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Beiträge zur Wissenschaftvom Alten und Neuen TestamentElfte Folge

Herausgegeben vonWalter DietrichRuth ScoralickReinhard von BendemannMarlis Gielen

Heft 3 · Der ganzen Sammlung Heft 203

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Eckhard Rau

Perspektiven des Lebens Jesu

Plädoyer für die Anknüpfungan eine schwierige Forschungstradition

Herausgegeben und erweitert von Silke PetersenMit einem Geleitwort von Ulrich Luz

Verlag W. Kohlhammer

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Alle Rechte vorbehalten© 2013 W. Kohlhammer GmbH StuttgartUmschlag: Gestaltungskonzept Peter HorlacherGesamtherstellung:W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, StuttgartPrinted in Germany

ISBN 978-3-17-022954-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-02 7 6426-

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INHALT Ulrike Wagner-Rau: Danksagung .....................................................................9 Ulrich Luz: Geleitwort .....................................................................................11

ECKHARD RAU

PERSPEKTIVEN DES LEBENS JESU. PLÄDOYER ZUR ANKNÜPFUNG

AN EINE SCHWIERIGE FORSCHUNGSTRADITION Vorwort .............................................................................................................19 Einleitung ..........................................................................................................21

Erster Teil Zur gegenwärtigen Forschung

1.1 Die Ausblendung des Lebens Jesu ............................................................29 1.1.1 Der Konsens der „Neuen Frage“: Günther Bornkamm.....................29 1.1.2 Funktionale Gegnerschaft und Gegnerschaft der Tat: John Dominic Crossan ........................................................................32 1.1.3 Gesetzeskontroversen im Rahmen des Üblichen und ein aggressiver Passahpilger: E. P. Sanders................................33 1.1.4 Die Kunst, sich alle frühjüdischen Gruppen zu Gegnern zu machen: Jürgen Becker .................................................................35 1.1.5 Die tiefe Verunsicherung der Jünger: Gerd Theißen und Annette Merz ........................................................38 1.1.6 Galiläa und Jerusalem: Kontinuität und Diskontinuität im Auftreten Jesu.............................41 1.2 Neuere Ansätze und ihre Blockaden .........................................................42 1.2.1 Der Schüler des Täufers und seine Vision vom Satanssturz: Jürgen Becker, Ulrich B. Müller, Paul W. Hollenbach ....................42 1.2.2 Offene Verkündigung und Ablehnung der Botschaft: Athanasius Polag ................................................................................45 1.2.3 Galiläischer Frühling und galiläische Krise: Franz Mußner ............49 1.2.4 Die Werbung um Gerechte und die Verurteilung von Pharisäern: Eckhard Rau..............................................................51 1.2.5 Todesgewissheit und Todesverständnis: Erich Gräßer, Heinz Schürmann, Anton Vögtle, Peter Wolf ..................................56 1.2.6 Die Gottesherrschaft im Fragment und der Rückfall zur Apokalyptik des Täufers: Martin Ebner .....................................63

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Inhalt

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1.3 Das Leben Jesu meldet sich zurück ..........................................................71 1.3.1 Jesus zieht nach Jerusalem, um dort zu sterben: Ulrich Luz ............71 1.3.2 Jesus führt in Jerusalem seinen Tod herbei: Ulrich Wilckens ..........74 1.4 Zur Logienquelle .........................................................................................80 1.4.1 Q-Forschung und Jesusforschung: Von der Notwendigkeit eines Dialogs ...............................................80 1.4.2 Der Gerichtshorizont der Logienquelle: Dieter Lührmann und Paul Hoffmann................................................82 1.4.3 Der historische Jesus in den Fesseln der Q-Redaktion: John S. Kloppenborg und die Folgen .................................................84 1.4.4 Das Reich Gottes, der harte und der weiche Jesus: Helmut Köster, Daniel Kosch und Dieter Zeller ...............................88 1.4.5 Zur Gerichtsverkündigung Jesu: Eine tiefgreifende Neuorientierung ...................................................91 1.4.6 Weitgehend erfolglos in Galiläa, bricht Jesus auf nach Jerusalem: Marius Reiser ..........................................................94 1.4.7 Abgelehnt in Galiläa, geht Jesus in Jerusalem gegen den Tempel vor: Christian Riniker .........................................97 1.4.8 Q-Forschung und Jesusforschung im Dialog: Eine erste Bilanz ...101 1.5 Resümee ....................................................................................................104

Zweiter Teil Ein Blick zurück

2.1 Theodor Keim – das Programm ..............................................................107 2.1.1 Vorbemerkung ..................................................................................107 2.1.2 Die menschliche Entwicklung Jesu Christi .....................................107 2.1.3 Die geschichtliche Würde Jesu ........................................................113 2.1.4 Friedrich Schleiermacher .................................................................114 2.1.5 Karl August von Hase ......................................................................116 2.1.6 Resonanz ...........................................................................................118 2.1.7 Keim im Dialog mit dem Markuslöwen ..........................................120 2.1.8 Würdigung .........................................................................................125 2.2 Heinrich Julius Holtzmann.......................................................................128 2.2.1 Vorbemerkung ..................................................................................128 2.2.2 Die Zweiquellentheorie ....................................................................129 2.2.3 Die Quelle A .....................................................................................131 2.2.4 Die Logienquelle................................................................................135 2.2.5 Die Koinzidenz der Quellen .............................................................138 2.2.6 Lebensbild Jesu nach der Quelle A .................................................139 2.2.7 Das messianische Auftreten Jesu .....................................................142

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Inhalt

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2.2.8 Die Verkündigung Jesu ....................................................................146 2.2.9 Würdigung .........................................................................................150 2.3 Theodor Keims Geschichte Jesu von Nazara .........................................154 2.3.1 Aufbau und Eigenart .........................................................................154 2.3.2 Die Quellen .......................................................................................2.3.3 Der Rüsttag .......................................................................................162 2.3.4 Der galiläische Frühling und die Erfolge des Anfangs ..................165 2.3.5 Die galiläischen Stürme und die Leidensproklamation bei Cäsarea Philippi ..........................................................................169 2.3.6 Der jerusalemische Messiaszug und Jesus der Zelot ......................174 2.3.7 Der jerusalemische Messiastod und die Auferstehung ...................179 2.3.8 Würdigung .........................................................................................182 2.4 Albert Schweitzer ......................................................................................186 2.4.1 Vorbemerkung ..................................................................................186 2.4.2 Der Schlüssel der Evangelienfrage und des Lebens Jesu ...............188 2.4.3 Das Abendmahlsproblem .................................................................190 2.4.4 Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis .......................................193

2.4.4.1 Die modern-historische und die eschatologisch-historische Konstruktion ...........................194 2.4.4.2 Die Beurteilung der Quellen ................................................196 2.4.4.3 Abriss des Lebens Jesu ........................................................199

2.4.5 Von Reimarus zu Wrede ..................................................................204 2.4.5.1 Das Dogmatische im Leben Jesu ........................................207 2.4.5.2 Das Weltrad, die Markushypothese und die historische Intuition und Phantasie ...................................210

2.4.6 Matthäus – eine bis ins Detail authentische Chronik? ...................215 2.4.7 Resonanz ...........................................................................................219 2.4.8 Der Lehrer Schweitzers, das Weltrad und der psychiatrische Jesus ............................................................225 2.4.9 Würdigung..........................................................................................230 2.5 Resümee .....................................................................................................234

Dritter Teil Von Galiläa nach Jerusalem

Jesu Weg in den Tod Einleitung ........................................................................................................239 3.1 Die Ablehnung Jesu durch „dieses Geschlecht“ ...................................241 3.1.1 Die Verweigerung der Umkehr durch Chorazin, Bethsaida und Kapernaum ................................................................241 3.1.2 Die Verweigerung der Umkehr durch „dieses Geschlecht“............245

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Inhalt

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3.1.3 Die Söhne des Reiches Gottes – fort vom Mahl mit den Vätern und ab in die Scheol! ...............................................247 3.1.4 Die eingeladenen Gäste – keiner wird am Mahl teilnehmen!.........250 3.1.5 Zwei Ergänzungen: Die Witwe von Sarepta, und „Wenn ihr nicht umkehrt …“ ...................................................255 3.1.6 Die Ablehnung in Galiläa als historisches Ereignis ........................258 3.2 Jesus und die Tötung der Propheten .......................................................261 3.2.1 Johannes der Täufer und der Menschensohn ..................................261 Silke Petersen: Zur Fortsetzung der Auslegung............................................267

SILKE PETERSEN MUTMAßUNGEN ÜBER EINE MÖGLICHE THESE,

ODER: WAS ERWARTETE JESUS IN JERUSALEM ?

4.1. Rückblick ..................................................................................................273 4.2. Jesus und der Tempel ..............................................................................280 4.2.1 Voraussetzungen................................................................................280 4.2.2 Zur Rekonstruktion der Tempelaktion Jesu .....................................283 4.2.3 Mögliche Deutungen der Tempelaktion Jesu...................................291 4.2.4 Die Ansage der Tempelzerstörung ...................................................298 4.2.5 Das Jerusalemwort als Verbindungsstück zur Galiläa-Überlieferung........................................................................305 4.3. Was erwartete Jesus in Jerusalem? ........................................................309 5.1 Literaturverzeichnis ..................................................................................315 5.2 Bibliographie Eckhard Rau......................................................................334

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Danksagung

Ulrike Wagner-Rau

Bis zu seinem letzten Lebenstag hat mein Mann, Eckhard Rau, an dem vorlie-genden Manuskript mit großem Engagement gearbeitet. Es war das dominie-rende Thema seiner neutestamentlichen Forschungen, den Zusammenhang der verschiedenen Stränge und inhaltlichen Aspekte der Jesus-Überlieferung zu ver-stehen. Die kritische Auseinandersetzung mit den großen Werken der Leben-Jesu-Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellte dafür eine wesentli-che Anregung dar. Er war begeistert von der stilistischen Kraft, aber ebenso be-eindruckt von den exegetischen Einsichten der damaligen Autoren. Auch in der heutigen Reflexion exegetisch zentraler Fragen, so seine Überzeugung, ist ein kritisch-konstruktiver Rückgriff auf diese Werke weiterführend, die er in seinem Buch vorstellen wollte, um sie für einen eigenen Entwurf fruchtbar zu machen.

Der eigene Entwurf ist Fragment geblieben. Dennoch erschien es sinnvoll, das bisher Erarbeitete zu veröffentlichen und damit für den wissenschaftlichen Diskurs zur Verfügung zu stellen. Dieses aber wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht Silke Petersen, die über Jahrzehnte mit meinem Mann kollegial und freundschaftlich verbunden war, bereit gewesen wäre, ihre wissenschaftliche Kompetenz für dieses Projekt einzusetzen. Sie hat das Manuskript intensiv bear-beitet und korrigiert und – von ihrem eigenen Verständnis der Problematik her – die losen Enden des Gedankenganges so weitergeführt, dass das Buch einen sinnvollen und anregenden Abschluss erfährt. Für dieses – gedanklich und zeit-lich – aufwändige Engagement sei ihr von Herzen gedankt.

Ebenfalls dankbar bin ich Ulrich Luz, der dem Buch ein Geleitwort ge-schenkt hat. Es hat meinem Mann viel bedeutet, dass dieser anerkannte Autor ähnlich wie er selbst auf die Autoren des 19. Jahrhunderts zurückgriff, um die Frage des Weges Jesu nach Jerusalem zu erhellen.

Nicht zuletzt sei gedankt Reinhard von Bendemann, der die Aufnahme des Bandes in die Reihe Beiträge zur Wissenschaft des Alten und Neuen Testamen-tes (BWANT) befürwortet hat, Jürgen Schneider und Florian Specker, den Lek-toren des Kohlhammer-Verlages, für die zuverlässige Begleitung und dem För-derverein des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Hamburg, Theologie am Tor zur Welt e.V., für die finanzielle Förderung des Projektes.

Es ist für meine Söhne und mich selbst eine große Freude, dieses letzte Buch meines Mannes, dessen Entstehungsprozess ihn auch in den Monaten seiner Krankheit sehr erfüllt und getragen hat, nun noch in den Händen zu halten.

Marburg, Januar 2013 Ulrike Wagner-Rau

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Zum Geleit

Ulrich Luz

Es ist bewegend und schmerzlich, wenn ein engagierter Kollege, den man gern hat, noch relativ jung sterben muss. Es ist aber ganz besonders schmerzlich, wenn dies ein Kollege ist, der an einem Buch arbeitete, auf das wir mit großer Spannung gewartet haben. Das war so bei Eckhard Rau. Er ist – gerade einmal dreiundsiebzigjährig – von uns gegangen und hat sein seit langem geplantes Buch über Jesu letzte Reise nach Jerusalem, die zu seinem Tod führte, nicht mehr vollenden können. Seit Jahren hat er an diesem Buch gearbeitet – und jetzt bleibt es ein unvollendetes Fragment.

Die Frage, die hinter diesem Buch steht, liegt auf der Hand. Warum ist Jesus gestorben? Die Antworten, welche die theologische Literatur der Vergangenheit auf diese Frage gab, kreisten im Großen und Ganzen um die Bedeutung seines Todes. Sie waren vor allem von den neutestamentlichen Briefen und der kirch-lichen Tradition inspiriert: Sühne, Opfer, Loskauf, Stellvertretung sind die wich-tigsten Stichworte. In den synoptischen Evangelien, unseren wichtigsten Quel-len über Jesus, ist bekanntlich davon fast nichts zu lesen.

Um die historische Frage nach dem Tod Jesu war es seit dem ersten Welt-krieg recht still geworden. Das hat verschiedene Gründe: Albert Schweitzers großartige und wortgewaltige „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ hat die Leben-Jesu-Forschung des neunzehnten Jahrhunderts als pseudohistorisches Wunschdenken entlarvt und ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Schweitzer maß sie mit dem Maßstab seiner eigenen historischen Hypothese über das Leben Jesu, die seine Zunftgenossen – mit Recht – ebenso wenig über-zeugte wie umgekehrt ihre Hypothesen Albert Schweitzer. Ebenso wichtig wie dieser Grabgesang Schweitzers, aber in der Öffentlichkeit viel weniger bekannt wurden das wichtige Buch von William Wrede über das Messiasgeheimnis in den Evangelien, welches die Grundkonstruktion des Aufrisses des Markusevan-geliums, das den besten Biographien Jesu aus dem neunzehnten Jahrhundert als Basis gedient hatte, als Gemeindebildung erwies, und die in den frühen zwanzi-ger Jahren vorgelegten Arbeiten der Formgeschichtler: Sie machten plausibel, dass in den Evangelien zwar viele alte und historisch möglicherweise zuverläs-sige Einzeltraditionen stehen, ihre Anordnung in den Evangelien aber jung und zu einem großen Teil das Werk der Evangelisten ist. Dazu kam, dass durch die dialektische Theologie sich die grundlegenden Interessen der Theologie ver-schoben: An die Stelle der Geschichte trat das Wort Gottes, an die Stelle des historischen Jesus der Christus des Glaubens, an die Stelle der Ethik die Recht-fertigung.

Auch nach dem zweiten Weltkrieg blieb es zunächst so: Die historische Fra-ge nach dem Tod Jesu wurde auch von denen, die wieder neu nach dem histo-

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Ulrich Luz

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rischen Jesus fragten, kaum gestellt. Nur ein ganz besonderer Aspekt wurde wichtig: Nach der traumatischen Erfahrung des Holocaust musste man neu nach der Schuld, der Mitschuld oder der Unschuld der Juden am Tod Jesu fragen. In den Evangelien und noch mehr in der späteren kirchlichen Tradition wurden sie bekanntlich in immer höherem Maße belastet. Man versuchte durch historische Forschung, die Juden möglichst von jeder Mitschuld am Tod Jesu zu entlasten. Mindestens in der Grundtendenz herrschte hier in der Forschung ein bemerkens-werter Konsens. Diese Entlastung diente auch der eigenen Selbstentlastung. Auch in der so genannten “Third Quest”, dessen Vertreter Jesus oft sehr profi-liert als Juden, nicht nur als „Rand-Juden“, sondern gerade als Zentraljuden cha-rakterisieren, blieb die Frage nach dem Tod Jesu und den Gründen, die zu ihm führten, im ganzen recht marginal.

Vor allem eine Frage blieb marginal und wurde von der Forschung nur sehr zögerlich gestellt: Was hat Jesus selbst zu seinem Tod beigetragen? Wollte er seinen Tod? Oder hat er ihn nur als Möglichkeit in Kauf genommen? Sein Ver-halten in seinem letzten Lebensabschnitt ist ja sehr ungewöhnlich. Er zog nach Jerusalem – ob zum ersten Mal in der kurzen Zeit seiner öffentlichen Wirksam-keit bleibe hier offen. Dort verhielt er sich höchst auffällig: Er zog in die heilige Stadt ein, als ein – vorsichtig gesagt – ganz ungewöhnlicher Festpilger. Er ging dann in den Tempel, dessen bevorstehende Zerstörung er angekündigt hatte, und verhielt sich dort – wiederum vorsichtig gesagt – ziemlich provokativ. Er hätte damals noch die Gelegenheit gehabt, sich aus Jerusalem unauffällig abzusetzen, denn er musste ja wissen, wie brenzlig dort die Situation während der großen Pilgerfeste war. Er hätte sich durch das Schicksal Johannes des Täufers und durch das Schicksal der Propheten, die ihm beide wohl vertraut waren, warnen lassen können, aber er ließ sich nicht warnen. Er hätte seine Verhaftung leicht vermeiden können, aber er tat es nicht – im Unterschied zu seinen Jüngern. Eckard Rau sagt: Jesus nutzt das Passahfest, „dessen Riten er sich nicht unter-wirft, als Forum für ein ganz und gar festfremdes, äußerst anstößiges Anliegen“ (40) Hat er – so fragt er provokativ – „menschlich gesehen, mit Hilfe Dritter seinen Suizid“ betrieben? (80). Die Evangelisten sehen es ähnlich, aber sie in-terpretieren es anders: Nach ihnen hat Jesus seine Passion, sein Sterben und seine Auferstehung selbst angekündigt. Sie interpretieren das aus göttlicher Per-spektive: So „musste“ geschehen, was geschah. Entspricht diese Interpretation der historischen Wirklichkeit? Hat Jesus seinen Tod selbst angekündigt und dann folgerichtig auch das Seine zur Erfüllung seiner eigenen Prophezeiung beigetragen?

Die Brisanz dieser Fragen ist evident. In der neutestamentlichen Wissen-schaft wurden sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weithin vernachlässigt. Eckard Rau hat sich ihnen gestellt. Er schwimmt damit gegen den Hauptstrom auch der gegenwärtigen Jesusforschung. Darum haben viele mit großer Span-nung auf die Antworten, die er in seinem Buche geben würde, gewartet. Aber es blieb leider ein Fragment. Rau hat in den Teilen, die er druckfertig hinterlassen hat, zwar Antworten angedeutet und Richtungen gewiesen. Aber den größten Teil des dritten Hauptteils, in dem er seine eigenen Thesen hätte entfalten wol-

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len, hat er nicht geschrieben; und es gibt auch keine Notizen und Entwürfe dazu. Im Einzelnen hat er also seine Thesen, wenn er sie selbst schon hatte, mit ins Grab genommen. Nicht einmal die Disposition der noch nicht geschriebenen Kapitel des dritten Hauptteils kennen wir ganz genau. Die Aufgabe, vor der seine Schülerin Silke Petersen stand, aus verstreuten Andeutungen Eckard Raus ein Gesamtbild dessen zu erahnen und zu skizzieren, was er wohl geschrieben hätte, und so das unvollendet gebliebene Buch im Sinn und Geist von Eckard Rau zu ergänzen, war also sehr schwierig. Sie hat sie m.E. in ihrem ergänzenden Aufsatz mit Bravour gelöst. Der zweite Teil ihres Aufsatzes enthält Untersu-chungen zu einigen in Raus Text fehlenden Textkomplexen, nämlich zur Aus-treibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, zur Ansage der Tempel-zerstörung und zum Jerusalemwort Q 13,34f. Hier hat sie in feinfühliger Weise, in intensivem geistigen Gespräch mit Eckard Rau, behutsam versucht, ihre ei-gene Sicht zu entfalten. Sie hat so das Fragment, das uns Eckart Rau hinterlas-sen hat, in sehr schöner Weise abgerundet. Wir sind ihr dafür zu großem Dank verpflichtet.

Denn dieses Fragment musste veröffentlicht werden: Denn es enthält – ver-steckt in der Forschungsgeschichte seit Günter Bornkamm (= erster Hauptteil) und in den Referaten und Würdigungen einiger großer Jesusforscher aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Heinrich Julius Holtzmann, Karl Theodor Keim und Albert Schweitzer = zweiter Hauptteil) mehrere ganz wichtige For-schungsperspektiven und Richtungsangaben, welche die Jesusforschung voran-treiben können. Ich möchte vier nennen:

1. Rau möchte erneut an die Jesusforschung des 19. Jahrhunderts anknüp-fen. Er ist überzeugt, dass wir von der scheinbar diskreditierten und überholten Jesusforschung des 19. Jahrhunderts eine Menge lernen können. In der Tat: Wer sich die Mühe nimmt, sich durch seine ausführlichen und pointierten Darstel-lungen der in den Grundlinien bekannten Thesen Schweitzers, der im Einzelnen schon etwas weniger bekannten Thesen Holtzmanns und der heute so gut wie unbekannten und auch von Schweitzer nur ganz kurz und referierten Thesen Theodor Keims durchzuarbeiten, wird reichlich entschädigt. Raus Darstellung bürstet die Autoren des 19. Jahrhunderts wider den heute üblich gewordenen negativen Strich und fragt: Was können wir aus ihnen lernen? Sein Hauptinte-resse ist also gerade nicht, sie als zeitbedingt in die gesellschaftlichen, theologi-schen und geistesgeschichtlichen Kontexte des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Wenn man sie mit Raus Augen liest, so enthalten sie – inmitten von sehr vielem Zeitbedingten – eine Menge höchst anregender Fragen, Beobachtungen, Ver-mutungen und Hypothesen. Rau profiliert sie und macht sie für unsere heutigen Diskurse über Jesus fruchtbar. Das ist höchst reizvoll und lehrreich.

2. Rau revidiert manche spätestens seit der Mitte des letzten Jahrhunderts „gängig“ gewordenen Unechtheitsurteile. Sie betreffen insbesondere apokalyp-tisch geprägte Worte Jesu, Gerichtsaussagen und prophetische Worte, die nach wie vor überaus gerne Jesus abgesprochen werden, um ihn „von der Verant-

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wortung für futurische Eschatologie, Apokalyptik und Gericht zu entlasten“1. Rau vermutet, dass ein großer Teil der Gerichtsworte Jesu, darunter alle von „dieser Generation“ sprechenden, die meisten gegen die Pharisäer oder Schrift-gelehrten gerichteten Weherufe, die Worte, die eine zeitlich terminierte Naher-wartung Jesu bezeugen, manche apokalyptisch gefärbten Worte Jesu und viel-leicht sogar die Leidensankündigungen authentisch sein könnten.

3. Rau rechnet mit einer Entwicklung im Denken und in der Verkündigung Jesu. Er nimmt damit Ansätze auf, die in neuerer Zeit wenigstens ansatzweise in Büchern von Athanasius Polag, Marius Reiser, Christian Riniker, Ulrich Wil-ckens und Martin Ebner zu finden sind. Im 19. Jahrhundert, als man die Jesus-geschichte des Matthäus- oder des Markusevangeliums als Grundlage für eine Biographie Jesu direkt benutzen zu können meinte, war es gang und gäbe, von verschiedenen Phasen im öffentlichen Wirken Jesu und von einer Entwicklung seines Denkens zu sprechen. Auf diese Weise ist das heute nicht mehr möglich. Trotzdem muss es eine Entwicklung in Jesu Denken gegeben haben: Jesus hat sich in Jerusalem äußerst provokativ verhalten, aber wir haben keinerlei Hin-weise in den Texten, dass er durch Vorgänge in der Stadt selbst dazu veranlasst geworden wäre. Wahrscheinlicher ist darum, dass er bereits deswegen von Gali-läa nach Jerusalem aufgebrochen ist, um sich dort provokativ zu verhalten. Wo-durch wurde dieser Entschluss veranlasst? Rau weiß natürlich, dass die Jesus-geschichten der Evangelien diese historische Frage nicht beantworten können – „es bleibt … eine Leerstelle“ (40). Sie hoffte er im Fortgang seiner Arbeit all-mählich zu füllen. Wir wissen nicht, wie er sie im Einzelnen gefüllt hätte. Wohl aber wissen wir, auf welchem Wege er zu einer „Füllung“ kommen wollte. Nicht auf die Erzählung der Evangelien, sondern primär auf die Logienüberlie-ferung wollte er sich stützen. Schon in einem früheren Buch hatte er beobachtet, dass es Jesusüberlieferungen gibt, in denen Jesus versucht, seine potentiellen Gegner zu überzeugen und mit ihnen zu einem Einverständnis zu kommen. In ihnen wendet er sich den Sündern und Randsiedlern des Volkes Israel zu, ohne die Gerechten dadurch zu diskreditieren2. In anderen Worten, die Rau schon da-mals einer späteren Phase seines Wirkens zugeordnet hatte, verbindet Jesus sein Werben um die Sünder und Randsiedler mit einer deutlichen Polemik gegen die Pharisäer, welche für ihn offenbar die exemplarischen Gerechten waren. In sei-nem neuen, unvollendeten Buch baut er diesen Ansatz aus: Die Gerichtsworte „gegen diese Generation“, denen er andere Gerichtsworte zur Seite stellt, inter-pretiert er als ein Zeugnis für Jesu „Ablehnung in Galiläa“, und diese versteht er als „den Hintergrund für den Zug nach Jerusalem …, der von Anfang an die Er-wartung des Todes einschließt“ (239). Diese Perspektive, die Rau aufgrund der Logienüberlieferung, vor allem aus Q-Stoffen, gewonnen hat, ist mit dem Ab-lauf der Jesusgeschichte, wie sie der „Rahmen“ des Markus- (und auch des 1 Vgl. unten, 26. Er spricht hier von der „Globaltheorie“, dass der erhöhte Jesus durch den Mund von Propheten gesprochen habe. 2 Eckhard Rau, Jesus – Freund von Zöllnern und Sündern, Stuttgart 2000. Vgl. das Selbstreferat unten, 51–56.

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Matthäusevangeliums) schildert, recht gut vereinbar. Steckt also hinter dem se-kundären „Rahmen der Geschichte Jesu“ doch ein Stück zutreffende Erinne-rung? Ein interessanter Gedanke, den Rau nur noch andeuten, nicht aber ausfüh-ren konnte.

4. Alle diese Überlegungen führen Rau zu einer neuen Beurteilung der anti-pharisäischen Worte Jesu. Die gegenwärtige Forschungssituation kritisiert er in seiner Einleitung bissig: Die „antipharisäische(n) Worte … werden … in großer Regelmäßigkeit für nachösterlich erklärt. Meist genügt hier bereits der bloße Hinweis auf die Entwicklung nach 70 nach Chr., um hiefür mit Einverständnis rechnen zu können. Dies mag angesichts der Notwendigkeit der Debatte über Antijudaismus im Neuen Testament verständlich sein“ (26). Rau hält aber einen sehr großen Teil von ihnen für jesuanisch. Er versucht, sie (und sich selbst!) vom voraussehbaren Verdikt des „Antijudaismus“ zu befreien und fährt deshalb fort: „Doch scheint es mir an der Zeit, der Gestalt Jesu ein starkes innerjüdi–sches, damit aber keineswegs antijüdisches Konfliktpotential zuzugestehen ge-genüber einer Bewegung, der er selber nahe stand, die aber anders als er auf das öffentliche Ansehen setzen konnte, das sie sich in einer langen Geschichte er-worben hatte“ (ebd.). Angesichts dessen, was wir heute über den innerjüdischen Pluralismus der Zeit vor der Tempelzerstörung und über die Schroffheit anderer innerjüdischer Polemiken wissen, ist das sehr bedenkenswert. Neben Lk 18,9-14 haben m.E. mindestens einige der in Lk 11 und Mt 23 zusammengestellten We-herufe gegen die Pharisäer durchaus Anspruch auf Authentizität. Ob das für alle gilt, hat Rau leider nicht mehr ausführen können. Wahrscheinlich neigte er zu dieser These. Jedenfalls ist er überzeugt, dass es nicht genügt, Jesusüberliefe-rungen mit der Etikette „antijüdisch“ zu versehen und sie daraufhin Jesus abzu-sprechen, weil der Jude Jesus doch nicht „antijüdisch“ gewesen sein könne.

Rau wollte sich nun – als nächstes nach den Gerichtsworten gegen „diese Generation“ – den Prophetenmordtraditionen in der jesuanischen Überlieferung zuwenden. Am Anfang dieses Abschnittes bricht sein Fragment ab. Was er sonst noch untersuchen wollte, listet er auf S. 241 des vorliegenden Textes auf. Mich hätte natürlich besonders interessiert, was er zu den Leidensankündigungen Je-su, zu denen ja nicht nur die markinischen, sondern auch Lk 13,31-33 gehört, gesagt hätte. Noch mehr interessiert hätte mich seine Interpretation von Lk 12,49f. Und schließlich hätte mich sehr interessiert, was seine Meinung zum Selbstverständnis Jesu gewesen wäre. Hätte Rau ihn, wie seinerzeit Albert Schweitzer und heute wieder manche (ich auch!), für den kommenden Men-schensohn-Weltrichter gehalten? Dann würde manches, was die neutestament-lichen Texte überliefern – noch einmal eine neue Dimension gewinnen. Das gilt sowohl für die Gerichtsworte, in denen Jesus oft das Verhältnis zu ihm selbst zu einem entscheidenden Kriterium macht, als auch für die schroffe innerjüdische Polemik, die wir in den Weherufen finden, die dann – wenn der kommende Menschensohn-Weltrichter ihr Sprecher ist –, eine Brisanz gewinnen würden, die andere innerjüdische Polemiken nicht haben. Das gilt dann auch für seine letzte Reise nach Jerusalem und seinen Entschluss, dort (notfalls??) zu sterben. Über alles das hätte ich gerne mit Eckard Rau diskutiert. Aber das kann ich nun

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Ulrich Luz

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leider nicht mehr. Und so ist das jetzt publizierte Fragment seines letzten Buches nicht nur sein Vermächtnis und eine Erinnerung an ungelöste Probleme der Je-susforschung, sondern auch eine Erinnerung an das Fragmentarische alles unse-res Nachdenkens und Forschens über Jesus.

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ECKHARD RAU

PERSPEKTIVEN DES LEBENS JESU

PLÄDOYER ZUR ANKNÜPFUNG

AN EINE SCHWIERIGE FORSCHUNGSTRADITION

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Vorwort

Am Tiberiassee erging sich mit seinem Lieblingsschüler Chajjim Vital Calabre-se, der Meister der Kabbala, Rabbi Isaak Luria. Aus der Mirjamquelle tranken die Männer, fuhren hinaus auf den See. Der Meister sprach von seiner Lehre. Es schwebten die Geister über den Wassern, der Nachen stand still. Es war ein Wunder, dass er nicht sank; denn schwer vom Leben von Millionen war der Rabbi und sein Wort.

Zurück zum Quell der Mirjam kehrten die Männer. Und wieder tranken sie. Da änderte die Quelle plötzlich ihren Lauf. Einen Bogen in die Luft bildete sie, zwei senkrechte Strahlen, einen Querstrahl darüber. Hinein in den Bogen trat der Rabbi als dritter senkrechter Strahl. So ward aus ihm und dem Quell der Buchstabe Schin, der Anfang des erhabensten Gottesnamens Schaddai. Und der Buchstabe wuchs und spannte sich über den See und spannte sich über die Welt. Als der Schüler Chajjim Vital zurückfand aus seiner Verwirrung, floß die Quelle wie früher, doch der Rabbi Isaak Luria war nicht mehr da.

Es war aber dieses Mittelglied des allerheiligsten Buchstabens das einzige, was er niedergeschrieben von seiner Lehre. Denn die Worte seiner Lehre fielen von seinen Lippen und waren wie Schnee. Er ist da, er ist weiß und leuchtet und kühlt; doch halten kann man ihn nicht. So fiel von seinem Mund die Lehre und man konnte sie nicht halten. Der Rabbi schrieb sie nicht nieder und duldete auch nicht, dass ein anderer sie schrieb. Weil das Geschriebene verwandelt ist und der Tod des Gesprochenen. So ist auch die Schrift nicht das Wort Gottes, sondern Maske und Verzerrung und ist, was Holz ist vor dem lebendigen Baum. Erst im Mund des Wissenden steht sie auf und lebt.

Allein nachdem der Rabbi verschwunden war, konnte sich der Schüler nicht enthalten, die Lehre aufs Papier zu zeichnen mit den geschwätzigen, lügneri-schen Zeichen der Schrift. Und er schrieb das Buch vom Lebensbaum und er schrieb das Buch von den Verwandlungen der Seele.

Die Geschichte von Rabbi Isaak Luria und seinem Schüler Chajjim Vital, die wir Lion Feuchtwangers Jud Süß verdanken1, beleuchtet vorzüglich das exegeti-sche Geschäft.

Jesus war kein Kabbalist. Aber auch er sprach am Tiberiassee in all seinen Worten das eine Wort und schrieb es nicht auf. Seine Schülersschüler und deren Schüler schrieben es auf. Und ich? Fasziniert vom historischen Profil der Gestalt Jesu seit langem, bleibt mir nichts als er und sein Wort, eingesperrt in die Zei-chen der Schrift. Ist es Illusion, auch darin Wahrheit zu finden? Ich glaube im-

1 Feuchtwanger, Jud Süß, 359f., wo auch die unmittelbar anschließende Überleitung zum Kommentar der Erzählfigur des Autors besonderes Interesse verdient: „Ach, wie weise war der Meister gewesen, dass er seine Erkenntnis nicht besudelt durch die Schrift, daß er die Lehre nicht verzerrt durch den üblen Zauber der Buchstaben.“

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mer noch: Nein, und ich weiß, dass selbst Wahrheit sich überholt – jedenfalls dann, wenn sie historisch ist.

Die vorliegende Arbeit ist über einen Zeitraum von mehreren Jahren ent-standen. Als ich mit der Niederschrift begann, hatte ich zum speziellen Thema eine Reihe von Beobachtungen, einige Ideen und eine Vielzahl offener Fragen. Um all dies zu klären, las ich, was andere dazu geschrieben hatten, zuerst in der Gegenwart der letzten Jahrzehnte und dann auch in der Vergangenheit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Lesen begann sich manches tatsächlich zu klä-ren, und im Gespräch mit den Quellen kamen neue Beobachtungen, Ideen und Fragen hinzu. Das Ergebnis liegt nun endlich vor.

Es wäre schön, wenn es mir gelänge, Leserinnen und Leser in den Prozess meiner Urteilsbildung zu verwickeln. Dies mutet ihnen zu, sich über weite Stre-cken des Buches mit meiner Form der Lektüre auseinanderzusetzen, die sich bemüht, jedes Mal ein ausgewogenes Verhältnis zu finden zwischen akzentu-iertem Referat, kritischen Anfragen und der Hervorhebung weiterführender Ge-sichtspunkte. Ich hoffe dabei fair verfahren zu sein, kann sich doch ein Autor der Vergangenheit noch weniger gegen seine Verzeichnung wehren als einer der Gegenwart. Und ich hoffe vor allem, dass es mir gelungen ist, in Aufnahme des-sen, was andere geschrieben haben, der gegenwärtigen Jesusforschung einen neuen Impuls zu geben.

Mir ist bewusst, dass ich bei der älteren Literatur sehr viel mehr und um-fangreichere Passagen im Wortlaut zitiere, als es von der Sache her erforderlich wäre. Man möge dies meiner Begeisterung für die Schönheit der wissenschaftli-chen Prosa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zugute halten – und auch dem Wunsch, andere dazu zu verlocken, die großen Werke von damals im Ganzen zu lesen. Vor diesem Hintergrund sei aber auch von vornherein eingestanden: Ins-besondere bei Schweitzer ist die Darstellung weit über das notwendige Maß hinausgeschossen. Sollte ich sie also zurückschneiden auf das Notwendige? Dazu habe ich mich trotz aller Bedenken nicht entschließen können.

Einzelne Aspekte der vorliegenden Arbeit sind bereits in einer Reihe von Aufsätzen behandelt worden2.

Mein Dank gilt allen, die mir in all den Jahren für meine Gedanken Gehör geschenkt und dadurch zu immer neuen Anregungen verholfen haben, besonders meiner Frau Ulrike Wagner-Rau, den Freunden Peter Cornehl und Matthias Kroeger und nicht zuletzt Ulrich Wilckens, der mich immer wieder zur Weiter-arbeit ermutigt hat. Besonders danken möchte ich auch Silke Petersen, deren Lektüre des Manuskripts mich zu einer ganzen Reihe von Korrekturen und Prä-zisierungen genötigt hat.

2 Rau, Q-Forschung und Jesusforschung. Versuch eines Brückenschlags; ders., „Nicht einmal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden“. Die Boteninstruktion als Fokus der Logienquelle; ders., Die Ablehnung Jesu durch „dieses Geschlecht“. Ein tiefgreifendes Er-eignis in der Sicht der Logienquelle und des Markusevangeliums; ders., Die jüdischen, heidnischen und christlichen Quellen des Lebens Jesu in der Forschung des 19. Jahrhunderts. Theodor Keims Geschichte Jesu von Nazara als Beispiel.

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Einleitung

Es ist längere Zeit her, dass ich bei den Worten Jesu zum ersten Mal auf Phä-nomene aufmerksam wurde, die am ehesten verständlich werden, wenn man ein zeitliches Nacheinander in Rechnung stellt. Schon bald wurde mir klar: Der Be-fund lässt sich nicht mit Hilfe der Unterscheidung von Echt und Unecht erklä-ren, und alles spricht dagegen, das Nacheinander auf die Zeit vor und nach Ostern zu verteilen. Sehr viel plausibler ist die Hypothese, dass Jesus selber die einen Worte früher als die anderen gesprochen hat, so dass Phasen seines Wir-kens voneinander unterschieden werden können. Einschränkend sei freilich hin-zugefügt: Die große Mehrzahl der Worte Jesu entzieht sich solcher Differenzie-rung. Mir selber jedenfalls kam zunächst nur ein einziger, wenn auch zentraler, besonders konfliktträchtiger Aspekt seines Auftretens in den Blick: die Ausein-andersetzung mit Pharisäern und Gerechten über die Zuwendung zu den Verlo-renen, zu Sünderinnen und Sündern1.

Schon bald nahm ich wahr, dass auch andere in der Wortüberlieferung auf das Problem eines Nacheinanders im Auftreten Jesu gestoßen waren. Entwürfe sehr verschiedener Art und Tragweite begleiten die neuere Jesusforschung von Athanasius Polags Christologie der Logienquelle von 1969/1977 bis zu Martin Ebners Jesus von Nazaret in seiner Zeit von 2003. Wer sich in sie vertieft, kann zwei auffällige Beobachtungen machen: Obwohl sich die Beiträge durchweg der deutschsprachigen und hier besonders der katholischen Exegese verdanken, nehmen die Autoren außer bei Überlegungen zur Todesgewissheit und zum To-desverständnis Jesu kaum voneinander Kenntnis, so dass kein Diskussionspro-zess entsteht, der Probleme vertieft, verknüpft oder als irrelevant erweist. Und: Obwohl die Koinzidenz mit Fragestellungen der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts mit Händen zu greifen ist, führt deren Ausblendung dazu, dass es nicht zu einem Dialog kommt, der Beobachtungen von heute durch Konfronta-tion mit Entwürfen von damals bereichert oder vor Irrwegen bewahrt.

Beide Desiderate sind umso gravierender, als sich schnell zeigt, dass die Unterscheidung von Phasen zentrale Aspekte jedes Jesusbildes berührt. Ich sel-ber dachte zunächst, sie würde ihm nur einen Farbtupfer hinzufügen. Erst all-mählich wurde mir klar, dass sich von daher ein Zugang öffnet zu einigen viel diskutierten Schlüsselproblemen der Forschung. Dazu gehört de Beurteilung ei-ner besonders „harten“ Form der Gerichtsverkündigung Jesu, aber auch die Deutung seines Weges in den Tod. Und vor allem: Nur wer im Auftreten Jesu mit Phasen rechnet, bekommt in den Blick, dass der Schritt von Galiläa nach Je-rusalem eine sachlich belangvolle Zäsur markiert. Wer dagegen selbst hier die Indizien negiert, die für eine Entwicklung sprechen, wird übersehen, dass es im Auftreten Jesu ein starkes Moment von Diskontinuität gibt – auch wenn dieses

1 Rau, Jesus – Freund von Zöllnern und Sündern, 96–169; ders., Jesu Auseinandersetzung mit Pharisäern über seine Zuwendung zu Sünderinnen und Sündern. S. u. die Zusammenfassung unter 1.2.4.

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selbstverständlich nicht unabhängig von der Frage der Kontinuität erörtert wer-den kann.

Mir ist bewusst, dass ein unmittelbarer Rückgriff auf die Vergangenheit nicht möglich ist. Über einhundert Jahre Forschung haben zu neuen Fragestel-lungen und Einsichten geführt, die nicht übergangen werden dürfen. Trotzdem: Die Differenzen sind nicht alles, was dazu zu sagen ist. Vielmehr gibt es auch im Damals Fragestellungen und Einsichten, die, oft vergessen oder gar verleug-net, helfen können, blinde Flecken von heute zumindest ein wenig auszuleuch-ten. Dies jedenfalls ist die Perspektive, die ich selber verfolge, und es wäre schön, ließen sich auch andere dafür gewinnen!

Die vorliegende Arbeit besteht aus drei Teilen. Der erste verdeutlicht, wie hoch der Preis ist, der für die Ausklammerung der Leben-Jesu-Frage gezahlt werden muss, stellt die wichtigsten Anstöße für deren Erneuerung vor und the-matisiert den darin virulenten Zusammenhang von Jesus- und Quellenforschung, der besonders für die Beurteilung der Worte gegen ‚dieses Geschlecht‘ von Be-deutung ist. In alledem konstelliert sich eine Reihe von Fragestellungen, mit de-nen ich mich im zweiten Teil der Arbeit drei Beispielen aus der Jesusforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zuwende. Sie betreffen das Werk von Theo-dor Keim (1825–1878), von Heinrich (Julius) Holtzmann (1832–1910) und von Albert Schweitzer (1875–1965).

Keim und Holtzmann sind führende Vertreter des liberalen Lebens Jesu, das von den 1860er Jahren bis zum 1. Weltkrieg, also ein halbes Jahrhundert lang, die theologische Diskussion weit über die Grenzen der neutestamentlichen Wis-senschaft hinaus beherrschte. Sein beispielloser Siegeszug wurde möglich, weil die insbesondere von Baur geförderte Einsicht an Boden gewann, dass Joh kein unabhängiger Zeuge für die Geschichte Jesu ist2, und sich auch der mythische Nebel zu lichten begann, in dem Strauß die Gestalt Jesu verschwinden ließ3. Ab jetzt setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass allein die Synoptiker eine historisch verlässliche Basis für das Leben Jesu bieten, das nur peripher my-thisch eingefärbt ist.

Das Tor zum synoptischen Leben Jesu stieß die Antrittsvorlesung auf, die Keim im Dezember 1860 in Zürich hielt. Ihr programmatischer Titel Die menschliche Entwicklung Jesu Christi4 wirkte wie ein Fanal zum Aufbruch in eine neue Zeit. Holtzmann schreibt voller Bewunderung, hier seien „Grundzüge sowohl, wie feinere Linien behufs einer ächt geschichtlichen Darstellung des 2 Baur, Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zueinan-der, ihren Charakter und Ursprung (1847). 3 Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, I–II (1835/1836). Vgl., was Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 2–4, Zitat 3f. ironisch bemerkt über „die eintönigen, von Strauss beglaubigten, Orakel jener mährchenspinnenden, sagenhaften Sibylle, die den lebendigst ge-färbten, individuellsten Erinnerungen, welche sich von einer unerfindlichen Persönlichkeit erhalten hatten, vampyrartig das Blut aus den Adern zieht, um dann die ausgesogenen verbleichten Schattenbilder Stück für Stück in das Todtenreich des abstracten Gedankens zu verweisen“. Vgl. ebd., bes. 420. 4 Keim, Die menschliche Entwicklung Jesu Christi. Akademische Antrittsrede am 17. Dez. 1860, Zürich 1861.

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Einleitung

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Christusbildes in so reicher Fülle gegeben [...], dass wir diese 44 Seiten unbe-dingt zum Dankeswerthesten rechnen müssen, was uns in Betreff des Lebens Jesu die Arbeit des ganzen Zeitalters eingebracht hat“5. Da der so Gepriesene in dezidiertem Gegensatz zum Laudator an der Priorität von Mt festhält, mag die Zustimmung erstaunen. Sie wird verständlich, wenn man den Dialog verfolgt, den beide miteinander führten, und verdient im Blick auf den Zusammenhang von Jesus- und Quellenforschung besondere Beachtung. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass sich Keim und Holtzmann genauso wie die üb-rige Forschung des 19. Jahrhunderts an der Akoluthie des synoptischen Erzähl-fadens orientieren. Alle, die heute mit Phasen im Auftreten Jesu rechnen, beru-fen sich dagegen auf Phänomene der Wortüberlieferung, besonders – aber nicht nur – die der Logienquelle.

Keim hat seine Zürcher Antrittsvorlesung 1867–1872 ausgebaut zu einer dreibändigen Geschichte Jesu von Nazara in ihrer Verkettung mit dem Ge-sammtleben seines Volkes6, der schnell eine Kurzfassung für weitere Kreise folgte7. „Schöneres und Tieferes“, schreibt Schweitzer, „hat niemand mehr über die Entwicklung Jesu geschrieben“8. „Durch seine grandiose Darstellung gab er dem Jesusbild der sechziger Jahre die künstlerische Weihe. Seine Redensarten und Ausdrücke wurden klassisch. Nach ihm sprechen alle von dem ‚galiläischen Frühling‘ im Wirken des Herrn“9.

Holtzmann, der große liberale Theologe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts, der zugleich der großherzige Lehrer Schweitzers war, soll besonders des-halb zu Wort kommen, weil er glaubte, dem Leben Jesu durch seine Studie über Die synoptischen Evangelien von 1863 eine sichere Basis geben zu können. Er war fest davon überzeugt, dass seine Neubegründung der Zweiquellentheorie ermöglichte, „das, was der Stifter unserer Religion an sich war, also das ächte und naturgetreue Bild seines Wesens, herauszustellen unter Anwendung der al-lein legitimen Mittel einer gewissenhaften, historischen Kritik“10. Zwar hat Holtzmann selber kein ‚großes‘ Leben Jesu verfasst, dazu jedoch bis in die letz-ten Jahre seines Lebens viele, zum Teil recht umfangreiche Beiträge geliefert.

Die Berücksichtigung von Schweitzer empfiehlt sich schon deshalb, weil er in Von Reimarus zu Wrede von 1906 die bisherige Forschung ausnahmslos der Projektion überführen und durch die Darstellung ihrer Geschichte den Nachweis erbringen möchte, dass jede Epoche ihre eigenen Gedanken in Jesus hineinlegte 5 Holtzmann, Evangelien, 7–9.488–490, Zitat 7. 6 Keim, Geschichte Jesu von Nazara in ihrer Verkettung mit dem Gesammtleben seines Vol-kes frei untersucht und ausführlich erzählt, I-III, Zürich 1867–1872. 7 Keim, Geschichte Jesu nach den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft übersichtlich er-zählt, Zürich 31873. 8 Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906, 212. Die zweite Auflage erschien unter dem Titel: Geschichte der Leben-Jesu-For-schung, Tübingen 1913. Im Folgenden benutze ich durchweg die erste Auflage, gebe in Klammern aber den entsprechenden Fundort in der zweiten Auflage an, hier: (GLJF, 213). Differenzen im Wortlaut, die ausgesprochen selten sind, werden dabei nicht eigens notiert. 9 Ebd., 210 (GLJF, 211). 10 Holtzmann, Evangelien, 1.

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und „jeder einzelne [...] ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit [schuf]“11. Die-ser Nachweis richtet sich bereits in Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis von 1901 insbesondere gegen das liberale Leben Jesu bzw., wie Schweitzer sagt, gegen die „modern-historische Lösung“12. Zumindest im Nachhinein muss man konstatieren: Er ist dadurch der Totengräber einer Forschungstradition gewor-den, an der Keim und Holtzmann an vorderster Stelle beteiligt waren. Freilich darf nicht unterschlagen werden, dass der Projektionsvorwurf nur die dunkle Folie ist für Schweitzers eigene ,eschatologisch-historische Lösung‘ des Pro-blems des Lebens Jesu, an der er bis ins hohe Alter festgehalten hat.

Das Interesse an Keim, Holtzmann und Schweitzer gilt nur am Rande den geistes- und theologiegeschichtlichen Hintergründen ihrer Position. Sonst müss-ten z. B. die Erosion des christologischen Dogmas, die Behandlung der Wun-derfrage, die Beziehung zu Schleiermachers Christologie oder zu Strauß’ erstem Leben Jesu breiter erörtert werden, als es hier der Fall ist. Es wäre aber auch zu klären, wie es zu der Vorstellung kommt, dass ein Mensch sich im Wechselspiel von Innen und Außen entwickelt13 und es deshalb einer Biografie bedarf, um dem Geheimnis einer Person auf die Spur zu kommen14. Und nicht zuletzt ver-diente genauere Erkundung, warum in den 1860er und 70er Jahren ein unge-wöhnlicher Drang zur Popularisierung des Lebens Jesu entsteht15, der gegen Ende des Jahrhunderts dazu führt, dass „die modern-historische Theologie [...], von ihren eigenen Schlagworten berauscht, [...] glaubt, ein Teil des Heils der Welt hänge davon ab, dass sie ihre ‚gesicherten Ergebnisse‘ in möglichster Menge unter das Volk bringe“16.

Diese und ähnliche Themen werden nur beiläufig berührt, weil mein primä-res Interesse der Frage gilt, was sich von damals für heute lernen lässt: Welche Beobachtungen und Hypothesen korrespondieren, welche differieren? Welche halten dem gegenwärtigen Wahrheits- und Methodenbewusstsein nicht mehr stand und welche stellen trotz aller Veränderungen eine Herausforderung dar? Lassen sich im Dialog mit einer Forschungstradition, von der wir durch mehrere Generationen getrennt sind, blinde Flecken entdecken – sei es in der Beurteilung der Quellen, sei es in der Hypothesenbildung? Kurz: Erörtert wird, inwieweit der Blick ins 19. Jahrhundert hilft, heutige Beobachtungen und Überlegungen zu Phasen im Auftreten Jesu zu vertiefen.

11 Schweitzer, Reimarus, 4 (GLJF, 4). 12 Schweitzer, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, Tü-bingen 1901, 1. 13 Vgl. Droysen, Historik, 11–13; Wieland, Art. Entwicklung. 14 Vgl. Droysen, Historik, 290–292; Engelbert/Schleier, Geschichte. 15 Vgl. bes. Renan, La vie de Jésus (1863), zu dem es nach Schweitzer, Reimarus, 189 (GLJF, 190) innerhalb eines Jahres bereits fünf verschiedene deutsche Übersetzungen gab; Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864); Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet (1864); Holtzmann, Das messianische Auftreten Jesu, (1867), 327–436; Keim, Geschichte Je-su nach den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft für weitere Kreise übersichtlich erzählt (1873). 16 Schweitzer, Reimarus, 305–310, Zitat 308 (GLJF, 339–343, Zitat 341).

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Einleitung

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Auf der Basis der Gesichtspunkte, die sich in den ersten beiden Teilen der Arbeit herauskristallisieren, wird im dritten und letzten Teil der Versuch ge-macht, ein eigenes Bild von einer Entwicklung bzw. von Phasen im Auftreten Jesu zu gewinnen. Ausgehend von meiner Untersuchung über die Auseinander-setzung Jesu mit Pharisäern, erörtere ich zunächst die Worte gegen „dieses Ge-schlecht“, die trotz aller Unterschiede aufs Engste zusammengehören. Sie führen nahezu von selbst zu der Frage, ob und, wenn ja, in welcher Form Jesus schon vor dem Aufenthalt in der Heiligen Stadt seinen gewaltsamen Tod antizipiert hat. Ist er, wie die direkten Leidensweissagungen nahelegen, nach Jerusalem ge-zogen, um dort zu sterben? Oder wollte er dort nicht anders wirken als zuvor in Galiläa? Welche Seite der Alternative kann für die eigene Sicht in Anspruch nehmen, was die Überlieferung über Jesu Auftreten in der Stadt festgehalten hat?

Dies alles berührt Probleme, um deren Lösung die Forschung sich seit lan-gem bemüht. Deshalb sei schon an dieser Stelle betont: Nur an wenigen Punkten traue ich mir selber eine Hypothese zu, die gut begründet ist, an anderen die Markierung der Richtung, in der eine Lösung zu suchen ist, und in allen anderen Fällen bin ich froh, wenn es gelingt, ein Problem als solches bewusst zu ma-chen. Da mag ein wenig trösten, was bereits Keim in einer unnachahmlichen Mischung von Pathos, Selbstbewusstsein und Bescheidenheitsgestus jedem mit auf den Weg gibt, der sich heranwagt an Themen, an denen sich schon viele vor ihm die Zähne ausgebissen haben: „Den Wahn aber muthe mir Niemand zu, als ob das Wesen Jesu nun endlich glücklich und ohne Rest begriffen sei, jenes We-sen, über welches die Jahrtausende nachdenken, in welches der Einzelne in der höchsten Spannung seiner Kraft nur ein Sandkorn neuer Wahrheit findet. Nur darf die Verwahrung, daß das Leben Jesu wohl immer noch nicht begriffen sei, ohne Lächerlichkeit eigentlich doch nur der erheben, der auf diesem Feld im Schweiß gestanden“17.

Anders als Keim geht es mir allerdings weder um das Leben noch gar um das Wesen Jesu, sondern um ein Plädoyer für die Anknüpfung an eine schwie-rige Forschungstradition. Zur exegetischen Methodik, der ich dabei folge, ist ei-niges bereits an anderer Stelle gesagt18. Anderes soll erst dort zur Sprache kom-men, wo es für die Argumentation gebraucht wird. Im Folgenden möchte ich mich deswegen auf drei Aspekte beschränken.

Erstens: Am Anfang aller Arbeit steht für mich die Einsicht, dass es weder formale noch inhaltliche Kriterien zur Unterscheidung von Echt und Unecht gibt. Was in der Forschung als Kriterium diskutiert wird, lässt sich auf einige wenige grundlegende Gesichtspunkte jeder historischen Arbeit zurückführen. Die wichtigsten sind Korrelation und Kontingenz. Sie konfrontieren mit der Aufgabe, in der Gestalt Jesu kontextuelle Korrespondenz und kontextuelle Indi-vidualität so aufeinander zu beziehen, dass ein kohärentes, auch für Spannungen

17 Keim, Die geschichtliche Würde Jesu, VIII. 18 Rau, Jesus, 10–95.

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und Widersprüche offenes Bild entsteht19. Der Satz kreiert kein neues Authenti-zitätskriterium, sondern markiert die Herausforderung, der sich die Forschenden zu stellen haben: Sie sind es, die die Aufgabe haben, die relevanten Daten des-sen, was sie selber mit bestem Wissen und Gewissen für authentisch halten, mit Hilfe all der Kenntnisse, die sie sich angeeignet haben, so zu interpretieren, dass Jesus seinem jüdischen Kontext ebenso korrespondiert wie er ihn höchst indivi-duell und schon deshalb konflikthaft überschreitet.

Zweitens: Für die vorliegende Arbeit sind die relevanten Daten nicht zuletzt Worte Jesu, bei denen wir immer wieder der Auffassung begegnen, es handele sich um Sprüche des Erhöhten aus dem Munde von Propheten, die sekundär zu Worten des Irdischen wurden. Ich selber halte dies für eine nicht verifizierbare Globaltheorie, die die primäre Aufgabe hat, Jesus von der Verantwortung für futurische Eschatologie, Apokalyptik und Gericht zu entlasten20. Doch – ist es erlaubt, seinen Nachfolgern in die Schuhe zu schieben, was als anstößig emp-funden wird?

Drittens: Die gleiche Frage stellt sich bei antipharisäische Worten, werden diese doch in großer Regelmäßigkeit für nachösterlich erklärt. Meistens genügt bereits der bloße Hinweis auf die Entwicklung nach 70 nach Chr., um hierfür mit Einverständnis rechnen zu können. Dies mag angesichts der Notwendigkeit der Debatte über Antijudaismus im Neuen Testament verständlich sein. Doch scheint es mir an der Zeit, der Gestalt Jesu ein starkes innerjüdisches, damit aber keineswegs antijüdisches Konfliktpotential zuzugestehen gegenüber einer Be-wegung, der er selber nahestand, die aber anders als er auf das öffentliche An-sehen setzen konnte, das sie sich in einer langen Geschichte erworben hatte21.

Zum Schluss noch dies: Wenn ich richtig sehe, ist die Jesusforschung im deutschen Sprachraum aus den eigenen Reihen gegenwärtig von zwei Seiten her bedroht. Die eine kennzeichnet sie als Vermutungswissenschaft22. Die andere verspricht Sicherheiten, denen Unsicherheiten gegenüberstehen, die nur als Adiaphora eine begrenzte Berechtigung haben23. Es handelt sich also um zwei Seiten ein und derselben Medaille, die sich trotz gegenläufiger Intention nicht damit arrangieren können, dass die Jesusforschung wie jede historische For-schung mit mehr oder weniger gut begründeten Hypothesen arbeitet. Gerd Thei-ßen und Dagmar Winter schreiben deswegen zu Recht: „Der unentrinnbare hypothetische Charakter all unseres Wissens nötigt uns dazu, uns mit diesem hypothetischen Charakter zu versöhnen“24. Mit andern Worten: Im Wissen, dass

19 Formuliert in Anlehnung an das historische Plausibilitätskriterium von Theißen/Merz, Der historische Jesus, 116–119, hier 119. Vgl. Theißen/Winter, Kriterienfrage, bes. 175ff. 20 Vgl. Rau, Jesus, 44–67. 21 Vgl. ebd., 154–159. 22 Vgl. Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen, 44f. 23 Vgl. die einflussreiche Formulierung von Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1954), 205f., nach dem das Unähnlichkeitskriterium „einigermaßen sicheren Boden [...] un-ter den Füßen“ gibt, während auf allen anderen Gebieten „die Grenzen für verschiedenste Hy-pothesen weit offen“ bleiben können. 24 Theißen/Winter, Kriterienfrage, 268.

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Einleitung

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jede Rekonstruktion von Vergangenem eine Konstruktion in Verantwortung vor der Gegenwart ist, brauchen wir eine wissenschaftstheoretische und systema-tisch-theologische Würdigung historiografischer Hypothesenbildung, die uns deren Unverzichtbarkeit vor Augen führt25.

25 Vgl. Droysen, Historik, 88–91.161–163.

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Erster Teil: Zur gegenwärtigen Forschung

1.1 Die Ausblendung der Frage nach dem Leben Jesu

1.1.1 Der Konsens der „Neuen Frage“: Günther Bornkamm

Günther Bornkamm eröffnet sein einflussreiches, in vielen Auflagen verbreitetes Jesusbuch von 1956 mit der programmatischen These: „Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben“1. Ja, Bornkamm sieht sich sogar genötigt, dies „nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft als ein vergeb-liches Unterfangen zu bezeichnen“2.

Wer für die eigene Sicht auch die Zukunft reklamiert, muss seiner Sache ei-nigermaßen sicher sein. Bornkamm gewinnt diese Sicherheit aus zwei Argu-menten sehr verschiedener Art. Das erste beruft sich auf Albert Schweitzer, habe dieser doch in seinem „klassischen Werk“ über die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung einer zweihundertjährigen Forschung „ein Denkmal gesetzt, aber zugleich die Grabrede gehalten“. Das zweite Argument speist sich aus der Ein-sicht in die besondere, erst durch die Formgeschichte erkannte „Art und den Charakter der Quellen, denen wir fast ausschließlich unser geschichtliches Wis-sen über Jesus verdanken“, den synoptischen Evangelien3.

Die Probe aufs Exempel dieser Sicht stellt der Zug nach Jerusalem dar, kann doch auch Bornkamm nicht leugnen, dass es zumindest hier eine Zäsur von Frü-her und Später im Leben Jesu gibt: Der „Entschluß, nach Jerusalem zu ziehen“, sei, so heißt es, „fraglos die entscheidende Wende in Jesu Geschichte“4. Die Wende biografisch zu deuten, sei jedoch nicht möglich. Bornkamm begründet dies insbesondere gegenüber dem liberalen Leben Jesu, und da seine Ausfüh-rungen bis heute quasi kanonisches Ansehen genießen, seien sie in aller Aus-führlichkeit wörtlich zitiert:

„Schon die Zeit der galiläischen Wirksamkeit Jesu ist nicht nur eine Zeit des Erfol-ges, sondern auch des Mißerfolges. Romantisch von einem galiläischen Frühling zu reden, dem bald genug die Katastrophe in Jerusalem folgen sollte, wie es ältere Le-ben-Jesu-Darstellungen tun, haben wir keinen Anlaß. Andere rechnen mit einer Krise schon innerhalb dieser ersten Periode der Geschichte Jesu: Der Argwohn der Gegner verstärkte sich; das Volk enttäuschte ihn durch seine Unbußfertigkeit, und der Landesherr Herodes Antipas, der ‚Vierfürst‘ von Roms Gnaden, wurde auf ihn

1 Bornkamm, Jesus von Nazareth, 11. 2 Ebd., 11. 3 Ebd., 11–23, Zitat 11. 4 Ebd., 142.