19.30 Uhr / Emden. Neues Theater

Mo, 13.11.2017 / 19.00 Uhr /

Di, 14.11.2017 / 19.30 Uhr / Esens, Theater in der Theodor-Thomas-Halle

Mi, 15.11.2017 / 19.00 Uhr /

Do, 16.11.2017 / 19.30 Uhr / Norden, Theatersaal der Oberschule

Fr, 17.11.2017 / 20.00 Uhr / Jever, Theater am Dannhalm

Mi, 22.11.2017 / 19.30 Uhr / Aurich, Stadthalle

Mi, 29.11.2017 / 19.30 Uhr / Nordenham

Mo, 11.12.2017 / 19.30 Uhr / Leer, Theater an der Blinke

Do, 14.12.2017 / 20.00 Uhr / Wittmund, Aula Brandenburger Straße

Sa, 17.02.2018 / 19.00 Uhr / Papenburg, Forum alte Werft

Di, 06.03.2018 / 19.30 Uhr / Norderney, Kurtheater

Mo, 12.03.2018 / 20.00 Uhr / Vechta, Metropol-Theater

Di, 13.03.2018 / 11.30 Uhr / Vechta, Metropol-Theater