44
MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 66. Jahrgang 1 / 03 ISSN 0721-2402 H 54226 Bekenntnis und Toleranz – ein Widerspruch? Im Gespräch mit der Flussgöttin – Marko Pogacnik in Dresden Antijudaismus bei Rudolf Steiner Konfessionslosenverbände protestieren gegen Staatsakt für Augstein in einer Kirche Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Bekenntnis und Toleranz – ein Widerspruch? Im Gespräch mit der … · 2020. 5. 20. · Marko Pogacnik in Dresden Antijudaismus bei Rudolf Steiner Konfessionslosenverbände protestieren

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • MAT

    ERIA

    LDIEN

    ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen 66. Jahrgang 1/03IS

    SN 0

    721-

    2402

    H 5

    4226

    Bekenntnis und Toleranz – ein Widerspruch?

    Im Gespräch mit der Flussgöttin – Marko Pogacnik in Dresden

    Antijudaismus bei Rudolf Steiner

    Konfessionslosenverbände protestierengegen Staatsakt für Augstein in einer Kirche

    Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

    umschlag01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 1

  • inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 2

  • Ulrich DehnBekenntnis und Toleranz – ein Widerspruch?Das Zusammenleben von Religionen gestalten 3

    Harald LamprechtIm Gespräch mit der FlussgöttinMarko Pogacnik im Kulturrathaus 15

    Jan BadewienAntijudaismus bei Rudolf Steiner 19

    GesellschaftKritik an Staatsakt für Augstein 29

    Politisches von „Fürbitte für Deutschland“ 30

    Neuheidentun / Okkultismus / SatanismusEs wird leer unter dem Dach:Interne Differenzen und personelle Veränderungen bei Concilium GENA 31

    BuddhismusTibetische Lamas im Internet 33

    OffenbarungsspiritualismusGründer der St. Michaelsvereinigung verstorben 33

    Andreas BenkModerne Physik und TheologieVoraussetzungen und Perspektiven eines Dialogs 35

    INHALT MATERIALDIENST 1/2003

    IM BLICKPUNKT

    BERICHTE

    INFORMATIONEN

    BÜCHER

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 1

  • inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 2

  • 3MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    Cordoba ist ein altes berühmtes Stichwortfür gelebte Toleranz. Die spanische Pro-vinzhauptstadt in Niederandalusien er-warb sich ihren unsterblichen Ruf in derZeit der islamischen Blüte unter denAbassiden vom 8. bis zum 13. Jahrhun-dert und insbesondere unter dem KalifenAbd ar-Rahman III.: Dieser ließ im 10.Jahrhundert Cordoba zum Zentrum vonMacht, architektonischer, kultureller undphilosophischer Blüte und interreligiösemMiteinander aufsteigen. Averroes, Mai-monides und Ibn Hasm wurden zu welt-berühmten Namen, und zumal das Juden-tum genoss unter ar-Rahman Respekt undAnerkennung, die es unter christlicherHerrschaft nie gefunden hatte und späternur noch selten wieder fand. Das „Experi-ment Cordoba“ fand ein Ende durch dieReconquista, die Stadt war fürderhinkatholisch.1 Die historische Episode darfsicherlich als Paradigma für islamischeToleranz nicht überstrapaziert werden,das Stichwort „Cordoba“ jedoch blieb iminterreligiösen Gedächtnis und ist voneiner Initiative als Modell für ein künftigesJerusalem vorgeschlagen worden: einequasi exterritoriale Stadt, die vomfriedlichen Miteinander der Religionenlebt – in Anbetracht der täglichen Nach-richten ein Traum, der schwerlich in Erfül-lung gehen wird. Zum Thema Religion und Toleranz drän-gen sich schnell dramatische Informatio-nen in den Sinn: Todesstrafe für Men-schen, die sich vom muslimischen Glau-

    ben abgewendet haben, Brandschatzungchristlicher Kirchen in Pakistan oder In-donesien, die Inhaftierung christlicher Ent-wicklungshelfer und mutmaßlicher Mis-sionare in Afghanistan, Nordirlandkonfliktetc., blutige Auseinandersetzungen zwi-schen Hindu-Fundamentalisten und Mus-limen um die Babri-Moschee im nord-indischen Ayodhya. Etwas mehr Sorgfalt istvonnöten, um auch noch Nachrichten wiefolgende zur Kenntnis zu nehmen: Vanda-lisierung des muslimischen Pavillons aufder Expo 2000 in Hannover durch einenChristenmenschen, christliche Kolonisie-rung der ursprünglich fast ausschließlichmuslimischen Insel Mindanao in denPhilippinen durch die dortige Regierung,und ein wenig in die Geschichte gegra-ben: Zerstörung des Inventars buddhisti-scher Tempel im Japan des 17. Jahrhun-derts durch christliche Missionare. Undauch für den Buddhismus mit dem Imageder Sanftheit und Gewaltlosigkeit würdenwir zu diesem Thema erstaunlich fündigwerden: Mönchsarmeen, die sich in derfrühen Neuzeit den Verdrängungskämpfender japanischen Landesfürsten zur Verfü-gung stellten und gezielt militärisch gegenMitglieder der anderen buddhistischenSchulrichtungen und anderer Religionenvorgingen.Aufzählungen dieser Art sind aus ver-schiedenen Gründen nicht sonderlichaussagekräftig. Zum einen können, wo-rauf Reinhart Hummel hinweist, „his-torische Belege von Toleranz und Intole-

    Ulrich Dehn

    Bekenntnis und Toleranz – ein Widerspruch?Das Zusammenleben von Religionen gestalten*

    IM BLICKPUNKT

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 3

  • ranz gegenüber abweichenden Lehrenund Praktiken ... nicht unreflektiert mit-einander verglichen werden, sondern sindauf Zeit, Ort und Situation hin zu befra-gen. Das gilt vor allem für den Buddhis-mus, der sich mit unterschiedlichen Län-dern, Kulturen und politischen Konstella-tionen hat auseinandersetzen müssen“2 –ebenso aber auch für den Islam in der Zeitseiner schnellen Ausbreitung der erstenca. fünf Jahrhunderte seit Mohammed undinsbesondere für seine Akkulturation inder Diaspora. Zum anderen sind Informa-tionen der obengenannten Art, zumalwenn sie sich auf die Gegenwart be-ziehen, ein Bestandteil unseres journalis-tisch geprägten Weltbildes und sagen fastnichts über die Realität, mit der wir estäglich zu tun haben. Diese Realität wirdzumal von jedem einzelnen Menschen jenach Lebensumständen und Wohnort völligunterschiedlich erfahren und lässt je eigeneseelische Dynamiken zum Thema Toleranzentwickeln. Wir kommen unterschiedlichintensiv in Berührung mit Menschen an-deren Glaubens, viele sind nach wie vordarauf angewiesen, Begegnungen aus-drücklich zu inszenieren. Wessen Kennt-nisnahme der anderen Religionen auf dieleicht zugänglichen Massenmedien be-schränkt ist, bekommt die Stereotypenbestätigt. Auch eine vor kurzem abge-schlossene Medienanalyse fand heraus,dass nach wie vor mehrheitlich der Islamals tendenziell fundamentalistisch und miteinem eher ungebrochenen Verhältnis zurGewalt dargestellt wird, der Buddhismushingegen als sanft, weitherzig und gewalt-los. Beide Klischees können nur in dif-ferenzierten Auseinandersetzungen aufmehreren Ebenen überwunden werden.

    Toleranztraditionen

    Wie sieht es mit den Toleranztraditionenin den Religionen aus? Wir beginnen mit

    dem Islam, dem zum einen unterstelltwird, dass er die größten Schwierigkeitenmit dem Thema hat, der uns zum anderendemographisch am nächsten ist: InDeutschland leben annähernd zwanzig-mal so viele Muslime wie Buddhisten.

    Toleranz und Religionsfreiheit im Islam –eine Quadratur des Kreises?

    Die verschriftlichte Rechtslage im Islamvom Koran über die Sunna bis hin zuheutigen Rechtsgutachten und der spezi-fischen Einschätzung für den Diaspora-Is-lam ist sehr komplex. Die Toleranzfrage istverknüpft mit der Frage der Religionsfrei-heit, d.h. der Frage der Konversionsfreiheitvom Islam weg. Als Grundlage muss deut-lich sein, dass der muslimische Glaubeerst in der jüngeren Vergangenheit undinsbesondere in der Diaspora auch als In-dividual- und Privatsache betrachtet wur-de, im Normalfall war er gemeinwesenbe-zogen3, ja bis zum Untergang des Osma-nischen Reiches zu Beginn des 20. Jahr-hunderts auch immer politik- und staats-bezogen. Der Nicht-Muslim war in derfrühen Geschichte des arabischen Islam inder Regel nicht nur eine potentielleGlaubensanfechtung, sondern ebensoeine potentielle Bedrohung des Friedensdes Gemeinwesens. „Intoleranz“ war in-sofern weithin ein anderer Name für poli-tische Verteidigungsbereitschaft. AdelKhoury drückt es so aus: „Der Glaube istdie Grundlage der Gemeinschaft. JederEinfluss, der den Glauben in Frage stelltoder gefährdet, jede Beziehung, die dieReinheit des Glaubens beeinträchtigt, undjede Haltung, die sich gegen die Annahmedes Glaubens stellt oder den bereitsangenommenen Glauben verleugnet, sindvon vorneherein verdächtig, gefährlich,unzulässig und verboten.“4 Diese strengeHaltung gilt für die Zeit Mohammeds inMedina und entstand nach der schroffen

    4 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 4

  • Ablehnung, die vor allem die jüdischenStämme Mohammed und seiner Botschaftentgegenbrachten. In dieser Zeit fandenzahlreiche militärische Auseinanderset-zungen mit jüdischen Stämmen und an-deren Gruppen statt, der Kampf umLebensraum und Herrschaft wurde vonallen Seiten mit dem Schwert ausgetragen.Zahlreiche Stellen im Koran, die in direk-ter Weise zum Kampf und zum Töten auf-fordern, sind keine allgemeingültigen Auf-forderungen zum Töten aller Nicht-Mus-lime, sondern sie entstammen konkretenSchlachtsituationen im gegenseitigen Ver-drängungskampf auf der arabischen Halb-insel, z.B. der siegreichen Schlacht beiBadr oder der Niederlage der Muslime beiUhud. Dies ist etwa der Fall mit Sure 47,4:„Und wenn ihr die Ungläubigen trefft,dann herunter mit dem Haupt, bis ihr einGemetzel angerichtet habt.“ Auf der an-deren Seite sind die Stellen zahlreich, indenen das Töten ausdrücklich verbotenwird und Juden und Christen ein Sonder-status eingeräumt wird; die Bestimmungenüber die „Schutzbefohlenen“ in einemmehrheitlich islamischen Staat stelleneine Art frühislamische Variante von „Aus-ländergesetzgebung“ dar. Ferner werdenAnhänger des muslimischen Glaubensdazu aufgefordert, sich mit Juden undChristen über biblische Traditionen zuverständigen, die auch im Koran vorkom-men (Sure 10,94 sowie 17,101)5: „Wenndu über das, was Wir zu dir hinabgesandthaben, im Zweifel bist, dann frag diejeni-gen, die (bereits) vor dir das Buch lesen“(10,94). Innerhalb der Sonderstellung, diedie Juden und Christen als „Leute derSchrift“ haben, werden an einigen Stellendie Christen bevorzugt: Sie stünden „denGläubigen in Liebe am nächsten“ (5,82).Diese Worte sind aber offensichtlichgeschrieben zu einer Zeit, als Mohammedmit den Juden auf besonders schlechtemFuß stand: Sie werden im Vers vorher

    gemeinsam mit den Polytheisten alsFeinde bezeichnet, eine im Koran eherungewöhnliche Zuordnung. Es soll keine Zwangsbekehrungen geben(2,256), auch wenn die von der Auf-klärung herrührende Vorstellung von Reli-gionsfreiheit, die mindestens der Ideenach in westlichen Ländern herrscht,keinen vergleichbaren Anhalt in der isla-mischen Tradition hat. Aber die Toleranz,die im Koran ihren Niederschlag findet,stellt, so Monika Tworuschka, „für diedamalige Zeit etwas Einmaliges dar“.6Als Fazit zum Koran lässt sich sagen:Entsprechend den unterschiedlichen Le-bensphasen und Begegnungen Moham-meds mit Menschen, die seine monotheis-tische Botschaft und seinen Versuch einermonotheistischen Gemeinsamkeit der Re-ligionen nicht annahmen, sind die Aus-sagen sehr unterschiedlich: Aus heftigenFeindseligkeiten und kriegerischen Aus-einandersetzungen ging die Behandlungvon Nicht-Muslimen als „Feinde“ hervor,aus diesen Zusammenhängen stammendie Texte, die die „Ungläubigen“ (sowohlJuden/Christen als auch Polytheisten) derVerdammnis anheim geben. In stärkertheologisch orientierten Zusammenhän-gen, sofern keine scharfen Auseinander-setzungen anstehen, wird den Juden undChristen wiederum der Status der Schutz-befohlenen eingeräumt und ihre Nähe zu,wenn nicht gar Übereinstimmung mit derBotschaft des Mohammed herausgestellt.Es bedarf des Ambientes, der äußerenStimmigkeit zur Toleranz und gegenseiti-gen Akzeptanz. So stellt sich denn auch, wenn wir einenSprung in die Gegenwart machen, dasThema in der deutschen Gesellschaft ganzanders dar: In der im Februar diesen Jah-res veröffentlichten Islamischen Chartades Zentralrats der Muslime in Deutsch-land7 wird ausdrücklich die Religionsfrei-heit betont, d.h. das Recht auf Religions-

    5MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 5

  • wechsel und das Recht, gar keiner Reli-gion anzugehören. Insbesondere letzteresbedeutet einen Durchbruch auf dem Hin-tergrund der koranischen Ausführungenzu Religionen außerhalb der „Menschender Schrift“. Wenn die Charta in Abschnitt11 sagt, dass der Koran „jede Gewalt-ausübung und jeden Zwang in Angele-genheiten des Glaubens“ untersage, so istdies als zeitgenössische Interpretation indie deutsche Situation hinein ernst zunehmen. Der häufige Hinweis von Is-lamkritikern, dass Sure 2,256 („Es gibtkeinen Zwang in der Religion“) mög-licherweise eher aus Resignations- dennaus Toleranzmentalität entstanden sei (R. Paret u.a.), hat vielleicht historischeBerechtigung, könnte aber in der heutigenSituation leicht zu einem konterproduk-tiven „umgekehrten Fundamentalismus“führen: Liberalen und laizistisch gesonne-nen Muslimen wird vorgehalten, dass siees doch gemäß ihren Quellen „eigentlich“anders meinen müssten.Bei den guten Ansätzen, die die Chartabietet, muss jedoch auch kritisch gefragtwerden, ob z. B. der vom Grundgesetz ga-rantierten vollständigen Gleichberechti-gung von Mann und Frau mit dem Absatz6 und seiner Definition der gleichen Le-bensaufgabe und dem Ziel der „Erlangungvon Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit,Geschwisterlichkeit und Wohlstand“ Ge-nüge getan wird. Auch ist die Bejahungder vom Grundgesetz gerahmten Grund-ordnung (Absatz 11) so deutlich inhaltlichspezifiziert, dass leicht der Verdacht ent-stehen kann, dies sei im Sinne von (nichtgenannten) Vorbehalten und Einschrän-kungen gemeint. Dies gilt auch für dasverdächtige Wort „grundsätzlich“ für dieAkzeptanz der „lokalen Rechtsordnung“,das im juristischen Sprachgebrauch (wie-derum nicht genannte) Ausnahmen signa-lisiert. Ist der Verzicht auf einen „klerika-len ‚Gottesstaat’“ (Absatz 12) bereits der

    völlige Verzicht auf einen politischen Is-lam? Diese und andere Stellen werdenGegenstand künftiger Diskussionen (auchinnerhalb der muslimischen Welt!) seinmüssen, die sicherlich in der Absicht derCharta stehen.8Derzeit sind Bemühungen im Gange, dieCharta in anderen europäischen Ländernbekannt zu machen und auch ins Franzö-sische, Englische, Türkische sowie ins Ara-bische zu übersetzen: auch ein Lern-prozess aus der „Diaspora“ in islamischeLänder hinein ist angestrebt und wäre imBlick auf eine Reihe von mehrheitlich is-lamischen Staaten auch wünschenswert.Der Islamrat, die andere große Dachor-ganisation in Deutschland, hat sich hinterdie Islamische Charta gestellt, die aller-dings insgesamt im deutschen Islam nichtunumstritten ist. Zahlreiche laizistisch ori-entierte Verbände haben die Charta fürüberflüssig erklärt, da sie längst von derRealität eingeholt worden sei. Etwas anders gestaltet sich die Tole-ranzbereitschaft des Islam, wenn es um als„Sekte“ identifizierte Gruppen geht. DieAhmadiyya-Bewegung aus Pakistan, die im19. Jahrhundert gegründet wurde und ihrencharismatischen Gründer Mirza GhulamAhmad (1835-1908) als „Propheten“verehrt, wurde vom pakistanischen Parla-ment 1976 offiziell aus dem Islam aus-geschlossen; diesen Schritt vollzog kurzeZeit später auch die Islamische Weltliga.Die Stigmatisierung und Verfolgung alsHäretiker im Islam, die auch für den 1914abgespaltenen kleinen Reform-Zweig derLahore-Ahmadi gilt (die Ghulam Ahmad nurals Reformer, nicht als Propheten sehen), er-leichtert den Mitgliedern u.a. Asylverfahren.Vergleichbar brisant ist das Verhältnis zwi-schen sunnitischem Islam und Alevitenhauptsächlich in der Türkei und schließlichdas zwischen schiitischem Islam und Babis-mus bzw. Baha’i im Iran.9 In allen genann-ten Kontexten werden jedoch sehr deutlich

    6 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 6

  • die religiösen Fragestellungen zwischen „or-thodox“ und „häretisch“ von politischenund mitunter ethnischen Fragen mitbe-stimmt, wenn nicht übermalt, so dass erst ineiner detaillierten komplexen AnalyseUrteile gefällt werden können. Hinzukommt die Notwendigkeit, diese Vorgängemit denen in anderen Religionen und derenUmgang mit „Sekten“ abzugleichen.

    Buddhismus und Hinduismus – das weite Herz des Ostens?

    Im Diskurs um religiöse Toleranz bekom-men traditionell die „östlichen“ Religio-nen bessere Noten als der Islam – undauch als das Christentum, wobei aller-dings das „Gute“ an der Note allemal eineFrage der Perspektive ist: Was aus einerRichtung als Toleranz und Bereitschaftzum friedlichen Zusammenleben und gar„Akzeptieren einer gemeinsamen Wahr-heit“ daherkommt, kann aus einer an-deren Richtung als Vergleichgültigung,Aufgabe von eigentlich Unaufgebbaremund „Beliebigkeit“ betrachtet werden. Auf Buddhismus und Hinduismus sinddiese Etiketten insofern wohlfeil anwend-bar, als es sich ohnehin mindestens beimostasiatischen Mahayana-Buddhismus unddem Hinduismus um Sammelbegriffe undnicht um gefügte Religionen mit klarenGrenzen und Bekenntnissen handelt. Dasjedoch, was jeweils „gesammelt“ wird,sind oft regionale Kulte um einzelne Gott-heiten, die im Zuge sozioökonomischerVeränderungen ihre Funktionen ändernoder von einer anderen Gottheit abgelöstwerden können, es sind einzelne Schul-richtungen mit einer geprägten Lehre undAusschließung davon abweichender Ele-mente und Lehren. Ein Versuch, ähnlichwie beim Islam eine Tendenz aus denheiligen Schriften zu erheben, würde unsvor eine unlösbare Aufgabe stellen: DasSchrifttum ist unübersehbar und heterogen.

    So gibt es zum einen die großen Schulender Shivaiten, Vishnuiten und Shaktisten,die vom Phänomen her als monotheisti-sche Religionen mit dem Kult um jeweilseine bestimmte Gottheit wahrnehmbarsind. Zum anderen gibt es eine reichhal-tige Gruppen- und Sektenbildung, die imHinduismus einen ganz gewöhnlichenund unspektakulären Prozess darstellt, zu-mal es die Vorstellung von dem kanoni-schen „Einen“, das eigentlich zusam-mengehöre, nicht gibt. Somit sind in derRegel auch Fragen von Toleranz und Ein-ander-gewähren-lassen eher Fragen psy-chosozialer oder sozioökonomischer Be-ziehungsfähigkeit oder Rivalität als Fragenvon sich gegenseitig ausschließendenWahrheitsansprüchen. Streitigkeiten ent-stehen z.B. am Problem von Reinheit/Un-reinheit, an unterschiedlichen Ritenver-ständnissen und an der Rollenverteilungder Kasten. Wodurch wird ein Menschrein? Reicht eine symbolisch-rituelle Wa-schung, ist eine regelrechte Vollwaschungerforderlich? Wird der Mensch bereits un-rein, wenn er als rituell unrein geltendeMenschen berührt hat oder nur in ihrenSchatten geraten ist (Jainas!), oder wirdUnreinheit im allgemeinen hygienischenSinne definiert? Die unterschiedlich stren-ge Behandlung der „Unberührbaren“ (Da-lits) im traditionellen Indien war und ist inerster Linie eine psychosoziale Toleranz-frage par excellence. Ein Dauerbrennerim Konflikt zwischen Hindus und Musli-men ist die Babri-Moschee in Ayodhya inNordindien, die 1992 von extremistischenHindus geschleift wurde mit der Behaup-tung, es handele sich um den Geburtsortdes Gottes Rama, und auf dem gleichenGrund und Boden habe vor 500 Jahrenein Hindu-Tempel gestanden. Auch hierstehen scharfe soziale Konflikte im Hinter-grund, selbst wenn insbesondere dieKrishna- und die Rama-Anhänger desvishnuitischen Hinduismus vor religiösen

    7MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 7

  • Absolutheitsansprüchen nicht ganz gefeitsind. „Ich lehre die Erkenntnis dich undalle Weisheit ohne Rest, die dem, der sieerworben hat, nichts mehr zu wissenübrig lässt. … Ich bin der Ursprung dieserWelt, ich bin zugleich ihr Untergang. Esgibt nichts höheres als mich, das Einzig-Eine bin ich nur, um mich ist dieses Allgereiht wie Perlen an die Seidenschnur“,so spricht Krishna in der Bhagavadgita,die ansonsten als Zusammenfassungvieler indischer Traditionen auch alsManifest integrativen Denkens gilt!10Die sprichwörtliche Toleranz der in-dischen Religiosität, die wir auch heutebei vielen im Westen lebenden Indernfinden, beruht z. T. auf Reformprozessenim 19. Jahrhundert, die bei uns unter demStichwort des „Neohinduismus“ zusam-mengefasst werden. Gemeint ist damitallerdings in erster Linie der im Westenprominent gewordene Swami Vivekanan-da als Exponent der von ihm gegründetenRamakrishna-Mission (im Westen: Ve-danta-Gesellschaft), während frühe Expo-nenten des Reformhinduismus wie derArya Samaj und der Brahma Samaj zwarwestliche Einflüsse aufnahmen, sich abernicht durch integratives Gedankengut undeine tolerante Mentalität auszeichneten.Zahlreiche reformhinduistisch orientierteGemeinschaften bieten sich als über denReligionen schwebendes spirituelles Dachan und beanspruchen für sich praktizierteToleranz. Hier lässt sich allerdings an-merken, dass Toleranz als Mentalitätsfak-tor ihre Plausibilität überhaupt erst amVorhandensein von Grenzen erweist, diein diesen Gemeinschaften oft ohnehinkeinen konstituierenden Sinn mehr haben. Im buddhistischen Schriftgut findet sichzum Thema der „Duldung“ und derBeziehung zum Feind bzw. zum Fremdar-tigen folgende Einsicht des Buddha imPali-Kanon: „Es wird ja Feindschaft nim-mermehr durch Feindschaft wieder aus-

    gesöhnt: Nichtfeindschaft gibt Versöhnungan; das ist Gesetz von Ewigkeit. Die Men-schen sehn es selten ein, dass Dulden unsgeduldig macht; doch wer es einsieht, weres weiß, gibt alles Eifern willig auf.“11Ausgelöst werden diese Worte durcheinen Streit unter der Mönchsgemein-schaft von Kosambi, den der Buddhaschlichten soll, während er sich gerade inKosambi aufhält. Zumal wenn der Buddhaselbst um ein Eingreifen gebeten wird,handelt es sich möglicherweise um einenklassischen Orthodoxie-Häresie-Streit, indem der Buddha beide Seiten zur Mäßi-gung ruft, zur gegenseitigen Duldung, dieallein zur Aussöhnung von Feindschaft,zum Beenden des „Eiferns“ führen könne.Ausdrückliche Verhaltensregeln gegen-über Nicht-Buddhisten wären dem Selbst-verständnis des frühen Buddhismus alseiner Erkenntnislehre eher fremd gewesen.Abweichende Meinungen werden eher alsein Diskurs- und Meditationsfall betrachtetdenn als ein Toleranzproblem.Zwei Beispiele aus dem Mittelalter undaus der Gegenwart sollen genannt wer-den, die zeigen, dass allerdings auch derBuddhismus als Erkenntnisphilosophieund Religiosität mit „sanftem“ Image sichunter bestimmten Umständen schwer tunkann mit der Toleranz. Der mittelalterliche buddhistische MönchNichiren in Japan im 13. Jahrhundert ver-trat gegen einen breiten buddhistischenStrom seiner Zeit die Meinung, dass einestrikte Rückkehr zum eigentlichen Bud-dha Gautama notwendig sei, und er stelltedie Lotos-Sutre in den Mittelpunkt seinerLehre und Anbetung.12 Nichiren als ein-ziger buddhistischer „Prophet“ im sozio-politischen Sinne des Wortes trieb es nunmit seinem prophetischen und sozialenEngagement so weit, dass er den anderen,seiner Ansicht nach von der rechten Lehreabweichenden Schulrichtungen dieSchuld am sozialen und politischen Not-

    8 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 8

  • stand Japans gab. Japan könne nur gerettetwerden, wenn der Glaubensbuddhismusdes Reinen Landes untersagt würde, derGnadenbuddhismus, in dessen Zentrumdie Anrufung des Bodhisattva Amithabasteht. Seine Schrift Risshoankokuron istein Dokument des religiösen Übereifers.13Die Mongolen, die gegen Ende des 13.Jahrhunderts vergeblich versuchten, Japanzu stürmen, betrachtete er als Vollzugsin-strumente des Buddha gegen den Staat, dersoziale Ungerechtigkeit und den Gnaden-buddhismus zuließ, vergleichbar der Rolledes Kyros in der hebräischen Bibel.Lediglich die Tatsache, dass Nichiren denMongolenangriff auf Japan vorausgesagthatte, rettete (in einem Falle) sein Leben.14Er beließ es bei scharfen Worten, die ergegen seine religiösen Gegner richtete, erselbst wurde jedoch mehrfach aus ver-schiedenen Anlässen zum Tode und einmalzum Exil auf der damals unwirtlichen InselSado verurteilt. Das andere Beispiel: Vor einigen Jahrenbrach erstmalig ein Konflikt auch inner-halb der buddhistischen Welt durch, derbereits vorher bei den Christen geschwelthatte, nämlich um den sogenannten„christlichen Zen“. In einer Leserbriefkon-troverse 1994/1995 in der buddhistischenZeitschrift Lotosblätter (Organ der Deut-schen Buddhistischen Union) warfen Zen-Buddhisten den zen-meditierenden Chris-tenmenschen vor, in fremden Gewässernzu fischen, obwohl es reichlich Fisch-gründe auch in ihren eigenen Teichengäbe. Zen wird hier als eine geschlossenebuddhistische Botschaft bezeichnet, dienicht in Lehre und frei verfügbare Me-thode aufgeteilt werden könne. Es gebekeine Gemeinsamkeiten mit der „abend-ländisch-christlichen Theologie“. Auf dereinen Seite stünde die Erfahrung der Leer-heit allen Seins, auf der anderen Seiteeine Welt des Dualismus und der Gegen-sätze. Eine in Berlin angesiedelte zen-

    buddhistische Gemeinschaft richtete andie katholische Kirche die Bitte, ihremeditierenden Mitglieder und Priester zurOrdnung zu rufen. Eine buddhistischeStimme warf den Christen vor, sie würdenvermutlich bestimmte liturgische Mi-schungen wie z.B. „Heilige Mutter Tara,Mutter des Universums, du bist gebe-nedeit ... bitte für uns“ nicht ertragenwollen. Dass es natürlich auch auf christ-licher Seite Widerstände gegen diesespirituellen Wege gibt, muss nicht aus-drücklich erwähnt werden. Dass sich imZuge neuer Spiritualitäten auch eine me-thodisierende Umdeutung von Begriffenwie Zen im Sinne ungegenständlicherMeditation ereignet hat, die diese Medita-tionsform nur noch in lockeren Zusam-menhang mit buddhistisch-religiösenDenkstrukturen stellt, wird offensichtlichvon beiden Kritiker-Seiten nur unzurei-chend wahrgenommen.15Der Bekenntnischarakter, den Buddhismusim Westen annimmt, trägt ihm auch diedamit verbundenen Abgrenzungsbedürf-nisse ein; die Deutsche BuddhistischeUnion hat sich 1985 ein Bekenntnis16gegeben, das vergleichbar der „Basis“ desÖkumenischen Rates der Kirchen Kriterienfür die Aufnahme von Mitgliedern be-stimmt, aber zugleich auch ein gemein-sames Selbstverständnis formuliert. Damitzeigt sich der Buddhismus in Deutschlandals eine gewissermaßen „kanonisierte“Größe und büßt einen Teil seines asiati-schen Charmes ein. Auch sind damit, wiedie Debatte um den „vergesellschafteten“Zen zeigt, andere zwischen-religiöse Men-talitätsmechanismen verbunden, die dieVorstellung des „Eigentums“ an Traditions-elementen kennen und die Enteignungund gegenseitige Widerspiegelung vonElementen als Zumutung betrachten. ZumStichwort der Kanon-Mentalität wäre auchdie innerbuddhistische Debatte um bud-dhistische Organisationen, die zuweilen

    9MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 9

  • mit dem Stigma der „Sekte“ behaftet sind,zu erwähnen, wie die japanische Laienor-ganisation Soka Gakkai, über deren Mit-gliedschaft in Dachorganisationen, das Ko-operationsbedürfnis mit anderen Organi-sationen und Beteiligung in interreligiösenDialogen gestritten wird. Natürlich könnten aus dem Bereich desBuddhismus auch zahlreiche positiveBeispiele der Toleranzfähigkeit berichtetwerden, die eher seinen allgemeinen Leu-mund bestätigen. Dies fängt mit der Ba-nalität an, dass der Mahayana-Buddhismusnur kraft des Konglomerats aus tolerantenBeziehungsstrukturen zwischen unterein-ander völlig unterschiedlichen Ausrichtun-gen als solcher überlebt.17 Es kann auchverwiesen werden auf die Friedensaktivi-täten japanischer Buddhisten in derWeltkonferenz der Religionen für den Frie-den, die allemal dann auch die Unterwer-fung unter die Toleranzspielregeln einersolchen Kooperation erfordern.

    Toleranz und ihre Kontexte und Grenzen

    Der buddhistische Übergang von einerasiatischen Volks- und Ritenreligiosität ineine westliche Konfessionalität ist für unsinsofern interessant, als die Beispiele ausDeutschland sich somit gut in andere ausunserem Kontext einreihen lassen. Im Falledes Zen geht es allerdings weniger um dasVerhalten gegenüber einer in toto anderenReligion als vielmehr um das Phänomender Grenzbegehung. Hier mischt sich indie Frage der Hermeneutik des Anderenund des Fremden, das Problem der Misch-formen und der schwer erträglichen Nä-he, der Umgang mit dem Synkretismusund seinen notwendigen, aber bisweilenkoketten Elementen. Spirituelle Mischfor-men nehmen einen immer größeren Teilder religiösen Kultur innerhalb und außer-halb des Christentums in Anspruch undzwingen dazu, die konstruktiven Mög-

    lichkeiten, aber auch die Grenzen derToleranz zu erproben.Die Frage, ob Toleranz positiv und ange-bracht ist, ergibt sich dann aus Anlass derEreignisse und Erkenntnisse seit dem 11.September 2001 noch einmal umso dring-licher auch in anderer Hinsicht: Toleranzkann nicht sinnvoll und möglich seingegenüber Gruppen und Einzelpersonen,die ihren Glauben in welcher Weise auchimmer mit gewaltsamen und rechts-feindlichen Positionen verbinden. Diestrifft auf eine sehr kleine Minderheit inDeutschland zu, die ohnehin durch denWegfall des Religionsprivilegs im Vereins-recht im Herbst 2001 deutlicher in denZugriff der Behörden gekommen ist. Eshandelt sich keineswegs nur um muslimi-sche Organisationen, aber das erste Resul-tat der neuen Gesetzeslage war das Verbotder Gruppe „Kalifatsstaat“ (ICCB) am 12.12. 2001. Diese Dimension der Grenzender Toleranz beziehen sich in erster Linieauf kollektives oder gar staatliches Verhal-ten. Im täglichen Miteinander in nach-barschaftlichen Bezügen oder in denBeziehungen zwischen Kirchengemein-den und benachbarten Moscheen wirdsich die Frage, ob der Gesprächspartnerein „Islamist“ oder gar ein („schlafender“)Terrorist sei, eher selten stellen. Es kannaber Themen geben, die Verständigung er-fordern: die Rolle der Frau im Islam (undim Christentum!), das Verständnis des Ver-hältnisses Religion – Staat, allgemein dieFrage von Privatheit und Öffentlichkeitder Religion. Beim Thema der reflektiertenGrenzen der Toleranz ist allerdings immerzu beachten, dass auch hier ein Gesprächauf gleicher Augenhöhe stattfinden muss.Die mit einem aufklärerischen Verständnisvon Menschenwürde konforme Lebens-form von Religion ist keine Erfindung desChristentums.Die Frage, ob Religionen tolerant seinkönnen, lässt sich also zunächst mit einer

    10 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 10

  • lapidaren Einsicht beantworten: Alle Reli-gionen haben entweder als ganze oder inTeilen Phasen der Intoleranz, der Abgren-zung und intensiven Identitätsfindunggehabt und haben sie z.T. aus jeweilsspezifischen Gründen auch in der Gegen-wart. Aber alle Religionen können gleich-zeitig Beispiele für positive Erfahrungenmit interreligiösem Respekt berichten undhaben jeweils den Anspruch, die Bereit-schaft und das Potential zur Toleranz undzum friedlichen Zusammenleben mit an-deren. Dies gilt wohlgemerkt, wie obenausgeführt, auch für den Islam: Wennnicht nur einer islamistischen Minderheit,sondern dieser Religion pauschal vorge-worfen wird, gewalttätig und nicht frie-densbereit zu sein, dann scheint hier dasProblem eines Toleranz- und Verständnis-defizits nicht auf Seiten des Islam, son-dern auf der der Kritiker zu liegen.18

    Theologische Beobachtungen und ihre Grenzen

    Ich möchte weitere Versuche aus ver-schiedenen Perspektiven unternehmenund zunächst mit einem theologischenHinweis beginnen, um dann einige Über-legungen anzustellen, die etwas mehr aufunsere Situation anwendbar sind. Wir können im Allgemeinen davon ausge-hen, dass die traditionellen Bekenntnisre-ligionen, der Islam, das Christentum, undin einem gewissen Sinne auch das Juden-tum, Probleme mit der Toleranz haben,und dies trifft auf den Buddhismus zu,sofern er sich im Westen bekenntnishaftorganisiert und sich in Verdrängungs-kämpfen behaupten muss. In diesem Fallewird das gefügte und formulierte Bekennt-nis dann zum Toleranzproblem und zumProblem einer defizitären Konvivenz-fähigkeit, wenn es automatisch mit Abso-lutheit gepaart wird, d.h. mit der Behaup-tung völliger Abgelöstheit von anderen re-

    ligiösen Erkenntnisprozessen, d.h. wennes entsprechend nicht nur die subjektiveGlaubensgewissheit bezeichnet, sonderndarüber hinaus mit der Behauptung derobjektiven Ausschließlichkeit verbundenwird. Es sollte aber möglich sein, „Abso-lutheit“ als ein anderes Wort für „Treuezur eigenen Identität“, als Affirmation deseigenen Glaubens zu betrachten.19 Die„Absolutheitsgewissheit“ richtet sich da-mit nach innen, und nicht nach außen aufdie Beziehung zu den anderen Religio-nen. Es kann gleichzeitig anerkannt wer-den, dass es andere Identitäten miteigenem Recht auf ebensolche „Absolut-heit“, oder besser gesagt „Authentizität“gibt. Gedanken dieser Art hat das 2. Vati-kanische Konzil formuliert, und sie wer-den in Variationen von vielen Theologenaufgegriffen, die in letzter Zeit über dasVerhältnis des christlichen Glaubens zuden anderen Religionen nachdenken.Dieser Gedanke lässt sich mit der Einsichtergänzen, dass Gottes Wirken uns auchaußerhalb des Christentums und in Men-schen ernsthaften Glaubens begegnet, wieimmer dies dann im Einzelnen zu denkenist.20 Schon deshalb ist eine Absolutheitim ursprünglichen Sinne des Wortes, d.h.ein „Abgelöstsein“ von anderen Glau-bensformen, theologisch gar nicht denk-bar.21Diese theologische Einsicht stößt aller-dings an ihre Grenzen in den Alltagssitua-tionen, in denen es um konkrete Begeg-nungen geht. Intoleranz und Konfliktver-halten haben in den wenigsten Fällen di-rekt und vorrangig etwas mit religiöserMotivation und mit religiösen Unterschie-den zu tun, sondern sind in der Regeleingebettet in ein Konglomerat von Angst-schwellen gegenüber dem Anderen/Frem-den. Hier wirken sozialisatorische Fak-toren, Erfahrungen, mitunter Einzelerfah-rungen, die verallgemeinert werden, unddie Arbeit der Massenmedien mit. Im

    11MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 11

  • Konzert solcher Prägungen spielt auch diereligiöse Komponente ihre Rolle. Men-schen, die ohnehin sozialisatorisch eherfür das Leben in homogenen Zusammen-hängen disponiert sind, erfahren in jahre-langem Wohnen in Berlin-Kreuzberg eineÜberdosis von Multikulturalität, fliehen inein Villenviertel im Südwesten undmöchten nie wieder in ihrem Leben einentürkischen Muslim zu Gesicht bekom-men, andere, evtl. selber Sprösslinge ausethnisch gemischten Familien, freuen sichschon das ganze Jahr über auf den pfingst-lichen Karneval der Kulturen in Kreuz-berg. Beides hat relativ wenig mit demWissen über das Toleranzpotential in denReligionen zu tun.

    Zu einer Kultur des respektvollen Lebensmit Unterschieden

    Ich möchte in einigen abschließendenPunkten erläutern, wie ich mir die Bedin-gungen für Toleranz und Respekt zwi-schen den Religionen vorstelle.

    ➢ Grundvoraussetzung ist der Respekt ge-genüber anderen Religionen in ihrer Wer-tigkeit als Heilswege, die Anerkennung,dass sie gleichberechtigte, seriöse und au-thentische Glaubensformen darstellen.Religionen begegnen uns in gläubigenMenschen, nicht als abstrakte Gebilde,und stehen unter der Vorgabe des Liebes-und deshalb auch Höflichkeitsgebots.➢ Für Christen gilt es besonders zu beher-zigen, dass die interreligiöse Begegnungnicht symmetrisch ist. In kultureller, juristi-scher und allgemein atmosphärischer Hin-sicht hat das Christentum „Standortvorteile“in Deutschland und gibt damit Machtstruk-turen vor, innerhalb derer sich tolerantesoder intolerantes Verhalten ereignet. DieseStrukturen gilt es zu vergegenwärtigen undgegebenenfalls punktuell zu umgehen.„Runde Tische“ oder die zahlreichen multi-

    religiösen Initiativen sind Schritte in dieserRichtung.➢ Es geht um eine Kultur der Lernbereit-schaft und Hörbereitschaft, in der wir zurRationalisierung und Entzauberung vonWeltbildern bereit sind und bereitwilligneue Informationen aufnehmen undverarbeiten. Zur Rationalisierung vonWeltbildern gehört dazu, einzusehen, dasses kein „christliches Abendland“ gegeneine „islamische Bedrohung“ zu verteidi-gen gibt. Auf Toleranz trifft im Wesentli-chen das zu, was Brecht mit seinerberühmten Keuner-Geschichte zur Liebe22ausdrückte: Ähnlich wie Herr Keuner ha-ben wir meist einen fertigen Entwurf von„den Religionen“ und schauen, dass un-sere Gesprächspartner diesem Entwurfähnlich sein mögen, zum Guten oder zumSchlechten. So entstehen die bizarren Ge-sprächssituationen z.B. mit dem Elementdes umgekehrten Fundamentalismus, indenen Muslimen, die die Friedensorientie-rung des Islam betonen, auf Grund vonKoran-Zitaten entgegengehalten wird, ihreReligion sei doch gewaltbereit und auf mi-litante Expansion angelegt.➢ Die von mir genannten Stichworte be-deuten nicht, dass eine von zwischenreli-giöser Toleranz und interkulturellem Re-spekt geprägte Kultur eine Kultur der per-fekten Harmonie, der für alle Zeit gelöstenoder verdrängten Konflikte sein soll. Esgeht nicht darum, dass Toleranz zur Vor-aussetzung haben muss, eine Art „Kom-promiss“ mit dem Gesprächspartner zufinden, eine „gemeinsame Wahrheit“ zuerarbeiten. Im Gegenteil ist Respekt vordem anderen allemal mit eigener Authen-tizität und Identität verknüpft. Toleranzsetzt ja den kognitiven Konflikt, die Wahr-nehmung von Unterschieden und die jeeigene Identität der Gesprächspartner al-lererst voraus. Wo sich nichts unterschei-det, muss allenfalls die Langeweile tole-riert werden. Eine Kultur der lernbereiten

    12 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 12

  • respektvollen Kommunikation kann dannauch in offener Atmosphäre Problemeund hermeneutische Schwellen themati-sieren und kann sich unpolemisch überdie Grenzen der Toleranz verständigen.23In einer solchen Kultur können Konflikteohne Beziehungsbruch ausgetragen wer-den, und sie müssen ausgetragen werden,weil eine verschweigende Toleranz unter-schwelligen Zündstoff transportiert. ➢ Ein großes Thema stellt die Frage dertheologischen Toleranz dar: Wie ist mitdem Hinweis auf den einen und selbenGott umzugehen, zu dem Juden, Christenund Muslime beten? Wie stehen wir zu deroft erhobenen Forderung, Mohammed alsPropheten anzuerkennen? Was bedeutetfür uns die theologische Behauptung, nichtnur der Gott der drei monotheistischen Re-ligionen sei derselbe, sondern allen Reli-gionen ginge es letztlich um ein und die-selbe Wahrheit? Wie sind Bibel und Koranbzw. Bibel und Sunna miteinander ins Ge-spräch zu bringen? Können gemeinsameGottesdienste gefeiert werden? Gibt es „in-terreligiöse Gebete“?

    Das sind wichtige theologische Fragen, diehier als Problemanzeigen zum Thema Tole-ranz nur in den Raum gestellt werden kön-

    nen. Die Anerkennung von theologischenUnterschieden kann allerdings nur der Be-ginn von Toleranz und Dialog sein, nichtdas Ende. Wenn Muslime die KreuzigungJesu leugnen (Sure 4,157f.), weil sie ihnenmit der Würde Jesu Christi nicht vereinbarscheint, dann ist dies der Anfang eineswichtigen Gesprächs, nicht sein Ende! Ähn-lich kann es mit einer unterschiedlichenSicht auf das Leiden aus christlicher undbuddhistischer Perspektive sein. Und noch eine Schlussbemerkung: Ich habe die Begriffe Toleranz und Res-pekt nicht ausdrücklich definiert und gele-gentlich nebeneinander benutzt. Natür-lich kann es im gedeihlichen Zusammen-leben der Anhänger verschiedener Reli-gionen nicht nur Toleranz im Wortsinneeines gegenseitigen „Ertragens“ geben,einen Umgang miteinander, der mit demmühselig unterdrückten Gefühl der Unzu-mutbarkeit einhergeht. Wünschenswert istvielmehr ein menschenwürdiger, garliebevoller und respektvoller Umgangmiteinander. Aber das Normale sind im-mer noch die Situationen, in denen daseine, die Toleranz, schon viel wäre, unddas andere, der liebevolle Respekt, eineferne, aber schöne Vision darstellt.

    13MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    Anmerkungen

    * Der Text basiert auf einem Vortrag, gehalten am6.7.2002 im Rahmen des Düsseldorfer Kirchentages.

    1 Brockhaus. Die Enzyklopädie, Band 4, Mannheim201996, 681f.

    2 Reinhart Hummel, Umgang mit „Sekten“ – Von denReligionen des Ostens lernen?, in: Michael Bergun-der (Hg.), Religiöser Pluralismus und das Christen-tum (Festgabe für Helmut Obst zum 60. Geburts-tag), Göttingen 2001, 174-188, 175.

    3 Dies wäre ausdrücklich gegen Malise Ruthven (DerIslam, Stuttgart 2000, 121) festzuhalten, der dieSharia als „sowohl in der Theorie als auch in derPraxis kompromißlos individualistisch“ betrachtet.

    4 Adel-Theodor Khoury, Toleranz im Islam,München/Mainz 1980, 26f.

    5 Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung,München 22000, 112.

    6 Monika Tworuschka, Djihad im Islam – Bedeutungund Wandel eines Phänomens, in: M. Klöcker/U.Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen, Mün-chen 1997ff. (Ergänzungslieferung 2002), IV–1.4, 9.

    7 Vgl. islam.de/print.php?site = sonstiges/events/charta8 Neben zahlreichen Stellungnahmen zur Islami-

    schen Charta, die tendenziell eher wohlwollendwaren, vgl. insbesondere die kritischen „Fragen undAnmerkungen“ von Johannes Kandel, Friedrich-Ebert-Stiftung (www.fes-online-akademie.de/down-load/pdf/KANDEL_ISLAMCHARTA.PDF), sowie dennachdenklichen Kommentar von Christian W. Troll,Islamische Charta für Deutschland, in: Stimmen derZeit 5/2002, 289f.

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 13

  • 9 Vgl. hierzu Werner Ende/Udo Steinbach (Hg), DerIslam in der Gegenwart, München 41996, ZweiterTeil, Kap. VII (Werner Schmucker: Sekten und Son-dergruppen); Ursula Spuler-Stegemann, Muslime inDeutschland, Freiburg i. Br. 1998, 51-59.

    10 Bhagavadgita. Das Lied der Gottheit (aus dem San-skrit übersetzt von Robert Boxberger, hg. H. v.Glasenapp), Stuttgart 1992, 53 (Siebenter Gesang,Verse 2,6,7).

    11 Die Reden des Buddha – Mittlere Sammlung, ausdem Pali-Kanon übersetzt von Karl Eugen Neu-mann, Herrnschrot 1995, 947f. (Dreizehnter Teil,Buch der Armut, Verschlackung).

    12 Vgl. hierzu B. Petzold, Buddhist Prophet Nichiren –A Lotos in the Sun, Tokyo 1978; M. v. Borsig, Lebenaus der Lotosblüte. Nichiren Shonin: Zeuge Bud-dhas, Kämpfer für das Lotos-Gesetz. Prophet derGegenwart, Freiburg i. Br. 1981; U. Dehn, Diegeschichtliche Perspektive des japanischen Bud-dhismus – Das Beispiel Uehara Senroku, Ammers-bek bei Hamburg 1995, 31-41.

    13 The Writings of Nichiren Daishonin, Tokyo 1999, 6-30. „Es [das Werk des Honen] stückelt alle ver-schiedenen Buddhas, Sutren, Bodhisattvas undGottheiten zusammen und sagt, man könne sie alle‚vergessen, wegschließen, ignorieren und entsor-gen’. Die Bedeutung dieses Textes ist absolut klar.Und als ein Resultat dessen haben alle Weisen dasLand verlassen, die wohlmeinenden Gottheitenhaben ihre Wohnorte aufgegeben, Hunger undDurst füllen die Welt und Krankheit und Pest brei-ten sich aus“ (a.a.O. 23, Übersetzung U.D.).

    14 Vgl. die Darstellung bei H. W. Schumann, Hand-buch Buddhismus, Kreuzlingen/München 2000,309-313.

    15 Vergleichbare Prozesse sind für andere Begriffe ausdem asiatischen Raum zu beobachten, etwa fürMandala als runde Ausmalbilder oder für die weit-hin säkularisierte Benutzung der Begriffe Yoga,Tantra, Qi Gong oder Taichi. Es ist eine „asiatischeEventisierung“ der deutschen Alltagssprache zubeobachten.

    16 Das Bekenntnis der DBU ist Bestandteil ihrerSatzung, vgl. u.a. Die Deutsche BuddhistischeUnion (DBU) und ihre Mitglieder in Selbstdarstel-lungen, München 1991 (Anhang).

    17 Der Hinweis auf die Heterogenität des Mahayana-Buddhismus steht unter dem Vorbehalt, dass fastalle Variationen im ostasiatischen Buddhismusbereits in den Ausrichtungen des indischen Bud-dhismus der frühen Jahrhunderte angelegt sind.

    18 So zuletzt in dem Text Juden, Christen und Muslimevereint für den Frieden? Der Nahostkonflikt in bib-lisch-heilsgeschichtlicher Sicht – Eine evangelikaleOrientierungshilfe (Theologischer Konvent der Kon-ferenz Bekennender Gemeinschaften, in: idea132/2002, 7.11.2002).

    19 Vgl. Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruchdes Christentums. Von der Aufklärung bis zur Plura-listischen Religionstheologie, Gütersloh 21993, 238f.

    20 Religionen, Religiosität und christlicher Glaube.Eine Studie, hg. im Auftrag der AKf und der VELKD,Gütersloh 21991, u.a. 125; EKD (Hg.), Zusammen-leben mit Muslimen in Deutschland, Gütersloh2000.

    21 Vgl. zum Thema einer Theologie der Religionenu.a. U. Dehn, Religionstheologie in einer multire-ligiösen Welt, in: MD 1/2002, 1-14; Ders., DerGeist und die Geister – Religionstheologische Op-tionen und ein Vorschlag, in: Berliner TheologischeZeitschrift 1/2002, 25-44.

    22 Vgl. Bertolt Brecht, Prosa Band 2 (von 4 Bde.),Frankfurt a. M. 1980, 386.

    23 Zu den Stichworten der Rationalisierung von Welt-bildern, zur symmetrischen Kommunikation, zu den Vorgängen von Verständigung und Einver-ständnis in der Kommunikation vgl. allgemeinJürgen Habermas, Theorie des kommunikativenHandelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalisti-schen Vernunft, Frankfurt a. M. 1995 (Erst-erscheinen 1981); vgl. auch Theo Sundermeier,Den Fremden verstehen – Eine praktischeHermeneutik, Göttingen 1996 (kritisch zu Haber-mas 84-92).

    14 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 14

  • 15MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    Die Flut hat viele Fragen aufgeworfen.Eine erstaunlich positive Deutung gab ihrMarko Pogacnik bei seinem Auftritt am 29. 10. 2002 im Dresdner Kulturrathaus. Marko Pogacnik (geb. 1944 in Kranj, Slo-wenien) ist von Beruf Künstler, diplo-mierter Bildhauer an der Kunstakademiein Ljubljana. Darüber hinaus gehört er zuden bedeutenderen Vertretern der esoteri-schen Geomantie-Szene. Die Anhängerdieser Richtung verstehen die Erde alsbelebten und von zahlreichen feinstoffli-chen Wesenheiten (Feen, Elfen, Gnomeetc.) bewohnten Organismus, was inStädtebau, Architektur und Landschafts-gestaltung zu berücksichtigen sei. Schonseit 1979 ist Pogacnik in diesem Bereichaktiv und hat auch schon einige pres-tigeträchtige Projekte vorzuweisen. ZumBeispiel gelang es ihm, die Stadt Villachvon der Nützlichkeit der von ihm entwi-ckelten „Lithopunktur“ zu überzeugen.Dabei handelt es sich um eine Form derAkkupunktur, die auf die Erde als Organis-mus übertragen wird. So kam es, dass erdort 1997 in öffentlichem Auftrag zwölfSteinsäulen errichten durfte, um dieStörung durch eine von der Eisenbahnüberbaute Energiequelle „auszugleichen“(Profil Nr. 23, 2. Juni 1997). Ähnliche Pro-jekte gab es im Schlosspark Türnich undCappenberg sowie entlang der Grenzezwischen Nordirland und der Republik Ir-land bei Londonderry. Auch als Buchautorist Pogacnik aktiv. Mittlerweile sind neunBücher von ihm erhältlich, aufgrund seiner

    internationalen Ausstrahlung teilweiseauch in englischer Übersetzung, und einnächstes ist bereits in Arbeit. Die bei vielen esoterischen Vordenkernanzutreffende Tendenz zur Bildung vonKlientengruppen ist auch bei MarkoPogacnik derzeit voll im Gange. Etliche Interessierte waren von seinen Vorträgenund Seminaren so angeregt, dass sie lokaleGeomantiegruppen bildeten. Im mittel-deutschen Raum bestehen solche Grup-pen in Dresden, Leipzig und Halle (Saale).Überregional haben sich diese Geoman-tiegruppen im „Lebensnetz – Netzwerk fürdie wechselseitige Inspiration von Erdeund Mensch“ zusammengeschlossen(www.lebensnetz.de). Mittlerweile gehö-ren in „mehr als 15 Ländern 85 Gruppen“zu diesem Netzwerk und tauschen unter-einander Informationen aus, organisierenVeranstaltungen und regen weitere Ge-meinschaftsbildungen auch auf europäi-scher und globaler Ebene an. Vor diesem Hintergrund war es interes-sant, Marko Pogacnik in Dresden zu er-leben.

    Geomantiegruppe Dresden

    Der Saal im Kulturrathaus war mit ca. 140Teilnehmern gut gefüllt, als eine ältereDame von der Geomantiegruppe Dresdendie versammelten „Freunde der Erde“ be-grüßte und einige einführende Worte zuMarko Pogacnik sagte. Seine Tätigkeit er-streckt sich demzufolge auf drei Bereiche:

    Harald Lamprecht, Dresden

    Im Gespräch mit der FlussgöttinMarko Pogacnik im Kulturrathaus

    BERICHTE

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 15

  • 16 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    1. die Erforschung der feinstofflichen Ele-mente der Erde

    2. die erdheilerische Tätigkeit mit Litho-punktur und Kosmogrammen sowie

    3. die Weitergabe dieses Wissens in a) der Schule für Geomantie HagiaChora und b) seiner Vortragstätigkeit und den Erd-heilungsseminaren.

    Die Geomantiegruppe in Dresden bestehtseit 1997 und ist aus einem solchen Erd-heilungsseminar von Marko Pogacnik her-vorgegangen. Als Künstler habe er ohne-hin seine ganz eigene Sichtweise auf dieNatur. Aber durch seine besondere Fähig-keit zum Erspüren der (normalerweise denSinnesorganen nicht zugänglichen) fein-stofflichen Elemente verfüge er überdarüber hinausgehende eigene Informa-tionsquellen. Dadurch würden viele As-pekte in seine Arbeit einfließen, die Men-schen ohne diese besondere Wahr-nehmung nicht sehen könnten. Nach einerkurzen Werbung für die nachfolgendenSeminare (bei denen rätselhafterweiseauch eine evangelische Kirchgemeinde alsEinlader fungiert) konnte dann MarkoPogacnik selbst das Wort ergreifen.

    Geschulte Wahrnehmung

    Der Beginn seiner Ausführungen erinnertemich an die Grundlegung anthroposophi-scher Erkenntnistheorie: Wir leben in einerZeit der Wandlung der Erde. Dies ge-schehe nicht nur in katastrophaler Weise,sondern auch allmählich und unbemerkt.In der Geomantie gebe es Menschen (wieihn), die ihre Wahrnehmungsorgane schu-len und verfeinern, damit sie dann denenBericht über diese Vorgänge geben kön-nen, die beruflich oder zeitlich nicht in derLage sind, es ihnen gleichzutun. Geoman-tie bedeutet das Deuten der Erde. Ge-wöhnlich sehen wir nur die äußeren

    Prozesse, es sei aber die Kunst nötig, aufdas Innere zu hören und es zu verstehen.Diese inneren Prozesse vollziehen sich

    a) auf der energetisch/feinstofflichen Ebene,b) auf der Ebene des Bewusstseins (der

    Elementarwesen) undc) auf der geistigen Ebene des Kosmos.

    Menschen früherer Zeiten (welche er ge-nau meint, sagt er nicht) hätten noch mitder Erde gelebt und geatmet, später habesich der Mensch getrennt und dieses Ver-mögen verloren. Nur Einzelne hätten esbislang wiedergewonnen.Es wird also eine Differenz im Erkennt-nisvermögen zwischen dem Vortragendenund dem Publikum aufgebaut, aus der her-aus das Nachfolgende quasi Offen-barungscharakter bekommt – auch wenndies nie so ausgesprochen wurde. Er hat eserspürt – wir dürfen es glauben.

    Selbstheilungsprozesse der Erde

    Zunächst unternimmt Marko Pogacnikeinen Rückblick auf seine Ausführungenwährend seines letzten Besuches in Dres-den zum Thema „Selbstheilungskräfte derErde“. Wie der Mensch nicht nur einHaufen von Knochen und Fett ist, sei auchdie Erde kein Steinhaufen, sondern habeEmotionen, Bewusstsein und eine Indivi-dualität. Die Erde habe das Handeln derMenschen verstanden und warte nicht aufeine Besserung des Menschengeschlechts,sondern habe ihre Selbstheilung be-gonnen, indem sie allmählich die Fre-quenzen ihrer Schwingungsebenen ver-schiebe. Sie konzentriere sich nun auf an-dere Ebenen. Ihre Aufmerksamkeit ver-schiebe sich vom Erdelement ins Luftele-ment (der Aquarius/Wassermann sei jaeigentlich ein Luftzeichen) und schaffedadurch eine neue Raumqualität, in diedas alte aufgenommen und integriert wird.

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 16

  • Wir seien nun aufgerufen, uns an diesemProzess zu beteiligen. Ein zweiter Strangder Selbstheilung bestehe in der Ak-tivierung der inneren Reserven. Es werdenChakren aktiviert und geomantische Sys-teme verändert. Der dritte Strang liege inder Bewusstseinsentwicklung. Die Partner-schaft zwischen Erde und Mensch stehevor der Phase der Scheidung. Entweder wirproduzieren weiter und immer mehr künst-lich, oder wir verbinden uns wieder mit derNatur und geben dieser „Ehe“ noch eineChance. Die Natur – so hat es Pogacnikgespürt – gibt uns noch eine Chance undsieht die Möglichkeit zur Weiterentwick-lung. Sie will uns nicht wegstoßen, son-dern zu einer neuen Zivilisation her-anziehen. Dies brauche eine Sprache, diewir beide verstehen. Die Menschenmüssen die Sprache der Natur lernen, wiesie sich in den mysteriösen Kornkreisenoder auch in der Elbeflut ausdrückt.

    Die Flut als Sprache der Natur

    Als er im September in Prag war, hat er diedortigen Flutschäden kennen gelernt. DieElementarwesen des Flusses, die er ausfrüheren Jahren kannte, habe er in diesemJahr überall in der Stadt getroffen, überallwo das Wasser war. Aber er beschreibt diespositiv, mit einem Lachen im Gesicht:überall war es durchflutet mit dieser an-deren Qualität. Die Menschen haben denFluss als Feind gesehen, ihn begradigt,Ufer ausgebaut, in einen Panzer gesteckt,um zu verhindern, dass die Seele desFlusses atmet. Die (in populären neuheid-nisch-religiösen Systemen gebräuchli-chen) drei Aspekte der Göttin als Jungfrau(natürlich), Mutter (kreativ) und Grei-sin/schwarze Göttin (zerstörerisch) habeder Fluss auch in sich: als Quelle, Flusslaufund Flut. Die Menschen versuchen, dendritten Aspekt, die schwarze Göttin, zu eli-minieren. Lediglich als Jungfrau (Trink-

    wasser) und Mutter (Schifffahrt) ist ihnender Fluss willkommen. Der Zyklus derNeuentstehung, der vorher das Sterbendes Alten benötigt, wird somit abgeschnit-ten. Die so zerstörten Wandlungsphasenkommen dann 100-fach über uns. DieErde wolle uns aber nicht zerstören, son-dern uns warnen und helfen, dass dieMenschheit sich auf die neuen Schwin-gungsebenen heraufarbeiten kann – soPogacniks Botschaft.

    Flusschakra und Göttin

    Lokalbezug bekommen seine Ausführun-gen, als er über seinen Stadtrundgang inDresden berichtet. Bei der Augustus-brücke, die aus energetischem Gesichts-punkt besser 100 m weiter flussaufwärtsstehen sollte, habe er ein großes Fluss-chakra entdeckt. Wie die sternförmigenZacken einer alten Stadtbefestigung habeer es wahrgenommen, an jeder Zacke miteiner grünen Kugel (dem Erdchakra). Aufeiner solchen Kugel stehe die Frau-enkirche, was sehr wichtig sei, denn sieleite diese Energien weiter. Ihn wunderte,dass er dieses Flusschakra nicht schon beieinem seiner früheren Besuche wahr-genommen hätte, aber offenbar wurde eserst durch die Flut aktiviert. Die Wandlungdurch die Flut stoße eben Befreiung undWiederbelebung an. An der Augustusbrücke habe er dann auchein Gespräch mit der Flussgöttin (demFluss-Bewusstsein) geführt. Dies war eineder amüsanten Stellen des Abends: Pogac-nik erläuterte, wie er die Flussgöttin ge-fragt habe, was er heute Abend als ihreBotschaft den Dresdnern verkünden solle.Sie hätte gesagt – hier stockte er in seinerbisher völlig frei vorgetragenen Rede,dachte nach und gestand: „Das habe ichvergessen.“ Allerdings ließ sich dieseGedächtnislücke durch ein eilig hinzuge-zogenes Notizbuch schließen, denn nun

    17MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 17

  • 18 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    wollten wir schon wissen, was unser Flussuns zu sagen hat. Der Inhalt unterschiedsich (wie man erwarten konnte) eigentlichgar nicht von Pogacniks sonstigen Aus-führungen: Die Flussgöttin möchte mit unszusammen die neue Zivilisation schaffen,wir sollten uns nicht gegen Veränderungensträuben und auf ihr Begehren nach Part-nerschaft eingehen.

    Wandlungen statt Katastrophen

    Marko Pogacniks freundliche undunaufgeregte Art hat etwas Gewinnendes.Er spricht ruhig, mit einem Lächeln auf denLippen. Dramatisieren liegt ihm fern. ImGegenteil, immer wieder antwortet erbesänftigend auf unruhige Fragen aus demPublikum. Ob man angesichts der Um-weltzerstörung nicht Angst vor dem Welt-untergang haben müsse? Nein, denn dieErde als göttliches Wesen gebe auch an-deren Formen Raum. Zwar gebe es Zu-sammenbrüche (vgl. Atlantis), aber stetsauch Erben dieser Kulturen. Unter demEwigkeitsaspekt werden Katastrophen zuWandlungen. Das Gefühl von Zusammen-bruch entstehe lediglich aus Unverständ-nis für den geistigen Kern der Erde. Wasmit dem armen Elementarwesen ge-schieht, wenn ein Baum gefällt werde? Esfreut sich über seine Freiheit. Die Men-schen sollen lediglich den Baum daraufvorbereiten, ihm Danke sagen, dann kannsich der Baumgeist zurückziehen und hin-terlässt bloßes Holz. Alle Fragen hat er wahrscheinlich nicht zurZufriedenheit der Teilnehmer beantwortet.Viel Konkretes war von ihm nicht zu hören.Auf den Wunsch nach eindeutigen Hand-lungsanweisungen antwortete er auswei-chend. Was will der Fluss von uns? Waskönnen wir tun? Nicht viel. Bewusst mit-kommen. Wohin und auf welchem Weg,bleibt unkonkret wie manches andere andiesem Abend. Die kleinen Gruppen auf

    dem richtigen Weg wirken gleichsamhomöopathisch für die gesamte Menschheit– ein Trost für die kleine Schar der Erdheiler.

    Gott und das Göttliche

    Theologisch wird es am Schluss der Ver-anstaltung. Fragen aus dem Publikumschneiden diese Themen an, die er bislangausgelassen hatte. Ist das Göttliche mit derNatur identisch, oder noch etwas anderes?Pogacnik unterscheidet drei Ebenen: dieErde, ihr Bewusstsein und die göttlicheEbene (Gaia). Darin seien wir Menschenihr ebenbürtig, denn jeder Mensch habeeinen göttlichen Funken in sich. Eine Teil-nehmerin stellt die Frage, ob die Kommu-nikation mit einer solcherart göttlich ge-dachten Erde einem Gespräch mit Gottgleichzusetzen sei? Seine spontane Ant-wort: „Ich glaube nicht an Gott“. Erbrauche nicht Gott als eine Hyperinstanz,um mit einer Göttin zu sprechen. DasGöttliche findet nach seiner Auffassungverschiedene Weisen, sich zu manifes-tieren. An ein abgesondertes (von derNatur unterschiedenes) göttliches Wesenglaube er nicht.Religionswissenschaftlich gesprochen stelltPogacniks Auffassung einen Rückfall in –oder positiver ausgedrückt: eine Wieder-belebung von archaisch-mythologischenSichtweisen dar. Gern nimmt er auch Kel-ten und Schamanen als Vorfahren seinerAuffassungen in Beschlag (selbst wenndiese sich noch nicht für Flusschakrenbegeistern konnten). Mit dieser pantheis-tischen Grundauffassung wird mit vielkünstlerischer Kreativität eine große Zahlesoterischer Traditionen geschickt ver-woben. Marko Pogacniks Weltbild weisteine nicht zu unterschätzende Komplexitätauf, was in seinen Ausführungen mitunteranklingt und sicher mit ein Grund für seineAttraktivität bei diesem mehrheitlich in-tellektuellen Publikum darstellt.

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 18

  • 19MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    Fazit

    Im Anliegen eines verantwortungsvollerenUmgangs mit der Natur sind sich Christenund Geomantiegruppen einig – nicht aberin den dahinterliegenden Auffassungenvon der Natur und von den angemessenenWegen zu ihrer Gesundung. Es istzweifelsohne gut und richtig, die Natur alsPartner des Menschen anzunehmen. Dazubraucht es aber keine Vergöttlichung, imGegenteil: Indem beide, Natur und Men-sch, zum Bereich der Schöpfung Gottes

    gehören, stehen sie auf einer Ebene. In derMitgeschöpflichkeit ist der partnerschaft-liche Umgang bereits angelegt. Vielechristliche Umweltgruppen sind seitJahren in diesem Sinn engagiert und habenim öffentlichen Bewusstsein schon vieldavon verankern können – auch ohne Fre-quenzverschiebung und Chakrenöffnung.Wird die Natur hingegen zur Göttin, dannmuss auch der Mensch selbst Gott sein, umeine Partnerschaft begründen zu können.Wo er dies versuchte, ist nie etwas Gutesherausgekommen, denn das ist er nicht.

    Jan Badewien, Karlsruhe

    Antijudaismus bei Rudolf Steiner1

    1. Die aktuelle Diskussion um Steiners Rassismus

    Um die Frage nach Rassismus und Judais-mus im Werk Steiners, in der Anthroposo-phie und in der Waldorfpädagogik ist esnach einigen erregten Debatten im An-schluss an die Report-Sendungen des SWRim Jahr 2000 wieder ruhig geworden. ZuUnrecht, sind doch die angesprochenenProbleme keineswegs ausreichend geklärt.In den Niederlanden sahen sich die An-throposophen genötigt, eine Kommissioneinzusetzen, um die erhobenen Vorwürfezu klären. Auf die Ergebnisse dieser Kommissionwird seitens der Anthroposophen immerwieder gerne verwiesen, spricht sie dochSteiner von allen Vorwürfen frei. Sie hattejedoch einen unaufhebbaren Geburts-fehler: es wurden nur Anthroposophen alsMitglieder berufen, da nur sie verstehenkönnten, was Steiner wirklich gemeinthabe.2 In einer Fleißarbeit sind viele rassis-tisch anmutende Zitate aus dem WerkSteiners zusammengetragen, kommentiert

    und weitestgehend entschuldigt worden,so dass nur wenige selbst von dieser Kom-mission als rassistisch und nicht mehr ver-wendbar benannt wurden3 – und selbstdas hat unter deutschen AnthroposophenWiderspruch ausgelöst.4Hier sei zunächst nur festgestellt: dieserBericht kann nicht das letzte Wort bleiben,wenn Anthroposophen sich ernsthaft mitden problematischen Seiten ihrer Weltan-schauung im Blick auf Rassismus und Anti-judaismus auseinandersetzen wollen. Diefolgenden Ausführungen wollen dazu An-regungen geben, wobei hier insbesonderedem Vorwurf des Antijudaismus nachge-gangen werden soll.

    2. Biographie Steiners und sein Antijudaismus

    Rudolf Steiner lebte von 1861 bis 1925.Geboren wurde er in Österreich-Ungarn,den größten Teil seines Lebens verbrachteer in Deutschland, zuerst in Weimar alsMitarbeiter an der historisch-kritischenGoethe-Ausgabe. 1893 promovierte Stei-

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 19

  • ner in Rostock im Fach Philosophie. SeinVersuch, eine Universitätslaufbahn einzu-schlagen, misslang: „Die Philosophie derFreiheit“ von 1894 wurde von der Philo-sophischen Fakultät der Universität Jenaals Habilitationsschrift abgelehnt.Seit 1897 lebte er in Berlin, zunächst alsMitherausgeber eines literarischen Maga-zins, dann als Lehrer an der sozialistischenArbeiterbildungsschule, schließlich – ab1901 und nach manchen anderen Ver-suchen, beruflich Fuß zu fassen – als Ge-neralsekretär der deutschen Sektion derTheosophischen Gesellschaft.Zwischen 1890 und 1901 gehört Steinerdurchaus zur literarischen GesellschaftWeimars und Berlins, man kann vielleichtsogar sagen zur Bohème. In dieser Zeitverspottet er die Theosophen ganz im Stilder Avantgarde der Zeit: sehr von obenherab verurteilt er sie als unglaubwürdig(„Magazin für Literatur“, 1897). Steinerspricht in seiner Autobiographie „MeinLebensgang“ über diese Zeit von der„Notwendigkeit, in das bürgerliche Wesenunterzutauchen, durch meine Tätigkeit inder Arbeiterschaft in das proletarische. Einreiches Feld, um die treibenden Kräfte derZeit erkennend mitzuerleben“ (GA 28, zit.nach der TB-Ausgabe S. 283).1901/2 wird Steiner Theosoph. Im erstenJahrzehnt des 20. Jahrhunderts – alsTheosoph also – schreibt er seine bis heutein der Anthroposophie als grundlegendgeltenden Werke. Sie formulieren nichtmehr eine intersubjektiv nachvollziehbareund wissenschaftlich begründete Erkennt-nistheorie, wie notfalls noch die „Philoso-phie der Freiheit“, sondern haben Titelwie: „Geheimwissenschaft im Umriss“,„Wie erlangt man Erkenntnisse derhöheren Welten“, „Aus der Akasha-Chro-nik“ – Bücher, die ihm eine kleine Scharvon Anhängern verschaffen, die aber seineReputation als Mitglied der literarisch/künstlerisch/wissenschaftlich interessier-

    ten Gesellschaft Berlins beenden. Steinerformuliert seine okkulte – heute würdeman eher sagen: esoterische – Weltan-schauung in zahlreichen weiteren Schrif-ten, Artikeln und vor allem Vorträgen.1913 trennt er sich von der Theosophi-schen Gesellschaft und begründet die „An-throposophische Gesellschaft“. Nach dem 1. Weltkrieg erst beginnt diepraktische Phase seines Wirkens: aufGrund von Anfragen von Freunden undAnhängern gründet Steiner die Waldorf-schule mit der entsprechenden Pädagogik,den biologisch-dynamischen Landbau,Grundzüge der anthroposophischen Heil-kunde und er ist wesentlich beteiligt an derEntstehung der Christengemeinschaft.1925 stirbt er in Dornach bei Basel.

    3. Von Planeteninkarnationen und Wurzelrassen oder: Grundzüge des anthroposophischen Geschichts-determinismus

    Mit der Hinwendung zur Theosophie voll-zieht Steiner eine radikale und grundle-gende Wende in seiner Biographie. War erbislang ein Autor, der sich mit den ak-tuellen Gedanken und Denkern seiner Zeitauseinandergesetzt hatte – mit Nietzsche,Haeckel und der literarischen Avantgarde– so entwickelt er nun plötzlich eine eso-terische Weltanschauung, die er weitge-hend bei den Theosophen entlehnt (auchwenn er das später nicht wahrhabenwollte). Dazu gehört ein Erkenntnisweg,der zu einem Wissen über höhere Weltenführen soll und es gehören dazu angeb-liche Erkenntnisse aus einer Wel-tenchronik, die im Weltenäther vorhandensein soll, in der alles aufgezeichnet ist, wasjemals gedacht, gesagt und getan wurde.Diese Chronik sei die Quelle vonEingeweihten, die daher viel genauer undgültiger über die Gesetze der Welt undihre Geschichte Kunde zu geben vermö-

    20 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 20

  • gen als andere Menschen. Die Behaup-tung einer „Akasha-Chronik“ findet Steinerin den Werken der Gründerin der Theo-sophischen Gesellschaft, Helena PetrownaBlavatsky. Dort entlehnt er auch sein neuesBild von der Welt als eines sich über Wel-tensysteme hinweg entwickelnden Ge-bildes – eine Kosmosophie mit einer uni-versalen Schau verschiedener Inkarnatio-nen jenes Planetenwesens, das sich gegen-wärtig im Planeten Erde verkörpert. DieseSchau reicht ungleich weiter als alle natur-wissenschaftliche Erkenntnis oder Hy-pothese.Im Laufe der Entwicklung des Planetenwe-sens Erde entwickelt sich der Mensch, dernicht – wie in der naturwissenschaftlichenSicht – Spätling der Evolution ist, sondernvielmehr ihr Anfang. Seine Vervollkomm-nung (Vergeistigung) bildet das Movensder ganzen Evolution des gegenwärtigenWeltsystems (das sieben Planeteninkar-nationen umfasst). Mit Erreichen des Evo-lutionsstadiums „Erde“ besitzt der Menschbereits die niederen Wesensglieder, seinenphysischen Leib, seinen Ätherleib und As-tralleib, und erhält nun sein „Ich“, sein Be-wusstsein, seine ewige Individualität. Dieses Ich entwickelt sich im Laufe des Er-dendaseins mithilfe von „Wurzelrassen“,die jeweils Verantwortung tragen für dienächste Stufe der Vergeistigung des Men-schen. Die Stufenfolge geht von der pola-rischen Zeit zur hyperboräischen, vonLemuriern bis zu Atlantiern. Die 5. großeStufe der Erdentwicklung ist die gegenwär-tige: Sie wird von der Wurzelrasse derArier geprägt und entfaltet sich in sog.„nachatlantischen Kulturepochen“: vonIndern zu Urpersern, Chaldäern undÄgyptern, Griechen und Römern bis zuGermanen und in unsere Zeit hinein. Indiesen Stufen der Evolution entfaltet sichdas Bewusstsein – es ist am höchsten aus-gebildet in jenen Menschen, die dortleben, wo der Geist weitertreibt – und

    nicht in jenen Kulturen, die er beiseitelässt. Dazu gehört, dass jedem Volk einebesondere Aufgabe für das Weltganzezukommt. Steiners Ausführungen sindgeprägt von einem gewissen Determinis-mus: Entwicklungen mussten sich abspie-len, wie sie es getan haben, damit eine Vo-raussetzung für die nächste Stufe geschaf-fen wurde usw. Dabei wird das Zusam-menspiel der Völker und Kulturen voneinem höheren Willen, einem geistigenGesetz, einem Ziel geleitet und bestimmt.Den Völkern sind Engelwesen, „Volksgeis-ter“, zur Anleitung beigegeben, damit sieihr Ziel im Rahmen der Evolution nichtverfehlen.

    4. Antijudaismus in Steiners Geschichtsschau

    Die genannte Stufenfolge geistiger Ent-wicklung ist tiefere Grundlage der Vor-würfe von Rassismus und Antijudaismusgegenüber Steiner und der heutigen An-throposophie: Wie in einer Stafette wirdder Geist zur weiteren Vervollkommnungweitergereicht – von einer Stufe zur nächs-ten. Und die anderen Völker und ihre Kul-turen haben nur beiläufige Bedeutung: diefür die Erde und die Menschheit entschei-dende Entwicklung spielt sich in dengenannten Epochen bei den sie bestim-menden Völkern ab. Daher ist derzeit dieEvolution der Europäer am höchsten fort-geschritten, die anderen Völker und„Rassen“ müssen sich drastisch abwer-tende Begriffe gefallen lassen: In diesen Kontext gehört Steiners Antiju-daismus. Dieser Begriff erscheint ange-messener als „Antisemitismus“, der vonder Konnotation „Nationalsozialismus“und Holocaust nicht mehr zu trennen ist.„Antijudaismus“ bezeichnet eine Abwer-tung des Judentums und der Juden insge-samt. Die Erkenntnis, das solche Abwer-tungen, auch wenn sie ohne Absicht

    21MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 21

  • geschehen, eine Abwertung der Menschenbis hin zu ihrer physischen Vernichtungnach sich zieht, ist relativ neu und ver-dankt sich intensiven Forschungen im An-schluss an den Nationalsozialismus undeiner selbstkritischen Haltung heutigerTheologie und Kirche zu vielen Strö-mungen in ihrer älteren und neuerenGeschichte. Wie steht nun Rudolf Steiner zum Juden-tum, zu den Juden? Es gibt in Steiners um-fangreichem Werk zahlreiche Stellen, diesich mit den „alten Hebräern“ – so eineLieblingsformulierung Steiners, wenn esum die Frühzeit Israels geht –, dem Juden-tum und den Juden befassen. Als erstes fällt auf, dass Steiner in seinentheo-/anthroposophischen Schriften undVorträgen die Juden (oder alten Hebräer)nicht in ihrer besonderen Existenz als Volk,als Religionsgemeinschaft würdigt. Siewerden nur gesehen als ein Volk, eineGemeinschaft, die eine Aufgabe für an-deres, Höheres zu besorgen hat. Die „al-ten Hebräer“ sollen darauf vorbereitetwerden, den Christus, den Sonnengeist, insich aufzunehmen. Steiner erbaut ein komplexes Welttheatermit lauter Notwendigkeiten: die Geschich-te Israels (der alten Hebräer) als eine Insze-nierung Jahwes dient nur einem einzigenZiel: den Leib des Jesus von Nazareth sozu formen, dass der Sonnengeist Christusin ihn einziehen kann. Immer und immerwieder schildert Steiner in seinen Vorträ-gen über die Evangelien – aber auch in an-deren Zusammenhängen – wie „die großeMutterloge der Menschheit“ oder die„Väter in den Himmeln“ durch das Blutder Geschlechterfolge wesentliche geis-tige Kräfte in das Volk der „alten Hebräer“fließen ließen – aber nicht, um es stark zumachen, um seine Identität zu stärken,sondern nur, damit die welthistorische Tatgeschehen kann, dass im Schoß diesesVolks jener Jesus von Nazareth geboren

    werden kann, der fähig ist, den Christus insich aufzunehmen.5

    Hierin besteht der erste Punkt des Antiju-daismus: Die Juden bzw. Hebräer mit allihrer Religion, ihrer Kultur sind nichtwichtig aus sich heraus, sondern nur imBlick auf die Inkarnation der Christus-We-senheit. Sie haben vorbereitende Funk-tion. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. In der Konsequenz bedeutet das: die welt-geschichtliche Rolle, die Bedeutung in derMenschheitsentwicklung, ist für das Juden-tum mit der Inkarnation der Christus-We-senheit in Jesus von Nazareth abge-schlossen. Dass sich die Juden diesemChristus nicht geöffnet haben, bezeichnetSteiner als Tragik und Fehler. Und von da-her ist es kein peinlicher Ausrutscher amRande, sondern eine konsequenteAntwort, wenn Steiner die fortdauerndeExistenz des Judentums als einen „Fehlerder Weltgeschichte“ bezeichnet:

    „Das Judentum als solches hat sich aberlängst ausgelebt, hat keine Berechtigunginnerhalb des modernen Völkerlebens,und dass es sich dennoch erhalten hat, istein Fehler der Weltgeschichte“ (GA 32,Rezension zu „Homunkulus“ von Hamer-ling).

    Diese Haltung Steiners zieht sich durchsein Werk hindurch: ab 1909 in den Evan-gelien-Vorträgen, bis 1924 in seinen sog.Arbeitervorträgen über „Die Geschichteder Menschheit und die Weltanschauun-gen der Kulturvölker“. 1924 antwortet erauf die Frage, „Hat das jüdische Volk seineMission in der Menschheitsentwickelungerfüllt?“ (GA 353, S. 196) mit langen Aus-führungen, die in folgendem Satz gipfeln:

    „Es hat sie erfüllt; denn es musste früherein einzelnes Volk da sein, das einengewissen Monotheismus bewirkte. Heutemuss es aber die geistige Erkenntnis selber

    22 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 22

  • sein. Daher ist diese Mission erfüllt. Unddaher ist diese jüdische Mission als solche,als jüdische, nicht mehr notwendig in derEntwickelung, sondern das einzig Richtigeist, wenn die Juden durch Vermischungmit den anderen Völkern in den anderenVölkern aufgehen“ (S. 203, Hervorhebun-gen J.B.).

    Nun kann man interpretieren, wie wir esbei Verteidigern Steiners lesen: er rede nurder Assimilation das Wort wie manchejüdische Wortführer auch. Doch bei allerInterpretation bleibt: die jüdische Missionist erfüllt. Jetzt können und sollen sie ihreIdentität aufgeben. Das ist – wie auch im-mer gemeint – gegen die Existenz des Ju-dentums als Religion, Kultur und persön-liche Identität gesprochen. Und es istwahrhaftig ein Unterschied, ob jemandüber Identität oder Assimilation der eige-nen Kultur und Religion redet, oder ob daseiner von außen tut. Hier liegt ein zweiterPunkt des Antijudaismus vor. Dabei mussdeutlich betont werden: natürlich hatSteiner nicht an eine physische Vernich-tung der Juden gedacht. Aber ihre Identitätsollen sie aufgeben – im Interesse einervon ihm, Steiner, erdachten Weltentwick-lung. Welch eine Anmaßung.

    Zu einem dritten Punkt: Steiner qualifiziertden Gott der Juden ab. Steiner schaut, dassbei dem Geschehen, das in Gen 1geschildert wird, eine Siebenzahl von Elo-him (der hebräische Gottesbegriff, den esnur im Plural gibt) beteiligt gewesen seinsoll. In der Folge hätten sechs von ihnensich verbunden, auf der Sonne Wohnunggenommen und als Sonnengeist zumWohl der Menschen gewirkt. Einer aberhabe eine andere Entwicklung genom-men: er wurde zum Mondgott. Er hatte dieAufgabe, Weisheit auf die Erde zu strahlen– und zwar speziell für die alten Hebräer.Es ist Jahwe, der in vielen Mondfesten vonden Juden verehrt wurde und wird. Über

    die Bedeutung Jahwes äußert sich Steinerimmer wieder – aber für ihn ist er derVolksgott der Hebräer, nicht die großeVatergottheit:

    „Der Vatergott, den man noch dazu mitdem Jahvegott – der der jüdische Volksgottist – verwechselt, wird als der Schöpfergottangesehen, (während doch im Evangeliumsteht: Im Urbeginne war das Wort undalles ist durch dasselbe geworden, undaußer durch dieses Wort ist nichts vondem Entstandenen geworden).“6

    Der Gott der Juden ist also nicht der Vater-gott, sondern nur Volksgott. Auch hier er-leben wir eine Herabsetzung des Juden-tums von außen. Dieser jüdische (hebräi-sche) Volksgott hatte eine begrenzte Auf-gabe, die mit dem Kommen des Christusendet (wie die Aufgabe seines Volkes):Vorbereiten sollte er auf das Kommen desChristus. Wir sehen erneut, wie Steinerden Juden keine eigene Wertschätzungentgegen bringt, sondern sie einzig inihrer Rolle in Relation zum Christen-tum sehen kann. Auch das Christentum,das die Schriften der Bibel als seineQuellen ansieht, wird hier getroffen, da esJahwe als Vatergott und Vater Jesu Christiverehrt.Die Bedeutung Jahwes wird aber noch en-ger an Christus gebunden – und die Un-terordnung unter Christus noch deutlicherformuliert. Immer wieder spricht RudolfSteiner davon, dass Jahwe ein Mondengottsei und dass er seine Vollmacht allein vonChristus hatte: Der Mond spiegelt das Son-nenlicht, Jahwe spiegelt Christus.

    „Christus lebte schon im Jehova, im Jahve-gott; aber er lebte wie in seinem Abglanz.Wie das Mondenlicht das Sonnenlichtzurückstrahlt, so strahlt Jahve, die Wesen-heit, die dann im Christus lebte, zurück.Christus strahlte zurück sein Wesen ausdem Jahve- oder Jehovagott“ (Christus unddie geistige Welt, S. 72).

    23MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 23

  • Ähnlich in dem Vortrag „Vorstufen zumMysterium von Golgatha“ von 1913 (GA152):

    „Wenn man einen Vergleich zwischen Je-hova und Christus ziehen will, so ist esgut, das Sonnenlicht und das Mondenlichtals Bild zu gebrauchen. Was ist Sonnen-licht, was ist Mondenlicht? Sie sind einund dasselbe und doch sehr verschieden.Das Sonnenlicht strömt von der Sonne aus,aber im Mondenlicht wird das Sonnenlichtvom Monde zurückgeworfen. In der glei-chen Weise sind Christus und Jehova einund dasselbe. Christus ist dem Sonnenlichtgleich, Jehova ist wie das reflektierte Chris-tus-Licht, insofern es sich der Erde offen-baren konnte unter dem Namen des Je-hova, ehe das Mysterium von Golgathaeintrat.“ (TB-Ausgabe S. 197f).

    Es ist hier nicht der Ort, Steiners Christoso-phie zu untersuchen – sie spricht sehr an-ders von Jesus Christus, als die Schriftender Evangelien ihn darstellen.7 Als Quelleberuft Steiner sich auf seine Akasha-Chro-nik, in der er ein „Fünftes Evangelium“geschaut haben will.8 Aber schon die Tat-sache, dass Steiner das Judentum selbst inseinen innersten Mysterien, in seinemGottesverhältnis, allein im Blick auf denkommenden Christus funktionalisiert,zeigt, wie wenig er die Juden als eigen-ständiges Volk mit eigener Kultur, Religionund Sinnstiftung anerkennen kann. Dies bedeutet nicht, dass der Einfluss Jah-wes auf die Evolution der Menschheit vonihm als unbedeutend eingeschätzt wird,da Jahwe sich in der Begegnung mit Moseim Dornbusch selbst benennt mit: „Ichbin, der ich bin“. Damit wird Jahwe der„Schöpfer und Auswirker des mensch-lichen Ich“, die Voraussetzung dafür, dass„nach und nach der Mensch sich selbstentdeckt“ (GA 353, Geschichte derMenschheit, TB-Ausgabe S. 31f). Aber esbleibt bei der Eingrenzung: Vorbereitung,nicht eigenständige Würdigung.

    Als vierter Punkt sei genannt: die Verwen-dung von antijüdischen Stereotypen, dieaus Unterschieden, die angeblich wert-neutral festgestellt werden, sehr schnell zuAbwertungen kommt. Steiner redet vonder Geistesart der Juden – nicht alsschlechter, aber sich von allen anderenVölkern unterscheidend (ebd. S. 78).

    „Derjenige, der unterscheiden kann, kannimmer noch die besondere Geistesart derJuden von der Geistesart der anderen Men-schen unterscheiden. Damit ist gar nichtgesagt, dass sie schlechter ist, aber sie istunterscheidend“ (ebd. S. 78).

    Und das, obwohl die Juden schon langebei anderen Völkern gelebt haben und vielvon ihnen angenommen haben:

    „Nicht wahr, die Juden, die man heute inEuropa kennenlernt, die haben ja schonunter den anderen Völkern gelebt, und dahaben sie sich manches angeeignet“ (ebd.S. 78).

    Was gehört zu solchen stereotypen Unter-scheidungsmerkmalen?

    „Sie können überall nachforschen: die Ju-den haben eine große Begabung fürMusik, dagegen eine sehr geringe Be-gabung für die Bildhauerei, Malerei unddergleichen. Die Juden haben eine großeBegabung für den Materialismus, aberwenig Begabung für die Anerkennung dergeistigen Welt, weil sie von der ganzenaußerirdischen Welt einzig den Mondeigentlich verehrt haben“ (ebd. S. 78).„Wenn ein Jude Bildhauer wird, dannkommt eigentlich nichts Besonderes dabeiheraus, weil er dazu noch nicht veranlagtist. Er hat nicht diese bildhafte Veranla-gung; die geht ihm nicht ein“ (ebd. S. 199). „Und wenn sich die Juden beleidigtfühlen, wenn man sagt: Ihr seid keine Bild-hauer, ihr könnt da nichts leisten – so kannman sich sagen: Es müssen doch nicht alleLeute Bildhauer sein!“ (ebd., S. 202).

    24 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 24

  • Das ist schon fast zynisch. Steiners Bedie-nen der antijüdischen Stereotype erstrecktsich auch auf die Medizin:

    „In die Medizin ist ein abstrakter Geist, einabstrakter Jehova-Dienst eingezogen, derheute eigentlich noch immer in der Medi-zin drinnen ist“ (ebd., S. 200).

    Im Anschluss rekapituliert er das häufigkolportierte Vorurteil von der Überpropor-tionalität der Juden im Arztberuf. Hier wer-den zahlreiche Festlegungen für die Judenpauschal getroffen, die manchmal iden-tisch sind mit den Klischees, die in SteinersUmwelt umgehen: Juden seien ge-fühlskalt, berechnend, materialistisch, un-fähig für das Höhere, Geistige. Gerade inder Anthroposophie – der eine so starkeAbwertung von jeglichem Materialismuszu Grunde liegt – wird leicht aus dem Un-terschied eine Abwertung. Worin gründet nun aber dieser Unter-schied? Steiners Antwort: In der Beschrän-kung der Juden auf die Verehrung derMondenkräfte und dem Verlust der „Viel-geisterei“ (291), der ja in der Anthroposo-phie wahrhaft neue Urständ feiert.

    „Sie wissen ja, daß man den Juden unter-scheidet von der anderen irdischenBevölkerung. Und dieser Unterschiedrührt schon davon her, daß durch dieJahrhunderte hindurch die Juden in derMondreligion erzogen worden sind undjeden anderen Einfluß in ihrer Seeleabgewiesen haben“ (ebd. S. 77f).

    Wichtig ist: der von Steiner konstatierte,angebliche Unterschied des Juden vonallen anderen Menschen wird nicht his-torisch begründet, auch nicht aus derBeobachtung von Lebensformen in ver-schiedenen Ländern, sondern systema-tisch, aus der Anthroposophie heraus: Esist die Mondreligion, die Hinwendungzum Mondgott Jahwe, die unterscheidet.

    Auch Juden könnten sicherlich sagen, dassder Glaube an Jahwe, seine Gebote undVerheißungen ihre Differenz zu allen an-deren Religionen begründet. Steiner ver-bindet den Unterschied aber mit „Volks-merkmalen“, eben mit Stereotypen: Jahwehat zu verantworten, dass „die Juden keinstarkes Interesse haben für das Irdische“(ebd., S. 43), was Steiner daran erkennt,dass „der“ Jude „gut denken“ kann, aber„nicht ein eigentliches Interesse für das,was in der Sinneswelt um ihn herum ist“,hat (ebd., S. 43). Ein weiteres Stereotyp des Antijudaismusist der Egoismus. Steiner behauptet, dassder Monotheismus der Juden, seinAnspruch, dass das Geistige nur in ihmvorhanden sei, verbunden mit der Bilder-losigkeit, zum Egoismus, ja, zu einem„gewissen Volksegoismus“ der Judengeführt habe (ebd., S. 199).

    „Nun ist das Judentum genötigt gewesen[man beachte die angebliche Zwangs-läufigkeit! J.B.], weil es nur diesen einenGott sich vorstellte, überhaupt von diesemeinen Gott sich gar kein Bild zu machen,sondern diesen einen Gott ganz nur mitdem Inneren der Seele, mit dem Verstandezu begreifen. Aber es ist leicht einzusehen,daß sich damit eigentlich der menschlicheEgoismus im höchsten Grade verdichtete;denn der Mensch wird fremd alledem, wasaußer ihm ist, wenn er das Geistige nur inseiner eigenen Person sieht. Und das hatin der Tat einen gewissen Volksegoismusim Judentum hervorgebracht, das ist nichtzu leugnen“ (ebd., S. 198f).

    Steiner greift auch in die innerjüdische De-batte um den Zionismus ein: Er lehntZionismus unbedingt ab als einen Versuch,einen Nationalstaat aufzubauen in einerZeit, in der doch die Völker sich zu eineruniversalen Einheit zusammenfinden sol-len. Den Zionismus als Nationalismusbringt Steiner dann in einen Zusammen-hang mit der Schuld am 1. Weltkrieg:

    25MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 25

  • „Ja, sehen Sie, meine Herren, dass dieMenschen die großen allgemeinmensch-lichen Prinzipien nicht mehr wollen, son-dern sich absondern, Volkskräfte entwi-ckeln wollen, das hat eben gerade zu demgroßen Krieg geführt! Und so ist das größteUnglück dieses 20. Jahrhunderts gekom-men von dem, was die Juden auch wollen.Da alles dasjenige, was die Juden getanhaben, jetzt in bewusster Weise von allenMenschen zum Beispiel getan werdenkönnte, so könnten die Juden eigentlichnichts Besseres vollbringen, als aufgehenin der übrigen Menschheit, sich vermi-schen mit der übrigen Menschheit, so dassdas Judentum als Volk einfach aufhörenwürde. Das ist dasjenige, was ein Idealwäre. Dem widerstreben heute noch vielejüdischen Gewohnheiten – und vor allenDingen der Hass der anderen Menschen“(ebd., S. 202, Hervorhebungen J.B.).

    Steiner beschäftigt sich auch mit den anti-jüdischen Pogromen des Mittelalters undverurteilt sie, gibt aber auch den JudenSchuld durch ihr Beharren auf ihrer eige-nen Identität. Anschaulich macht er die vermeintlichejüdische Besonderheit am Beispiel einerDiskussion zwischen vier Nichtjuden undeinem Juden – angeblich, so Steiner, nichtfiktiv, sondern erlebt. Der Jude entwickeltnicht aus der Anschauung, sondern ausdem Begriff, das sei die „Jehova-Anschau-ung“: Jehova sagt! Und er schließt: „Siewerden auch so sein müssen wie die an-deren Menschen“ (ebd., S. 209, Hervorhe-bung J. B.). Darum geht es letztendlich.

    Fazit: Es kann bei Steiner nicht der weitverbreitete Antisemitismus der Zeit um1900 festgestellt werden. Es ist aber erstaunlich, wie viele antijüdische Ste-reotype sich in seinem Werk finden. Und zwar nicht beiläufig, als persönli-che Wertung, sondern weitgehend alsKonsequenz seines anthroposophischenGeschichts- und Menschenbildes.

    5. Zur gegenwärtigen Diskussion

    Es gab auf die bislang erhobenen Vorwürfezahlreiche anthroposophische Repliken,die zumeist nicht vom Willen zum Dialoggetragen wurden. „Antisemitismus beiSteiner – eine Wahnidee“ formuliert StefanLeber. Das Fernsehen habe sich „von hart-gesottenen Anti-Waldorf-Missionaren vorden Dreckkarren spannen lassen“, be-hauptet Detlef Hardorp, immerhin „bil-dungspolitischer Sprecher“ der Waldorf-schulen in Berlin-Brandenburg. Manspricht von „selektiver Empörung“ undmöchte nachweisen, dass Steiner ein ak-tiver Gegner des Antisemitismus war. Einebesonders gründliche Studie von ManfredLeist, Lorenzo Ravagli und Hans-JürgenBader9 möchte dies recht detailliert be-gründen. Dabei fällt nicht nur auf, dass sieihren Gegnern vorwerfen, mit Zitaten zuarbeiten und selbst eine Fülle von Zitatenverwenden. Interessant ist vor allem, dassfast alle Belege für Steiners Gegnerschaftgegenüber dem Antisemitismus aus seinervor-theosophischen bzw. vor-anthroposo-phischen Zeit stammen, aus Artikeln im„Magazin für Literatur“ etwa, aus der Phi-losophie der Freiheit, aus Briefwechselnusw. Und es ist plausibel: Als modernerBohèmien, als Literat im Berlin des Fin desiècle war Steiner weder Antisemit nochRassist. Noch im September 1900 schreibter im „Magazin für Literatur“:

    „Für mich hat es nie eine Judenfragegegeben... Ich habe den Menschen nienach etwas anderem beurteilen können alsnach dem individuellen, persönlichenCharakter“ (zit. nach Leist, u.a., S. 18).

    Genau diese individuelle Sicht des Men-schen geht aber schlagartig verloren mitder Aufnahme der theosophischen Speku-lation einer Evolution der Menschheitnach geistigen Gesetzen, die nur schaut,wer in der Akasha-Chronik lesen kann.

    26 MATERIALDIENST DER EZW 1/2003

    inhalt-01.qxd 10.02.04 07:42 Seite 26

  • Hier liegt der entscheidende Bruch inSteiners Leben und in seiner Haltung zuden „Rassen“ insgesamt und zum Juden-tum im Besonderen. In der Folge wird dieSicht auf die Menschen als Individuenabgelöst von einem Reden von höherenWelten, Geheimwissenschaft, Akasha-Chronik und von dem Denken in geistigenGesetzen, Weltentwicklung, Planeten-inkarnationen und Wurzelrassen. Hier wird eine neue Dogmatik des Denkensübernommen und ausgeformt, die nicht mehrder Rationalität der Moderne verpflichtet ist,sondern einem voraufklärerischem Denkenin Notwendigkeiten, Geiststufen usw. unterBeteiligung bestimmter geistiger Wesen bishin zum Christus. Allen Völkern werden nunbestimmte Merkmale zuerkannt, ihre Kulturwird gemessen an esoterisch gewonnenenKriterien der Erfüllung von Aufgaben zumErreichen des nächsten kosmischen Zwi-schenziels. Und Steiner redet hinfort vondem Juden, dem Neger, dem Indianer, demMongolen, dem Franzosen usw.Hier haben alle mit Recht umstrittenen undbeleidigenden rassistischen Aussagen Stei-ners ihren Raum: die Stereotype über dieFranzosen, von denen er behauptet, ihre ge-genwärtige Haltung sei „das letzte Tobeneines untergehenden, eines aus der Erdent-wickelung verschwindenden Volkes ... dasfranzösische ist das am wenigsten lebens-fähige Element unter der romanischen Be-völkerung Europas“. Ihre Sprache seidiejenige, in der man „am leichtesten lügenkann“ (GA 300b, S. 277) und er würde es als„Kulturtat“ feiern, wenn das Französische, daser als „Leichnamssprache“ (282) bezeich-net, aus den Schulen verdrängt würde(280). Ähnliche und wesentlich schlimme-re Aussagen über die an ihrer Verhärtungzu Grunde gegangenen Indianer, die trieb-haften Neger, die „unvollkommenen Wil-den“ mit der „undifferenzierten, farben-armen Aura“10 usw. und eben über „die“Juden lassen sich in großer Zahl finden.

    Es sind dies alles aber keine persönlichenEntgleisungen, sondern Konsequenzen auseinem theosophischen Denk-Korsett, indem Steiner verharrt und das er in denBereichen der Evolution („Weltentwicke-lung“ und „Entwickelung der Mensch-heit“) weitgehend übernommen und kaummodifiziert hat. Dabei sind Steiners Aussagen über die Ju-den nur ein besonders signifikantes Bei-spiel f�